Into the wild - Hans Geißlinger - E-Book

Into the wild E-Book

Hans Geißlinger

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Beschreibung

Into the wild - innen wachsen, außen handeln . Prozessbegleitung in und mit der Natur

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INHALT

Einleitung

Andrea Scholz und Hendrik Hadlich

Into the wild

Hintergründe

Dr. Geseko von Lüpke

Erziehung zur Mündigkeit - Mit initiatorischer Arbeit innere Potentiale entfalten

Dr. Robert J. Kozljanič

Vision und Verantwortung - Von der Selbstverwirklichung zur Naturverwirklichung und zurück

Dr. Hans Geißlinger

Die da draußen versteh’n das ja nicht! Plädoyer für eine pädagogische Erschließung des Visionären

Prof. Dr. Ulrich Lakemann

Möglichkeiten und Grenzen des Einsatzes erlebnispädagogischer Methoden in psychotherapeutischen Settings

Praxis

Holger Heiten

Vom Einfluss von Schmerzvermeidungauf das innere Wachstum

Reto Bühler

Geburt und Wachstum

Josef Eder

EDUCO Africa

Andreas Joppich

Globalisierung outdoor vermitteln

Karina Falke

Slacklining: on-line in nature

Damian Jörren

In Balance entspannt über Landund Wasser schweben

Mandy Merker

Klimahelfer – Änder’ was, bevor’s das Klima tut – Kampagne des Deutschen Jugendrotkreuzes

Susann Riske/ Kai Dietrich

Naturerleben und Genderperformance – Gender in der Erlebispädagogik

Reto Bühler

Weggefährte/in auf einer langen und gefährlichen Reise

Zuletzt

EINLEITUNG

Into the wild – Einleitung

Andrea Scholz und Hendrik Hadlich

„Leben ist der Beruf, den ich ihn lehren will. Aus meinen Händen entlassen wird er – und ich bin damit ein ver-standen – weder Beamter noch Soldat, noch Priester, er wird in erster Linie Mensch sein.“ (Rousseau, 1762)

Die hier vorliegende Dokumentation wurde erstellt für die Fachtagung „Into the wild – innen wachsen, außen handeln“ der AGJF Sachsen e.V., die vom 09.–13.12.2013 im Tagungshaus Grillensee in Sachsen stattfand. Die Fachtagung setzte sich auseinander mit der Verantwortung und den poten-tiellen Handlungsoptionen als Lern-, Erziehungs- und Bildungsziel für Pädagog_innen, Prozessbegleiter_innen und Menschen, mit denen diese arbeiten.

Ausgehend von den Ergebnissen der Workshops und Foren der ersten internationalen Tagung, die sich hauptsächlich mit Haltungsfragen der Prozessbegleitung in und mit der Natur beschäftigte, diskutierte der Vorbereitungskreis in Sachsen die Bedeutung prozess-begleitender und erfahrungsorientierter Programme in der Natur für die Gesellschaft.

Kritische Stimmen unterstellen erlebnispädagogischen und prozessbegleitenden Angeboten mitunter eine zu starke Fokussierung auf das Individuum. Wird in diesem Zusammenhang vonWachstums- und Entwicklungsprozessen gesprochen, kann es zu unterschiedlichen Interpretationen dieser Begriffe kommen. So schreibt Astrid H. Krezsmeier: „Die vorherrschenden Ideen von Wachstum sind Schlüssel zu Wohlstand und Entwicklung, aber gleichermaßen zu Ausbeutung, Maßlosigkeit und Wettkampf geworden. Die mit ihm verbundenen Attribute ‚schneller, mehr, besser, erfolgreicher, vernetzter, gesehener, einflussreicher etc.‘ haben wir seit langem internalisiert.“ (Krezsmeier, 2011).

Aus unseren praktischen Prozessbegleitungen wissen wir, wie viel leichter es Menschen jeden Alters fällt, konkrete Handlungen und Vorhaben zu artikulieren, auch Proteste und Aktionen sind konkreter zu formulieren, als Kontakt zu den inneren Werten, Bedürfnissen und Leitbildern dafür aufzunehmen.

