Die Gnome - Manuel Timm - E-Book

Die Gnome E-Book

Manuel Timm

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Beschreibung

Seit jeher lebt das Volk der Gnome tief unter den Bergen. Ihr Leben besteht aus dem Graben von Tunneln, um ihre unterirdische Welt zu vergrößern und neue Schätze zu entdecken. Der junge Pelwick ist einer von ihnen. Er ist ein Gräber, dazu bestimmt vorhandene Tunnel zu vergrößern und Kammern anzulegen. Doch sein Herz ist unruhig. Viel lieber wäre er einer der Entdecker, welche in unbekannte Abschnitte vordringen und als Einzige die Möglichkeit haben Abenteuer zu erleben. Als eines Tages eine seltsame Kammer entdeckt wird, nutzt Pelwick die Gelegenheit, auf eigene Faust diesen fremdartigen Raum zu erkunden. Dabei ahnt er nicht, in welche Gefahr er sich selbst und das Volk der Gnome bringt.

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Seitenzahl: 425

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Manuel Timm

Die Gnome

Prolog

Tief unter der Erde, verborgen vor Augen und Licht, leben Wesen fern jeglicher Vorstellungskraft. Einige von ihnen fristen ein primitives Dasein, beschränkt auf die einfache Erhaltung ihrer Art. Andere wurden von der Finsternis geprägt und dulden kein Leben neben ihrem eigenen. Und doch gibt es in den tiefsten Tiefen der Erde Wesen, die sich ihrer Umgebung angepasst, ihr Reich erweitert und sich die Schätze der Erde nutzbar gemacht haben.

Einige von ihnen sind die Gnome, kleinwüchsige Wesen, stets von dem Antrieb beseelt, ihr aus unendlichen Tunneln bestehendes Reich weiter auszubauen und neue Schätze zu entdecken. Ihr Heim nennen sie Chupa Waia, den Großen Stein, in welchem sie in einer beachtlichen Gemeinschaft leben, bestens an die Dunkelheit ihrer Welt angepasst.

Aber ihr bislang friedvolles Leben ist in Gefahr. In der Finsternis leben noch andere Kreaturen, welche die Welt der Gnome zerstören wollen …

Die Grauberge, Region Tendar Etwa 214 Jahre vor Karapeus

Chupa Waia

Pelwicks Finger schmerzten. Er kniete in einem engen, dunklen Tunnel, umgeben von Stein. Kaltem, tief grauem Stein. Sein sonst so blasses Gesicht war von dem Geröll verdreckt, welches er mithilfe der Grabkrallen aus dem Fels schlug. Aber das störte ihn nicht. Er war ein Gräber und für das Anlegen von Höhlen und Tunneln verantwortlich. Pelwick tat dies schon seit dem Ende seiner Kindheit. In seiner Heimat Chupa Waia, dem Großen Stein, bekamen alle Gnome zum Ende ihrer Kindheit Aufgaben zugewiesen. Die meisten wurden Gräber, einige auch Metall- oder Steinformer. Die Kunst des Kochens wurde später jenen zugewiesen, welche den Nachwuchs betreuten, und andere wachten über das Gnomenvolk, damit sie nicht von Riesenkäfern angegriffen werden konnten.

Aber Pelwick war Gräber und mit seiner Aufgabe innerhalb der Gemeinschaft der Gnome zufrieden. Er sah zurück und freute sich, wie weit er mit seiner Arbeit gekommen war. Sein Tunnel sollte ein Erstgang werden, gerade groß genug, um hindurch zu krabbeln. Später, wenn der Gang auf eine Kana Thal – eine Knotenhalle – traf, aus welcher viele Tunnel abzweigten, würden ihn andere Gräber weiter ausbauen.

Pelwick drehte sich, damit er in eine angenehme Sitzhaltung gelangte. Er zog die eisernen Grabkrallen von den Händen und massierte seine Finger. Irgendwann, so hoffte Pelwick, würde er den Erkundern zugeteilt werden. Die Erkunder gruben Tunnel in unbekannte Richtungen, wo sie nicht am Ende auf eine Kana Thal trafen. Sie gruben vollkommen neue Wege und entdeckten dabei manchmal unbekannte Wurzeln oder hoben ein Nest von riesigen Erdkäfern aus.

Das pure Abenteuer.

Pelwick zog wieder seine Grabkrallen über, als ihn ein Geräusch ablenkte. Es ertönte hinter ihm und klang nach einem entfernten Klopfen. Der Gnom zog die Stirn in Falten. Seines Wissens nach befand sich in diesem Bereich Chupa Waias kein anderer Arbeiter.

Unwillkürlich kamen ihm die Gedanken vom verbotenen Tunnel in den Sinn. Er war damals noch ein kleines Kind gewesen, als einige Entdecker in eine unbekannte Höhle vorgestoßen waren. Dort lebten unheimliche Geschöpfe, voller Boshaftigkeit. Nur unter großen Verlusten hatten es die Gnome geschafft, diese wilden Kreaturen zurückzudrängen und den Tunnel zu verschließen. Es war damals eine dunkle Zeit in der Gemeinschaft der Gnome gewesen.

Pelwick wurde mulmig zumute. Das Geräusch schien tatsächlich aus der Richtung des verbotenen Tunnels zu stammen.

Einen Moment hielt der junge Gnom inne, unfähig zu entscheiden, ob er bleiben oder seinen Gang verlassen sollte. Als sich das Geräusch nicht wiederholte, krabbelte er vorsichtig aus seinem Tunnel. Die drei Zinken der Grabkrallen schlurften dabei über den steinernen Boden und begleiteten Pelwick mit einer schaurigen Musik.

Ein schwaches, rötliches Leuchten tauchte am Ende des Tunnels auf. Es stammte von einem Glimmstein, welche die Gnome lediglich zur Markierung ihrer Tunnel benutzten. Helligkeit brauchten die Gnome nicht. Sie waren fähig, in vollkommener Dunkelheit zu sehen. Sie kannten das Feuer, nutzten seine Kraft aber nur zum Zubereiten köstlicher Speisen. Wahres Tageslicht hatte noch keiner von ihnen gesehen, da es keinen Weg aus Chupa Waia heraus gab.

Pelwick kletterte aus seinem Tunnel und stand in einer Knotenhalle. Neben ihm signalisierte das rote Leuchten eines Glimmsteins den unfertigen Gang. Etwas weiter entfernt, innerhalb der Kana Thal, leuchteten zwei weitere Steine. Der blaue zeigte den Weg zu einer weiteren Knotenhalle, während der grüne den Weg zum Kern Chupa Waias wies: zur Ersten Halle, der Oni Thal.

Sie war das Herz Chupa Waias und der Ursprung aller Gnome. Dort befanden sich auch die Schlafkammern, der Heilige Quell, die Wollwurmfarm, die Käferstallungen, die Werkstätten und der Rat der Ältesten.

