INZANI - Kerstin Merkel - E-Book

INZANI E-Book

Kerstin Merkel

4,6

Beschreibung

"SEHT EUCH ALS ÜBERLEBENDE!" Heermeister Kian Dogul ist ein INZANI – ein Geächteter. Dennoch hat ihn die Streitmacht seines Landes zum Anführer gewählt. Auf Befehl des Königs wird er in den schneebedeckten Norden entsandt, um die Heilerin Alia in die Hauptstadt zu eskortieren. Diese Reise ist der Beginn ihrer unmöglichen Liebe. Eine Verbindung, von deren Stärke beide lange nichts ahnen. Im Palast betraut der König Alia mit der Behandlung mysteriöser Kranker. Er verpflichtet sie zur Geheimhaltung, aber Alia erkennt sofort, dass es für diese Männer keine Heilung geben kann. Sie sind Opfer eines übermächtigen Feindes geworden, der grausam und unerbittlich näher rückt. Eine geheimnisvolle Suche nach Parallelen aus alter Vergangenheit beginnt und endet mit einer schrecklichen Gewissheit: Es gibt keine Waffe, die diese todbringende Macht aufhalten kann. Nur einer kann sich ihr stellen, ein INZANI … . MIT DER MACHT DES BANDES.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 1310

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,6 (18 Bewertungen)
12
4
2
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Sammlungen



Inhalt

Titelseite

Impressum

Über die Autorin

Widmung

Erstes Buch: Die Reise im Schnee

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Zweites Buch: Inzani

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Drittes Buch: Kampf

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Viertes Buch: Am Hofe des Königs

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Fünftes Buch: Überleben

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Sechstes Buch: Der Feind im Süden

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Siebtes Buch: Das geeinte Land

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Achtes Buch: Abschiede

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Neuntes Buch: Das Schrillen

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Zehntes Buch: Gedankenwesen

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Elftes Buch: Der König

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kerstin Merkel

Inzani

Die Macht des Bandes

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de

© 2016 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hameln

www.niemeyer-buch.de

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: C. Riethmüller

Der Umschlag verwendet ein Motiv von 123RF.com

eISBN: 978-3-8271-9891-4

EPub Produktion durch ANSENSO Publishing www.ansensopublishing.de

Die Geschehnisse in diesem Fantasyroman sind reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.

 

 

Über die Autorin:

Kerstin Merkel, 1970 in Frankfurt am Main geboren, studierte nach dem Abitur Germanistik und Kunstpädagogik. Nach ihrem Abschluss zog es sie in den Buchhandel und seit über zehn Jahren arbeitet sie in der Frankfurter Innenstadtfiliale der Buchhandlung Hugendubel. Gerne möchte sie jeden einladen, sie dort einmal zu besuchen, denn der Buchhandel hat sich sehr verändert und ist spannender denn je.

Kerstin Merkel lebt mit ihrem Sohn in einem kleinen Ort in der Nähe von Frankfurt. Sie sieht sich regelmäßig auf der ganzen Welt unter Wasser um, egal, bei welchen Temperaturen. Und egal, ob in Seen, Flüssen oder Meeren.

„INZANI– Die Macht des Bandes“ ist ihr erster Roman (aber ihr geistern durchaus noch weitere Geschichten im Kopf herum ...).

Für Katharina, die nicht zu Ende lesen konnte.

Erstes Buch

Die Reise im Schnee

Kapitel 1

Die Landschaft vor ihnen war unter Schnee begraben. Auch der Himmel war weiß von schweren Wolken, die im kalten Wind darauf warteten, ihre kristallene Last weiter und immer weiter auf die Erde herabfallen zu lassen. Sie hatten die Sonne seit Tagen nicht gesehen, und in der Ferne ließ sich kaum der Horizont ausmachen. Es war, als ob sich die Welt im Weiß mit dem Himmel verwob.

Kian hatte mehr und mehr das Gefühl, keine Einschätzung über die Weite und Dimension der endlosen Hügel mehr abgeben zu können, über die sie nun seit Tagen geritten waren. Tagsüber sah man kaum ein Tier, man hörte keine Vögel, als sei das Leben im Schnee eingefroren, aber er sah die Spuren vieler Lebewesen, darunter auch einige, die er nicht kannte. Es verwunderte ihn daher nicht, dass die Dunkelheit voll von Stimmen war. Seine nächtliche Jagd war immer erfolgreich, und so litten sie zumindest keinen Hunger. Jedoch erschien ihm die sternenlose Dunkelheit stumpf und seltsam fremd, sodass er es kaum wagte, außer Sichtweite ihres Feuers zu jagen.

Der Befehl des Königs lautete, die eine Heilerin in die Hauptstadt zu eskortieren, die es vermochte, die Männer zu heilen, die sich seit einigen Wochen von allem abgeschottet in den Krankenzimmern seines Hofes befanden. Niemand wusste, wer diese Männer waren oder welcher Art ihre Krankheit war. Kian hatte als der erste Heermeister des Königs dafür zu sorgen, dass die Heilerin unversehrt vor dem König erschien, um die ihr zugesehene Arbeit zu verrichten. So hatte er die Befehlsgewalt über alle Truppen für die Zeit seiner Abwesenheit an seinen Freund Gorin, den zweiten Heermeister, erteilt, hatte seinen innersten Kreis zusammengerufen und sich mit diesen vier Soldaten auf die Reise begeben.

Alle vier waren verwirrt darüber gewesen, was an dieser Mission so wichtig sein konnte, dass der König seinen ersten Heermeister mitsamt seiner Elitegarde ausschicken musste, um diese Heilerin zu eskortieren. Aber nur der alte Roan hatte es gewagt, laut zu vermuten, er wolle Kian auf diese Weise aus dem Weg haben, wenn die Fürsten beim nächsten Zweimond zusammentreffen würden, um endlich ihre Streitigkeiten zu schlichten. Kians Anwesenheit bedeutete vielleicht zu viel militärische Präsenz, eine Drohung, denn schließlich wollte niemand daran erinnert werden, dass seine Armee den Frieden mit Gewalt erzwingen konnte und würde.

„Vermutungen!“, hatte Kian seinen Freund zum Schweigen gebracht. „Es steht keinem von uns zu, die Entscheidungen des Königs zu hinterfragen, Roan!“

Und so waren sie ausgezogen, um diesen Auftrag zu erfüllen.

Alienne, so nannten sie die Heilerin. Die Fremde. Gerüchte um ihre heilerischen Fähigkeiten waren auch zu Kian vorgedrungen, und er konnte sich nur fragen, ob es überhaupt möglich war, dass die Nachrichten über ihre Heilerfolge der Wahrheit entsprachen. All das klang in seinen Ohren zu sehr nach Zauberei. Niemand vermochte mit der bloßen Berührung einer Hand zu heilen. Niemand konnte die Ursache einer Krankheit durch eine flüchtige Berührung erfühlen. Niemand. Zumindest nicht die Heiler, die ihm bekannt waren, und seine Truppen verfügten über die besten Heiler ihrer Zunft. Nicht dass ihre Fähigkeiten ihm jemals zuteil geworden wären, dachte er bitter.

Diese Heilerin hielt sich ausgerechnet im abgelegensten Winkel der Kian bekannten Welt auf, beinahe vierzig Tagesreisen von der Hauptstadt entfernt, weit im Norden des Landes. Einer Welt, die zu drei viertel des Jahres von Schnee bedeckt war.

Sie war eine Jidari-Schwester. Teil einer Gemeinschaft von Frauen, die sich vollkommen dem heilenden Wirken verschrieben hatten. Kian war in seinem ganzen Leben nur einer dieser Schwestern begegnet, und sie hatte ihm große Angst eingejagt. Er war damals ein Kind gewesen, aber die völlige Reglosigkeit ihres Gesichtes, versteckt unter der Kapuze ihres braunen Umhanges, war ihm lange nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Man sagte, die Jidari könnten in einen Menschen hinein sehen, obwohl sie Augenkontakte verweigerten, und als Kind war Kian nur zu überzeugt gewesen, dass diese Frau genau das bei ihm getan hatte.

Das Jidari-Kloster lag nach Kians Berechnungen nur noch einen halben Tagesritt von ihnen entfernt, wahrscheinlich sogar näher, und noch immer konnte er nichts als das helle übergangslose Weiß von Himmel und Erde vor sich erkennen. Als er seinen Blick über ihre kleine Reisegesellschaft schweifen ließ, fand er in allen Gesichtern dieselbe Gespanntheit, die er auch an sich selbst wahrnahm, als hätte sich seine Stimmung stumm auf die anderen übertragen. Sie alle blickten mit zusammengekniffenen Augen umher, als gäbe es in diesem Weiß etwas zu entdecken, das sich versteckte. Kian schüttelte den Kopf. Das Jidari-Kloster musste riesig sein. Gärten, Gehöfte, Stallungen, die Bethalle ... Sie suchten schließlich nicht nach einer Nähnadel!

Plötzlich zog Ana hinter Kian scharf die Luft ein und zeigte mit ihrem Finger auf eine Stelle vor ihnen in der Senke. „Heermeister, seht!“

Auch Kian hatte die Bewegungen bemerkt, dunkle Flecken, die sich ruckartig aufeinander zu und wieder voneinander weg bewegten. Menschen! Er nickte Ana zu und ließ seine Stute vorangaloppieren. Merkwürdig, dachte er beim Näherkommen, es schien, als ob der Schnee sämtliche Geräusche verschluckte, denn erst, als er fast die Gesichter der hier kämpfenden Männer erkennen konnte, vernahm er auch ihre Schreie.

