Iphosia - Manuel Timm - E-Book

Iphosia E-Book

Manuel Timm

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Beschreibung

"Entschuldigen Sie bitte, aber ich bin wegen des Buches hier!" Niemals hätte Ellie geahnt, dass dieser einfache Satz der Beginn eines mitreißenden Abenteuers für sie und ihre jüngere Schwester Anna sein würde. In eine fremde Welt entführt und voneinander getrennt, bleibt Ellie allein die Möglichkeit dem jungen, charismatischen Kellan zu vertrauen. Hin- und hergerissen zwischen Liebe und Misstrauen, muss sie sich auf ihn verlassen, will sie Anna und einen Weg nach Hause finden. Für die Schwestern beginnt eine gefährliche Reise durch eine Welt, die vielleicht doch nicht so märchenhaft ist, wie sie zunächst scheint ...

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Das Buch

»Entschuldigen Sie bitte, aber ich bin wegen des Buches hier!« Niemals hätte Ellie geahnt, dass dieser einfache Satz der Beginn eines mitreißenden Abenteuers für sie und ihre jüngere Schwester Anna sein würde.

In eine fremde Welt entführt und voneinander getrennt, bleibt Ellie allein die Möglichkeit dem jungen, charismatischen Kellan zu vertrauen.

Hin- und hergerissen zwischen Liebe und Misstrauen, muss sie sich auf ihn verlassen, will sie Anna und einen Weg nach Hause finden.

Für die Schwestern beginnt eine gefährliche Reise durch eine Welt, die vielleicht doch nicht so märchenhaft ist, wie sie zunächst scheint ...

Der Autor

Manuel Timm wurde in der Nähe Hamburgs geboren. Seine ersten Kurzgeschichten im Horrorgenre wurden in einer beliebten Gruselserie veröffentlicht. Anschließend widmete er sich mehr dem Fantasygenre und schrieb erste Romane. Heute lebt Manuel Timm mit seiner Familie in einem kleinen Dorf in Schleswig-Holstein.

Weitere Veröffentlichungen des Autors

Handbuch für Drachentöter

Die Gnome

Iphosia – Die Federn des Windes

Iphosia – Der Splitter des Mondes (in kürze)

Mehr über Autor und Werk erfahren Sie auf:

www.manueltimm.de

Für meine Frau, die immer an mich glaubt.

Inhaltsverzeichnis

EPISODE EINS: IPHOSIA

Kapitel 1: Ellie

Kapitel 2: Horace Finton

Kapitel 3: Ellie

Kapitel 4: Anna

Kapitel 5: Ellie

Kapitel 6: Ellie

Kapitel 7: Ellie

Kapitel 8: Anna

Kapitel 9: Ellie

Kapitel 10: Anna

Kapitel 11: Ellie

Kapitel 12: Anna

Kapitel 13: Ellie

Kapitel 14: Arien Tulsa

Kapitel 15: Darkus Rothenschild

Kapitel 16: Ellie

Kapitel 17: Anna

Kapitel 18: Ellie

Kapitel 19: Ylwan

Kapitel 20: Horace Finton

Kapitel 21: Ellie

Kapitel 22: Anna

Kapitel 23: Ellie

Kapitel 24: Ylwan

Kapitel 25: Anna

Kapitel 26: Kellan

Kapitel 27: Anna

Kapitel 28: Ellie

Kapitel 29: Arien Tulsa

Kapitel 30: Anna

Kapitel 31: Ellie

Kapitel 32: Ylwan

Kapitel 33: Magistra Telen

Kapitel 34: Ruggon

Kapitel 35: Kellan

Kapitel 36: Anna

Kapitel 37: Ylwan

Kapitel 38: Ellie

Kapitel 39: Anna

Kapitel 40: Ellie

Kapitel 41: Magistra Telen

Kapitel 42: Kellan

EPISODE ZWEI: SCHWARZE SCHWINGEN

Kapitel 1: Ellie

Kapitel 2: Magistra Telen

Kapitel 3: Telvor Brandt

Kapitel 4: Kellan

Kapitel 5: Ellie

Kapitel 6: Kellan

Kapitel 7: Trane Saiz

Kapitel 8: Ylwan

Kapitel 9: Anna

Kapitel 10: Magister Bakisch

Kapitel 11: Kellan

Kapitel 12: Ellie

Kapitel 13: Magister Bakisch

Kapitel 14: Kellan

Kapitel 15: Trane Saiz

Kapitel 16: Kellan

Kapitel 17: Darkus Rothenschild

Kapitel 18: Ellie

Kapitel 19: Magister Bakisch

Kapitel 20: Magistra Telen

Kapitel 21: Ellie

Kapitel 22: Horace Finton

Kapitel 23: Magistra Telen

Kapitel 24: Jarmo

Kapitel 25: Magister Olten

Kapitel 26: Ellie

Kapitel 27: Trane Saiz

Kapitel 28: Arien Tulsa

Kapitel 29: Magistra Telen

Kapitel 30: Kellan

Kapitel 31: Espen

Kapitel 32: Trane Saiz

Kapitel 33: Jarmo

Kapitel 34: Ellie

Kapitel 35: Darkus Rothenschild

Kapitel 36: Ylwan

EPISODE DREI: DIE VERLORENEN SEITEN

Kapitel 1: Darkus Rothenschild

Kapitel 2: Ellie

Kapitel 3: Magister Olten

Kapitel 4: Ellie

Kapitel 5: Jarmo

Kapitel 6: Arien Tulsa

Kapitel 7: Trane Saiz

Kapitel 8: Jarmo

Kapitel 9: Ellie

Kapitel 10: Ylwan

Kapitel 11: Jarmo

Kapitel 12: Kellan

Kapitel 13: Darkus Rothenschild

Kapitel 14: Kellan

Kapitel 15: Ylwan

Kapitel 16: Magister Olten

Kapitel 17: Trane Saiz

Kapitel 18: Ylwan

Kapitel 19: Jarmo

Kapitel 20: Darkus Rothenschild

Kapitel 21: Magister Olten

Kapitel 22: Arien Tulsa

Kapitel 23: Anna

Kapitel 24: Ellie

Kapitel 25: Magistra Telen

Kapitel 26: Kellan

Kapitel 27: Arien Tulsa

Kapitel 28: Selen

Kapitel 29: Jarmo

Kapitel 30: Ellie

Kapitel 31: Arien Tulsa

Kapitel 32: Jarmo

Kapitel 33: Ylwan

Kapitel 34: Ellie

Kapitel 35: Trane Saiz

Kapitel 36: Darkus Rothenschild

Kapitel 37: Ellie

Kapitel 38: Ellie

Kapitel 39: Ellie

Kompendium

EPISODE EINS

IPHOSIA

1 Ellie

Entschuldigen Sie bitte die Störung. Mein Name ist Horace Finton. Ich bin wegen des Buches hier.«

Der kleine Mann sprach mit einem Akzent, den Ellie noch nie zuvor gehört hatte. Jetzt, als er vor ihr stand, ärgerte sie sich bereits darüber, die Haustür überhaupt geöffnet zu haben.

Horace Finton lächelte freundlich. In seinem hellgrauen Anzug, der aus dem vorletzten Jahrhundert zu stammen schien, wirkte er sogar ein wenig komisch. Der etwas zu große Kopf und die viel zu kleine Nickelbrille unterstrichen das kuriose Gesamtbild.

»Haben Sie es mittlerweile gefunden?«, hakte er nach.

»Ich weiß nicht, welches Buch Sie meinen«, antwortete Ellie mit leicht genervter Stimme. »Kommen Sie doch wieder, wenn meine Eltern da sind.«

Für den letzten Satz hätte sie sich ohrfeigen können. Dadurch erhielt er die Einladung noch einmal wiederzukehren.

»Es ist ein großes Buch. Mit einem roten Ledereinband. Auf dem Deckel ist ein goldener Mond, der eine Sonne verschlingt.«

Horace Finton ließ nicht locker. Bei jedem Satz wippte er auf den Zehenspitzen. Dieser Kerl steigerte den Ärger in der jungen Frau immer mehr. Allein schon durch seine bloße Anwesenheit. Vor einer Woche war er zum ersten Mal aufgetaucht. Es war genau einen Tag nach der Beerdigung von Ellies Großmutter, deren Haus sie derzeit mit ihren Eltern und ihrer jüngeren Schwester bewohnte, um den Nachlass zu regeln. Ein paar Wochen fern von der Großstadt waren zudem eine Abwechslung, auch wenn die vielen Erinnerungen an die geliebte Großmutter sehr schmerzten. An jenem Tag hatte Horace Finton mit Ellies Mutter gesprochen und auch sie nach dem Buch gefragt. Sie hatte ihn abgewimmelt und versprochen ihn anzurufen, wenn sie es finden würde.

Dazu kam es allerdings nicht: Ihre Eltern sind am Morgen für zwei Tage zu Tante Sarah gefahren, in deren Wohnung eingebrochen worden war. Ellie blieb mit ihrer Schwester in Großmutters Haus. Und als hätte Horace Finton es geahnt, tauchte er plötzlich am heutigen Abend wieder auf.

»Es tut mir leid, Herr Finton. Vielleicht kommen Sie später wieder!« Ellie versuchte, die Tür zu schließen, doch der kleine Mann stellte rasch einen Fuß in den Spalt.