Pelwick lauschte in die Dunkelheit. Das Geräusch wiederholte sich nicht. Aller Wahrscheinlichkeit nach war es ohnehin nur ein Erdkäfer auf der Suche nach Nahrung gewesen. Es kam nicht selten vor, dass diese großen Tiere beim Graben die Tunnel der Gnome kreuzten. Und die Gnome hatten gelernt, sich die Käfer nutzbar zu machen. Sie hielten sie in einer Höhle gefangen. Ihr Fleisch und ihre Milch dienten den Gnomen als Nahrung, ihre Chitinpanzer als Rüstung. Trotzdem waren die Tiere nicht ungefährlich und es war schon öfter vorgekommen, dass ein Gnom von einem Käfer zu Tode getrampelt worden war.

Pelwick wollte es genauer wissen. Vorsichtig schlich er durch die Kana Thal hinüber zum Tunneleingang mit dem blauen Licht. Er versuchte leise zu atmen, da Erdkäfer sehr gute Sinne hatten und selbst sich anschleichende Gnome schnell entdeckten. Verstohlen blickte Pelwick in den Gang hinein. Auch wenn er sehr gut in der Dunkelheit sehen konnte, verlor sich der Gang in einiger Entfernung in undurchdringlicher Schwärze.

Der junge Gnom schüttelte den Kopf. Er ärgerte sich, die Angst so leichtfertig zugelassen zu haben. Wenn er weiterhin vor jedem nicht eindeutigen Geräusch erschauderte, würde man ihn niemals als Erkunder zulassen.

Pelwick zog erleichtert die Grabkrallen von den Händen und hängte sie sich an den Hosenbund, wo er sie mit Hilfe zweier Bänder festknotete. Der junge Gnom wandte sich ab, als hinter seinem Rücken ein unheimlicher Laut anschwoll, dem eines kreischenden Erdkäfers ähnlich. Erschrocken fuhr Pelwick herum, starrte in den Tunnel und erkannte etwas Dunkles, das schnell auf ihn zu kam. Noch bevor er reagieren konnte, hatte es ihn gepackt und zu Boden geworfen.

Das Kreischen veränderte sich zu glucksendem Gelächter.

Der Gnom riss die Augen auf, packte den Angreifer an den Schultern und schubste ihn von sich herunter. »Peya!« Pelwick steckte der Schreck noch tief in den Knochen. »Was soll das? Willst du mich umbringen?«

Das Gnomenmädchen hatte Mühe, den Lachanfall zu unterbinden, wischte sich die Tränen aus den Augen und setzte sich auf. »Stell dich nicht so an«, sagte sie. »Wie war es denn neulich, als du mir heimlich die Wollwürmer aufs Haar gekippt hast?«

»Das war doch nur Spaß.« Pelwick winkte ab, stand auf und sah zu Peya hinunter. Sie bezauberte ihn jedes Mal, wenn er sie anblickte. Ihre Augen waren groß und leuchteten in einem hellen, blauen Glanz. Ihre weißen, langen Haare waren glatt, was für Gnome unüblich war, und auch ihre zur Seite abstehenden, spitzen Ohren waren nicht so lang wie die der anderen Gnome. Aber am liebsten mochte Pelwick das verschmitzte Lächeln, welches ständig ihre Mundwinkel umspielte. Und als er sie so vor sich sitzen sah, musste auch er lachen.

»Was machst du hier?« Pelwick reichte ihr eine Hand.

Peya ergriff sie und ließ sich von ihm aufhelfen. »Du bist schon so lange hier. Lass uns was essen gehen!«

Peyas bittender Blick ließ Pelwicks Herz höher schlagen. Es war ihm schier unmöglich, der jungen Gnomin zu widerstehen. Auch wenn seine Arbeit noch lange nicht beendet war.

»Na schön«, gab er nach.

Kaum hatte Pelwick zugestimmt, lief Peya bereits lachend davon. »Fang mich doch«, hörte er sie noch rufen und setzte ihr sofort nach.

Die beiden Gnome huschten rasch durch die zahlreichen Tunnel, die Chupa Waia wie ein Geflecht aus Wurzelholz durchzogen. Nach geraumer Zeit trafen sie auf einen der vier Haupttunnel, welche in die Oni Thal von unterschiedlichen Seiten führten. Die Haupttunnel waren beinahe sechs Gnomenlängen breit, ebenso hoch und bestanden, so lange die Gnome zurückdenken konnten. Viele kleinere Seitenarme führten aus so einem Haupttunnel in alle möglichen Richtungen hinaus.Peya und Pelwick hatten ihr kleines Fangspiel aufgegeben und schlenderten nebeneinander, dem breiten Gang folgend, in die Oni Thal hinein. Der Anblick der Ersten Halle überwältigte sie jedes Mal aufs Neue. Viele Glimmsteine leuchteten an den Wänden der riesigen Halle, wiesen auf Vorratshöhlen hin oder auf die zahlreichen kleinen Schlafkammern der Gnome, welche dicht nebeneinander in den Stein getrieben worden waren. Innerhalb der Halle standen zwei riesenhafte Gebilde. Das Vordere war ein Stalagmit und reichte in seiner Größe bis über die halbe Hallenhöhe. Ein schmaler Pfad wand sich um diesen Stalagmiten herum und schraubte sich an diesem steil in die Höhe, wo er an einem schmalen Eingang endete, der in das steinerne Gebilde führte. Jenseits des Eingangs saß der Rat der Ältesten, drei erfahrene Gnome, welche das Oberhaupt der Gemeinschaft bildeten. Sie entschieden gemeinsam über das Wohl der Gnome, welche Tunnel angelegt wurden und welche verschlossen, wann neue Käfer gefangen oder ältere geschlachtet wurden. Seit jeher wurden die Gnome in dieser Art geführt und sie waren glücklich damit.

Das zweite zentrale Gebilde in der Oni Thal war ein Stalagnat, welcher den Boden und die Decke miteinander verband. Durch unzählige kleinste Löcher an seinem oberen Ursprung flossen viele Rinnsale hinab und vereinigten sich an seinem Fuß in einem steinernen Graben, welches den Stalagnat umringte. Dies war der Heilige Quell, das spirituelle Zentrum der Oni Thal. Die Gnome verehrten ihn als eine Gottheit, da er ihnen das Leben geschenkt hatte und sein kühles Wasser ihnen den Durst löschte. Die Gnome glaubten fest daran, nach ihrem Tod in den Heiligen Quell einzutauchen und eins mit ihm zu werden, umfolgenden Generationen neues Leben zu schenken. Niemals hatte ein Gnom versucht, in der Nähe des Quells zu graben, um zu sehen, woher er kam oder wohin er floss. Dies war aufs Strengste verboten und jeder Gnom in Chupa Waia hielt sich daran.