In der Mitte des Kampfgeschehens stand ein Junge, verhüllt in einem braunen Umhang. Er wurde von drei anderen Männern angegriffen und führte sein Schwert sonderbar ungelenk, als sei er es nicht gewohnt, eine Waffe überhaupt zu halten, und doch gelang es ihm durch überraschende Manöver, die Angriffe der drei anderen wieder und wieder zumindest abzublocken. Niemand hatte ihn je den Schwertkampf gelehrt, das sah man deutlich, aber Kian bewunderte für den Bruchteil einer Sekunde seine geschmeidigen Bewegungen und seine nahezu unmenschliche Reaktionsschnelligkeit. Ihm war, als beobachtete er hier ein Wesen, das in seinen defensiven Instinkten mehr einem Tier glich als einem Menschen. Trotzdem würde der Knabe seinen Angreifern ohne ihre Hilfe nicht mehr lange standhalten.

Kian ritt direkt in die Mitte des Kampfplatzes, musste dabei einem toten Pferd ausweichen und zog sein eigenes Schwert, obwohl er zunächst nicht vorhatte, es zu gebrauchen. Er stieß mit dem Griff einen der Angreifer bewusstlos, packte dann den Knaben um den Brustkorb und zog ihn vor sich auf seine Stute. Er wehrte sich verzweifelt, aber Kian hielt ihn fest an sich gepresst, als er unter dem Gewand des Jungen etwas spürte, das ihn trotz der heiklen Situation überraschte. Das war kein Junge! Er drückte den kapuzenverhüllten Kopf vor sich unsanft nach unten, sodass er Raum gewann sein Schwert zu führen, und zischte dem Mädchen zu, es solle sich nicht bewegen.

„Runter und nicht bewegen!“, zischte die tiefe Stimme des fremden Kriegers ihr zu, und er drückte gewaltsam ihren Kopf in die Mähne seines Pferdes. Alia keuchte, hielt sich krampfhaft am Sattelknauf fest und hörte das Schwert des Kriegers über sich sirren. Er vollführte schnelle, gewandte Haken mit seinem Pferd, und die Schreie der Männer bekamen bald einen angstvollen Klang.

Sie waren so schnell gekommen! Im einen Moment hatte sich Alia in den Schnee gekniet, um behutsam die Wurzeln des Eisenfarns mit ihrem Schwert aus der gefrorenen Erde zu befreien, und im nächsten fand sie sich inmitten eines Angriffs. Die Banditen hatten in Sekundenbruchteilen ihr Pferd getötet und sich dann lachend und spottend an sie gewandt.

„Hey, Junge, lass das Schwert am Boden und gib uns deine Reisebeutel, dann lassen wir dich vielleicht am Leben!“, hatte einer der Banditen gerufen, während die anderen grölten vor Lachen.

Alia hatte sich langsam aufgerichtet, den Kopf gesenkt, den Blick ihrer Augen geschärft auf die periphere Sicht, den Blick aus den Augenwinkeln, den die Jidari benutzten, um sich selbst zu bewahren. Und beim ersten Anzeichen von Bewegung hatte sie trotzig ihr Schwert erhoben. Sie würde nicht kampflos aus dieser Welt gehen! Danach prasselten Hiebe nur so auf sie herab, aber sie hatte nie den Kopf erhoben, hatte sich nie den Banditen offenbart, die nun in immer schnellerer Folge angriffen.

Sie hätte niemals überlebt, wenn dieser fremde Krieger sie nicht aus dem Kampf emporgerissen hätte, begriff sie demütig. Stärker jedoch war das Gefühl der Erniedrigung, ob der Art, wie er sie hier auf seinem Pferd festhielt. Tränen der Wut, Angst und Erleichterung verschleierten ihre Augen und ein leises Knurren trat aus ihrer Kehle, instinktiver Ausdruck des ihr so sehr verhassten Wesens, das sie war. Ein Knurren, zu leise, um es aus den Kampfgeräuschen herauszuhören, und dennoch laut genug, um das Pferd zu beunruhigen, das der Krieger so sicher führte. Ein Schauer erschütterte das Tier.

Alia löste eine ihrer Hände aus ihrer starren Haltung um den Sattelknauf, berührte damit sanft sein Fell, als der Krieger das Pferd herumriss. Sie griff strauchelnd erneut nach dem Knauf, wäre beinahe herabgerutscht und konnte sich nur mit Mühe in ihrer schrecklichen Lage halten, aber der eine Moment der Berührung hatte genügt, um sie in ihren Grundfesten zu verwirren. Dieser eine Moment hatte ihr ein Wesen gezeigt, halb Mensch, halb Ross, und die Bewegungen des Schwertes über ihr verschwammen in ihrem Blick.

„Bei den Monden, Heermeister, ist er verletzt? Der Junge ist ohnmächtig!“, rief Roan besorgt aus, als der letzte der Banditen gefallen war. Er ritt dicht heran und beugte sich über den erschlafften Körper vor seinem Herren.

Kian steckte sein Schwert in die Scheide und richtete das Mädchen behutsam auf. Ihr Kopf fiel gegen seine Brust und er umfasste mit starkem Griff ihren Oberkörper, damit sie an ihn gelehnt ruhen konnte, bis sie hoffentlich bald wieder zur Besinnung kam.

„Das ist kein Junge!“, teilte Ana ihren Gefährten beim Anblick des Gesichtes der Geretteten überrascht mit.

„Ist das eine Jidari?“, fragte Mino, der Jüngste unter ihnen. Er ritt interessiert näher und fügte dann überrascht hinzu: „Sie ist schön!“

„Bei den Monden, was sind wir? Wilde? So weicht doch ein Stück zurück! Wenn sie jetzt erwacht und eure drei Gesichter so nah vor sich sieht, wird sie sich zu Tode erschrecken“, schritt Evan nun teilnahmsvoll ein und alle folgten seiner Empfehlung.

Kian überprüfte, ob er das Mädchen sicher, jedoch nicht zu fest hielt, und nickte den anderen auffordernd zu. „Mino, Ihr nehmt die Reisebeutel der Jidari. Ana, seht, was diese Banditen bei sich haben, vielleicht gelingt es uns, etwas davon seinen rechtmäßigen Besitzern zurückzugeben.“ Er ließ seine Stute in langsamem Schritt gehen. „Dort muss das Kloster sein!“, bemerkte er ruhig und ritt voran.

Er berührte sanft die Flanke seiner Stute und flüsterte einige beruhigende Worte in der Alten Sprache. Eben noch hatte er gespürt, wie sie zusammengezuckt war, als sei der leibhaftige Tod hinter ihr her, und das inmitten eines Kampfes, der nie hatte geführt werden müssen, der bereits bei ihrem Eintreffen entschieden war, wenn er die Überlegenheit seiner Soldaten betrachtete. Sinnloses Blutvergießen ... Aber so seltsam hatte sie sich nie gebärdet. Sie war ihm immer die verlässliche Trägerin seines Gewichtes, treu tat sie das, was er nicht konnte, und war dabei stets die Ruhe selbst, noch in der gefährlichsten Kampfhandlung. Und doch war ein Schreckensschauer über sie gegangen, der es Kian für einen Moment unmöglich gemacht hatte, sie zu lenken. Nun, was immer es gewesen sein mochte, es war vorbei. Die Stute schnaubte leise und ging ruhig hinaus in das endlose Weiß.

„Bequet mifrin bequet sinoka, schsch ...“ Gemurmelte Worte pochten an Alias Bewusstsein und sie wusste im selben Moment um deren Bedeutung. „Sei ruhig, meine Freundin, sei ruhig, alles ist gut.“ Das hatte die tiefe Stimme hinter ihr gemurmelt und dabei so sanft und vertrauensvoll geklungen. Alia kannte die Alte Sprache, sie hatte jedoch nie gehört, dass jemand sie laut gesprochen hatte. Niemand tat das.

Der fremde Krieger, erinnerte sie sich nun. Sie stöhnte und richtete sich ruckartig auf, eine Hand sofort prüfend an ihrer Kapuze und ihrem Tuch, den Blick gesenkt. „Wer seid Ihr?“, fragte sie mit vor Angst zitternder Stimme. Bei den Monden, sie hatte an ihm gelehnt!

„Habt keine Angst“, erwiderte die tiefe Stimme hinter ihr ruhig. Alia konnte kaum den Impuls zurückhalten, sich nach ihm umzudrehen, um ihn anzusehen.

„Wie geht es Euch?“, fuhr die Stimme fragend fort, aber Alia antwortete nicht und Panik befiel sie, weil sie nicht wusste, ob ihre Habe sicher war. All die wertvollen Wurzeln und Blüten, die sie in der letzten Nacht zusammengetragen hatte. Einer so friedlichen Nacht unter wenigen Sternen, allein außerhalb der Gefangenschaft der Klostermauern.

„Wo sind meine Reisebeutel?“, fragte sie misstrauisch.

„Einer meiner Soldaten bewahrt sie für Euch“, kam die ruhige Antwort, und Alia seufzte erleichtert auf. Dieser Krieger musste sehr groß sein, denn seine Stimme schien über ihren Kopf hinweg zu gleiten. Und trotzdem vibrierte sie in ihrem Brustkorb, tief und warm.