Diese Erfahrung kommt ganz wunderbar in dem Untertitel der Fach-tagung zum Ausdruck: innen wachsen.

Geht man jedoch zu den Ursprüngen der modernen Erziehungstheorien zurück, stellte schon Rousseau die Fragen „Wie erziehen wir?“ und „Wohin erziehen wir?“ In seinem handlungstheoretischen Werk „Emile oder Über die Erziehung“ verwies er auf die Wechselwirkung zwischen Individuum, Erziehung und Gesellschaft. In Rousseaus Erziehungsansätzen stand die Herausformung einer neuen, wahrhaft menschlichen Gesellschaft immer im Vordergrund (vgl. Rousseau, 2010). Auch für Kurt Hahn, einen der Gründerväter der Erlebnispädagogik in Deutschland, stellte d ie Verantwortungsübernahme des Einzelnen in der Gesellschaft ein Leitziel seiner pädagogischen Programme in der Natur dar. Adornos „Erziehung zur Mündigkeit“ impliziert mehr noch die Vorstellung von der politisch teilhabenden, ihr Leben aktiv und aus Einsicht gestaltenden, freien und reifen Persönlichkeit, die die Herausforderungen unserer komplexen Welt annehmen kann.

Erziehung als Prozess der politischen und gesellschaftlichen Teilhabe zu verstehen und dafür Verantwortung zu übernehmen, ist der Theorie der handlungs- und erfahrungsorientierten Lernansätze somit immanent. In der Praxis stellt sich jedoch oft die Herausforderung, dieses Lern-, Erziehungsund Bildungsziel umzusetzen.

Die Fachtagung „Into the wild – innen wachsen, außen handeln“ wollte hier Anregungen und Impulse setzen. Dazu wurden Methoden und Arbeitsweisen der Prozessbegleitung und des handlungsorientierten Lernens in verschiedenen Ländern betrachtet, die auf die Stärkung von persönlichen Potentialen und globaler, ökonomischer, ökologischer und sozialer Verantwortung abzielen.

Neben dem Erfinder des Story Dealings und Mitentwickler der Methode der strategischen Inszenierungen Dr. Hans Geißlinger konnten unter anderen der Journalist und Visionssucheleiter Dr. Geseko von Lüpke, der Sozialwissenschaftler Prof. Dr. Ulrich Lakemann von der FH Jena und der Philosoph, Autor und Trainer der Erwachsenenbildung Dr. Robert Kozljanič für Vorträge rund um das Thema gewonnen werden.

Der hier vorgelegte Band legt in seinem ersten Abschnitt „Hintergründe“ einen Fokus auf Hauptvorträge der Tagung und gibt im zweiten Teil „Praxis“ einen Einblick in die Inhalte und Perspektiven einiger Workshops und Foren zum Thema „innen wachsen, außen handeln“.

Über die Autor_innen

Andrea Scholz

Bildungsreferentin der AGJF Sachsen e.V., Chemnitz

Dipl.-Sozialpädagogin/ Sozialarbeiterin (FH)

Supervisorin (DGSV)

Mastercoach

Psychodramaleiterin

seit 1991 Leiterin des Geschäftsfeldes Fort- und Ausbildung

verantwortlich für das Netzwerk Erlebnispädagogische Prozessbegleitung Sachsen

Hendrik Hadlich

Walden e.V. , Chemnitz

M.A. Politikwissenschaft, Philosophie, Geschichte

Initiatischer Prozessbegleiter® (Eschwege-Institut)

Erlebnispädagogischer Prozessbegleiter (AGJF Sachsen)

Ropes Course Trainer (ERCA)

HINTERGRÜND

Erziehung zur Mündigkeit Mit initiatorischer Arbeit innere Potentiale entfalten

Dr. Geseko von Lüpke

Klassische Schulpädagogik geht immer noch davon aus, dass Wissen und Persönlichkeitsentwicklung die Folge von schulischer Wissensvermittlung sind. Daraus entsteht meist eine ‚Bewahrungs-Pädagogik‘ nicht aber eine‚ Bewährungs-Pädagogik‘. Die initiatorische Arbeit verortet sich in einer Pädagogik, die davon ausgeht, dass in jedem Menschen Potentiale angelegt sind, die es zu entfalten gilt. Der Vortrag skizziert die jüngsten neurologischen Erkenntnisse zur Potentialentfaltung und zeigt auf, wie die initiatorische Grenzerfahrung der Erziehung zur Mündigkeit dient.