Peya und Pelwick betraten die erste Halle durch den Ersten Gang, wie er vom Rat der Ältesten getauft worden war. Sie grüßten die beiden Wachmänner mit einem kurzen Kopfnicken, welche den Gruß erwiderten. Wachmänner waren an den Zugängen zur Oni Thal stets präsent. Es kam zwar nicht häufig vor, dass jemand Ungebetenes auftauchte, aber selbst ein wütender Erdkäfer konnte beträchtlichen Schaden anrichten, wenn er nicht abgewehrt wurde. Und seit dem Vorfall in dem verbotenen Tunnel waren die Gnome mehr als dankbar für die ständige Anwesenheit der Wachmänner.

Die vielen Steinformationen, welche sich in großen Kreisen um den Rat der Ältesten und dem Heiligen Quell gruppierten, waren das Ziel von Peya und Pelwick. Dort waren kunstvoll Nischen und Öfen in den Stein geschlagen worden und dienten nun als Werkstätten und Kochplätze. Der Widerschein der vielen kleinen Feuer, die dort brannten, tauchte die Umgebung und vor allem die beiden zentralen Gebilde in einen zauberhaften Glanz.

Die beiden jungen Gnome suchten sich einen Platz an dem Stein der alten Kuri. Sie war eine Meisterköchin und hatte stets die schmackhaftesten Speisen in den Chitinschalen, die von den Käfern gewonnen wurden. Sie blickte auf, als die Gäste sich näherten.

»Hallo, Kinder, ihr seid sicher hungrig!« Ein sanftmütiges Lächeln schob die vielen Falten ihres Gesichts in die Breite. Ihre Augen jedoch wirkten jung und ein kurzer Blick ließ Kuri oftmals wissen, worauf die Hungrigen gerade Appetit hatten.

»Und wie«, sagte Pelwick.

»Was gibt es denn Schönes?«, fragte Peya.

»Oh«, Kuri kicherte. »Ich habe etwas Neues ausprobiert. Es wird euch schmecken!« Die Alte wand sich wieder ihren Chitinschalen zu, mischte einige Zutaten zusammen und erhitzte sie über dem Feuer, das in einer kleinen Nische loderte.

»Es kommt mir vor, als würde die Oni Thal jedes Mal schöner werden.« Peya sah hinauf zu den vielen Glimmsteinen an der Decke.

»Ich weiß nicht«, maulte Pelwick. »Wir haben schon lange keine Glimmsteine mehr gefunden.«

»Du bist ein Miesepeter«, sagte Peya. »Bist du immer noch beleidigt, dass Hadumod Erkunder geworden ist und nicht du?«

»Ach was«, log Pelwick. »Aber ich wäre ein toller Erkunder. Stell es dir nur mal vor. Du gräbst Gänge in unbekannten Stein. Niemand kann dir sagen, worauf du als Nächstes stößt. Ist das nicht das pure Abenteuer?«

Peya lachte. »Du und Abenteuer, Pelwick? Du hast doch viel zu viel Angst!«

Der junge Gnom verzog das Gesicht. Es gefiel ihm gar nicht, wenn Peya ihn aufzog. Er war zwar wirklich nicht der Mutigste, aber beim Graben war es anders. Wenigstens glaubte er das.

Bevor Pelwick die richtigen Worte zu seiner Verteidigung vorbringen konnte, kam Kuri mit dem Essen. Es duftete köstlich.

»Was ist das?«, fragte Peya.

»Zartes Fleisch aus dem Käferrücken an Wurmmilch und rohen Pilzen«, antwortete Kuri. »Lasst es euch schmecken.«

Die beiden Gnome begannen mit ihrem Mahl und es schmeckte tatsächlich ebenso gut, wie es roch.

Niemand in der Gemeinschaft musste für irgendetwas bezahlen und es gab auch nichts, was man mit Geld vergleichen konnte. Die Gräber gruben, die Köche kochten. Die Gnome kannten keinen Tag und keine Nacht. Wenn jemand müde war, so schlief er, und wenn jemand hungrig war, so aß er. Es war die Einfachheit des Lebens, welches es den Gnomen lebenswert machte. Und falls doch einmal jemand unglücklich war, ging er zum Rat der Ältesten, der bislang für jedes Problem eine Lösung gefunden hatte.

»Willst du mit mir auf das Fest gehen?«, fragte Pelwick plötzlich.

Peya blickte auf, verharrte einen Moment und schluckte anschließend den Bissen hinunter. »Das fragst du jetzt nicht im Ernst?«

»Doch, doch.« Pelwick wurde verlegen. Es war ihm schon lange Zeit bewusst, dass er für Peya mehr empfand als bloße Freundschaft. Nur wie er es ihr sagen sollte, war ihm noch nicht ganz klar, und ihr Urteil über seinen Mut traf in diesem Fall vollkommen zu.

»Ich gehe doch jedes Mal mit dir dahin!« Peya schüttelte verständnislos den Kopf, blickte zur Seite und rutschte von ihrem Platz.

»Warum versteckst du dich da?« Pelwick war von der Aktion überrascht.

»Pst, sei leise«, ermahnte ihn die Gnomin. »Er darf mich nicht sehen!«

Pelwick blickte sich um. Viele Gnome wuselten in der Oni Thal umher, was allerdings nicht ungewöhnlich war. Jeder ging irgendeiner Beschäftigung nach oder schlenderte einfach nur zwischen den Werkstätten und Kochstellen hin und her. Dabei sahen sie sich alle recht ähnlich: meistens schlank – schon beinahe dürr, hatten gewelltes oder lockiges Haar in dunkelgrauem, weißem oder hellem Gelbton. Sie gingen allesamt barfuß, trugen kurze Hosen und weite Hemden aus einem Stoff, den die Kleidungsmacher aus den Wollwürmern gewannen. Lediglich die Wachmänner trugen Rüstungen aus dem Chitin der Erdkäfer. Alles in Chupa Waia war normal und es gab niemanden, vor dem es sich zu verstecken lohnte.

»Ich habe keine Ahnung, von wem du redest.« Pelwick zuckte mit den Achseln und kümmerte sich wieder um sein Essen.

Peya hob den Kopf ein wenig und schielte über die Steine. Nachdem sie die gesuchte Person nicht mehr sehen konnte, setzte sie sich erleichtert zurück auf ihren Platz.

»Olsmund war da«, erklärte sie und aß ein Stück Käferfleisch.

»Wieso? Der ist doch nett«, antwortete Pelwick.

»Ja, schon«, meinte Peya halblaut, »aber seit einiger Zeit treibt er sich immer bei mir und meiner Mutter herum. Er ist zwar hilfsbereit und zuvorkommend, bringt uns Essen und Trinken an die Schlafkammern, aber ich finde ihn ein wenig aufdringlich.«

»Vielleicht mag er deine Mutter«, mutmaßte Pelwick.