»Verzeihung, aber wenn Sie mich vielleicht hineinbitten würden? Ich könnte selbst nach dem Buch suchen.«

Ellie spürte die Panik in sich aufsteigen. Ihr Herz begann wie wild zu schlagen, ihr Magen krampfte sich zusammen. Sie stemmte sich gegen die Tür und versuchte Finton zurückzudrängen. Doch der kleine Mann war stärker, als seine Erscheinung vermuten ließ.

»Hauen Sie ab!«, schrie Ellie. Sie gab seiner Bewegung ein wenig nach, um sich im nächsten Augenblick mit der Schulter gegen die Tür zu werfen.

Horace Finton wich zurück. Die Tür fiel ins Schloss.

»Ich möchte doch nur…«

»Verschwinden Sie!« Ellie presste sich mit dem Rücken gegen die Tür, als wolle sie diese noch mit ihrem Körper verstärken. Ihr Atem ging stoßweise, sie zitterte am ganzen Leib. Sekundenlang verweilte sie in dieser Position, vermochte sich nicht zu bewegen.

»Was ist hier los?«

Ellie zuckte zusammen. Sie wandte den Kopf und blickte zu der schmalen Treppe am Ende des Flurs. Dort stand ihre zwölfjährige Schwester, die sie fragend ansah.

»Was ist denn los?«, wiederholte Anna die Frage. Ohne auf eine Antwort wartend, hüpfte sie die letzten Stufen hinunter, wobei ihre hellblonden, langen Locken auf und ab wippten. »Warte da!«, zischte Ellie. Sie war noch immer von dem Vorfall sehr mitgenommen, wagte nicht einmal laut zu sprechen.

Erschrocken gehorchte Anna dem Befehl ihrer Schwester und blieb wie angewurzelt stehen. Fragend riss sie ihre blauen Augen auf. Ellie überlegte, was sie ihrer Schwester sagen konnte, ohne sie in Angst zu versetzen, und beschloss, die letzten Augenblicke ein wenig herunter zu spielen.

»Der komische Mann war wieder wegen dem Buch da. Er hat schon geklingelt, aber ich habe keine Lust ihm zu öffnen«, log sie.

»Ist er noch da draußen?« Anna war ebenfalls in einen Flüsterton übergegangen. Ellie wusste, dass ihre Schwester Abenteuer liebte und ihr diese Geheimnistuerei gefiel. Solange sie nicht davon erfuhr, dass Horace Finton versucht hatte, in das Haus einzudringen, fand sie das Ganze interessant. Und so sollte es auch bleiben.

»Ich weiß es nicht«, gab Ellie zu. Die Nähe zu ihrer sechs Jahre jüngeren Schwester ließ die Angst abflauen. Stattdessen gewann der Beschützerinstinkt Oberhand. Sie holte tief Luft, drehte sich und riskierte einen Blick durch das kleine, ovale Fenster im oberen Türdrittel. Dazu musste sie sich auf die Zehenspitzen stellen. Sie fürchtete den sonderbaren Mann vor der Haustür stehen zu sehen, aber dort stand niemand. Verlassen lag die schmale Veranda vor ihr. Durch eine Hängelampe erhellt, wirkte sie wie eine einsame Insel in der Dämmerung des Abends. Ellies Blick wanderte über die Kiesauffahrt und den, seit einigen Wochen, ungemähten Rasen hinweg. Sie sah bis zu den halbhohen Kiefern, die das Grundstück begrenzten, aber alles war ruhig. Es gab kein Anzeichen dafür, dass sich Horace Finton noch draußen befand.

Erleichtert atmete sie aus, ihre Muskeln entspannten sich.

»Und?« Die Stimme erklang nah in Ellies Rücken und jagte ihr einen Schrecken ein. Obwohl sie wusste, dass sie ihrer Schwester gehörte, wähnte sie Anna nicht so dicht hinter sich.

»Mensch, Annie!« Ellie wirbelte herum. »Musst du dich so anschleichen? Ich wäre fast gestorben!«

»Also ist der Zwerg weg?«, kombinierte Anna richtig.

»Ja, ist er. Aber er ist kein Zwerg, sondern lediglich ein kleiner Mann.«

»Und vor dem fürchtest du dich?« Anna legte den Kopf schräg und lächelte ihre Schwester herausfordernd an.

»Nein«, Ellie fühlte sich ertappt. »Nein! Ich habe nur keine Lust mich mit ihm über dieses blöde Buch zu unterhalten. Und jetzt ab in die Küche mit dir. Wir können essen!«

Anna lief eilig den Weg in Richtung Küche. Ellie sah ihr nach, bis sie aus ihrem Blickfeld verschwunden war. Ellies Herzschlag war noch immer nicht im Normalzustand angekommen. Verstohlen blickte sie durch das Türfenster, konnte aber keine Veränderung ausmachen. Horace Finton war nirgends zu sehen.

Ein wenig beruhigter folgte sie ihrer Schwester. Dennoch blieb ein mulmiges Gefühl in ihrer Magengegend zurück und sie hoffte inständig, dass der seltsame Mann nicht wiederauftauchen würde.

2 Horace Finton

Horace Finton zog sich zurück. Das Buch befand sich zwar noch nicht in seinem Besitz, aber er hatte einen Teilerfolg errungen. Zufrieden betrachtete er die kleine Porzellanfigur, die er unbemerkt von dem Tisch gestohlen hatte, der sich innen neben der Haustür befand. Für sich gesehen hatte dieses Abbild eines sitzenden Kindes mit rotem Ball keinen Wert, aber Horace brachte es ein gutes Stück näher an das begehrte Buch. Die Figur stammte aus dem Inneren des Hauses, in dem er das Buch vermutete. Mit ihr hatte er nun die Möglichkeit, in das Haus hinein zu sehen.

Eilig lief der kleine Mann über den ungemähten Rasen auf einige Kieferbäume zu. Ein bläuliches Licht war sein Ziel. Es sah aus wie ein ovaler Spiegel und schwebte knapp über dem Boden zwischen den Bäumen. Es pulsierte und veränderte seine Oberfläche, erinnerte dabei an einen Wasserstrudel. Wolken erschienen in diesem blauen Licht, wurden vom Strudel erfasst, und zerfaserten auf dem Weg ins Zentrum.

Horace musste sich beeilen. Es bedurfte einiges an Vorbereitung, bis er in der Lage war das Buch zu rufen. Aber dann würde er zurückkommen.

3 Ellie

Die beiden Mädchen saßen schweigend am Tisch. Ellie mochte nicht über die Geschehnisse sprechen, aber sie wusste auch, dass Anna viele Fragen unter den Nägeln brannten. Ab und an blickte Ellie auf, sah Anna motivationslos die Nudeln mit der Gabel auflesen und sie in die Tomatensauce tunken. Als selbst die vierte Gabel nicht den Weg in den Mund ihrer Schwester gefunden hatte, reichte es Ellie.

»Ok, was ist los?«, fragte sie.

Anna hob den Kopf. Sie versuchte, das Grinsen zu unterdrücken, schaffte es aber nicht wirklich.

»Wollen wir das Buch suchen?«, schoss es aus ihr heraus.

»Warum?« Ellie verdrehte die Augen. »Dieses blöde Buch interessiert mich nicht im Geringsten. Was ihr bloß alle mit diesem dusseligen Buch habt!«

»Wen meinst du mit wir alle?«

»Na, dich und diesen komischen Mann.«

»Du bist doof! Aber es ist bestimmt bei Omas Sachen. Wir können es finden und nachsehen, was daran so besonders ist. Ob dieser Mann aus Omas Geschichten stammt?«

»Was redest du für einen Blödsinn? Das ist irgendein Mann, den Oma wahrscheinlich von früher kannte. Er hat ihr ein Buch geliehen und sie hat vergessen es zurück zu geben. Das geht uns überhaupt nichts an. Mama und Papa können sich darum kümmern, wenn sie Montag wieder hier sind.«

»Und wenn der Mann noch einmal kommt?« Anna verengte die Augen zu schlitzen und machte dabei ein gruseliges Gesicht.

»Wird er nicht.« Ellie war von ihrer Aussage selbst nicht wirklich überzeugt. Bei dem bloßen Gedanken, dass Finton wieder vor der Tür stehen könnte, lief ihr ein eisiger Schauer über den Rücken. Sie konnte es zwar nicht benennen, aber irgendetwas an diesem Mann bereitete ihr Angst.

»Aber er hat doch Mama schon nach dem Buch gefragt…«

»Und Mama hat vergessen nachzusehen. Sie hatte genug damit zu tun, um Oma zu trauern. Und dann noch dieser Einbruch bei Tante Sarah. Das hat sie ziemlich mitgenommen.« Ellie fügte eine kurze Pause ein. »Nach dem Wochenende sind Mama und Papa wieder da und dann können sie Omas altem Freund das Buch geben.«

»Findest du es nicht auch komisch, dass bei Tante Sarah eingebrochen wurde? Vielleicht war es dieser Mann? Er hat bestimmt das Buch schon bei ihr gesucht!«

Ellie entwich die Farbe aus dem Gesicht. Sekundenlang starrte sie ihre Schwester an. Dieser Gedanke war der jungen Frau noch nicht gekommen. Aber war es so abwegig?

»Du spinnst!« Ellie stand auf und stellte ihren halbleeren Teller beiseite. Die plötzliche Angst, die von ihr Besitz ergriff, verärgerte sie. Sie war eigentlich keine Person, die schnell aus der Fassung gebracht werden konnte. Doch diese ganze Situation war ihr zutiefst unheimlich und ihre kleine Schwester sollte ihr dies nicht anmerken.

»Wenn du nicht mehr essen willst, dann stell‘ deinen Teller weg und geh‘ ins Bett. Es ist Zeit!«, fauchte sie Anna an.