Wer sich heute als LehrerIn, als PädagogIn oder SozialpädagogIn für initiatorische Arbeit in der Natur interessiert, will in den seltensten Fällen seine Schutzbefohlenenausdem‚modernen‘BildungssystemderGegenwartherausreißenundstatt dessen in einen exotischenSinnkontextverpflanzen, dermöglicherweise aus der Steinzeit stammt.Wer vondemAnsatz hört, jungeMenschen durch einen einsamen Rückzug in die Wildnis zu begleiten, ahnt vielmehr, dass es sich hier um einen uralten Ansatz handelt, junge Menschen durch eine Grenzerfahrung über sich hinauswachsen zu lassen.

Doch wer derartig zeitlose potentialentwickelnde Methoden in das heutige Bildungssystem integrieren will, muss sich im Rahmen der pädagogischen Diskussion erklären können. Wo gehören diese Ansätze, die – wieder einmal – das klassische staatliche Schulsystem überwinden wollen, in einer aktuellen Diskussion hin? Welche Rolle können solche herausfordernden Erfahrungsräume – sich allein in der Wildnis den Schatten der eigenen Persönlichkeit zu stellen, sich widrigen Bedingungen auszusetzen, freiwillig zu hungern – im immer leistungsorientierteren Ausbildungs-Rennweg der Gegenwart spielen? Sind sie nicht der krasse Kontrapunkt zu einem Schulsystem, das letztlich alles dafür tut, angepasste, hochspezialisierte junge Menschen auf einen globalen Arbeitsmarkt zu werfen, in dem immer extremer konkurriert wird? Initiatorische Arbeit in der Natur scheint dem Weltbild, das dem konventionellen Schulsystem zu Grunde liegt, zu widersprechen! Doch widerspricht nicht längst das konventionelle Schulsystem dem, was die Zukunft von der nachwachsenden Generation braucht? Geht es überhaupt weiterhin um die Tradierung jenes konventionellen Denkens, das uns in den Schlamassel der Gegenwart, in Sinnkrisen, ökologische Notlagen und in soziale Engpässe geführt hat?

Der initiatorische Ansatz der vorindustriellen, ja, vielleicht sogar vorzivilisatorischen Kulturen stammt aus einer Zeit, in der es noch keine Schulen gab, in der Menschen das umfangreiche Wissen über Pflanzen, Tiere, Spuren, die Regeln der Natur, die eigenen kulturellen Traditionen im nachahmenden Spiel und im täglichen Leben lernten.

Lernen – wir tun es seit Jahrtausenden, jeden Tag, von morgens bis abends. Doch wie es funktioniert, darüber wird fast genauso lange schon gestritten: Wir lernen im Spiel, wir lernen gar ganz von alleine, weil der Mensch neugierig ist von Natur, sagen die einen. Wir lernen nur unter Druck, wenn wir müssen, denn der Mensch ist ein faules Luder, meinen die Anderen.

Wir lernen im Tun, beharren die Einen, im Anfassen, Ausprobieren, aktiv und erfahrend, individuell und exemplarisch. Lernen ist Leben selbst. „Wenn ich das Kind einfach in Kontakt sein lasse mit der Wirklichkeit und mit sich selber, dann lernt es,“ sagt die Pädagogin Gaby Stefan sogar: „Im Dialog, in der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit tut sich was, verändert sich was und das ist Entwicklung und Lernen.“

Schöne Illusion, erwidern die Anderen: Wissen muss abgepackt, eingetrichtert und reingepaukt werden, damit es ‚sitzt‘ – und bei Gelegenheit hervorgekramt werden kann. Und damit es funktioniert, braucht es demnach jemanden, der sagt, „wo es lang geht“, braucht es Einrichtungen mit Tafeln und Bänken, die Wissen vermitteln und Reife prüfen. Und tatsächlich: Wenn wir an Lernen denken, fällt uns zuerst die Schule ein. Jene Institution, die zum Lernen erfunden wurde und immer noch meint, sie hätte das Lernen erfunden. Eine Einrichtung, die wie kaum eine andere mit Erwartungen belastet, mit Kritik eingedeckt und seit Jahrzehnten scheinbar erfolglos reformiert wird.