»Bah, hör auf!« Peya schüttelte sich. »Olsmund ist doch viel zu alt!«

»So alt nun auch wieder nicht. Er ist doch höchstens eine halbe Generation älter als deine Mutter.«

»Ja, eben!«

»Also ich finde ihn nett. Wie denkt deine Mutter über ihn?«

»Ich weiß es nicht.« Peya nahm sich das letzte Stück Fleisch, wischte damit die restliche Milch aus ihrer Schale und steckte es sich in den Mund.

»Vielleicht mag sie ihn ja auch«, meinte Pelwick mit breitem Grinsen.

»Jetzt hör aber auf!« Peya verschluckte sich fast an ihrem Essen.

Plötzlich herrschte helle Aufregung in Chupa Waia: Die Gnome drängten sich zum Ersten Tunnel und schienen dort neugierig auf etwas zu warten. Peya, schon immer von besonderem Wissensdurst erfüllt, sprang sofort auf.

»Was gibt es da?« Pelwick drehte sich um, konnte allerdings nichts erkennen.

Peya antwortete ihm nicht. Sie lief der Gnomenansammlung entgegen. Pelwick verdrehte die Augen und erhob sich ebenfalls. Er hasste es, wenn Peya so etwas tat, rannte ihr jedoch schleunigst nach.

An der Mündung zum Haupttunnel hatte er sie eingeholt. »Was ist denn nun passiert?« Pelwick hielt seine Freundin am Arm fest.

»Die Erkunder haben etwas entdeckt. Komm, das müssen wir uns ansehen!« Peya packte Pelwicks Hand und zerrte ihn zwischen den neugierigen Gnomen hindurch. Gemeinsam liefen sie den Haupttunnel hinunter und kletterten wenig später in einen der Seitengänge.

»Weißt du nichts Genaues?« Pelwick hatte Mühe, mit der flinken Gnomin Schritt zu halten, obwohl sie einen halben Kopf kleiner war. Sie liefen durch eine angrenzende Kana Thal und huschten in den nächsten Tunnel.

»Ich weiß nur, dass die Erkunder etwas Merkwürdiges entdeckt haben und nach den Ältesten geschickt wurde. Wir müssen uns beeilen, bevor sie dort sind. Du magst doch Abenteuer, oder?«

Diese Neuigkeiten weckten Pelwicks Entdeckerader. Seine runden Augen bekamen wie immer diesen sonderbaren Glanz, wenn ein Abenteuer in der Luft lag. Er hoffte nur, dass es nicht allzu gefährlich werden würde.

Nach einigen weiteren Tunneln erreichten die beiden Gnome eine Knotenhalle, in der sich bereits einige andere ihres Volkes versammelt hatten. Pelwick kannte sie alle. Einige flüchtig, andere wesentlich besser. Sie drängten sich allesamt um einen Tunneleingang, der mit einem roten und einem blauen Glimmstein versehen war, der Bezeichnung für einen Erkundertunnel. Peya hielt immer noch Pelwicks Hand und zog ihn zwischen den anderen Gnomen hindurch, allerdings kamen sie einige Längen vor dem Tunneleingang nicht weiter voran. Peya versuchte, sich auf die Zehenspitzen zu stellen, um einen Blick zu erhaschen, doch sie konnte nichts Interessantes sehen.

»Kannst du was erkennen?« Peya hoffte auf einen spannenden Hinweis von ihrem etwas größeren Freund. Aber auch dieser konnte nichts Erwähnenswertes entdecken.

»Macht Platz für die Ältesten!«, ertönte eine Stimme aus einem anderen Ende der Kana Thal.

Sofort rückten die Gnome zur Seite und gaben einen Pfad zum Erkundertunnel frei.

Drei Männer betraten diesen Pfad. Sie waren alt und gingen auf knorrigen Stöcken aus Wurzelholz gestützt. Ihre Gesichter zeigten das hohe Alter durch vielzählige Falten. Die Körper wurden von weißen Gewändern verhüllt, ließen aber ihre knochige Gestalt erahnen.

War die Knotenhalle zuvor noch von den Stimmen der neugierigen Gnome erfüllt gewesen, so schwiegen jetzt alle. Niemand wagte auch nur, einen einzigen Ton von sich zu geben. Die Ältesten genossen das höchste Ansehen im Volk der Gnome und ihre Entscheidungen wurden niemals angezweifelt. Und auch jetzt waren alle gebannt, wie die Ältesten über den Fund der Erkunder urteilen würden, obwohl kaum einer wusste, worum es sich überhaupt handelte.

Das leise Klacken der Gehstöcke war der einzig vernehmbare Laut, als die Ältesten an den Gnomen vorüberzogen. Sie hatten bereits die Hälfte der Kana Thal durchquert und passierten gerade den Standort von Peya und Pelwick.

Das Gnomenmädchen drückte fest die Hand ihres Freundes. »Komm«, flüsterte sie und zog ihn mit sich.

Die Ältesten hatten fast den Eingang des Erkundertunnels erreicht, als sich die beiden Gnome an ihre Fersen hefteten. Hinter ihnen drängten sich wieder die anderen um die Ältesten und lösten somit den Pfad auf.

»Nun, worum handelt es sich?« Jukon, einer der Ältesten, blickte die Erkunder fragend an.

»Es ist gleich hinter diesem Tunnel!« Ein Erkunder wies auf das Loch hinter ihm. Es war Olsmund und sein Äußeres wirkte tatsächlich recht alt. Viele Falten hatten sich in seine helle Haut gegraben und seine Augen wirkten müde. »Dort ist eine Höhle, wie ich sie noch nie zuvor gesehen habe. Randvoll mit sonderbaren Dingen.«

Pelwick hielt den Atem an. Sofort kamen ihm wieder die Geschichten von dem verbotenen Tunnel in den Sinn. Obwohl er es nicht zulassen wollte, beschlich ihn ein Gefühl der Angst. Er sah zu Peya hinüber, doch sie bekam von seinen Regungen nichts mit. Gespannt starrte sie auf den Erkundertunnel.

»Interessant!« Der Älteste strich durch den langen, weißen Backenbart, blickte in den Tunnel und anschließend seine beiden Begleiter an. »Zeigt uns die Höhle.«

Olsmund nickte und kletterte in den unfertigen Gang. Die Ältesten folgten ihm.

»Los!«, flüsterte Peya.

Noch ehe Pelwick etwas entgegnen konnte, war sie bereits in den engen Tunnel geklettert. Dem jungen Gnom war nicht wohl dabei, sich derart aufzudrängen. Aber Peya würde ihn ewig damit aufziehen, wenn er ihr jetzt nicht folgte. Mit einem tiefen Seufzer krabbelte er ihr hinterher.