„Wer seid Ihr?“, fragte sie noch einmal und ihre eigene Stimme klang stärker dieses Mal.

„Wir sind Soldaten des Königs auf dem Weg zum Jidari-Konvent.“

Soldaten des Königs? Wann hatte die Schwesternschaft zuletzt von den Geschicken des Königs gehört? Alia konnte sich nicht erinnern, jemals irgendetwas aus der anderen Welt gehört zu haben, außer dem, was die Kranken ihr erzählt hatten, während langer Nächte des Wachens mit ihnen im Hospital. Sie wusste nichts über den König, die Politik seines Hofes, das Leben und die Gebräuche der anderen Welt. Der Welt außerhalb des Klosters und des Dorfes, das in seiner Nähe lag.

„Es liegt dort vorne hinter dem Hügel“, antwortete sie und zeigte etwas weiter nach links. Der Krieger lenkte sein Pferd in die von ihr angegebene Richtung und schien sich dann nach seinen Soldaten umzusehen. Wie viele waren es? Alia hatte keinen von ihnen wirklich gesehen, nur ihre schwarze Kleidung aus schwerem, abgestoßenem Leder.

War dieser Soldat ein Gelehrter? Beherrschten viele Menschen der anderen Welt die Alte Sprache? Diese Gedanken weckten Neugier und Wünsche. Alia war sich nur zu bewusst, dass ihr dieses Begehren nicht zustand, und sie zwang sich zurück in die Demut.

„Ich danke Euch für mein Leben“, sagte sie leise und hörte den Krieger hinter sich wortlos nicken. Er schwieg. Eine ruhige, stille Präsenz war dieser Mann hinter ihr, und er erfüllte sie noch immer mit Angst.

Das Kloster war umgeben von einer hohen, verwitterten Steinmauer, und ebenso erschienen auch die Gebäude. Steine, gebrochen aus der Umgebung und aufgeschichtet vor Hunderten von Jahresläufen, um der Kälte zu trotzen. Kian fühlte für einen Moment die karge Trostlosigkeit auf sich lasten. Was waren das nur für Frauen, die sich hier verbargen?

Sie hatten kaum die Tore passiert, da rutschte die junge Jidari vor ihm vom Pferd, ließ sich ihre Beutel reichen und verschwand eilig über den Klosterhof. Ohne ein Wort des Abschieds, ohne sich umzuwenden ...

Kian erinnerte sich, gelesen zu haben, dass der Kodex der Jidari-Schwesternschaft ihnen verbot, eine eigenständige Persönlichkeit zu zeigen. Sie waren Dienerinnen der Heilkunst, nichts weiter. Ohne Status in der Gesellschaft, ohne persönliches Eigentum ... Er sah dem Mädchen nach, das er eben noch gehalten hatte, dessen Kopf er gewaltsam vor sich hinabgedrückt hatte und deren Stimme so unendlich von Angst erfüllt gewesen war, während er mit ihr gesprochen hatte. Er sah, wie sie zwischen den Gebäuden verschwand, und nichts blieb von ihr zurück als das Echo ihrer Anwesenheit in seinen Armen.

Sie wurden von drei Schwestern empfangen, alle in brauen Umhängen. Die Köpfe gesenkt und ohne ein Wort des Grußes fragte eine von ihnen tonlos: „Wer seid Ihr, Krieger?“

Kian deutete eine Verbeugung auf seinem Pferd an. Er zumindest wollte die Konventionen einer Begrüßung nicht vollständig brechen. „Heermeister Kian Dogul! Meine Soldaten und ich sind dem Befehl unseres Königs gefolgt und gekommen, um die Heilerin Alienne in die Hauptstadt zu eskortieren. Eure Oberin hat uns ihre Erlaubnis gesandt!“ Und damit zog er das Pergament aus seiner Satteltasche, das ihm der König ausgehändigt hatte.

Die zweite Jidari nahm es ihm wortlos aus der Hand und verschwand im Inneren des Gebäudes, vor dem sie standen. Danach herrschte Schweigen. Die beiden Übrigen verweilten reglos neben der Pforte und warteten.

Kian wandte sich kurz nach seinen Leuten um und erhaschte Roans fragenden Blick. Sein ganzes Gesicht schien in Falten zu liegen. Kian nickte ihm zu und wandte sich dann wieder der Eingangspforte zu, durch die jetzt die dritte Jidari wieder herausschritt.

„Ihr könnt eintreten, unsere Mutter erwartet Euch“, sprach sie. Keine Modulation ihrer Stimme, keine Regung.

Einen Moment starrte Kian auf die braunen Kapuzen herab, dann machte er sich an den Abstieg. „Ana, Roan, ihr begleitet mich!“

Alia fühlte nach ihrem Kopftuch und zog die Kapuze darüber noch einmal zurecht. Sie hatte die Blätter des Eisenfarnes zum Trocknen aufgehängt, war gerade mit dem Abkochen der Wurzeln fertig geworden und wollte den Sud noch einmal durch ein Tuch pressen, als Schwester Turia neben sie getreten war und ihr mitgeteilt hatte, die Mutter Oberin erwarte sie in der Halle. Alia hatte beinahe gefragt, warum sie sie sprechen wollte, verbot sich jedoch noch rechtzeitig den Mund und folgte nun ihrer Mitschwester durch die Gänge.

„Mutter Oberin, die Heilerin Alienne, auf Euren Wunsch!“

Die periphere Sicht zeigte Alia, dass Mutter Rania nickte und sich ihr zuwandte. Konnte sie ihrerseits erkennen, wie nervös Alia war? Wie sie in ihren Umhangtaschen lose Fäden in ihren Fingern knetete?

„Setz dich, Kind, ich habe dir etwas mitzuteilen!“, befahl sie nun und wies ihr einen Platz am Tisch zu. Alia zog sich erst den Stuhl heran, als die Oberin bereits Platz genommen hatte.

„Innerhalb unserer Mauern hält sich eine Garde des Königs auf. Er selbst hat diese Soldaten zu uns gesandt, die eben noch mit mir diese Halle geteilt haben und die du vielleicht bereits bemerkt hast!“ Die Stimme der Oberin klang scharf, als sei sie inzwischen detailliert davon in Kenntnis gesetzt, dass Alia die Soldaten bereits getroffen hatte.

Alia zuckte zusammen. „Sie haben mein Leben bewahrt, als ich von Wegelagerern ...“

Aber die Oberin unterbrach sie. „Dann warst du es, von der ihr Heermeister berichtet hat!“, beendete sie dieses Thema und fuhr ohne Überleitung fort. „Diese Soldaten sind hier, um dich in die Hauptstadt und an den Palast des Königs zu begleiten. Er verlangt nach deiner Heilkraft!“

Alia hätte fast den Blick erhoben, um Oberin Rania anzustarren, um zu sehen, dass sie keine Scherze mit ihr trieb. Stattdessen schüttelte sie verwirrt den Kopf. „Das ist doch gewiss ein Missverständnis ...“, murmelte sie.

„Alienne!“, rief die Mutter Oberin sie zur Besinnung. „In der Obhut des Königs befinden sich Menschen mit einer rätselhaften Krankheit und er verlangt nach dir. Und ... wer sonst könnte die Natur einer rätselhaften Krankheit treffsicherer untersuchen als du?“, ergänzte sie, und Alia fragte sich, wie viel vom Spott in der Stimme der Oberin sie sich einbildete.

Oberin Rania hatte ihre Gabe immer angezweifelt und es war ihr Befehl, der Alia verbot, über sie auch nur ein einziges Wort zu verlieren. Als ob es jemals Alias Wunsch gewesen wäre, über ihre Absonderlichkeit sprechen zu wollen!

In der anderen Welt jedoch waren mit der Zeit mehr und mehr Gerüchte laut geworden, die von der Existenz einer Heilerin mit der Gabe der sehenden Berührung sprachen. Das hatte Alia in den letzten Jahren oft sogar von Kranken gehört, die von weit her gekommen waren, um im Kloster Hilfe zu erbitten.

„Wie dem auch sei, du verlässt im Morgengrauen die Klostermauern. Geh nun und mach dich reisefertig!“, beendete Mutter Rania das Gespräch, stand auf und verließ ohne ein weiteres Wort die Halle.

Alia saß reglos am Tisch und starrte in ihren Schoß. Sie wurde fortgeschickt, sie durfte gehen und vielleicht nie wiederkehren. Diese Aussicht verwirrte und ängstigte sie, wenn sie ehrlich zu sich war, aber sie versetzte sie in Gedanken in eine Welt der Freiheit, in der alles möglich war, eine Welt, von der sie geträumt hatte, seit sie denken konnte.

Diese Stimmung verließ sie nicht, bis es nahezu Zeit für ihren Aufbruch war. Beim Abendessen hatten die Schwestern geflüstert, die Soldaten hätten vor den Mauern ihr Lager aufgeschlagen, nachdem sie die Gastfreundschaft der Schwestern ausgeschlagen hatten. Alia hätte gerne ihre Neugier gestillt und noch mehr erfragt, aber sie hatte geschwiegen, wie es der Kodex verlangte. Sie würde zweifellos genug Gelegenheit habe, diese Soldaten zu erleben.

Alia schnürte den letzten ihrer Reisebeutel und ließ dann den Blick über ihr Gepäck gleiten. Der Schlafsack aus Isolleder, das nur die Jidari gerbten und das die Wärme des Körpers bewahrte sowie gleichzeitig die Kälte abhielt, sodass man im Schlaf nie den Kältetod fürchten musste.