Lernen ist Schule, Schule ist Lernen. Und jeder muss da scheinbar durch – egal wie viel Leiden es hervorruft. Worum es in der Mainstream-Pädagogik geht, ist ‚Anpassungswissen‘ statt ‚Gestaltungswissen‘. Doch in einer Welt, die sich in rasanter Geschwindigkeit wandelt, wird das Paradigma der Anpassung immer fragwürdiger. In einer Welt, die im Rahmen ihrer rationalen Logik fast einem suizidalen Programm folgt, ist ein ‚Weiter wie bisher‘ sogar in höchstem Maße gefährlich. Wer die Dynamik dieser Pädagogik ändern will, muss sie, ihre Geschichte und das dahinter liegende Paradigma zuallererst verstehen, um es ändern zu können

Wir sind alle durch die Schule gegangen, haben dort in bis zu 90.000 Stunden etwas gelernt, von dem wir das Meiste inzwischen wieder vergessen haben. Haben gelitten, geflucht, uns widerwillig angepasst und es mit Sehnsucht nach den Ferien irgendwie hinter uns gebracht. Weil es scheinbar schon immer so war, haben wir unsere Kinder in die gleiche Mühle geschickt und dabei möglicherweise übersehen, dass Lernen schon viel früher anfängt. Spätestens im Moment der Geburt. Greifend, erkennend, nachahmend. Schritt für Schritt. Mit gewaltigen Erfolgen haben wir uns die Welt zu eigen gemacht, haben gelernt, uns in ihr zu bewegen: robbend, krabbelnd, laufend. Haben auf Dinge gezeigt, Symbole gefunden, Sprache gelernt. Gebaut, gebastelt, experimentiert: ohne LehrerInnen, Noten, Zeugnisse. Akzeptiert man diese Dynamik des Lebenlernens, dann wird deutlich, dass unsere staatlichen Schulen eine künstliche Einrichtung sind, die ein Kind oder auch einen Jugendlichen aus den Lebenskontexten, in denen er ist, herausnehmen. Die Schule kappt die direkten Erfahrungen, die das Kind macht und setzt die Kinder unter eine Glasglocke.

Rund 150 Jahre ist die Pflichtschule alt, historisch also eine noch junge Einrichtung. Und fast ebenso lange gibt es Widerstand gegen autoritäre, hierarchische Lehrmethoden, gegen Notenzwang und Konkurrenzdruck, gegen stures Pauken, Auswendiglernen und lebloses Faktenwissen. „Reformpädagogen“ nannten sich die Pioniere, die vor 100 und mehr Jahren versuchten, die Lernfabrik Schule dem Leben zu öffnen. Sie setzten auf Spiel und Neugierde des Nachwuchses und wollten das Lernen wieder verbinden mit Erfahrung, mit Praxis, mit Freiheit und Selbstbestimmung.

Die Frage nach dem Huhn und dem Ei ist auch in der Pädagogik weiterhin offen: Müssen wir unsere Kinder nach dem Prinzip der Mastgans abfüllen mit Wissen, Regeln, Formeln, Gesetzen und Umgangsformen, um sie für das Leben zu wappnen? Oder geht es vielmehr darum, ihnen mögliche Hindernisse aus dem Weg zu räumen, um ihre eigenständige Entwicklung zu einzigartigen Individuen möglich zu machen? Ist der junge Mensch mit anderen Worten ein unbeschriebenes Blatt, ein unprogrammierter Computer oder ein Wunder an Fähigkeiten, die es zu entwickeln gilt?