Der Tunnel war sehr eng, ähnlich jener, die Pelwick grub, und sie kamen nur sehr langsam voran, da die Ältesten es nicht mehr gewohnt waren, durch so enge Tunnel zu krabbeln. Sehr vorsichtig kletterten sie hindurch und vermieden es tunlichst, sich irgendwo zu stoßen.

Pelwick und Peya, die ebenfalls Gräber war, hatten damit keine Probleme. Manchmal, wenn das Gestein an bestimmten Stellen bedeutend härter war, gruben sie ihre Tunnel noch enger und konnten sich nur gerade so hindurch quetschen. Doch dieser hier war der reinste Spaziergang.

Pelwicks Finger glitten über den rauen Stein. Er fühlte sich an wie jedes andere Stück Fels, welches er in seinem Leben bisher angefasst hatte.

Warum sollte es auch nicht so sein?

Würde sich der Stein verändern, wenn man auf etwas Ungewöhnliches traf, hätten die Gnome den verbotenen Tunnel wahrscheinlich damals nie freigelegt. Pelwick schalt sich selbst einen Narren, da er schon wieder daran dachte.

»Wir sind da.« Peyas Flüsterstimme riss ihn aus seinen Gedanken.

Olsmund und Jukon hatten den Tunnel bereits verlassen. Die Nerven der beiden jungen Gnome waren bis zum Bersten angespannt und am liebsten hätten sie die beiden Ältesten vor ihnen aus dem Tunnel geschubst. Doch sie konnten sich zurückhalten und warteten unruhig ab, bis sie endlich einen Blick in die Höhle werfen konnten.

»Wo sind wir?«, fragte Peya, als sie aus dem Gang krabbelte.

»Die Frage ist, was macht ihr hier?« Jukon hatte die beiden jungen Gnome entdeckt und sah sie böse an.

»Wir …« Peya stieß Pelwick, der eben erst in die Höhle kletterte, hilfesuchend an.

Überrascht sah der junge Gnom auf und bemerkte Jukons bösen Blick. »Wir sind nur neugierig«, gab Pelwick rasch zu.

Peya ließ den Kopf hängen. Sie hatte offensichtlich eine bessere Ausrede von ihrem Freund erwartet.

»Seht zu, dass ihr wegkommt«, sagte Groling, ein anderer Ältester.

Peya und Pelwick seufzten.

»Wenn sie schon mal hier sind, können sie auch bleiben. Je mehr Augen, umso besser«, entschied Jukon und wandte sich wieder an Olsmund. »Was ist das hier?«

»Ich habe so etwas noch nie zuvor gesehen.« Der Erkunder zuckte mit den Schultern und warf Peya einen freundlichen Blick zu. Doch die junge Gnomin hatte nur Augen für den ungewöhnlichen Raum, in dem sie sich befanden.

Die Höhle war quadratisch angelegt und maß ungefähr acht Schrittlängen. An den Wänden befanden sich Gestelle aus einem Material, welches dem Wurzelholz der Gnome recht ähnlich war. Wurzelholz fanden die Gräber manchmal beim Anlegen der Tunnel und nutzten es zum Feuermachen oder als Gatter für die Käferhöhle. Doch so ein fein bearbeitetes wie jenes, aus denen die Gestelle gefertigt waren, hatten sie noch nicht gesehen. Aus dem gleichen Material standen hier auch Kisten und Fässer. An einer Wand befand sich ein großes Rechteck, welches ebenfalls aus diesem Holz bestand. Es hatte an einer Seite eine Art Griff aus Metall und schien auf der anderen Seite an zwei Metallstäben aufgehängt zu sein. Das hölzerne Rechteck hatte Ähnlichkeit mit dem Gatter aus der Käferhöhle, nur konnte man nicht hindurch sehen.

Es gab auch einen Ring aus Metall an einer Wand. Darin steckte ein angebranntes Stück Holz, welchem die Gnome wenig Beachtung schenkten. Viel mehr faszinierte sie jene Dinge, die sich in den Gestellen und Kisten befanden. Ungewöhnliche Dinge. Etwas davon sah aus wie das Fleisch der Riesenkäfer, nur hatte es eine andere Färbung und einen anderen Geruch. Anderes wirkte wie ein hart gewordener Brei, in ovale Formen gepresst.

»Was ist das hier?« Peya konnte ihre Augen kaum noch von den ungewöhnlichen Dingen abwenden.

Niemand vermochte, ihr eine Antwort zu geben. Alle waren zu sehr von dieser ungewöhnlichen Höhle fasziniert.

Pelwick kniete sich etwas abseits vor eine Kiste. Darin lagen grünliche Holzstückchen. Vorsichtig nahm er ein wenig davon in seine Hand. Die Stückchen waren sehr klein, höchstens halb so groß wie seine Fingernägel. Er überlegte, ob er sie zurück in die Kiste legen oder sie vielleicht mitnehmen sollte.

»Was hast du da?«

Pelwick hatte gar nicht bemerkt, wie Peya sich zu ihm gekniet hatte. Vor Schreck stopfte der junge Gnom die Holzstückchen in seinen Mund. Es war nur eine plumpe Reaktion und er wusste selbst nicht einmal, warum er sie nicht einfach hatte fallen lassen.

Plötzlich spürte er ein leichtes Brennen in seinem Mund. Das sonderbare Zeug war scharf und bitter zugleich, es schmeckte widerlich und ihn überkam ein Würgereiz. Unter Peyas weit aufgerissenen Augen spie Pelwick das grünliche Zeug auf den Boden.

»Er stirbt!«, rief das Gnomenmädchen.

Sofort waren die Ältesten und Olsmund bei ihr und kümmerten sich um Pelwick. Der junge Gnom würgte noch immer, doch es kam nur noch grünlich gefärbter Speichel aus seinem Mund.

»Dummer Narr!«, beschimpfte ihn Groling.

»Wir sollten ihn hinaus bringen. Vielleicht kann Rhasa ihn heilen«, schlug Jukon vor.

Pelwick fiel auf den Rücken. Er zappelte mit den Armen und Beinen, seine ehemals blasse Haut nahm einen rötlichen Farbton im Gesicht an. Die anderen Gnome packten ihn an den Armen, halfen ihm hoch und drehten ihn um, damit er sich leichter übergeben konnte. Allmählich verschwand die rötliche Färbung seines Gesichts wieder.

»Es geht schon wieder«, keuchte Pelwick.

»Du hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt.« Peya war die Erleichterung anzusehen.

Pelwick lächelte ihr gequält zu.

»Dennoch sollte Rhasa einen Blick auf ihn werfen«, meinte Jukon. »Gehen wir. Diese Höhle wird versiegelt und nicht mehr betreten. Wir müssen erst darüber befinden, was mit ihr geschehen soll.«

»Ob sie ein Geschenk vom Heiligen Quell ist?«, fragte Olsmund.