Das Fell des Gipfelbären lag zusammengefaltet auf ihrem Tisch. Sie hatte ihn selbst erlegt auf einer ihrer nächtlichen Wanderungen und seitdem hatte sein Fell ihr gute Dienste während ihrer Nächte im Freien geleistet. Nächte, die sie so sehr ersehnt hatte. Ihr Versuch, bei jeder sich bietenden Gelegenheit der Enge der Schwesternschaft zu entfliehen und sich selbst in Freiheit zu erleben. Sie war geschaffen für ein Leben unter freiem Himmel, das hatte sie immer gespürt.

Alia lächelte versonnen. Sie hatten damals nach ihrer Rückkehr ins Kloster das Fleisch des Bären für das Nachtmahl bereitet. Es wurde unter allen Patienten und Schwestern geteilt, und für Alia hatte es nur wenig mehr als einen kleinen Brocken gegeben, aber sie hatte noch immer dessen wundervollen, nussigen Geschmack auf der Zunge. Sie liebte Fleischmahlzeiten so sehr, aber die Jidari bevorzugten Nahrung aus Erdfrüchten, Kohl, Wurzeln, Getreide und allem, was die schneelose Zeit bot. Beerenobst und die Früchte der Bäume, die im Garten des Klosters wuchsen.

Im Kopf ging sie noch einmal die Heilmittel durch, die sie im Vorratsraum ausgewählt hatte, während Schwester Turia ihr argwöhnisch zugeschaut und immer wieder Ratschläge gegeben hatte, die Alia nicht benötigte. Vielleicht hätte sie noch ein weiteres Fläschchen reines Öl einpacken sollen, aber das konnte sie ebenso gut während ihrer Reise aus der Rinde des Garanbaumes gewinnen, falls es nötig war. Nein, sie hatte alles, was sie brauchte.

Kleidung. Sie besaß ohnehin nur ein weiteres Gewand und ein paar wollene Beinkleider, die sie in einen Reisebeutel gestopft hatte. Auch ihr einziges weiteres Tuch war darin. Ein Tuch aus dunkelgrünem Stoff, das Jasos Mutter für sie gewebt hatte. Ein weiteres Tuch, um ihre Andersartigkeit zu verbergen. Die Farbe sei so schön zu ihren dunkelroten Haaren, hatte Jasos Mutter ihr erklärt, auch wenn niemand diese je zu sehen bekam.

Alia hatte sich nach der Abendmahlzeit davongeschlichen, um sich von ihr zu verabschieden. Von ihr, die ihr in schweren Zeiten oft wie eine Mutter gewesen war. „Für dich kann alles nur besser werden, Kind, egal, wohin es dich verschlägt“, hatte sie ihr zugelächelt und Tränen waren über ihre Wangen gelaufen. Alia hatte ihren Körper gestrafft und die Wahrheit in diesen Worten gefühlt.

Der Abschied von Jaso war nahezu völlig in Schweigen verlaufen. Letzte Nacht war er ein letztes Mal in ihr Zimmer geschlichen und sie hatten die Kissen geteilt, ruhig jeden Winkel ihrer Körper berührt und nie dabei die Augen geschlossen. „Werde glücklich!“, hatte er geflüstert und sie umarmt, als wolle er sich in ihr einnisten, um mit ihr kommen zu können.

Er hatte immer die tieferen Gefühle empfunden, und doch hatte es eine Zeit gegeben, in der sie beide davon geträumt hatten, eine Familie zu gründen und im Dorf ein Haus neben dem seiner Mutter zu bauen, aber Alia hatte immer gewusst, dass dieser Traum für sie nie Wahrheit werden konnte. Sie war zu anders, ihre Fremdheit zu groß, und doch war es genau diese Fremdheit, die Jaso so sehr akzeptierte, liebte und in sich aufnahm, als bereichere sie sein Leben mehr als alles andere, das er tat.

Alia traten nun Tränen in die Augen und sie blickte sich ein letztes Mal in ihrer Kammer um. Hier hatte sie gelebt, hier war sie aufgewachsen, nachdem eine sterbende Frau sie auf der Stufe zur Bethalle abgelegt hatte. Sie hatte den Kodex der Jidari gelernt, ihren Glauben an die Allmutter geteilt, ihr Wissen um Krankheit und Heilung aufgesaugt und die alten Schriften in ihrer Bibliothek studiert. Sie hatte ihr Leben gegeben, um ein Teil der Schwesternschaft sein zu können. Nie vor ihr hatten die Jidari ein Kind aufgezogen, aber ihre Andersartigkeit hatte ihnen klar gemacht, dass sie in der anderen Welt wahrscheinlich keine Überlebenschance haben würde, und so behielten sie sie in einem Akt des Mitgefühls. Einem Akt der Gnade, nicht der Liebe.

In den letzten Jahren erst war Alia zu einem greifbareren Mitglied der Schwesternschaft geworden, als sie sich zunächst als talentierte Anatomin und dann als veritable Heilerin empfohlen hatte. Schon früh hatte sich gezeigt, dass sie großes heilerisches Geschick besaß und noch dazu bald über das notwendige Wissen verfügte, das es ihr erlaubte, neue Methoden zu ersinnen und unbegangene Wege der Medikation zu gehen. Aber ein vollwertiges Mitglied der Jidari-Gemeinschaft war sie nie geworden. Sie arbeitete mit den Schwestern im Hospital, teilte ihr Leben, aber sie war nie eine von ihnen. Ihre Arbeit wurde hoch geschätzt und so konnte sie sich ihre kleinen Fluchten in die Nacht erlauben, aber sie wurde nicht geachtet. Keine der Schwestern richtete ein Wort an sie, wenn es nicht anders ging.

Alia wusste, dass ihre Gabe der Grundstein ihrer Heilerfolge war, aber alles, das sie sich darüber hinaus selbst gelehrt hatte, das Wissen der Kräuterschwester, das sie verinnerlicht hatte, ihre ruhige Hand beim Anbringen von Schnitten im kranken Gewebe und das Studium der alten Schriften, das alles machte ihre Fähigkeiten als Heilerin wirklich aus. Es war nicht nur das Wissen, das ihr die Berührung eines Menschen mitteilte, nicht nur dieses absonderliche Können des fremden Wesens, das sie war. Nein, es war ihr eigener Verdienst, ihre konsequent betriebene Ausbildung, die es ihr ermöglichte, diese Gabe nach ihrem Belieben zu nutzen.

Wieder hatte sie das Bild vor Augen, das sie in der kurzen Stunde des Schlafes der letzten Nacht wieder und wieder geweckt hatte. Das Bild dieses Zwitterwesens. Mann und Ross in einer Person! Alia hatte nie erlebt, dass ihre Gabe ihr Trugbilder zeigte. Nie hatte sie einer Berührung ihrer Hand misstrauen müssen. Ein Teil ihres Verstandes versuchte sich dieses Bild mit der Todesangst zu erklären, die sie während des Kampfes gespürt hatte. Ein anderer, jedoch viel kleinerer Teil beharrte darauf, dass ihre Gabe zuverlässig war, wie nichts anderes in ihrem Leben. Diese Ungewissheit war ihr fremd, aber so oder so, es war einerlei, sie musste gehen. Es war der Befehl der Schwesternschaft und sie hatte sich zu beugen, egal in welche Hände sie sich nun begeben würde.

Alia richtete sich auf, zog ihren Umhang an, schulterte ihren Bogen mit den Pfeilen, ihr Schwert und Gepäck, streifte die Handschuhe über und verließ ihre Kammer. Sie hatte alles, was sie brauchte. Sie war bereit, auch wenn Angst ihr das Atmen schwer machte.

Kapitel 2

Sie hatten ihr Lager noch vor den ersten Sonnenstrahlen abgebrochen und sich, nachdem sie schweigend das Morgenritual absolviert hatten, auf den Weg zum Tor des Klosters begeben. Hier, so war es die Anordnung der Oberin gewesen, sollten sie die Heilerin treffen, um mit ihr fortzureiten.

Die Oberin hatte darauf beharrt, dass er und seine Soldaten nicht noch einmal den Grund des Klosters betraten. Sie wolle keine Unruhe unter den Schwestern, hatte sie betont, aber Kian war sich sehr klar darüber geworden, dass die Oberin die Wünsche des Königs zwar akzeptierte, jedoch keine Veranlassung sah, seine Soldaten mehr als irgend nötig zu beherbergen. Fern ab der Hauptstadt stand die Schwesternschaft außerhalb des Machteinflusses der Gesellschaft und ihres Königs. Er und seine Soldaten waren an diesem Ort nicht erwünscht.

So standen sie nun in der frühesten Morgenstunde vor den geschlossenen Toren und erwarteten das Eintreffen der Heilerin. Sie alle starrten den Weg zum Klosterhof entlang, aber nichts regte sich dort. Als die Minuten verstrichen, begann Mino eines seiner fröhlichen Lieder zu summen, und Roan stimmte leise mit ein.

„So stehen wir nun hier, ein Lied auf den Lippen und harren der Erfüllung unseres Auftrages. Sind wir Bittsteller, dass man uns hier warten lässt?“, kommentierte Evan mit ironischem Unterton.