»Was soll das denn jetzt? Es ist doch erst halb acht!« Annas Blick war voller Unverständnis.

»Na und? Du stocherst doch eh nur in den Nudeln!«

»Aber…«

»Ins Bett!« Ellies Angst verwandelte sich in Wut, die nun ihre Schwester zu spüren bekam. Verärgert stand Anna auf. Sie schubste den Teller von sich weg, stampfte an Ellie vorbei und murmelte etwas Unverständliches, während sie die Treppe hinauflief. Ellie war froh, Annas Gemurmel nicht verstehen zu können. Mit Sicherheit waren es einige unschöne Beleidigungen, die sie nur noch mehr in Rage gebracht hätten. Ein lauter Knall bewies, dass ihre Schwester in ihrem Zimmer angekommen und die Tür schwungvoll geschlossen hatte.

Ellie stützte sich am Rand der Spüle ab und starrte ins Becken, ohne dabei etwas Bestimmtes zu fixieren. Es tat ihr schon wieder leid, Anna derart angefahren und sie so früh nach oben geschickt zu haben. Wäre sie dieses Wochenende nicht allein im Haus der Großmutter, würde sie sich sicherer fühlen. Aber so hatte sie nicht nur Angst um sich selbst, sondern auch um ihre Schwester. Vielleicht war es doch keine schlechte Idee, das Buch zu suchen und es Horace Finton zu geben, wenn er wiederkommen würde. Morgen früh sollten sie damit beginnen.

Ellie spülte das Besteck, die Teller und die Töpfe ab, verließ die Küche und ging über den Flur in Richtung Wohnzimmer. Auf dem Weg dorthin, warf sie noch einen Blick zur Haustür. Dabei kroch erneut eine Gänsehaut über ihren Rücken. Erschaudert wandte sie sich ab und betrat das Wohnzimmer. Der Raum war recht klein, aber sehr gemütlich. Ein altes Dreier-Sofa, ein Sessel in gleichem Design, ein kleiner, runder Couchtisch in dunkler Eiche und ein niedriger Schrank, auf dem ein alter Röhrenfernseher thronte, fanden darin Platz. Ellie strich sich durch das schulterlange, dunkle Haar und las die Zeitschrift vom Sessel auf. Mit angezogenen Beinen hockte sie sich auf das rotgrüne Sofa. Eine Zeit lang blickte sie immer wieder zur Zimmertür, warf schließlich die Zeitschrift zur Seite und schaltete den Fernseher ein. Sie brauchte jetzt dringend eine bessere Ablenkung.

4 Anna

Anna war über sich selbst erschrocken. Sie hatte die Zimmertür gar nicht derart lautstark zuknallen wollen. Sie rechnete damit, jeden Moment ihre Schwester meckernd im Zimmer stehen zu sehen, aber sie kam nicht. Anna setzte sich aufs Bett, drückte ihren Kuschelhasen an den Körper und starrte lustlos ins Leere. Sie mochte noch nicht schlafen gehen. Es waren Ferien und ihre Eltern einige Tage nicht da. Besser hätte die Möglichkeit gar nicht sein können, wenn Ellie nicht alles kaputt machen würde.

Sie mochte ihre Schwester natürlich. Es kam zwar öfter zu Streitigkeiten wegen irgendeinem unwichtigen Kram, doch meistens vertrugen sie sich gut. Bis auf diese Tage, an denen Ellie allein auf sie aufpassen musste. Dann tat sie immer so erwachsen, obwohl sie erst seit kurzem achtzehn war. Und ihre Hauptverantwortung schien nur darin zu bestehen, ihre Schwester viel zu früh ins Bett zu stecken. Sie war sich sicher, dass Ellie den Abend vor dem Fernseher nun für sich allein beanspruchte. Unfair!

Annas Zimmer war nicht besonders groß. Ein weißes Bett, eine weiße Kommode und ein weißer Kleiderschrank. Dazu noch ein weißer Schreibtisch mit weißem Stuhl. Für die farbliche Abwechslung sorgten die Unmengen an Kuscheltieren, die sich in nahezu jedem Winkel des Zimmers befanden. Anna wohnte immer in diesem Zimmer, wenn sie mal bei ihrer Großmutter war. Dies geschah eigentlich immer, wenn ihre Eltern mal etwas Zeit ohne Kinder wollten, oder einfach mal so übers Wochenende.

Es war immer spannend bei Großmutter gewesen. Draußen gab es einen kleinen Wald am Rande des Grundstücks, dort wo die Kiefern die Grenze bildeten. Ein See, der zu Abenteuern einlud, war auch nicht weit entfernt. Am spannendsten war allerdings der alte Dachboden. Großmutter hatte dort viele sonderliche Dinge verstaut. Alte Requisiten vom Varieté, wo sie früher gearbeitet hatte. Dazu kamen alte Büsten, Kleider und Statuetten. Uralter Schmuck und noch ältere Bücher.

Ihr lief eine Träne über die Wange, als sie an die vergangene Zeit dachte. Großmutter fehlte ihr. Es war für Anna schwer, sich vorzustellen, sie nicht wiederzusehen. Nie mehr vor dem Schlafengehen ihren fantastischen Geschichten zu lauschen oder mit ihr kleine Häuschen aus Streichhölzern zu bauen. Sie hatten es immer so schön zusammen gehabt.

Eine Weile gab sich Anna den Tränen hin. Dann ließ sie den Kuschelhasen aufs Kopfkissen fallen, wischte sich die Wangen trocken, sprang auf und schlich zur Zimmertür. Sie legte eine Hand auf die Klinke, hielt die Luft an und öffnete die Tür. Nahezu lautlos schwang sie auf. Anna steckte vorsichtig den Kopf durch den Spalt. Von ihrer Schwester war nichts zu sehen. Lediglich ein paar leise Stimmen waren zu hören, die wohl vom Fernseher aus dem Wohnzimmer kamen. War ja klar, dachte sich das blonde Mädchen.

Sie schlüpfte in den Flur. Sie blickte kurz die Treppe hinab, drehte sich um und schlich zufrieden in die andere Richtung. Außer ihrer Zimmertür befanden sich noch vier weitere in dem Flur. Drei an den Seiten und eine, am kurzen Ende der Treppe gegenüber. Dahinter befand sich der Aufstieg zum Dachboden. Dies war Annas Ziel.

Die Türen waren allesamt in Form und Farbe identisch. Auch die zum Dachboden, war in schlichtem Weiß gehalten. Anna öffnete sie, betätigte den Lichtschalter an der Seitenwand dahinter und stieg die schmalen Stufen hinauf. Am oberen Ende verhinderte ein Geländer, dass jemand von oben die Treppe hinabstürzte.

Für Anna war es jedes Mal, als würde sie in eine fremde, fantastische Welt eintauchen, wenn sie hier heraufkam. Beidseitig an den schrägen Wänden standen Schränke, auf denen viele kleine Statuen und Büsten standen. Sonderbare Apparaturen aus Messing und Kupfer befanden sich ebenfalls dort. Das blonde Mädchen hatte nicht den blassesten Schimmer, wofür diese eigentlich gut waren. In der Mitte des Spitzbodens hing ein mehrflammiger Kronenleuchter, der ebenfalls recht sonderbar aussah. Kleine Wesen aus blankem Silber umschlangen den Messingleuchter in Richtung der fünf großen Glühlampen. Die Wesen, welche sich nah am Licht befanden, hatten ihre Köpfe abgewandt und schützten die Augen mit den Armen. Sofern sie welche besaßen. Einige von ihnen trugen sogar Flügel, sahen allerdings nicht sehr engelhaft aus.

Stundenlang konnte sich Anna diesen Leuchter betrachten, fand immer wieder Figuren darauf, die sie zuvor noch nicht entdeckt hatte. Dieses Mal interessierte sie sich jedoch nicht für die Lampe, sondern ging unter ihr hindurch auf das große Bücherregal zu, welches die gesamte Stirnseite einnahm. Es war über und über mit alten Schriften gefüllt, die meisten von ihnen in Leder gebunden, einige einfach nur aufgerollt und übereinandergestapelt. Es gab kaum einen unbenutzten Platz in diesem Regal.

Sie stellte sich davor und betrachtete zunächst die Rücken der Ledereinbände. Auf ihnen standen allerdings nur selten die Titel der Bücher. Einige waren in Dunkelrot, andere in dunklem Blau. Hauptsächlich herrschte aber schwarz und braun vor. Anna tippelte mit den Fingerkuppen über die Buchrücken, zog eines hervor und steckte es zurück. Sie nahm wieder eines, betrachtete es kurz und legte es auf den Boden. Anschließend suchte sie weiter. Hin und wieder hielt sie inne und lauschte. Von Ellie hörte sie glücklicherweise nichts. Nur der Wind pfiff um die Ecken des alten Hauses, heulte sein altes Klagelied. Anna fand es unheimlich. In Verbindung mit dem Dachboden und seinem ungewöhnlichen Inhalt kam es ihr vor, als würde sie sich in einem Gruselfilm befinden. Unwillkürlich fröstelte sie. Anna schüttelte sich kurz und kämpfte das Unbehagen nieder. Auch wenn sie Abenteuer liebte, fühlte sie sich heute besonders unwohl hier oben.

Sie musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um die nächste Regalreihe zu erreichen. Wieder zog sie zwei Bücher heraus und legte sie auf den Stapel, der langsam anwuchs. An die nächste Reihe kam sie nun nicht mehr heran. Anna biss sich auf die Unterlippe. Dies tat sie immer, wenn sie mit einem Ergebnis nicht zufrieden war und überlegte, wie sie es besser machen konnte.