»Vielleicht auch eine böse Falle!« Jukon kniff die Augen zusammen und kletterte in den Tunnel.

Die anderen folgten ihm rasch. Keiner wollte noch länger als nötig an diesem tückischen Ort verweilen.

***

Nachdem Pelwick von der Heilerin Rhasa versorgt worden war, gingen er und Peya wieder durch die Oni Thal. Ihr Ziel waren die vielzähligen Löcher überall in den Wänden der Halle, zwischen den vier Hauptausgängen, die den Gnomen als Schlafplätze dienten.

»Was hältst du davon?«, unterbrach Peya das Schweigen, welches seit dem Besuch bei Rhasa angehalten hatte.

»Ich weiß nicht«, gab Pelwick zu. Obwohl Rhasa ihn untersucht und ihm Heilmilch zu trinken gegeben hatte, war trotzdem ein leichtes, brennendes Gefühl in seinem Hals zurückgeblieben.

»Ob dort jemand wohnt?«, fragte Peya weiter.

»Vielleicht.« Pelwick zuckte mit den Achseln. »Aber wie soll da jemand wohnen, wenn wir erst den Eingang geschaffen haben?«

Peya kratzte sich an ihrer kleinen Stupsnase. Ihr Blick schweifte durch Oni Thal. Plötzlich packte sie den Arm ihres Freundes und stellte sich vor ihm auf. Mit einer Hand deutete sie hinüber zu den Höhlen, wo sich die Vorratskammer, die Wollwürmerfarm und die Stallungen der Erdkäfer befanden.

»Vielleicht ist es ein Gatter! Dieses komische Rechteck an der einen Wand in der Höhle! Vielleicht ist es so etwas wie unsere Gatter, welche die Käfer am Fliehen hindern!« Peya war ganz aufgeregt. Sie hüpfte von einem Bein auf das andere und zupfte immer wieder an Pelwicks Arm.

Doch dieser war von ihrer Vermutung nicht ganz überzeugt. Er blickte zu der Stallhöhle und betrachtete das schiefe, aus gewundenem Wurzelholz gefertigte Gatter. »Ich weiß nicht. Warum sollte man die Dinge in der Höhle am Weglaufen hindern? Meinst du, dass da drin war lebendig?«

»Das glaube ich nicht.« Peya ließ den Kopf hängen. »Aber wir könnten es herausfinden!«

»Nein!« Pelwick schüttelte vehement den Kopf. »Die Höhle ist versiegelt. Lassen wir die Ältesten zuerst eine Entscheidung treffen und danach werden wir sicherlich mehr erfahren.«

Peya war sichtlich enttäuscht. Pelwick wusste, dass seine Freundin am liebsten los gerannt wäre und die merkwürdige Höhle noch einmal eindringlich untersucht hätte. Wenn sie etwas verabscheute, dann war es zu warten. Und vor allem auf eine Entscheidung der Ältesten. Diese konnte sich mitunter ewig hinziehen.

»Junge!« Eine Stimme unterbrach seine Gedanken. Sie gehörte Fada, seiner Mutter, die mit ihrem Gemahl Zulias aus Richtung der Schlafkammern kam. Sie war recht klein, selbst für einen Gnom. Ihre weißen Haare waren sehr lockig und ihr Gesicht war vor Aufregung schrecklich gerötet. Kaum angekommen, nahm sie ihren Sohn in die Arme und presste ihn so hart an sich, dass ihm die Luft wegblieb.

»Vater hat gehört, was dir passiert ist!« Fada war noch immer ganz atemlos. »Was machst du nur für Sachen? Habe ich dir nicht gesagt, man soll nichts Unbekanntes anfassen, bevor die Ältesten darüber gesprochen haben? Und dann steckst du es dir auch noch in den Mund! Junge! Du hättest ersticken können! Wie damals mit deinem Onkel Filus ...«

»Lass gut sein, Liebes«, mischte sich Zulias ein, trennte seine Frau von ihrem Sohn und tätschelte ihm aufmunternd den Kopf.

»Aber …«, protestierte die Gnomin und wandte sich an Peya. »Hättest du nicht auf ihn aufpassen können? Du bist doch die Ältere von euch beiden.«

»Zwei Tage«, sagte Pelwick, als er wieder zu Atem kam.

»Immerhin«, meinte Fada. »Aber jetzt komm erst einmal mit und erzähl uns alles.«

Fada zog ihren Sohn mit sich und Zulias folgte ihnen.

Peya blieb noch einen Moment stehen und sah ihnen nach, bevor sie sich selbst auf den Weg zu ihrer Schlafkammer machte.

***

Das Wasser des Heiligen Quells rann in vielen Bahnen hinab und sammelte sich in dem steinernen Graben, der den Stalagnat umgab. Peya tauchte eine Chitinschale in die klare Flüssigkeit und trank einen Schluck. Sie hatte sich, nachdem Pelwick mit seinen Eltern gegangen war, nach Hause begeben und dort ebenfalls eine Zurechtweisung von ihrer Mutter Nusa erfahren. Sie solle ihre Neugier im Zaume halten, hatte es geheißen, und sie konnte ihre Mutter gut verstehen. Peya war noch ein kleines Baby gewesen, als ihr Vater als Erkunder einen Gang gegraben hatte, der über ihm eingestürzt war. Die Gnome hatten zwar nach ihm gesucht, doch sie hatten kein Lebenszeichen finden können. Sie konnte ihrer Mutter deswegen nicht böse sein, wenn sie versuchte, ihr letztes, verbliebenes Familienmitglied zu schützen.

Peya blickte gedankenversunken durch die Oni Thal und betrachtete das Treiben der anderen Gnome. An jedem der vier Hauptausgänge standen jeweils zwei Wächter, eingehüllt in ihre Chitinrüstungen und bewaffnet mit Grabkrallen, die besonders lange Zinken besaßen. Kampfkrallen wurden diese Waffen genannt. Nicht weit von Peya entfernt brannten die Feuer der Schmiedeöfen, in denen Grabkrallen aller Art gefertigt oder repariert wurden. Auch in den Werkstätten, wo aus einem Sekret der Wollwürmer Kleidung und Seile hergestellt wurden oder aus Käferpanzern Schüsseln und Rüstungen, war reges Treiben zu beobachten. An den vielen Kochplätzen waren ebenfalls Gnome damit beschäftigt, aus der Milch und dem Fleisch der Käfer schmackhafte Mahlzeiten zuzubereiten. Zwischen all diesen Einrichtungen wuselten andere Gnome umher. Einige gingen zu ihren Tunneln, andere kehrten von den Grabungen zurück und brachten hin und wieder Glimmsteine mit, die sie dabei gefunden hatten. Kinder spielten und rannten durch die erste Halle und andere ruhten sich in ihren Schlafkammern aus.