Der Streit ist fast so alt wie das Lernen selbst. Und die jeweiligen Haltungen zur Methodik des Lernens basieren auf unterschiedlichen Weltbildern. Wenn man ein eher pessimistisches Menschenbild hat, dann ist der Mensch von Natur aus weniger gut und man muss eben alles tun, um ihn auf den guten Weg zu bringen. Da herrschen dann eher sehr stark dirigistische Formen vor, weil man das Böse unterdrücken will. Während jene Menschenbilder, die eher eine optimistische Auffassung haben, dann eher davon ausgehen, dass man dem Menschen bei seiner Entwicklung helfen kann, dass nämlich das Gute im Menschen ent-wickelt werden soll. Und das impliziert natürlich, dass man seiner Eigenaktivität, seiner Selbststeuerung und Selbstbestimmung im Sinne einer Potentialentfaltung Freiraum gibt. Von solchen Grundüberzeugungen hängen dann letztlich natürlich auch die einzelnen Lern- und Unterrichtsschritte ab.

Schon in der Wiege unserer Kultur – bei den alten Griechen vor 2500 Jahren – gab es all die Positionen, um die heute noch auf jedem Lehrerkongress gestritten wird. Platon sprach vom Lehrer wie von einer Hebamme, die das, was da ist, ans Licht heben müsse. Und er stritt sich heftig mit den Sophisten, die das Gegenteil ver-muteten. Der Sophist sagt, dass den Menschen alles gelehrt werden kann. Er hielt den Mensch für eine knetbare Masse, die beliebig manipulierbar ist. Platon sagt: Nein, das kann ich nicht, denn der Mensch kommt im Grund immer schon mit etwas auf die Welt, aus dem heraus er sich entwickeln will. Platons Schüler Aristoteles schließlich sagte: Der Mensch muss sich zwar auch aus sich heraus entwickeln, aber der Schlüssel zu seinem Leben ist die Zuwendung zur Welt. Und diese Zuwendung geschieht in der Erfahrung. Erfahrung ist die Grundlage des Lernens. Das Hin und Her ums Lernen zieht sich – über den Behaviorismus und die Reformpädagogik – bis in die Gegenwart. Heute stehen wir vor einer Situation, in der die Beharrungskräfte einer konservativen Pädagogik immer noch den schulischen Mainstream prägen, der Kinder mit Lerninhalten abfüllt, während die moderne Wissenschaft längst die reformpädagogischen Ansätze favorisiert, die auf die individuelle Potentialentfaltung jeweils einzigartiger junger Menschen baut.

Verkürzt ließe sich sagen, dass die konventionelle Wissensvermittlung an Schulen am ehesten einer ‚Bewahrungs-Pädagogik‘ gleicht: Wissen wird nach einem vorgegebenen Schema F tradiert, um relativ stromlinienförmige Individuen hervorzubringen, die möglichst passgenau in das Nachfrage-Schema für Arbeitskräfte der industriellen Wachstumsgesellschaft passen. Dem gegenüber steht das offene Lernfeld der verschiedenen reformpädagogischen Ansätze, in dem sich die im jungen Menschen angelegten Potentiale ausdrücken, messen und durch Versuch und Irrtum entfalten können. Hier ließe sich im Gegensatz zu einer ‚Bewahrungs-Pädagogik‘ am ehesten von einer ‚Bewährungs-Pädagogik‘ sprechen: Das Individuum lernt exemplarisch an herausfordernden Aufgaben, für die es eigene Lösungswege kreativ und mit innerer Begeisterung erprobt, kooperativ austauscht, und eigenständig umsetzt – ohne von der Angst gelähmt zu sein, etwas ‚falsch‘ zu machen und für eigene Lösungsansätze mit schlechten Noten bestraft zu werden.