Sie blickte sich um. Es gab hier oben keinen Stuhl oder einen Tisch, den sie nutzen konnte. Aber sie war mit ihrer Suche noch nicht fertig. Dieses sonderbare Buch musste hier zu finden sein, da war sie sich sicher. Einige Bücher auf dem Stapel sahen bereits vielversprechend aus, aber sie wollte alle möglichen zusammen haben, bevor sie mit dem Durchblättern begann.

Der Stapel. Anna sah auf die von ihr aufgeschichteten Bücher. Die Höhe sollte ausreichen. Kaum hatte sich die fixe Idee in ihren Gedanken gebildet, begann sie schon den Bücherstapel dichter an das Regal heran zu schieben und kletterte darauf. Wieder glitten ihre Finger suchend über die Buchrücken. Ein Exemplar in dunkelrotem Ledereinband, ein bisschen größer als die anderen, erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie versuchte, es hervorzuholen, doch es war zu schwer für nur eine Hand. Anna nahm die zweite Hand zu Hilfe und zog. Es bewegte sich kaum. Sie musste sich ein wenig strecken, um das Buch besser anfassen zu können. Der Stapel unter ihr schwankte. Das Mädchen stützte sich kurz am Regal ab, um mehr Halt zu bekommen, und zog erneut mit beiden Händen. Es gab einen Ruck. Das Buch gab nach. Mit einem Mal rutschte sie mit dem linken Fuß weg, verlor den Halt und fiel auf den Boden. Heftig stieß sie sich das Steißbein auf dem Holzfußboden. Tränen schossen in ihre Augen, sie biss die Zähne zusammen. Ihr einziger Gedanke war, dass ihre Schwester von alledem nichts mitbekam. Mit schmerzverzerrtem Gesicht schluckte sie den Aufschrei, der ihr bereits auf den Lippen lag, hinunter.

Anna gab sich einige Sekunden und blieb liegen. Sie achtete dabei auf jedes Geräusch, aber nur das verzweifelte Heulen des Windes drang an ihre Ohren. Sie war erleichtert und versuchte aufzustehen. Ein stechender Schmerz im Rücken zwang sie dazu, sich nur langsam aufrappeln zu können. Es dauerte einen kleinen Moment, bis sie wieder stand, und allmählich ebbte der Schmerz wieder ab. Das rote Buch kam ihr wieder in den Sinn.

Sie blickte das Regal hinauf und bemerkte einen leeren Platz an der Stelle, wo es sich befunden hatte. Sie hatte überhaupt nicht mitbekommen, dass es mit ihr hinuntergefallen war.

Anna drehte sich im Kreis und sah dabei suchend über den Boden. Viele Bücher lagen in ihrer Nähe. Doch das eine war nicht darunter.

Verwirrt sah sie sich um, aber das Buch war auf Anhieb nicht zu entdecken. Erst als sie sich anschickte, den gesamten Dachboden abzusuchen, fand sie es vor einem der beiden Gaubenfenster liegen. Sie hob es auf und betrachtete es. Der Ledereinband schien sehr alt zu sein, war an einigen Stellen stark abgeschabt. Nirgends war ein Titel zu lesen, nur auf dem Buchdeckel befand sich eine goldfarbene Zeichnung. Sie sah aus wie nachträglich von Kinderhand aufgemalt und zeigte einen Viertelmond, dessen anderer Teil aus einer halben Sonne bestand.

Anna ging mit dem Buch zum Fenster und legte es auf die schmale Fensterbank. Durch die Scheibe fiel schwacher Mondschein, der die Zeichnung in ungewöhnlichen Farben glitzern ließ. Aufregung packte das Mädchen. Sie fühlte sich mit einem Mal wie ein Abenteurer, der einen bedeutsamen Schatz entdeckt hatte. Nervös biss sie sich auf die Unterlippe, atmete noch einmal tief ein und schlug das Buch auf.

Für eine Sekunde erstarrte Anna, bevor die Enttäuschung sie ergriff. Zwar waren die Buchseiten mit Wörtern beschrieben, die im Mondschein zauberhaft funkelten, doch sie kannte keines davon. Nicht einmal die Buchstaben waren ihr vertraut, sofern es sich dabei überhaupt um Buchstaben handelte.

Indianerschriftzeichen und uralte Runen kamen ihr in den Sinn. Sogar an ägyptische Hieroglyphen dachte sie, aber das hier war vollkommen anders: Unsaubere Linien, Kreise, Gekritzel. Als hätte ein zweijähriges Kind einen Stift in die Hand bekommen und sich im leeren Tagebuch der Mutter verewigt.

Entmutigt blätterte sie um. Auch hier bot sich das gleiche Bild: Keine fantastischen Zeichnungen, keine Worte, denen sie vielleicht ein Geheimnis entlocken konnte. Es war egal, ob sie noch eine Seite oder mehrere auf einmal umblätterte, es änderte sich nichts.

Zu Annas Enttäuschung gesellte sich die Müdigkeit. Sie klappte das Buch zu, drehte sich um und ging in Richtung Treppe, als sie von einem lauten Knall unterbrochen wurde. Sie wirbelte herum. Die Fensterflügel waren schlagartig aufgeflogen, der Wind wirbelte ungehindert in den Dachboden, zerrte an ihrer Kleidung und entriss ihr das Buch. Doch es fiel nicht hinunter. Der Wind rauschte durch die Buchseiten, blätterte eine nach der anderen in unvorstellbarer Geschwindigkeit um und ließ das Buch dabei in der Luft schweben.

Wie angewurzelt starrte Anna auf das Schauspiel. Unfähig sich zu regen sah sie, wie das Buch durch die Luft kreiste und auf das geöffnete Fenster zusteuerte. Nur noch ein kurzer Moment und es würde hinaus in die Nacht fliegen. In dieser Sekunde wich die Starre aus Annas Körper. Instinktiv sprang das Mädchen vor, packte das Buch, konnte es aber nicht aufhalten. Die Kraft, die das Buch durch das Fenster zerrte, war unvorstellbar. Anna hatte dem nichts entgegensetzen, ließ das Buch aber auch nicht los. Sie wurde näher an das Fenster gezogen, spürte die Fensterbank an ihrer Hüfte und mit einem heftigen Ruck wurde sie schreiend hinaus in die Nacht gerissen.

5 Ellie

Ellie zuckte zusammen. Sie brauchte eine Sekunde, um zu begreifen, dass es ein Schrei war, den sie soeben gehört hatte:

Den Schrei ihrer Schwester!

Ellie sprang auf. Sie stieß sich dabei das Knie am Couchtisch, biss die Zähne zusammen, rannte aus dem Wohnzimmer hinaus und auf die Treppe zu. Sie nahm drei Stufen gleichzeitig, rief den Namen ihrer Schwester und hetzte weiter, ohne auf eine Antwort zu warten. Annas Zimmertür stand offen. Sie stürmte hinein und blieb verwundert stehen. Sie hatte fest damit gerechnet ihre Schwester irgendwo liegen zu sehen. Möglicherweise nach einem Sturz aus dem Bett oder weil sie sich den Kopf angestoßen hatte, aber das Zimmer war leer.

»Annie?«, rief Ellie erneut. Es kam keine Antwort.

Ihr Magen krampfte sich zusammen. Sie spürte, dass irgendetwas Unerklärbares im Spiel war. Panik stieg in ihr auf. Sie sah sich im Zimmer um, schaute auch unter dem Bett nach. Doch auch dort gab es keinen Anhaltspunkt. Anna war nicht hier.

Beiläufig nahm sie den Kuschelhasen vom Bett. Ihre Schwester hatte ihn eigentlich immer dabei, wenn sie schlief. Selbst wenn sie nachts kurz aufstand, nahm sie ihn mit. Demnach war Anna also noch gar nicht im Bett gewesen. Aber wo ist sie dann?

»Annie?« Ellie wartete eine mögliche Antwort nicht mehr ab und verließ das Zimmer.

Verwirrt blickte sie den Flur entlang. Erst jetzt fiel ihr auf, dass die Tür zum Dachboden weit geöffnet war. Sofort lief die junge Frau los, den Hasen hielt sie fest in der Hand. Am Fuße der Treppenstufen spürte sie den kalten Windzug, eilte die Treppe hinauf und sah die beiden offenstehenden Fensterflügel, die sich im Spiel des Windes gespenstisch bewegten.

»Nein! Annie!« Ellie schrie. Sie lief auf das Fenster zu und blickte hinaus. Das Bild vom unnatürlich verrenkten Körper ihrer Schwester erschien vor Ellies innerem Auge und ließ sie das Schlimmste befürchten. Der starke Wind zerrte an ihrem Haar, wehte es ihr vor das Gesicht und sie hatte Mühe, überhaupt etwas zu erkennen. Aber auch dort unten war keine Spur von Anna. Erleichtert schloss Ellie die Augen.

Und wenn es nur ein dummer Streich ist?

Sie verdrängte den Gedanken. Das sah Anna nicht ähnlich. Natürlich spielten sie sich gern gegenseitig Streiche, aber sie wussten stets, wo die Grenze war. Und das hier würde sie definitiv überschreiten.

Ellie wollte sich vom Fenster abwenden, als sie ein schwaches Rufen hörte. Das Heulen des Windes hätte das Geräusch beinahe übertönt. Sie erkannte dennoch Annas Stimme.