Kian beobachtete das belustigte Grinsen, das Ana nun auf den Lippen trug, als sich die Klostermauer entlang eine Gestalt zu Pferd näherte. Außerhalb der Mauer. Er sah der Heilerin entgegen, die mit gesenktem Kopf auf sie zu trabte, und es überraschte ihn sehr, anhand ihrer Gestalt das Mädchen von gestern wiederzuerkennen. Er hatte eine ältere Frau erwartet, nach dem zu urteilen, wie sehr ihre Heilerfolge in der Hauptstadt und den Fürstentümern gerühmt wurden. Ihr Pferd, ein fuchsfarbener Hengst, tänzelte nervös. Es war jung, zu jung, um verlässlich zu sein, und es erfüllte Kian mit einigem Unbehagen, seinen wertvollen Reisegast auf einem derart leicht zu irritierenden Pferd zu wissen.

„Guten Morgen, Heilerin!“, rief er ihr entgegen. Er beobachtete ihr Nicken und die Mühelosigkeit, mit der sie das unruhige Pferd vor ihnen stoppte, und verzichtete deshalb darauf, ein Wort über das Tier zu verlieren. Sie schien zu wissen, was sie tat.

Roan konnte sich jedoch nicht zügeln. „Ein sehr wildes Pferd habt Ihr da, Heilerin!“, kommentierte er kritisch.

„Mein Pferd ist tot. Man hat mir dieses zugewiesen“, erwiderte die Heilerin knapp, aber Kian war es, als hörte er trotzdem so etwas wie Trauer aus ihren Worten, und er sah wieder das tote Pferd auf dem Kampfplatz vor sich.

„Seid Ihr bereit?“, fragte er.

Sein Blick verweilte einen Moment auf dem Bogen, der um ihre Schulter hing. Eine kleinere Waffe als die seine, aber dennoch von gelungener handwerklicher Ausführung. Dann wandte er seine Augen auf die Stelle, an der er in der Dunkelheit ihr Gesicht vermutete. Wieder nickte die Heilerin nur auf seine Frage, während Kian den Befehl zum Aufbruch gab und voranritt. Die ersten Zeichen des Morgengrauens zeigten sich am Himmel vor ihnen, und er ließ seine Stute mit langen Schritten ihren eigenen Weg bestimmen.

Als Ana nun begann, alle anderen und sich selbst vorzustellen, starrte Kian stur in die weiße Welt, in die auch die erste Helligkeit keine Farben zu bringen vermochte. Es wäre seine Aufgabe gewesen, der Heilerin seine Leute vorzustellen! Das Soldatenleben und seine Isolation hatten ihn so stumpf werden lassen, dass er sich in letzter Zeit immer wieder dabei ertappte, wie er zwischenmenschliche Konventionen zunehmend vergaß. Höflichkeit, Freundlichkeit, Zuvorkommenheit ... würden das eines Tages nur noch Worte für ihn sein, deren Bedeutung er vergessen hatte?

Als Ana ihn vorstellte, drehte er sich nicht um, sondern verharrte in seiner Starre. Er wollte nicht, dass jemand jetzt sein Gesicht ansah. Gefühle zu zeigen gehörte nicht zu den Aufgaben des ersten Heermeisters des Königs.

„Das ist Heermeister Dogul, der erste Heermeister des Königs!“ So hatte die Soldatin den fremden Krieger vorgestellt, und die periphere Sicht hatte Alia gezeigt, dass er sich nicht zu ihnen umgewandt hatte bei diesen Worten. Ein groß gewachsener Mann, schlank, mit breiten Schultern, starken Armen und langem schwarzen Haar auf einer ebenso schwarzen Stute. Das Gesicht dieses Mannes hatte ihr die periphere Sicht nicht enthüllt, dafür war es zuvor noch zu dunkel gewesen.

Er trug ein Schwert an seiner Seite und über seine Schulter war ein Bogen gelehnt, der Alia fast blendete, so edel war das Holz, aus dem er gefertigt war. Dunkel und von verschlungener schwarzer Maserung, unzählige Male abgeschliffen und poliert, sodass die Oberfläche glänzte wie eine Art sehr feines Fell. Auch die Pfeile im Köcher auf seinem Rücken waren aus diesem Holz. Was war das für ein Gehölz? Alia wusste es nicht zu bestimmen.

„Er führt uns und sorgt für unsere Mahlzeiten“, fuhr die Soldatin fort.

In ihrer Stimme konnte Alia große Achtung und Ehrfurcht erkennen. Ein Jäger also, deswegen der Bogen! Sie sah wieder nach dem Krieger und bemerkte die stille Autorität, die er ausstrahlte, auch wenn er schwieg.

Alia saugte die Worte der Soldatin förmlich in sich auf. Sie hatte seit gestern so oft versucht, sich die Soldaten, die sie gerettet hatten, ins Gedächtnis zu rufen, aber musste sich letztlich eingestehen, dass sie keine Erinnerung wachrufen konnte. Auch als sie ins Kloster geflüchtet war, hatte sie es nicht gewagt, sie anzublicken, auch nicht auf die verstohlene Art aus ihren Augenwinkeln. Und so holte sie nun alles nach und versuchte, so viel sie konnte vom Aussehen und der Gestalt ihrer Mitreisenden zu ergründen. Sie waren zu fünft. Alle in schwarzen, ledernen Beinkleidern, Stiefeln und Mänteln, mit Schwertern an ihren Seiten und dem aufrechten Sitz stolzer Reiter.

Roan, der Älteste unter ihnen, war als erster Offizier der gesamten Truppen die rechte Hand des Heermeisters und der Koch ihrer Reisegemeinschaft. Bei der Bemerkung, er sei der Koch, wandte er sich nach ihnen um und zwinkerte Alia neckend zu. Ein freundliches, vom Wetter gegerbtes Gesicht, das von Falten durchzogen war wie die Landkarte eines Gebirges.

Mino, der Jüngste, mochte etwa so alt sein wie Alia, also etwas über zwanzig Jahresläufe zählen. Er hatte die blonden Haare und leuchtend hellen Augen der Menschen aus dem Osten. Alia hatte immer gerne Leute aus dieser Region behandelt. Sie hatten ein freundliches Gemüt, das sie selbst dann bewahrten, wenn die Zeiten hart wurden. Selbst noch im Tod. Er sei ein begnadeter Reiter und Späher der ersten Garde, die direkt dem ersten Heermeister unterstellt war.

Evan, ein verschlossen wirkender Mann von wuchtigem Körperbau, etwa dreißig Jahresläufe alt, war Schmied gewesen, bevor er sich für den Dienst in der Armee entschied. Heute war er der Waffenmeister der Truppen. Er könne alles herstellen, vom Küchenmesser bis zur kompliziertesten Schneide eines Kriegsschwertes, bekräftigte die Soldatin, und Evan blickte ihr bei diesen Worten mit einem tiefen Lächeln in die Augen.

Die Soldatin selbst hieß Ana und sie war die erste Offizierin der ersten Garde, dabei beließ sie es, aber Alia erahnte, welches Kampfgeschick sich hinter dieser groß gewachsenen, schlanken Frau mit den endlos langen braunen Haaren verbergen mochte.

Alia hatte während der Erklärung der Soldatin geschwiegen, aber ihre Augen waren voller Neugier zwischen den Soldaten hin und her geschlichen. Die Kapuze verhüllte ihr Gesicht und beschattete ihre Augen, sodass niemand ihr Verlangen erahnen konnte, diese Menschen in ihrem Wesen zu erkennen, damit sie ihre Angst endlich zu bändigen vermochte.

Der Tag ging dahin. Die Soldaten ritten ruhig nebeneinander her und plauderten miteinander, wechselten die Formation nach dem Lauf der Unterhaltung, zogen sich gegenseitig auf, sprachen über die Pläne für die Reise. Wo sollten sie ihre Wasservorräte aufstocken, wenn sie erst das schneebedeckte Land hinter sich ließen? Wo konnten sie auf welche anderen Truppen ihrer Armee treffen, um vielleicht einige Nächte mit Freunden verbringen zu können? Alltägliches, Wichtiges und Unwichtiges ... Alia entspannte sich mehr und mehr.

Zunächst hatte sie jedem Wort gespannt gelauscht, dann jedoch begriffen, dass nicht alles von Interesse war, was die Soldaten austauschten, und sie hatte die Stimmen ausgeblendet. Sie versuchte von Zeit zu Zeit immer wieder, ihr Pferd in verschiedene Schrittmuster zu lenken, damit sie sich besser kennenlernen konnten. Sie wollte seine Reaktion sehen und das Tier sollte im Gegenzug bemerken, dass Alia nichts Schlechtes von ihm wollte. Alia hatte bald sogar das Gefühl, das Pferd warte bereits gespannt auf die nächste Aufgabe.

Aber der wunderbarste Gedanke blitzte noch nicht gleich in ihrem Verstand auf: Sie war im Freien und das nicht nur für eine kurze, stark begrenzte Zeit, sondern für die nächsten Wochen, vielleicht sogar Mondläufe. Ihr Herz schlug stark, und es schwindelte sie fast, als sie begriff, wie nah sie der Freiheit gekommen war, die sie immer ersehnt hatte, auch wenn sie den Anordnungen eines Königs folgte, der ihr nichts bedeutete. Auch wenn sie der Befehlsgewalt dieses Heermeisters unterlag, der sich nicht am Gespräch seiner Soldaten beteiligte, so konnte sie doch frei atmen.