Wo ist in dieser historischen Situation die initiatorische Arbeit verortet? Rein geschichtlich kommen die Einrichtung der Schule und das Werkzeug initiatorischer Prozesse aus zwei verschiedenen Zeitaltern. Die Initiation – die bewusste Gestaltung von Lebensübergängen und rituellen Bestätigungen eines vollzogenen Wachstumsschrittes – kommt aus alten, indigenen, meist schriftlosen, traditionellen und vor-industriellen Kulturen. Sie diente kulturübergreifend dazu, junge Menschen an der Schwelle zum Erwachsensein durch eine herausfordernde einsame Schwellenzeit, eine Art Bewährungsprobe oder Prüfung zu schicken, in der sie alle ihre physischen, emotionalen, psychischen und spirituellen Potentiale nutzen mussten, um am Ende von der sozialen Gemeinschaft bestätigt zu bekommen, in Folge als vollwertige(r) Erwachsene(r) mit allen Rechten und Pflichten anerkannt zu werden. Das klingt zwar nach ‚Reifeprüfung‘, meint damit aber ganz etwas anderes als die Reproduktion auswendig gelernter Antworten auf Leistungsfragen aus der Kultus- und Schulbürokratie. Diese bestätigt ‚Funktionieren‘, keinesfalls aber ‚Reife‘.

Und Übergänge? Der moderne Mensch geht nicht weniger durch die existentiellen Übergänge des Lebens als seine Vorfahren in grauer Vorzeit. Ganz unabhängig davon, ob wir statt an Steinwerkzeugen heute mit Tastaturen, Maus und Flachbildschirm hantieren, sind die Brüche im Leben die gleichen geblieben: die Veränderungen in Selbstbild und Identität während der Pubertät, des Erwachsenwerdens, der Lebensmitte, in Alter und Tod als die einzigen sicheren Lern- und Wachstumsstationen im Lebensweg.

Doch wir schlingern und schleudern auf der Reise durch das Rad des Lebens, das wir fälschlicherweise für eine gerade Rennstrecke für ewig Jugendliche halten. Während die individuelle menschliche Seele wie seit Jahrtausenden das in ihr angelegte Potential in Reife und Alter immer mehr zum Ausdruck bringen will, hat sich unsere Gesellschaft einem Jugendwahn verschrieben, der nur noch faltenfreie Gesichter in hochdynamischen Berufen anerkennt. Während die Psyche nach Transformation durch Grenzüberschreitung sucht, bietet die Gesellschaft fast keine Bewährungsproben mehr an. Wer sich wandeln will und Barrieren überwindet, wird dafür von der Gemeinschaft nicht mehr anerkannt und gefeiert, sondern macht seinen Mitmenschen Angst und verunsichert sie. Wer sich entsprechend konformistisch gegen den Ruf der Seele stemmt und den risikoreichen Wachstumsimpuls unterdrückt, wird zum Opfer der ganz alltäglichen Depression, die einen Großteil unserer Mitmenschen beherrscht – mit allen Symptomen von nicht vollzogenen Übergängen. Der zunehmende Konsum von ablenkenden Suchtmitteln, der wachsende Bedarf an Therapien und die massenhafte Verschreibung von Psychopharmaka sind dann nur noch massenhafter Ausdruck der Folgen verpasster Wachstums-Chancen.

Während zu allen Zeiten menschlicher Kulturentwicklung rund um den Planeten Übergangsrituale gefeiert wurden, um die Wachstumsphasen in der Entwicklung jedes Individuums zu unterstützen und zu bestätigen, hat sich diemoderne westliche Kultur von dieser Tradition verabschiedet. Außer kaum mehr wirksamen kirchlichen Zeremonien zu Kommunion, Konfirmation, Heirat und Begräbnis gibt es keine gestalteten Übergänge mehr. Weil persönliches Wachstum nicht mehr anerkannt wird, ist es häufig zum persönlichen ‚Ego-Trip‘ geworden, anstatt der sozialen Gemeinschaft und ihrer nachhaltigen Stabilität zu dienen. Der Mangel an gestalteten Übergängen hat dazu geführt, dass wir in einer infantilen, verantwortungslosen, nicht länger mit den Kreisläufen der Natur verbundenen Kultur leben, die einem unreflektierten kindlichen Konsumwahn folgt. Statt Reifung zu würdigen, feiert sie die ‚ewige Jugend‘ und entwertet Alter und Älteste. Aus dieser Grundhaltung sind Generationenkonflikte erwachsen, die Weitergabe von geistigen Traditionen und kulturellen Werten erschwert und die Begleitung von Menschen in Lebensübergängen durch die jeweils ältere Generation fast unmöglich gemacht worden.