Sie lebt!

Ellies Herz machte einen Sprung. Sie versuchte, etwas durch die Dunkelheit zu erkennen, die vom schwachen Mondschein nur spärlich durchbrochen wurde. Ein Licht am Rande des Grundstücks erregte ihre Aufmerksamkeit. Die junge Frau kniff die Augen zusammen. Das Licht pulsierte, wurde heller und wieder dunkler. Es leuchtete in einem hellen Blau. Innerhalb dieses Lichtscheins rangen zwei Gestalten miteinander. Ellie gefror das Blut in den Adern, als sie die Kämpfenden erkannte.

Es waren Anna und Horace Finton!

6 Ellie

Für Ellie gab es kein Halten mehr. Sie stürmte vom Dachboden, geriet auf der Treppe kurz ins Straucheln, fing sich wieder und rannte weiter Richtung Haustür. Wenn dieser Kerl Anna auch nur ein Haar krümmte, war Ellie zu allem fähig. Sie bemühte sich positiv zu denken. Sie hoffte, Finton wäre verschwunden, wenn sie draußen ankam, und hätte Anna unversehrt zurückgelassen. Aber ihre Gedanken schlugen eine andere Richtung ein.

Die Angst peitschte sie voran. Sie riss die Haustür auf, lief über die Veranda und umrundete das Haus. Schon sah sie den blassen, pulsierenden Schein. Anna und Finton hoben sich nun deutlicher von dem hellblauen Hintergrund ab. Sie schienen um etwas zu ringen. Ein eckiges Etwas, welches sie mit den Händen festhielten, und jeder versuchte, es dem anderen zu entreißen. Als Ellie näher herankam, erkannte sie den Gegenstand. Es war ein Buch. Das Buch! Anna hatte es gefunden!

»Annie! Lass es los! Lass das verdammte Buch los!« Ellie beschleunigte, holte alles aus ihrem sportlichen Körper heraus und doch schien sich die Distanz kaum zu verringern.

»Hilfe!«, schrie Anna. Der panische Ton in ihrer Stimme jagte Ellie einen kalten Schauer über den Rücken.

Horace Finton blickte auf. Zornig sah er zu Ellie hinüber, ließ das Buch los und packte Anna stattdessen an der Taille.

»Lass sie los, Mistkerl!« Ellies Herz schlug bis zum Hals. Es war nicht mehr weit. Fünfzehn Meter, vielleicht zwanzig.

In diesem Augenblick drehte sich der kleine Mann um, riss Anna mit sich und lief in das blaue Licht.

Ellie konnte nicht glauben, was sich ihren Augen bot. Von einer Sekunde zur anderen waren Finton, ihre Schwester und das Buch verschwunden. Verschluckt von dem blauen, pulsierenden Strudel.

»Nein«, flüsterte Ellie, wiederholte das Wort und schrie es anschließend heraus.

Kurz vor dem Licht blieb sie stehen. Ihre Finger umklammerten den Stoffhasen so fest, bis das Weiße ihrer Knöchel hervortrat. Tränen schossen in ihre Augen. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen, hatte keine rationale Erklärung für das, was soeben geschehen war. Wo eben noch ihre Schwester gestanden hatte, war lediglich ein unerklärbares Leuchten zurückgeblieben. Und es wurde von Sekunde zu Sekunde blasser.

Fassungslos starrte die junge Frau auf den hellblauen Schein, in dem Wolken sichtbar waren, welche zerfaserten und dabei ins Zentrum gezogen wurden. Die Kraft des Lichts wurde immer schwächer, bald würde es verschwunden sein.

Ellies Herz pochte wie wild. Ihr Atem ging stoßweise. Die dunklen Haare klebten feucht an ihrer Stirn. Sie blickte noch einmal auf den Hasen in ihrer Hand, der sie stumm anlächelte. Kurz bevor das Licht erlosch, nahm Ellie all ihren Mut zusammen und lief in den leuchtenden Strudel.

7 Ellie

Ruckartig schlug Ellie die Augen auf.

Habe ich geschlafen? Alles nur geträumt?

Die Umgebung um sie herum war verschwommen. Nur langsam bildeten sich Formen in einem Meer aus Farben. Sie sah einen strahlend blauen Himmel mit einigen Wolken, doch er stand nicht still. Die Wolken drehten sich im Kreis, als würden sie am Rande eines Strudels schwimmen und doch nicht eingesogen werden.

Ellie schloss die Augen wieder.

Ein stechender Schmerz hämmerte in ihrer Schläfe. Sie verspürte Übelkeit und die Schwärze vor ihren Augen schien sie erdrücken zu wollen. Sie kämpfte dagegen an, versuchte, sich auf die anderen Sinne zu konzentrieren. Vogelstimmen. Ja, eindeutig. Irgendwo sang ein Vogel. Demnach musste sie sich draußen befinden.

Ellie erinnerte sich an die letzten Minuten. Der starke Wind fiel ihr ein, von dem nun nichts mehr zu spüren war. Dann war dort dieses pulsierende Licht, das dem Himmel ähnelte, den sie soeben gesehen hatte. Ellie dachte an Anna und wie sie mit Finton um dieses Buch gerungen hatte, bevor beide in dem leuchtenden Strudel verschwunden waren.

Und ich bin ihnen gefolgt!

Abermals öffnete sie die Augen. Diesmal behutsamer. Wieder sah sie den blauen Himmel, aber die Wolken blieben jetzt nahezu reglos an ihrem Platz. Ein sanfter Luftzug streifte Ellies Wangen. Es roch nach Gras und Blumen. Vorsichtig richtete sie sich auf. Ihr Körper fühlte sich steif an. So, als hätte sie tagelang im Bett gelegen und würde nun probieren, zum ersten Mal wieder aufzustehen.

Ellies Blick streifte eine Ansammlung von Bäumen in der Nähe. Es war ein kleiner Wald, dahinter türmten sich Gebirge auf. Sie spürte Gras an ihren Fingern. Sie lag auf einer saftig grünen Wiese, die mit Gänseblümchen übersät war.

Ellie setzte sich. Ihr Rücken schmerzte. Sie war allerdings viel zu verpicht darauf herauszufinden, was mit ihr passiert war, als dass sie dem Schmerz weitere Beachtung schenken wollte. Sie sah sich um. Überall gab es kleinere Wälder. Berge, die den Horizont bildeten und Wiesen, wohin sie auch schaute. Wo auch immer sie sich befand, sie war nicht in der Nähe des Hauses ihrer Großmutter. Dort gab es zwar Wiesen und Wälder, aber keine Berge. Ellie musste irgendwo anders sein.

Nur wo? Und wie bin ich hierhergekommen?

Der kleine Kuschelhase lag neben ihr im Gras. Sie hob ihn auf und sah ihn an. Ellies Augen füllten sich mit Tränen, als sie an Anna dachte. »Wo bist du, Annie?«, fragte sie tonlos.

Ellie stand auf. Schwindel packte sie und zwang sie zurück in die Hocke. Sie gab sich einen Moment, bis das Gefühl abflaute und erhob sich erneut. Diesmal ging es besser. Ellie blickte sich noch einmal um, aber auch stehend änderte nichts an dem Bild, das sich ihr bot.

»Annie?«, rief sie. Ihre Stimme klang heiser. Der Mund fühlte sich trocken an, sie musste schlucken. »Annie?«, rief sie erneut. Diesmal lauter, doch eine Antwort blieb aus.

»Ich finde dich. Das verspreche ich dir«, flüsterte sie, als sie auf den kleinen Hasen in ihrer Hand sah.

Hoch über einem kleinen Wald stand die Sonne. Es war warm. Viel wärmer, als in den letzten Tagen. Instinktiv klopfte Ellie Pullover und Jeans ab. Sie suchte etwas in den Taschen ihrer Hose und erinnerte sich daran, das Handy auf den Couchtisch gelegt zu haben.

»Verdammt«, zischte sie. Es blieb ihr wohl keine andere Wahl, als nach jemandem zu suchen, der ihr helfen und vor allem sagen konnte, wo sie sich befand. Ellie marschierte los. Ihr Ziel war eine Schneise, die zwischen zwei Wäldern zu sehen war. Vielleicht gab es dort ein paar Häuser oder wenigstens eine Straße.

Die Strecke bis zur Schneise entpuppte sich als weiter entfernt, als Ellie zu Beginn ihres Aufbruchs gedacht hatte. Es würde sicherlich noch über eine Stunde dauern, bis sie auch nur in ihre Nähe kam. Doch welche anderen Möglichkeiten blieben ihr?

Zu warten, bis jemand vorbeikam? Nein! Das war nicht ihre Art. Ellie nahm die Dinge lieber selbst in die Hand, als auf einen Gönner zu warten, der für sie die Arbeit erledigte. So war sie schon immer. Sie versuchte stets, die Dinge selbst zu lösen, bevor sie um Hilfe bat. Dennoch wäre ihr diese jetzt sehr willkommen.

Während sie ging, zermarterte sich Ellie den hübschen Kopf. Sie selbst hätte sich niemals als hübsch bezeichnet, eher als guter Durchschnitt – vielleicht auch als sehr guter. Aber es gab genug Leute, die es anders sahen. Aber das war ihr im Augenblick vollkommen egal. Es musste einen plausiblen Grund geben, warum sie jetzt hier war. In einer Gegend, in der sie noch nie zuvor gewesen war. Ellie kam zu dem Entschluss, dass dieser leuchtende Strudel, durch den sie gegangen war, sie irgendwie betäubt hatte. Anschließend wurde sie von irgendwem gepackt und weggeschafft, bevor sie wieder zu Bewusstsein kam.