Als Peyas Blick auf das Haus der Ältesten fiel, sah sie, wie die drei alten Gnome den Eingang verließen und über die gewundene Treppe den Stalagmit herunterkamen. Die Beratung war beendet. Die junge Gnomin sprang auf und lief hinüber, doch es dauerte einen Moment, bis die Ältesten unten ankamen.

»Habt Ihr eine Entscheidung getroffen?«, fragte Peya neugierig.

Die Ältesten blieben stehen. Jukon lächelte sie an und tätschelte ihren Kopf. Peya mochte den hageren Mann, dessen Falten im Gesicht wie eine Landkarte Chupa Waias wirkten.

»Du bist sehr wissbegierig und ungeduldig, kleine Peya«, sagte er. »Aber warum solltest du es nicht erfahren? Es wäre wohl unmöglich, dich daran zu hindern, uns nachzulaufen.«

Peya strahlte und fühlte sich gleichermaßen ertappt.

»Wir sind zu einer Entscheidung gekommen!« Groling übernahm das Wort. Der stämmige Gnom stemmte die Hände in die Hüften und blickte die junge Gnomin wie einen unerwünschten Unruhestifter an. »Wir werden die Höhle versperren und kein Gnom wird je wieder einen Fuß in sie hineinsetzen.«

»Aber warum?« Peya war schockiert.

»Es ist zu gefährlich«, erklärte Rallek, der dritte Älteste. »Du hast gesehen, was mit deinem Freund passiert ist. In dieser Höhle befinden sich Dinge, von denen wir nichts wissen und vielleicht auch nichts wissen sollen. Der Heilige Quell hat uns auf eine Probe gestellt und wir haben versagt. Es lag an seiner Gnade allein, das Leben deines Freundes verschont zu haben.«

»Aber wozu haben wir Erkunder, wenn wir die Dinge, die wir finden, nicht untersuchen?« Peyas Stimmung gelangte an einen Tiefpunkt. Auch wenn sie gegen die Ältesten aufbegehrte, so wusste sie, dass eine Entscheidung von ihnen endgültig war.

»Neugierde kann tödlich sein, kleine Peya«, sagte Groling und versetzte ihr mit der Anspielung auf den Tod ihres Vaters einen kleinen, aber schmerzhaften Hieb. »Der Heilige Quell hat uns geprüft und wir haben diese Prüfung nicht bestanden. Das sollten wir als ein Zeichen sehen und uns seinem Willen beugen.«

Peyas senkte den Kopf. Es hatte keinen Zweck, weitere Einwände vorzubringen. Sie wischte sich eine Träne aus den Augen und ging zur Seite, um den Ältesten Platz zu machen. Ohne ein weiteres Wort gingen die drei Männer an dem Mädchen vorbei.

Enttäuscht schlenderte sie zurück zum Heiligen Quell, las ihre Schale auf und ließ sich zu Boden sinken.

Etwas später kam Pelwick. Er hatte seine Freundin zufällig am Fuße des Stalagnats sitzen sehen und ging zu ihr.

»Gehst du gar nicht graben?«, fragte er.

»Vielleicht später«, antwortete Peya knapp.

»Was ist denn los mit dir?«, fragte Pelwick. Man musste kein großer Gnomenkenner sein, wenn ein sonst so aufgewecktes Mädchen wie Peya plötzlich in sich gekehrt und trübsinnig wirkte.

»Die Ältesten lassen die Höhle versperren«, antwortete sie, ohne aufzublicken.

»Ach was!« Pelwick setzte sich zu seiner Freundin. »Warum?«

»Sie sagen, es wäre eine Prüfung des Heiligen Quells. Und wir hätten versagt, weil du das Zeug einfach gegessen hast, ohne es vorher zu untersuchen!«

»Gibst du mir jetzt die Schuld?«

»Nein.« Peya sah ihren Freund an. »Aber warum hast du es gegessen?«

Pelwick senkte den Kopf. »Ich weiß es nicht«, flüsterte er. »Es war einfach eine unbewusste Handlung. Du hattest mich ertappt, wie ich es in der Hand hielt, und da habe ich es eben rasch verstecken wollen.«

»Du bist ein Trottel!«

»Ich weiß.«

»Sogar ein Obertrottel!«

Peya begann zu lachen und Pelwick stimmte mit ein. Sie stießen sich gegenseitig an und gaben sich noch ein paar spaßige Beschimpfungen.

Einige Augenblicke später trennten sich die beiden Freunde und gingen zu ihren Schlafkammern. Es war an der Zeit, ein wenig Ruhe zu finden, bevor sie sich wieder zu ihren Tunneln begeben würden.

***

Schlafkammern waren nicht besonders geräumig. Jeder Gnom besaß seine eigene. Gerade einmal so hoch, damit ein Gnom darin sitzen konnte, und auch nur so tief, um neben dem Schlafenden noch etwas Platz für Nahrung oder andere Dingen zu bieten. Aber man konnte, auf einer weichen Decke aus dicker Wurmwolle liegend, wunderbar in ihnen schlafen.

Normalerweise.

Pelwick beschäftigten die Worte, welche er von Peya gehört hatte. Die Höhle sollte versperrt werden, weil die Gnome versagt hatten.

Weil er versagt hatte.

Es war ein dummes Gefühl. Er hatte so etwas bislang noch nicht erlebt und war auch nie in die Situation geraten, etwas beweisen zu müssen. Bei seinem Volk gab es so etwas auch gar nicht. Die Gnome halfen einander und jeder hatte seine Aufgabe, aber niemals wurde jemand anhand seiner Taten gemessen oder beurteilt. Womöglich war er der erste Gnom, der in den Augen der Gemeinschaft versagt hatte.

Pelwick musste es wiedergutmachen und er wusste auch, was zu tun war. Er nahm sich die Grabkrallen und verließ seine Schlafkammer.

In der Oni Thal herrschte noch reges Treiben. Jeder ging seiner Aufgabe nach und es gab niemanden, der sich auf Kosten anderer ausruhte.

Pelwick ging wie selbstverständlich an dem Gatter zur Käferhöhle vorüber. Die großen Tiere standen angekettet an den Wänden und regten sich kaum. Ein Gnom melkte einen Käfer. In breitem Strahl schoss die bläulich schimmernde Milch in die bereitgestellte Schale. Pelwick grüßte den Gnom freundlich, welcher den Gruß mit einem breiten Lächeln erwiderte.

Einige Zeit später hatte Pelwick die erste Halle verlassen und war an den Wachen vorbei in einen der Haupttunnel gegangen. Er folgte dem Verlauf des Tunnels eine Weile und kletterte in einen Seitengang, welcher linker Hand von ihm lag. Einige Zeit später befand sich Pelwick kurz vor der Knotenhalle, von wo aus er die sonderbare Höhle erreichen konnte.