Bildungseinrichtungen, die tatsächlich ‚nicht für die Schule, sondern für das Leben‘ ausbilden, müssten also Bewährungsproben entwickeln und kultivieren: Erfahrungsräume dafür anbieten, wie die in jedem Leben sicher auftretenden Wachstumskrisen individuell und einzigartig bewältigt werden können. Initiatorische Arbeit gliedert sich hier also – trotz der Verwurzelung in einem anderen Zeitalter als die modernen Schulen – in die Tradition der potentialentfaltenden Reformpädagogik ein. Darin verändert sich ihre Wirkung.

Fraglos geht es in der modernen Welt, wo längst keine Stammeskultur dem Einzelnen mehr dabei hilft, sich in der Welt zurechtzufinden, darum, das Individuum in der Entfaltung all seiner persönlichen Potentiale zu unterstützen. Der Mensch – isoliert in der globalisierten Welt – muss erkennen, als wer er oder sie gemeint ist. Deshalb geht es bei Übergangsritualen heute nicht mehr – wie in grauer Vorzeit – um die Initiation in eine soziale Gruppe. Vielmehr geht es um einen Prozess der ‚Individuation‘. Dies aber nicht im Sinne des ‚krassen Individualisten‘ und ‚einsamen Helden‘ nach der Mythologie des ‚Wilden Westens‘, sondern im Sinne einer Individuation, in der man zu dem Menschen wird, der man wirklich ist. Tatsächlich sind moderne Initiationsrituale vor allem als pädagogisch-therapeutische Hilfen zur Bewältigung von Wandlungsprozessen von Bedeutung. Sie sind Schritte auf dem Weg zu sich selbst. Doch Menschen, die einen Wandel kreativ meistern und neue adäquate und authentische Muster des Wahrnehmens und Handelns entwickeln, kehren nach Abschluss des Rituals wieder in ihre soziale Gemeinschaft zurück und verändern sie, weil sie sich verändert haben. Sie sind bereit, als Partner/Partnerin, Vater/Mutter, Berufstätige oder Älteste eine Rolle auszufüllen, für die sie bislang nicht reif waren. Indem Übergangsrituale Reifungsprozesse bestätigen, ermöglichen sie, den persönlichen Wandel des Einzelnen auch in die Gesellschaft hinein zu tragen. Sie tragen damit zur Reifung der Gesellschaft als Ganzes bei.

Indem der initiatorische Prozess die Potentiale jedes Einzelnen herausarbeitet, bestätigt und stärkt, macht er die TeilnehmerInnen unabhängiger von der Bestätigung durch andere. Übergangsrituale haben damit einen emanzipatorischen Charakter. Indem sie persönliche Integrität stärken, befreien sie von Abhängigkeiten von Sekten, Fundamentalismen oder politisch radikalen Gruppen. Indem sich Menschen in sich selbst verwurzeln, brauchen sie keinen falschen Rückhalt mehr, der sie in Abhängigkeit und Kontrolle erstarren lässt. Damit befreit das Ritual im besten Fall auch aus der Abhängigkeit von Konsum, der immer damit zusammenhängt, die Darstellung der eigenen Persönlichkeit über die Produkte zu definieren, die man kauft, besitzt und vorzeigen kann.

Indem Übergangsrituale sich zentral mit Lebensübergängen und ihrer Bestätigung beschäftigen, ermöglichen sie den TeilnehmerInnen, ihr Leben in Entwicklungsstufen wahrzunehmen. Dazu gehört die Beschäftigung mit der gegenwärtigen Lebenssituation, die Ausrichtung auf die Potentiale des Wandels und die ehrliche Auseinandersetzung mit den psychischen Anteilen, die bislang einer Entfaltung angelegter Potentiale im Wege standen. Im rituellen Prozess hat der Einzelne die Möglichkeit, den Kampf mit der eigenen Lebensgeschichte, mit den Mängeln und Unzulänglichkeiten zurückzustellen, anzuerkennen, was ist, und von da aus bisherige Grenzen zu weiten und zu überwinden, und die darin liegenden schöpferischen Potentiale zu erkennen und anzuerkennen. Damit entsteht eine neue Identität, die Licht und Schatten anerkennt und im besten Fall integriert.