Die einzig erklärbare Lösung.

Nur wie verhielt es sich mit Anna und Finton? Sie waren verschwunden, als sie in das Licht gingen. Das war unmöglich. Es musste sich um eine Täuschung handeln, um einen Zaubertrick, wie er von Magiern auf irgendwelchen Bühnen benutzt wurde. Viele dieser Zaubertricks verblüfften die Zuschauer und sie fanden keine rationale Erklärung für das zuvor gesehene. Vielleicht war irgendwo so etwas wie eine Nebelmaschine versteckt gewesen. Das war eine Möglichkeit.

Ellie blieb stehen. Den Blick hielt sie starr nach vorn gerichtet und kniff die Augen ein wenig zusammen. Etwas bewegte sich in der Entfernung und kam auf sie zu. Sie konnte es noch nicht richtig erkennen, aber es war ein wenig größer als sie selbst. Ein Tier vielleicht. Ein Pferd oder eine Kuh? Und es war schnell… Verdammt schnell.

In wenigen Sekunden war es so dicht herangekommen, dass Ellie es besser erkennen konnte. Es war ein Laufvogel, eine Art Strauß, wie sie ihn aber noch nie zuvor gesehen hatte. Und auf diesem Vogel saß ein Reiter!

Unwillkürlich tat sie einen Schritt zurück. Der Vogelreiter hielt weiterhin auf sie zu. Ellie wandte sich um. Sie begann zu laufen, blickte dabei immer wieder über die Schulter, um zu sehen, welchen Weg der Reiter einschlug.

Er folgte ihr!

Ellie begann zu rennen. Sie lief einen Bogen, hoffte, ihr Verfolger würde einen anderen Weg nehmen, doch er tat es nicht. Sie rannte so schnell sie konnte. Es fiel ihr zunehmend schwerer, da sie immer noch leicht benommen war. Der Schmerz in ihrer Seite nahm zu. Ihre Lungen brannten. Sie spürte, wie der Boden in ihrer Nähe durch die Schritte des Verfolgers bebte, hörte ein heiseres Krächzen an ihrer linken Seite.

Ellie drehte den Kopf, sah den riesigen Vogelschädel knapp hinter sich. Sie wollte den Lauf stoppen, hakenschlagend eine andere Richtung nehmen, aber sie kam nicht mehr dazu.

Jemand packte sie kraftvoll an der Hüfte und riss sie von den Beinen.

8 Anna

Diese Ähnlichkeit ist unfassbar!«

Anna hörte diese Stimme, die aus dem Nichts zu ihr sprach. Sie sah sich selbst auf einer Wiese stehen, die übersät von Gänseblümchen war. Außer ihr war dort niemand. Nur unendliche Wiesen, die nahtlos mit dem pastellfarbenen Blau des Himmels verschmolzen.

Wer bist du? Anna dachte diese Frage nur. Über ihre Lippen drang kein Laut. Sie fühlte sich leicht, glaubte zu schweben und spürte doch das kühle Gras zwischen ihren Zehen. Ein sanfter Luftzug streifte ihre Schulter, wurde stärker und ließ ihren gesamten Körper erzittern.

Langsam öffnete sie die Augen. Es war ein Traum. Es gab keine Wiese, keine Gänseblümchen. Sie stand auch nicht, sondern lag in einem weichen Bett. Jemand stand bei ihr im Zimmer und hatte sie durch eine sanfte Berührung an der Schulter geweckt. Ein Lächeln huschte über ihre zarten Lippen und ließ die Sommersprossen auf ihren Wangen tanzen.

»Seit wann weckst du mich so nett?« Annas Stimme klang noch etwas verschlafen. »Ich habe doch keinen Geburtstag, Ellie!«

»Nein, aber ein jeder Tag sollte sanft begonnen werden«, war die Antwort.

Anna erschrak. Mit einem Mal war sie hellwach. Die Stimme gehörte nicht Ellie, sondern einem Mann. Anna setzte sich ruckartig auf, presste sich verängstigt mit dem Rücken gegen die Wand und starrte auf die Person, die neben ihrem Bett stand. Es war tatsächlich ein Mann. Er trug einen dunklen Frack, unter dem ein weißes Rüschenhemd zu sehen war. Sein Gesicht war hell, beinahe blass. Er trug einen Mustache und über den etwas zu langen, schwarzen Haaren einen Zylinder mit grauem Band. Die braunen Augen des Mannes blickten freundlich und dennoch hatte Anna unsagbare Angst vor der fremden Person.

»Geh weg!«, schrie sie, begann mit den Füßen nach dem Eindringling zu treten. »Ich will zu meiner Schwester! Hilfe!«

Der Mann sah Anna überrascht an. Sie fürchtete, er würde sich gleich auf sie stürzen, um ihr weh zu tun. Doch er tat es nicht. Stattdessen ging er in Richtung Tür. Durch den Schleier aus Tränen, mit denen sich ihre Augen gefüllt hatten, sah sie, wie er die Tür öffnete.

»Beruhigt Euch erst einmal«, sagte er mitfühlend. »Ich komme später wieder und dann können wir reden.«

Ohne auf eine Antwort zu warten ging er durch die Tür, verschloss sie von außen und ließ Anna weinend zurück.

9 Ellie

Der Ritt war mörderisch. Ellie war im Griff des Vogelreiters gefangen, ihre Beine pflügten durch kleinere Hecken und sie fand keine Möglichkeit, ihrem Entführer zu entkommen. So sehr sie auch an dem kräftigen Arm zerrte oder sich unter ihm herauswinden wollte, desto fester wurde sie mit dem Rücken gegen das Tier gedrückt. Sie rang nach Atem. Die Landschaft raste an ihren Augen vorbei. Die Wiese mit den vielen Blumen hatten sie bereits hinter sich gelassen und näherten sich nun einem der kleineren Wälder. Ellie schrie, doch der Reiter reagierte nicht darauf. Ihr rechter Arm, der noch immer den Hasen hielt, war zwischen ihr und dem Reitvogel eingeklemmt. Sie wand sich, drehte sich, doch sie bekam den Arm nicht frei, um ihren Befreiungsversuchen mehr Kraft zu verleihen.

»Lass mich runter«, schrie sie verzweifelt. Wie sie es erwartete, reagierte der Unbekannte nicht auf ihren Wunsch. Sie kratzte mit ihren Fingernägeln über den ledernen Ärmel, der den Arm des Reiters bedeckte. Eine Wirkung blieb aus. Ellies Bewegungen wurden ruhiger. Sie spürte den Handrücken des Fremden unter ihren Fingerkuppen, der anscheinend Handschuhe trug. Auch hier würde Kratzen keinen Erfolg erzielen. Aber Ellie tastete weiter, erreichte den schutzlosen Bereich zwischen Handschuh und Ärmel. Sie schaffte, es den Kopf zu drehen und ihn zu beißen.

Ein heiserer Aufschrei folgte. Der Griff lockerte sich, Ellie fiel. Rasend schnell kam ihr der Boden entgegen. Ihr blieb keine Zeit, den Aufprall in irgendeiner Form zu dämpfen. Hart krachte sie auf sandigen Boden. Sie hatte das Gefühl, die Beine würden ihr abgerissen. Sie überschlug sich, stieß mit dem Kinn irgendwo an und blieb auf dem Bauch liegen.

Die Schmerzen in ihrem Brustkorb raubten ihr den Atem. In ihrem Kopf drehte sich alles. Sie schmeckte Sand und Blut auf ihren Lippen. Am liebsten wäre sie einfach nur liegen geblieben, doch die Angst vor ihrem Entführer, und worauf auch immer er geritten haben mag, trieb sie an.

Mühsam stützte sie sich mit den Händen hoch. Das Haar hing feucht und dreckig vor ihren Augen. Sie spürte ein Ziehen an der Hüfte. Ellie biss die Zähne zusammen und zog die Beine an. Die Bewegungen waren schmerzvoll, aber zum Glück schien nichts gebrochen zu sein. Dafür hatte sie das Gefühl, von Prellungen und blauen Flecken übersät zu sein. Ellie drehte den Kopf, sah zurück und erschrak. Der komische Vogel war zwar nirgendwo zu sehen, doch der Reiter rannte auf sie zu.

Hastig kämpfte sich Ellie auf die Beine. Die schnellen Bewegungen entfachten Schwindelgefühle in ihr, denen sie sich aber nicht hingeben durfte. Sie kämpfte gegen das Gefühl an, tat die ersten Schritte in gebückter Haltung.

Weg, schrie es in ihr. Nur weg!

Ellie richtete sich auf, taumelte, fing sich aber schnell wieder. Sie begann zu laufen und vermied es, sich noch einmal umzudrehen. Ihr Puls raste, sie hoffte – nein, sie flehte - ihrem Verfolger entkommen zu können. Plötzlich spürte sie einen heftigen Stoß im Rücken, der sie nach vorn warf. Ellie ruderte mit den Armen, um den Sturz zu verhindern, als sie ein zweites Mal getroffen wurde. Der zweite Stoß schleuderte sie zu Boden. Der Reiter packte sie, umschlang ihre Taille und zog sie zur Seite.

Ellie konnte sich nicht noch einmal gegen diesen starken Griff stemmen. Ihre Kräfte ließen nach, unkontrolliert strampelte sie mit den Beinen, wusste aber, dass es ihr diesmal nichts bringen würde. Vor ihren Augen verschwamm die Umgebung. Die verwaschenen Umrisse mehrerer Bäume glitten an ihr vorbei.