Nur zwei Mal während ihres gesamten Tagesrittes hatte sie selbst die Stimme erhoben. Einmal, als der Heermeister sich nach ihr umgewandt hatte, um zu fragen, ob sie eine Rast brauche, was sie mit einem kurzen „Nein“ beantwortete und dabei nicht wagte, sein Gesicht in ihre periphere Sicht treten zu lassen. Und ein zweites Mal, als es um die Frage ging, ob es wirklich eine gute Entscheidung gewesen war, das Diebesgut der getöteten Banditen der Oberin der Jidari zu übergeben.

„Ist die Schwesternschaft nicht zu isoliert, um es gerecht zurückverteilen zu können?“, wurde Alia direkt von Evan angesprochen.

Sie zuckte erschrocken zusammen, musste ihr Pferd zügeln, das ihre Unruhe gespürt hatte, und gab zurück, die Jidari verfügten über ein Netzwerk von Kontakten in alle Richtungen der anderen Welt.

„Die andere Welt?“, fragte Ana nach.

„Die Welt außerhalb der Schwesternschaft“, antwortete Alia und blickte beschämt auf ihre Hände. Bei den Monden, diese Soldaten mussten sie für einfältig halten.

Kians Leute hatten sich auf ihrer langen Reise zum Kloster oft den Kopf darüber zerbrochen, wie sie diese Frau, die nicht an das tagelange Reiten, das Leben und Ruhen im Freien gewöhnt war, in die Hauptstadt überführen sollten. Auch ihn selbst hatte dieser Gedanke beschäftigt. Sicher, es gab Frauen, Soldatinnen, die ein Leben wie dieses schätzten und denen der Luxus eines Zeltes schon überirdisch erschien, aber diese Frauen waren gewiss nicht in der Mehrzahl, wenn er sich die Gesellschaft außerhalb der Armee vor Augen führte.

Diese Heilerin jedoch ritt mit stoischer Ruhe zwischen seinen Leuten, wollte keine Rast und hörte während des gesamten Tagesrittes nicht auf, mit ihrem Pferd Spiele zu spielen. Kian hatte den sich verändernden Hufschlag ihres Pferdes immer wieder gehört und konnte sich sogar ausmalen, was sie dem Pferd vorgegeben hatte. Nur eine außergewöhnlich gute Reiterin konnte diese kleinen Aufgaben ersinnen. Kian war erleichtert zu bemerken, wie unkompliziert die Jidari-Heilerin sich ihm bis jetzt darstellte, auch wenn sie nichts von sich preisgab, schwieg und für sich blieb. Es war mehr, als er erwartet hatte.

Als die Abenddämmerung nicht mehr weit war, begann er nach einem Rastplatz für die Nacht Ausschau zu halten. Zu ihrer Rechten wurde das Land felsiger, und bald hatte er eine kleine Ebene etwas oberhalb von ihnen ausgemacht, die einerseits gut zu erreichen und andererseits einfach zu verteidigen war, da sie sich nur nach einer Seite hin aus dem Felsen öffnete. Er wandte sich um, suchte Roans Blick und zeigte ihm die Stelle. Roan nickte lediglich, und sie ritten bergan.

Oben angekommen beobachtete Kian für eine Weile die alltäglichen Verrichtungen seiner Leute. Die Pferde wurden abgesattelt, getränkt und gefüttert. Mino stellte auch für Kians Stute etwas bereit. Evan entfachte ein Feuer und die Schlafplätze wurden eingerichtet.

Die Heilerin schien irritiert, sie wirkte verloren, als erwartete sie irgendetwas, das nicht kam, und kopierte dann zögernd die Tätigkeiten der anderen. Bei all ihren Handlungen hielt sie den Kopf gesenkt, und er konnte nie auch nur den Hauch ihres Gesichtes unter der Kapuze erkennen. Schließlich stand sie mit einem Fell und einem ledernen Schlafsack unter dem Arm neben ihrem Pferd, offensichtlich nicht in der Lage herauszufinden, was die unauffälligste Art zu handeln war. Denn das war es, was sie wollte, wurde Kian klar: nicht auffallen, keine Aufmerksamkeit auf sich lenken.

Nun, sie hatte seine Aufmerksamkeit in diesem Moment, und er ließ seinen Hinweis absichtlich fast wie eine Anordnung klingen. „Sucht Euch einen Schlafplatz nahe dem Feuer!“, kam er ihr zu Hilfe, und wieder reagierte sie lediglich mit einem Nicken und ging hinüber zur Feuerstelle. Hatte es diese oberste Jidari für nötig befunden, der Heilerin zu erklären, warum überhaupt sie aus ihrer vertrauten Umgebung gerissen wurde und Soldaten sie in die ferne Hauptstadt eskortierten?

Kian sah sie noch einen Moment länger an, aber Roan begann jetzt geschäftig mit seinen Töpfen zu hantieren und grinste Kian herausfordernd zu. „Ich hätte Lust auf einen feinen Haseneintopf, Heermeister! Was sagt ihr?“

Kian lächelte, lockerte seine Felle vom Sattel und reichte sie Evan. „Ich werde sehen, was ich tun kann“, gab er zurück, zügelte die Stute und ritt den Abhang hinab.

Er hatte eine kleine Bewaldung entdeckt, bevor sie in die Felsen geritten waren, und hier wollte er sein Jagdglück versuchen. Je näher er den Bäumen kam, desto langsamer ritt er. Immer wieder flüsterte er seiner Stute in der Alten Sprache zu, sie solle ruhig sein. Dann nahm er seinen Bogen von der Schulter, legte einen Pfeil ein, spannte leicht und begab sich unter die Baumkronen. Eine Hand führte den Bogen vor sich, mit der anderen hielt er die Zügel, stoppte, lauschte und wartete.

Er könnte für immer so verweilen. Die erwartungsvolle Gespanntheit seines Körpers und Verstandes versetzte ihn in eine so tiefe Ruhe, wie er sie sonst nur in den geistigen Übungen fand, in die er sich versenkte, wenn es die Zeit zuließ. Er hatte versucht, sich in ihnen während langer Wegstrecken auf seinem Pferd zu üben, aber seine geistige Abwesenheit schien die Stute zutiefst zu beunruhigen und so hatte er diesen Versuch schließlich abgebrochen. Er wusste nicht, was seine Stute dabei in Unruhe versetzte, aber er hörte dennoch auf. Sie war sein wichtigstes Gut.

Neben ihm knackte das Unterholz und er drehte sich langsam in Richtung des Geräusches. Er kniff die Augen zusammen, um im schwindenden Licht des Tages etwas erkennen zu können. Die Baumwipfel waren sehr dicht und so reichte das Licht kaum bis auf den Grund, aber er sah dennoch eine rasche Bewegung. Ein Reh! Und im selben Moment dieses Gedankens in seinem Kopf hatte er den Bogen zur Gänze gespannt und den Pfeil entlassen. Er hörte, wie er sein Ziel traf, das Reh zu Boden ging und dann Stille eintrat.

Mit Genugtuung legte er sich den Bogen über die Schulter, ritt auf das Reh zu und betrachtete es. Ein guter Schuss, er hatte das Tier sofort getötet, so wie es sein sollte. Kian legte sich weit über die Flanke der Stute nach unten und zog das Reh an seinem Pfeil hoch über seinen Sattelknauf. Er entfernte mit seinem Messer den Pfeil, wischte ihn ab und verbrachte ihn zurück in den Köcher. Nochmals versicherte er sich, dass das Reh stabil vor ihm lag, und begab sich dann zurück zum Lager.

Die Jagd war zu schnell gegangen, aber er würde bald wieder hier sein, allein in der Nacht, und dieser Gedanke trieb ihn an.

„Hier, nehmt einen guten Schluck Tee!“, forderte Roan sie auf und hielt ihr einen Holzbecher mit dampfendem Inhalt entgegen.

„Danke“, erwiderte Alia, nahm ihm nickend das heiße Getränk aus der Hand und setzte sich damit erneut auf ihr Fell.

Roan verteilte Becher an alle Soldaten und diese ließen sich nun einer nach dem anderen um das Feuer nieder.

„Was schälst du da, Roan?“, fragte Mino skeptisch.

Ein paar wunderschöne, große, fast rote Kartoffeln wanden sich in Roans Händen. Alia kannte solche nur von den Reisenden, die im Hospital ihre Krankheiten kurieren lassen wollten. Hier wuchsen nur deren kleineren, fast gelben Schwestern.

„Nach was sieht es denn aus, Junge?“, fragte Roan grinsend zurück. „Hier, schäl mit!“, rief er und warf Mino eine der Früchte entgegen. Dieser grummelte vor sich hin, zückte jedoch sein Messer und begann mit der ihm zugewiesenen Arbeit.

Während die Vorbereitungen für das Essen ihren Lauf nahmen, saßen die Soldaten entspannt um das Feuer und tranken den heißen Tee. Alia schmeckte getrocknete Früchte und einen Hauch Süßkraut darin. Sie trank in winzigen Portionen, um länger an diesem Genuss zu haben, stellte dann jedoch fest, dass die anderen sich einfach eigenständig wieder und wieder aus dem dampfenden Teekessel bedienten. Sie wurden dazu sogar freundlich von Roan aufgefordert! Alia betrachtete staunend dieses Schauspiel. Das hatte es innerhalb der Schwesternschaft nie gegeben. Jede hatte ihren Anteil an der kargen Mahlzeit zugeteilt bekommen und mehr gab es nicht.