Im Gegensatz zu den Naturvölkern, für die das Leben in der Natur eine existentielle Selbstverständlichkeit war, kann es für den modernen Menschen darum gehen, einen Schritt zurückzugehen und sich erst einmal wieder als Naturwesen zu erfahren. Indem die TeilnehmerInnen eines Übergangsrituals ihre technologische Überlegenheit und all die Hüllen, mit denen sie sich vor der Natur schützen, ablegen, erleben sie sich als natürliche Wesen unter anderen Naturwesen. Angesichts der Tatsache, dass die Entwicklung eines nachhaltigen ökologischen Lebensstils zu den wichtigsten Aufgaben gehört, die in diesem Jahrhundert vor uns liegen, bekommt die Erfahrung, sich als Teil der Natur zu erleben, hier auch eine immense politische Bedeutung. Wer sich zutiefst als Teil erlebt und in Respekt vor anderen Lebensformen Tage in der Natur verbringt, kann danach nicht mehr so tun, als habe die Umwelt nichts mit ihm zu tun.

Damit führt eine solche Erfahrung ethisch und philosophisch zu einem tiefen Wertewandel, indem die TeilnehmerInnen die Welt nicht mehr als Umwelt wahrnehmen sondern als Mitwelt erleben. Sie hat damit eine unmittelbare ökopädagogische Wirkung – sie verstärkt nachhaltiges Handeln. Wer eine derartige Erfahrung macht, wird damit auch in ein viel größeres holistisches Weltbild initiiert: Wer sich solchen ritualisierten Naturerfahrungen aussetzt, überschreitet die Grenze des Anthropozentrismus, der unsere Kultur seit Hunderten von Jahren prägt. Man/frau erfährt sich selbst in seinem oder ihrem ‚ökologischen Selbst‘: Man/frau ist zwar Individuum, aber gleichzeitig Teil eines viel größeren Organismus oder Systems. Nicht umsonst ist die direkte Übersetzung des lateinischen ‚individere‘ das ‚Un-geteilte‘. Der initiatorische Prozess in der wilden Natur verbindet die persönliche Individuation mit dem größeren Kontext der lebendigen Mitwelt und stellt das Individuum damit in einen größeren – nicht länger abgetrennten – Kontext.

Wohin also initiiert diese Erziehung zur Mündigkeit durch eine rituelle Naturerfahrung? In den, der ich eigentlich bin, könnte man antworten, in eine authentische Selbstwahrnehmung. In die Verbindung mit der Natur, in eine Verantwortlichkeit sich selbst und der Gemeinschaft gegenüber, in Achtung gegenüber anderen Menschen, in die Anerkennung dessen, was ist und den Glaube an Entwicklung. In eine Veränderung der Wahrnehmung, in Alleinsein und den eigenen Weg. In Wandlungsprozesse und ihre Anerkennung und damit in ein angstfreieres Leben, in ein neues Zuhause: Mutter Erde. In die eigene Emanzipation, die weniger abhängig ist von äußerer Bestätigung. In Vertrauen in die eigene Autorität. In einen sorgsamen Umgang mit sich und der Umwelt, in die Poesie der Wirklichkeit.

All das sind keine Inhalte, die in den Lehrplänen der Kultusministerien aufgeführt sind. Und sie passen auch kaum in den symbolischen ‚Nürnberger Trichter‘, der angesetzt wird, um normiertes Faktenwissen in Köpfe zu stopfen. Diese übergeordneten Reifungsziele basieren vielmehr auf Erfahrung, Eigenständigkeit und erlebter Autonomie. Lernen – das weiß jeder aus eigener Erfahrung – macht Spaß, wenn es von innen kommt, wenn die Neugier uns treibt und das neue Wissen unser Leben ganz praktisch ergänzt. Moderne Lerntheoriemacht sich diese Erfahrung in den Begriffen der „Selbststeuerung“, der „Selbstregulation“ und „freien Aktivität“ zu Nutze. Dahinter steht die Erkenntnis, dass der Mensch, der von innen heraus handelt, keine Erziehung braucht, sondern sich „selbst macht“.