Er zerrt dich in den Wald!

Diese Gewissheit versetzte ihr einen erneuten Panikschub. Ellie schrie. Die gesamte Hilflosigkeit und Angst entlud sich in einen markerschütternden Schrei. Sie versuchte, sich noch einmal gegen den starken Griff zu stemmen. Sie rammte die Hacken in den Boden, um es dem Entführer schwerer zu machen. Etwas traf ihren Hinterkopf. Ein brennender Schmerz durchzuckte sie. Ellie sah, wie die Bäume um sie herum rotierten, sich zu einer dunklen Masse ausdehnten, die ihr gesamtes Blickfeld ausfüllten. Dann stürzte sie in den schwarzen Strudel der Ohnmacht.

10 Anna

Die Einrichtung des Zimmers war gleichermaßen vertraut wie außergewöhnlich. Die Wände waren in einem Braunton gestrichen, der mit einem goldenen Glanz versehen war. Das Bett war aus Holz gefertigt, der Rahmen stabil und geschwungen, mit kupferfarbenen Elementen durchzogen. Der zierliche Schreibtisch war in ähnlichem Design und auch die zwei Wandlampen waren aus Kupfer. Die Lampenschirme aus goldenem Glas und die Glühlampen dahinter mit dicken Schläuchen verbunden, die in der Wand verschwanden. Das große Fenster war rund und auch hier herrschten Kupfer und Gold vor. Nichts von alledem hatte Anna in dieser Form schon gesehen. Nicht einmal in den Inneneinrichtungsmagazinen ihrer Mutter.

Anna ging über den hellen Holzfußboden. Sie konnte keine Kanten, keine Unterbrechung der Maserung sehen, als ob er aus nur einem einzigen, großen Holzstück bestand. Dabei versuchte sie sich so leise wie möglich zu bewegen, um den fremden Mann nicht wieder anzulocken. Sie ging zum runden Fenster, welches im Durchmesser ein kleines Stück mehr maß, als sie groß war. Dahinter dämmerte es bereits, außer wenigen verstreuten Lichtern war aber noch nicht viel zu erkennen. Anna presste ihr Gesicht an das kühle Glas und konnte schwach einige entfernte Berge erkennen.

Wo bin ich hier? Anna dachte angestrengt nach. Keine plausible Erklärung ließ sich auf Anhieb finden. Dieses Zimmer, diese Einrichtung und dieser merkwürdige Mann, wirkten allesamt wie aus einer anderen Welt. Ein Buch kam ihr in den Sinn: Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer von Jules Verne. Dies alles hier erinnerte sie daran. Als wäre sie in dieser Geschichte gefangen. An Bord der Nautilus.

Anna wischte den absurden Gedanken beiseite. Wie sollte so etwas möglich sein? Vielleicht war der Mann aber auch ein Liebhaber dieser alten Geschichten und hatte sein Heim und sein Leben daran angepasst. Er schien recht freundlich und wirkte im Nachhinein betrachtet auch nicht mehr so angsteinflößend, wie sie zunächst gedacht hatte.

Möglicherweise konnte er ihr tatsächlich helfen.

Anna drehte sich um und ging der Tür entgegen, die in diesem Augenblick geöffnet wurde. Unwillkürlich tat das junge Mädchen einen Schritt zurück.

Der Mann mit dem dunklen Frack betrat das Zimmer. Er lächelte, als er Anna erblickte und schloss die Tür leise hinter sich.

»Schön, dass Ihr wach seid«, sagte er freundlich. »Ich hoffe, Ihr habt Euch ein wenig gefangen und wir können uns nun vernünftig unterhalten. Nehmt doch bitte Platz.«

Anna tat, was der Mann von ihr verlangte und setzte sich auf die Bettkante. Es war sicherlich besser, wenn sie tat, was er wünschte.

»Wo bin ich? Wer bist du?« Anna fiel es schwer zu sprechen. Die Ungewissheit darüber, was geschehen würde, lag wie ein dicker Kloß in ihrem Hals.

»Es wird sich alles aufklären. Vertraut mir.« Die sanfte Stimme des Mannes war beruhigend. Anna spürte, wie ihre Angst geringer wurde und sie tatsächlich erwog, dem Fremden zu glauben.

»Mein Name ist Kanzler Rothenschild. Darkus Rothenschild. Ihr seid in der wunderschönen Stadt Kesselberg. Hier seid Ihr in Sicherheit«, fuhr der Mann fort.

Anna war verwirrt. Kesselberg hatte sie noch nie zuvor gehört. Sie musste demnach weit vom Haus ihrer Großmutter entfernt sein, da sie alle großen und kleinen Städte in der Nähe kannte. Mit gemischten Gefühlen musterte sie den Kanzler.

»Ich will nach Hause«, wünschte Anna mit zittriger Stimme. »Nach Hause zu meiner Schwester!«

»Selbstverständlich.« Der Kanzler nickte. »Allerdings wurde das Portal beschädigt. Es wird einen Moment dauern, bis es repariert ist.«

Anna schluckte. Sie erinnerte sich an das Buch, mit dem sie durch das Dachfenster geflogen war. An den kleinen Mann, mit dem sie gerungen hatte.

»Das Licht«, flüsterte sie leise.

»Ja, so kann man es bezeichnen. Ich möchte mich für die Unannehmlichkeiten entschuldigen. Es war nicht geplant, Euch hierher mitzunehmen. Obgleich ich sehr erfreut über Euren Besuch bin.«

Die Ausstrahlung des Kanzlers beeindruckte Anna. Das Vertrauen ihm gegenüber wuchs in gleichem Maße, wie sich ihre Angst verringerte. Seine Erzählung weckte ihre Neugier, da sie schon viel von Portalen gelesen und im Fernsehen gesehen hatte. Sie ermöglichten Reisen in andere Zeiten oder gar in andere Welten. Doch das war keine Realität, sondern Science-Fiction.

»Kannst du mich nicht nach Hause fahren?«, fragte sie.

»Leider nicht«, antwortete der Kanzler. »Schaut, es ist nicht ganz so einfach zu erklären. Ihr lebt in Eurer Welt, die Erde genannt wird. Wir leben im Grunde auf derselben. Nur nennen wir unsere Iphosia. Sie existieren parallel, haben sich aber in unterschiedliche Richtungen entwickelt.«

»Das verstehe ich nicht«, gab Anna zu. Der Kanzler setzte sich neben sie auf die Bettkante. Sie ließ ihn.

»So ganz verstehen wir es auch noch nicht«, lachte er. »Es ist aber wohl so, als würden wir auf unterschiedlichen Welten leben.«

»Also auf verschiedenen Planeten?«

»So ähnlich. Aber um einen anderen Planeten zu besuchen, müsste man eine Rakete bauen, die schneller als alles ist, was wir kennen. Der Wechsel zwischen unseren Welten funktioniert ganz anders.«

Der Kanzler stand wieder auf, ging zu einer Ecke des Zimmers und holte eine Art Globus hervor, der auf einem hohen Ständer befestigt war. Die Oberfläche der Kugel schillerte in grünen und blauen Tönen. Sie war eingefasst von kupferfarbenen Drähten. Anna war die Kugel zuvor nicht aufgefallen. Sie hatte sich aber auch nicht die Zeit genommen, jeden einzelnen Winkel des Raumes zu durchsuchen.

»Schaut«, forderte Rothenschild sie auf. »Dies ist ein Abbild von Iphosia. Ein grobes wohlgemerkt, aber so in etwa sieht unsere Welt aus. Eure Welt ist dieser ganz ähnlich.«

Unter den wachsamen Augen des Mädchens betätigte der Kanzler einige Schalter und Knöpfe, die sich auf der Rückseite der Kugel befanden. Kurz darauf flirrte die Luft in unmittelbarer Nähe und eine zweite Kugel wurde sichtbar, der ersten recht ähnlich, aber durchsichtig wie eine holografische Kopie. Anna staunte.

»Dies ist nun eure Erde. Wir haben eine Technologie entwickelt, die ein Portal zwischen unseren Welten erschaffen kann. Ungefähr so, als würdet Ihr eine Tür öffnen. Nur befindet sich auf der anderen Seite kein anderer Raum, sondern eine andere Welt.«

»Dann hat der kleine Mann mich entführt?« Annas Stimme zitterte.

Der Kanzler erschrak sichtlich. Wenige Schritte brachten ihn zu dem Mädchen. Er ging vor ihr auf die Knie und versuchte, ihr Gesicht zu streicheln. Anna zuckte zurück.

»Nein«, sagte er und unterließ einen zweiten Versuch, sie zu berühren. »Es war einzig allein ein Versehen. Der kleine Mann, wie Ihr ihn nennt, sollte nur das Buch holen. Es ist sehr wichtig für uns. Allerdings hat so ein Portal zwischen unseren Welten nur eine recht kurze Standzeit. Deswegen war er zur Eile gezwungen. Er hat mir alles erzählt. Ihr hättet das Buch einfach nur loszulassen brauchen.«

Anna erkannte im Gesicht des Kanzlers wahres Bedauern. Es schien ihr, als würde es lediglich noch einer Kleinigkeit bedürfen und er würde um Vergebung anflehen.

»Wann kann ich nach Hause?«, fragte Anna.