Als Ana nun mit einem neu gefüllten Becher neben ihr Platz nahm, nickte sie ihr zu. „Nur zu, nehmt Euch Tee, solange er heiß ist!“

Alia erhob sich zurückhaltend, um sich ebenfalls nachzuschenken, als sie ein fernes Hufgetrappel vernahm. Schnell kehrte sie zu ihrem Fell zurück und ließ unter ihrer Kapuze hervor den Blick über die Soldaten schweifen. Sie tranken, redeten ausgelassen und neckend über die Kochkünste Roans, aber keiner von ihnen merkte auf. Alia konnte bereits am Hufschlag erkennen, dass es sich um die Stute des Heermeisters handelte, und noch immer vernahmen die anderen nichts. Besseres Gehör, bessere Sicht, vor allem bei Nacht, ein weiteres Erbe der unbekannten Art, der sie entstammte.

Endlich sah auch die übrige Gesellschaft auf, und Ana begann zu lachen. „Das ist kein Hase, Heermeister!“

Alia wagte zum ersten Mal, ihre periphere Sicht auf das Gesicht des stillen, fremden Kriegers zu richten und sie zeigte ihr sein Lächeln, den belustigten Blick seiner Augen und sein an Ana gewandtes Schulterzucken, während er ein Reh neben Roan in den Schnee sinken ließ. Er war viel jünger als Alia vermutet hatte, wahrscheinlich kaum so alt wie Evan. Sie sah ein sehr markant geschnittenes Gesicht mit tiefblauen Augen, die in starkem Kontrast zu seinem schwarzen Haar standen. Jemand, der so einnehmend zu lächeln vermochte, sollte ihr wahrlich nicht so viel Angst einflößen, dachte sie.

„Welch ein Festschmaus!“, rief Roan aus. „Wenn du jedoch lieber einen Hasen essen möchtest, Ana, stell dir einfach vor, es sei einer!“, zog er freundlich die Soldatin auf.

Er begann zügig das Tier zu zerlegen, zog das Fell nicht ab, sondern löste es lediglich vom Fleisch, um große Stücke davon herauszuschneiden, die er sogleich in einen Topf mit heißem Öl und Zwiebeln beförderte. Läufe, Rücken- und Hinterpartie nahm er weg, den Rest des Kadavers händigte er dem Heermeister wieder aus. Sie tauschten ein ruhiges Nicken, der Heermeister wendete sein Pferd und ritt davon.

Alia erwartete, dass er lediglich den Kadaver in einiger Entfernung ablegen würde, damit sie nachts nicht den unerwarteten Besuch wilder Tiere zu fürchten brauchten, die das Aas witterten. Sie erwartete, er würde wiederkehren, um mit allen zusammen das Nachtmahl einzunehmen, aber ihr Gehör verriet ihr etwas anderes. Er ritt fort, weit hinaus in die Nacht. Ein seltsames Verhalten! Eines jedoch, über das Alia nicht mehr lange grübelte, denn bald hielt sie einen Holzteller mit geschmortem Reh und Kartoffeln in der Hand. Eine große Portion, und so viel mehr Fleisch als sie jemals bei einer Mahlzeit, die ihr zugeteilt war, gesehen hatte. Das war unermesslicher Luxus!

„Das ist für mich?“, fragte sie leise an niemand bestimmten gewandt und erntete ein freundliches Lachen der Soldaten, während ihre Wangen heiß wurden vor Scham über ihre unbedachten Worte. Dennoch schloss sie vor Dankbarkeit die Augen, während sie Bissen um Bissen kaute, schmeckte und genoss. Sie schluckte den letzten Bissen mit einem Seufzer, den Ana wohl auch vernommen hatte, denn sie lachte wieder. „Gebt mir Euren Teller, ich hole uns Nachschub!“

Erneut bekam Alia einen großen Brocken Fleisch mit köstlichen Kartoffeln und hoffte, diese Reise möge nie enden.

Kian hatte die erste Hälfte der Nacht in Nähe der Bewaldung verbracht. Stunde um Stunde hatte er mit gespanntem Bogen mit der Stute gelauert und dabei seinem Dasein in der mit zahlreichen Tierstimmen erfüllten Dunkelheit nachgespürt. Er war auf ausdrücklichem Befehl des Königs hier, musste er sich mehr und mehr klar machen, denn im Grunde fühlte er sich zunehmend wie auf einer Ferienreise. Hier musste er nicht die Verantwortung über Leben und Tod von annähernd zweitausend Soldaten tragen, er musste keine Strategien entwerfen, die Fürsten in Schach zu halten, er musste nicht nächtelang Gefangene verhören, nicht die Schreie der Verwundeten ertragen und ... Er musste kein Krieger sein. Er musste nicht kämpfen. Er musste nicht töten. Und er sah niemanden sterben.

Er war es so müde und gleichzeitig fühlte er sich schuldig. Was war er für ein Heermeister, der solche Gedanken mit sich herumtrug? Wie konnte er je wieder seinen Truppen gegenübertreten, wenn weglaufen alles war, was er manchmal wollte? Er war es seinen Soldaten schuldig, in jeder Sekunde seines Daseins um ihr Wohl besorgt zu sein, und nicht eine nächtliche Jagd zu genießen, bei der er sich daran erfreute, dass er weit weg war von ihnen.

Er wusste nicht, ob er sich je wieder im Spiegel gegenübertreten konnte, aber hier und jetzt, in der Mitte der Nacht, fühlte er sich frei.

Eigentlich war er an diesen Ort zurückgekehrt, um vielleicht doch noch ein paar Hasen zu schießen, aber stattdessen wies ihm der Zufall eine Schar Rebhühner zu. Diese hingen nun an seinem Sattel, als er seine Stute den Berghang hinaufführte und die Ebene erreichte. Das Feuer war ein wenig heruntergebrannt. Er konnte die schlafenden Gestalten seiner Soldaten erkennen, auch die Heilerin schien friedlich zu ruhen, nur Roan war wach. Er hatte die erste Nachtwache übernommen und wandte sich nun in seine Richtung.

Ein breites Lächeln erfüllte Roans Gesicht. „Na, da habe ich doch etwas zu tun in der letzten Stunde meiner Wache!“, flüsterte er und band die Rebhühner los.

Kian lächelte ebenfalls und nahm daraufhin mit einem „Danke“ einen Teller mit Essen von Roan entgegen.

„Sei froh, dass noch etwas übrig ist. Ein Kopf mehr an der Tafel und schon wird das Essen knapp.“

„Du übertreibst doch, mein Freund! Was kann diese zarte Person schon zu sich genommen haben?“, entgegnete er mit zusammengekniffenen Augen.

„Du glaubst nicht, was dieses magere Mädchen verdrücken kann. Drei Portionen!“ Roan lachte leise.

Kian wunderte sich und zuckte dann die Achseln. „Sie ist an ein karges Leben gewöhnt.“

Roan nickte nachdenklich. „Wahrscheinlich. Aber es ist nicht gerade so, als würde ich hier erlesene Köstlichkeiten auf den Tisch bringen.“

„Nein, aber du bringst ihr unsere Gastfreundschaft entgegen, und das ist etwas, das die Heilerin unter den Jidari vermutlich nicht erlebt hat. Erinnere dich, wie wir behandelt wurden!“

Roan sah Kian kopfschüttelnd an. „Du vergisst, dass sie eine von ihnen ist, und wir nur Soldaten eines Königs, der keine Rolle in ihrem Leben spielt. Wir wissen nichts darüber, wie sie sich untereinander verhalten!“

„Die Jidari lassen auch untereinander keine persönlichen Bindungen zu. Das ist ihr Kodex“, antwortete Kian bestimmt.

„Hast du darüber gelesen?“

„Ja, ich habe die Jidari-Schwesternschaft in den alten Schriften studiert, bevor wir aufbrachen. Ich wollte ihnen nicht in Unwissen entgegentreten.“

Roan blickte Kian einen Moment nachdenklich an, dann zuckte er die Achseln. „Nun, jedenfalls müssen wir uns morgen etwas einfallen lassen, wie wir irgendetwas Ähnliches wie Gemüse in dieser Schneelandschaft auftreiben. Die Vorräte gehen zur Neige!“ Er nahm Kian den Teller ab, als dieser seine Mahlzeit beendet hatte.

„Wer wacht nach dir?“

„Evan. Mino übernimmt die letzte Wache. Ana und du seid an der Reihe zu schlafen!“

„Nein, sage Evan, er soll mich wecken anstatt Mino, ich ...“

„Kian! Geh schlafen! Ruh dich aus!“, unterbrach ihn Roan.

Kian hörte die Autorität des Älteren aus seinen Worten. Er wusste, Roan duldete keine Widerrede. Er konnte sich also lediglich fügen und deutete eine spielerische Verbeugung an.

„Kian, nicht, wenn dich die anderen sehen!“, lachte Roan leise und ließ den Blick unruhig über die Schlafenden wandern.

„Sehen, wie ich mich vor dir verneige? Lass das meine Sorge sein, mein Freund. Gute Nacht!“

„Möge der Schlaf dich ebenso gut gelaunt erhalten, wie du jetzt vor mir stehst, mein Heermeister!“, flüsterte Roan zurück, zwinkerte und verneigte sich ebenfalls.

Kian, lachte leise. Er führte die Stute zu seinen Fellen, die Evan in die Nähe eines nicht ganz hüfthohen Felsens gelegt hatte. Es erfüllte ihn auch nach so langer Zeit in der Gegenwart seiner persönlichen Garde mit Dankbarkeit, dass jeder von ihnen schweigend seinen so besonderen Bedürfnissen entgegenkam. Sie halfen ihm, ohne jemals ein Wort darüber zu verlieren, und das war ein weiterer Teil der Freiheit, die ihm dieser Auftrag brachte: Er war unter Menschen, die ihn akzeptierten und ihn nie danach beurteilten, was er war.

Alia war bereits beim Eintreffen des fremden Kriegers erwacht. Sie hielt die Augen zunächst weiter geschlossen, öffnete sie jedoch, als sie hörte, dass Roan ihn in der persönlichen Anrede mit du ansprach. Sie wunderte sich sehr, dass er sich eine solche Vertrautheit gegenüber seines Heermeisters herausnehmen durfte. Vor allem, weil er immerfort zu ihm aufsehen musste, da dieser nicht von seinem Pferd stieg. Roan sprach ihn sogar mit seinem Vornamen an. Kian.

Der einzige Mensch, dem Alia jemals so nah gewesen war, um ihn auf diese Art anzusprechen, war Jaso gewesen. Mit ihm war sie als Kind gemeinsam herumgestreunt, wann immer es ihr möglich war, dem Kloster zu entkommen. Als sie alt genug dafür waren, hatten sie die Kissen geteilt. Jaso war ihre einzige Möglichkeit gewesen, sich als Kind zu erleben und später als eine Frau.

Alia erlaubte sich, unter dem Schutz ihrer Kapuze ihre Augen direkt auf die Sprechenden zu richten. Das war etwas, das sie ebenfalls nur in Jasos Gegenwart absichtlich getan hatte, so lange sie sich erinnern konnte. Die periphere Sicht musste ihr zur zweiten Natur werden, denn Abweichungen von diesem Teil des Kodexes wurden schwer bestraft. Es war das Einzige, das mit körperlichen Schmerzen geahndet wurde, und wahrlich, sie hatte viele Schläge durch die Oberin erhalten.

Der Heermeister schien entspannt, seine Züge wirkten weniger rau, seine Augen ruhten auf Roans Gesicht und die beiden scherzten sogar miteinander. Sie sah seine Verbeugung vor dem älteren, ihm untergebenen Soldaten und die leise Furcht Roans, sie könnten beobachtet werden, denn natürlich war dies ein schändliches Verhalten innerhalb der Hierarchie der Soldaten. Aber Alia lächelte. Der furchteinflößende Krieger war ein Mann mit Humor. Einem Humor, der sich über den Stand seines Gegenübers hinwegsetzen konnte.

Sie hatten darüber gesprochen, wie viel Alia gegessen hatte. Schande! Es hatte ihr einen Stich versetzt, den Heermeister von ihrem kargen Leben und der Gastfreundschaft sprechen zu hören, die sie tatsächlich nie erlebt hatte. Er schien vieles über die Schwesternschaft zu wissen, das er für sich behielt. Es machte Alia traurig und gleichzeitig erwärmte sich ihr Herz ein wenig für diesen Krieger, dem Mitgefühl kein Fremdwort zu sein schien.

Vielleicht brauchte sie sich vor ihm tatsächlich nicht zu fürchten. Er erteilte ihr keine Befehle, im Gegenteil, er half ihr, die Richtung zu finden, wie vorhin bei der Auswahl ihres Schlafplatzes. Auch die anderen befahlen ihr nicht, sondern ermutigten sie, zu tun, was sie tun wollte. Wollte sie mehr Tee? Mehr Essen? Näher an das Feuer heranrücken? Sie war keine Gefangene! Ein kleines Wunder ... Und sie nahm sich fest vor, sich morgen auf ihre Art dafür zu bedanken. Sie würde einige Erdfrüchte finden und damit Roans Vorräte aufstocken.

Mit diesen ermutigenden Gedanken wäre sie beinahe wieder eingeschlafen, als sie hörte, wie der Heermeister sein Pferd in Richtung seines Schlafplatzes lenkte. Alia bewegte langsam ihren Kopf, um ihn weiterhin ansehen zu können. Sie war sehr vorsichtig, wollte sich nicht verraten und dann sah sie, was ihr hätte längst auffallen müssen, wenn sie sich getraut hätte, ihn auch nur einmal genauer anzusehen. Jetzt sah sie die beiden Gehstöcke, die an seinem Gepäck befestigt waren. Sie sah, dass seine Beine mit straffen Ledergurten an seinem Sattel festgebunden waren.

Er ritt nah an einen Felsen heran, vor dem seine Schlaffelle ausgebreitet lagen, dann beugte er sich hinunter, löste die Lederriemen um Ober- und Unterschenkel und befreite seinen Stiefel mit den Händen aus dem Steigbügel. Danach beugte er sich auf die andere Seite und wiederholte seine Handlungen an seinem anderen Bein. Nachdem er wieder aufrecht saß, lehnte er sich weit über den Hals seines Pferdes, griff unter den Oberschenkel seines einen Beines und zog es hinter sich über den Rücken des Pferdes. Das Bein wirkte seltsam steif, als würde es von irgendetwas gehalten. Er umfasste den Sattelknauf und rutschte langsam vom Pferd auf die Seite, auf der sich der Fels befand. Seine Füße berührten den Boden, aber er ließ kaum eine Belastung zu, so schien es Alia, sondern hielt sich weiter mit einer Hand und immenser Kraft am Sattel fest. Mit der anderen Hand tastete er nach dem Felsen und verlagerte sein Gewicht bald dorthin.

Alia hatte genug gesehen und sie schloss die Augen. Der stille, fremde Krieger hatte gelähmte Beine. Sie hatte oft Menschen behandelt, deren Glieder von Lähmungen betroffen waren. Manche waren so geboren, andere hatten Verletzungen erlitten, die zur Folge hatten, dass sie Teile ihres Körpers nicht mehr kontrollieren konnten. Meistens konnte Alia nicht viel tun, um zu helfen, aber sie hatte oft gesehen, wie diese Menschen lernten, mit ihrer eingeschränkten Beweglichkeit zu leben.

Sie wusste zu viel um die Beschaffenheit des menschlichen Körpers, um jetzt in Erstaunen zu geraten. Normalerweise registrierte sie solche Dinge automatisch als Erstes, wenn sie anderen Menschen begegnete. Sie war eine Heilerin und davon war ihr Blick auf andere geprägt. Nicht jedoch bei diesem Krieger, den sie nie gewagt hatte anzusehen, bis die Nacht sie schützte.

Jedoch schloss sie nicht deswegen die Augen. Nein, sie schloss sie, um dem Flüstern besser lauschen zu können. Der stille Krieger flüsterte seinem Pferd wieder Worte in der Alten Sprache zu. Alia verstand, dass er die Stute beruhigte, erklärte, was er tat, sie aufforderte, ihm zu helfen ... Alltägliches. Aber es war nicht der Inhalt seiner Worte, der sie interessierte. Es war der Klang seiner Stimme, die die Worte formten. Der Klang der Alten Sprache, die für sie nie einen Klang gehabt hatte, weil niemand sie sprach. Sie sah die uralten Schriftzeichen vor sich, während sie die Worte hörte, Schriftzeichen, die niemand mehr benutzte. Der Heermeister wurde ihr in dieser Nacht zur Stimme dieser vergessenen Sprache, die sie immer geliebt hatte, und diese Stimme verzauberte sie bis in ihre Träume.

Alia erwachte beim ersten Zeichen des Morgengrauens, aber es war nicht das Licht, das sie geweckt hatte, sondern die leisen Schritte der Soldaten. Sie erhoben sich langsam von ihren Fellen, verrichteten morgendliche Alltäglichkeiten und griffen dann einer nach dem anderen zu ihren Schwertern. Keiner sagte ein Wort.

Sie sah die Gestalt des Heermeisters drüben bei dem Felsen, der an seine Bettstadt grenzte, halb lehnte er daran, halb saß er, das Schwert mit beiden Händen senkrecht vor sich erhoben und den Blick auf seine Hände gerichtet. Das ähnelte sehr der Versenkung, wie sie die Jidari praktizierten, nur benutzten diese keine Waffen. Waren die Truppen des Königs religiös gesinnt? Alia wusste es nicht.

Sie wagte es nicht, sich zu bewegen, denn nun fanden sich alle vier Soldaten ein, verteilt auf der kleinen Ebene und doch alle mit dem Blick in dieselbe Richtung wie ihr Heermeister. Nach Süden! Alle erhoben ihre Schwerter auf dieselbe Art wie er und versanken in stiller Kontemplation.

Dann, wie auf ein stummes Kommando hin, ließen sie alle das Schwert sinken, bis die Spitze nach vorne zeigte, und schlossen die Augen. Alle begannen die gleiche Abfolge von Bewegungen. Keiner machte einen Schritt, nur die Schwerter schnitten in die Luft. Jeder auf die gleiche elegante Art, zeichneten sie mit ihren Schwertern Linien in die Kälte. Dann führte die rechte Hand das Schwert in einem großen Bogen über die Schulter und übergab es an die linke. Die Hände trafen sich erneut am Griff und wieder durchstießen die Spitzen ein unsichtbares Gegenüber mit der unbeschreiblichen Präzision ihres Gleichklanges.