»Sobald das Portal wieder funktioniert. Wir arbeiten daran. Es wird sicherlich nicht lange dauern.«

»Was ist das für ein Buch?« Von einer Sekunde zur nächsten hatte Anna unendlich viele Fragen. Sie glaubte dem Kanzler, war überzeugt davon, dass er die Wahrheit sprach. Das Ganze kam ihr wie ein fantastischer Traum vor und sie wollte ihn so ausgiebig wie möglich erleben, bevor es wieder nach Hause ging.

»Das Buch«, der Kanzler erhob sich wieder und ging einige Schritte durch den Raum. Die Hände verschränkte er dabei hinter dem Rücken. »Das Buch wurde uns einst gestohlen. Die Engelskönigin war seine Hüterin, doch sie hat uns betrogen und das Buch versteckt. Wir haben lange Zeit danach gesucht, bis wir einen Hinweis fanden. Seitdem waren wir mit Hochdruck damit beschäftigt, einen Weg zu finden, dieses Buch zurückzuerlangen. Erst die Erfindung der Portaltechnologie hat dies möglich gemacht. Auf unserer Welt herrscht Krieg, musst du wissen. Die Magischen schicken sich an die Welt, wie wir sie kennen zu stürzen. Dabei schrecken sie vor nichts zurück. Wir versuchten alles, um wieder den Frieden zu bringen, aber all unsere Versuche schlugen fehl. Das Buch ist unsere letzte Hoffnung. Es ist von einer Magie erfüllt, welche in der Lage ist, die Liebe wieder zurück in die Herzen der Völker zu bringen. Dies ist wohl der einzige Weg, der uns noch bleibt.«

Anna sah, wie die Augen des Kanzlers feucht wurden. Er musste großen Schmerz erlitten haben, der zurückkehrte, wenn er darüber sprach. Der Mann tat ihr beinahe leid.

»Warum hat der kleine Mann das denn nicht erzählt?«, fragte sie.

»Die Zeit, mein Kind, die Zeit. Das Portal war instabil. Jede Sekunde zu langen Zögerns hätte alles zerstören können. Darüber hinaus ist er wahrlich kein großer Diplomat. Außerdem… hättet Ihr ihm Glauben geschenkt?«

Nein, dachte Anna. Bestimmt nicht. »Aber warum hat die Engelskönigin das Buch denn erst versteckt, wenn es für den Frieden wichtig ist? Ist sie eine böse Königin?«

»Nein«, sagte er und senkte den Kopf. Sein Blick wurde leer und die Erinnerungen schienen ihn zu überwältigen. Es dauerte einen Moment, bis er sich wieder fing und weitersprechen konnte.

»Nein«, wiederholte er, »die Königin war nicht böse. Sie hatte es gut gemeint. Das magische Buch kann Frieden bringen, wenn man es richtig einsetzt. Aber zu gleichen Teilen kann es auch Tod und Zerstörung verursachen, wenn es in die falschen Hände gerät. Die niederträchtige Schwester der Engelskönigin giert nach nichts Anderem als Macht. Vor ihr hatte sie das Buch schützen wollen!«

Anna erschrak über die plötzlichen Gefühlswandlungen des Kanzlers. War in seinem Gesicht zuvor Traurigkeit und Güte zu lesen, stand dort Hass und Verachtung, während er von der Schwester der Engelskönigin sprach. Dieser Ausdruck verschwand jedoch sehr schnell, als sich ihre Blicke trafen.

»Ich bitte um Verzeihung. Ich habe mich hinreißen lassen«, erklärte er mit gequälter Stimme.

»Die Schwester der Königin hat dir sehr wehgetan, oder?«, wollte Anna wissen.

Der Kanzler nickte. Er wirkte abwesend, als würden die Erinnerungen versuchen, Besitz von ihm zu ergreifen. Anna gab ihm die Zeit und wagte es nicht, eine weitere Frage zu stellen, obwohl sie noch so viel wissen wollte. Sie spielte das zuvor Gehörte in den Gedanken noch einmal nach. Also wurde sie durch einen Zufall von diesem kleinen Mann in eine andere Welt gebracht. Und das alles nur, weil dieser unbedingt ein bestimmtes magisches Buch wollte. Das alles klang schon viel zu fantastisch als unwahr zu sein. Schon immer hatte Anna davon geträumt, der normalen Welt einmal zu entkommen und Abenteuer zu erleben, auch wenn sich diese darauf beschränkten, zauberhaften Fabelwesen zu begegnen. Und jetzt war sie genau an jenem erwünschten Ort.

War es wirklich nur Zufall?

Mit einem überraschenden Ruck wandte sich Kanzler Rothenschild Anna zu und streckte ihr eine Hand entgegen.

»Kommt«, in seinen Augen blitzte es auf. »Ich möchte Euch etwas zeigen!«

Nach einem kurzen Moment des Zögerns nahm Anna schließlich seine Hand und ließ sich von ihm aus dem Zimmer führen.

11 Ellie

Zum zweiten Mal in kurzer Zeit erwachte Ellie aus einer Ohnmacht. Doch diesmal hatte sie das Gefühl, ihr Kopf würde von innen herausgesprengt werden. Es fiel ihr schwer, die Augen zu öffnen, und ihr Nacken schmerzte fürchterlich. Ellie stöhnte. Sie versuchte, sich aufzurichten, wurde vom Schwindel gepackt und sackte wieder zurück. Sie fiel hart. Unter ihrem Rücken musste sich so etwas wie ein Holz- oder Steinboden befinden.

Bleib erst einmal liegen, ermahnte sie sich. Sie atmete ein paar Mal tief durch, um den schnellen Herzschlag zu beruhigen. Erneut bemühte sie sich, die Augen zu öffnen. Diesmal langsamer.

Es war beinahe schwarz um sie herum. Allmählich schälten sich schwache Konturen aus dem Dunkel und sie konnte kantiges Felsgestein erkennen.

Wo zum Teufel bin ich nun schon wieder?

Langsam bekam Ellie das Gefühl, dass ihre Sinne sie irreleiteten und sie sich in Wirklichkeit schlafend in ihrem Bett befand. Dies alles konnte nichts anderes als ein Traum sein.

Ein kratzendes Schaben drang an ihre Ohren, gefolgt von einem leisen Klicken. Etwas knarrte und plötzlich erhellte sich der Raum. Ellie drehte den Kopf. Der Schmerz in ihrem Nacken ließ sie die Bewegung nicht vollenden und sie konnte nur aus den Augenwinkeln feststellen, dass irgendwo schräg hinter ihr eine Tür geöffnet wurde.

Ein Schatten stellte sich in das Licht.

»Steh auf«, befahl der Schatten mit ernster, monotoner Stimme.

Ellie kam der Aufforderung nach, auch wenn ihr nach wie vor jeder Körperteil wehtat. Diesmal ging es allerdings ein wenig leichter als bei ihrem ersten Versuch. Trotzdem ließ sie sich dabei Zeit.

Zeit, die sie vielleicht zu ihrem Vorteil nutzen konnte.

»Schneller«, forderte die Stimme.

»Was wollt ihr von mir? Wo bin ich? Wo ist meine Schwester?« Ellie hob den Arm vor das Gesicht. Das Licht blendete sie. Von dem Schatten war nichts außer seiner Silhouette zu erkennen, die allerdings auf eine männliche Person hindeutete.

»Du wirst deine Fragen der Königin stellen müssen«, hieß die Antwort.

»Königin?«, Ellie verstand nicht. »In unserem Land gibt es keine Königin!«

»Du bist nicht in deinem Land«, sagte der Schattenmann.

Nicht in meinem Land? Was wird hier gespielt?

Ellie erwog die Möglichkeit einfach vor zu stürmen, den Schatten zu überwältigen und zu fliehen, verwarf diesen Gedanken aber sofort wieder. Sie war noch nicht in der Lage schnell zu reagieren oder zu laufen. Ihr Körper war ausgepumpt und sehnte sich nach Ruhe. An eine Flucht war im Augenblick nicht zu denken. Und vor allem wollte sie Antworten!

Die junge Frau trat langsam näher an den Schatten heran. Je dichter sie ihm kam, desto mehr konnte sie von ihm erkennen. Sein Kopf war kantig. Hellblaue Augen blickten starr in dem wettergegerbten Gesicht. Unter der dunklen Kapuze waren graue Haarsträhnen erkennbar. Der Mann musste Ende fünfzig sein, schätzte Ellie. Sie würde ihn sicher überrumpeln können, aber sie ging einfach an ihm vorbei durch die Tür hinaus.

Ellie befand sich in einem Tunnel. Anhand des grob gehauenen Felsgesteins musste sich dieser irgendwo in einem Berg befinden, mutmaßte sie. Abwechselnd an den Seiten brannten Fackeln in rostigen Eisenhalterungen. Der Schattenmann ging hinter ihr in den Gang, schloss die Tür und forderte sie auf, dem Tunnel rechter Hand zu folgen.

Ellie tat es. Das Auftreten mit dem linken Fuß tat ihr weh. Ein kleines Andenken an den Sturz vom Reittier. Sie nutzte den Schmerz aus, humpelte etwas übertrieben, um langsamer und geschwächter zu wirken. Dicht hinter sich spürte sie den Atem des Schattenmannes.

»Wo ist Annie?«, fragte sie in die Stille. »Wo ist meine Schwester?«

»Geh!«, war die knappe Antwort.

Die wortkarge Art des Schattens ärgerte sie. Eine Flucht war unter normalen Umständen die einzig richtige Option, doch zunächst musste sie wissen, wo sich ihre Schwester befand und wie es ihr ging.

»Bitte! Das können Sie mir doch wenigstens sagen«, wagte Ellie einen weiteren Vorstoß.