Vorsichtig kroch Pelwick voran, bis er einen Blick in die Knotenhalle erhaschen konnte.

Und ärgerte sich!

Vor dem Erkundertunnel zur Höhle stand ein Gnom und bewachte den Zugang. Es war unmöglich, an ihm vorbei zu kommen. Es blieb ihm nur abzuwarten, ob der Gnom seinen Posten verlassen würde, was jedoch unwahrscheinlich war. Gnome erledigten ihre Aufgaben sehr gewissenhaft.

Pelwick dachte nach. Es musste einen Weg geben, die Wache abzulenken oder ihn gar von seinem Platz zu vertreiben. Ein zufällig vorbeikommender Erdkäfer würde ihn mit Sicherheit ablenken, doch solche Zufälle gab es nie, wenn man sie brauchte. Allem Anschein nach würde der Gnom erst weggehen, wenn seine Ablösung kam.

Pelwicks Augen hellten sich auf. Ein Lächeln umspielte seine Lippen, als er aus dem Tunnel kletterte und der Wache entgegen ging. Er begrüßte den Wachgnom freundlich. »Du kannst jetzt gehen, ich löse dich ab.«

Der Gnom sah den Neuankömmling mit großen Augen an. »Jetzt schon? Ich bin doch noch gar nicht so lange hier.«

»Ja. In der Nähe des dritten Hauptgangs wurden Erdkäfer gesichtet. Die Anwesenheit aller Wachen wird in der Oni Thal erwünscht.«

Nach »Nun gut.« Die Wache kratzte sich am Kopf. »Lass niemanden dort hinein. Der Gang wird später verschlossen und wir wollen ja nicht, dass sich jemand währenddessen auf der anderen Seite befindet und nicht mehr zurückkommen kann.« Nach diesen Worten ging der Gnom und ließ einen verunsicherten Pelwick zurück.

… nicht mehr zurückkommen …

Er wischte den schaurigen Gedanken beiseite. Er wollte ja nur einen schnellen Blick riskieren und keine große Sache daraus machen. Einmal schnell in die Höhle klettern, die Dinge untersuchen, und wieder heraus sein. Er hoffte inständig, dabei etwas zu finden, was den Gnomen nützlich sein konnte. Vor allem aber wollte er Peya beeindrucken und ihr zeigen, dass er nicht derart ängstlich war, wie sie ständig behauptete.

Pelwick wartete, bis er von der Wache nichts mehr sehen konnte, und krabbelte in den Erkundergang.

In der Kammer dahinter war alles wie zuvor. Selbst das Erbrochene lag noch immer dort. Angewidert verzog Pelwick das Gesicht. Er wandte sich ab, doch allein der Gedanke daran brachte das brennende Gefühl in seinem Hals zurück. Er lenkte sich ab, indem er die Dinge auf dem hölzernen Gestell betrachtete. Sonderbare Gefäße standen dort, gefertigt aus einer Art Stein, wie er ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Er vermied es aber tunlichst, die Dinge zu berühren. Auch die Kisten und Fässer betrachtete er aus sicherem Abstand.

Pelwick schlich auf das hölzerne Rechteck zu. Prüfend erfassten seine Augen jede Kleinigkeit des Unbekannten. Die Aufhängung und der Griff interessierten ihn besonders. Es schien tatsächlich eine Art Gatter zu sein.

Der junge Gnom nahm seinen ganzen Mut zusammen und fasste nach dem Metallgriff. Er fühlte sich kühl an, ähnlich wie die Zinken seiner Grabkrallen, die an seinem Hosenbund baumelten.

Mit einem Ruck öffnete er das hölzerne Rechteck. Sein Herz machte einen Sprung. Er hatte zwar gehofft, aber nicht damit gerechnet, dass er es öffnen konnte. Instinktiv ließ er den Griff los und ging einen Schritt zurück.

Das Rechteck gab einen Gang frei. Er führte schräg in die Höhe und schien von einem Meistergräber angelegt worden zu sein. Die Ähnlichkeit mit Gnomentunneln war zwar vorhanden, aber dieser Gang war ein wenig höher als breit und die Wände waren fein behauen, wirkten beinahe glatt. Die Handwerkskunst war beeindruckend. Es war mit Sicherheit kein Gnom gewesen, der diesen Gang geschaffen hatte.

Wenigstens keiner, den Pelwick kannte.

Der junge Gnom atmete tief ein, fasste sich ein Herz und ging dennoch ein wenig zögerlich auf den Gang zu. Auf Höhe des hölzernen Rechtecks blickte er hinauf und konnte am Ende des Tunnels ein schwaches Leuchten erkennen. Behutsam ging er dem Leuchten entgegen.

Das Ende des Gangs kam näher. Pelwicks Herzschlag erhöhte sich. Er war sich mit einem Mal nicht mehr sicher, ob es sich um eine gute Idee gehandelt hatte, diesen unbekannten Ort genauer zu erkunden. Ein unbestimmtes Gefühl warnte ihn davor weiterzugehen und besser jetzt umzudrehen, doch seine Neugier behielt die Oberhand. Wenn er etwas Schauriges entdecken würde, könnte er noch immer zurück in den Schutz Chupa Waias laufen. Der Zugang dorthin war noch offen.

Was sollte ihm schon passieren?

Er stand ein gutes Stück vom Ende des Gangs entfernt und traute sich trotzdem nicht, die letzten Schritte zu gehen. Nervös kaute er auf seiner Unterlippe.

»Komm schon«, flüsterte er sich zu. »Peya wird begeistert sein.«

Pelwick nahm seinen ganzen Mut zusammen. Nur ein kurzer Blick, nur einmal nachsehen, was sich hinter dem Gang verbarg, und er würde rasch umkehren. Niemand würde jemals erfahren, dass er hier gewesen war.

Abgesehen von Peya.

Die Gnomin würde beeindruckt sein. Und er hätte seinen Ruf wiederhergestellt – wenigstens bei ihr.

Wie das weit aufgerissene Maul eines Monsters kam Pelwick der Ausgang des Tunnels vor, in das er bereit war, freiwillig hinein zu gehen.

Und er tat es.

Mit den Händen stützte er sich an den Wänden ab, schob sich voran und streckte den Kopf vor. Was er jenseits des Tunnels sah, verschlug ihm den Atem.

Der Fels war ausgehöhlt. Er blickte in eine gigantische Schlucht, in der überall kleine Feuer brannten. Es waren keine natürlichen Feuer, sondern vielmehr gezielt aufgestellte Lichtquellen, die jene Schlucht mit einem faszinierenden Glanz versahen. Kleinere und größere Höhlen waren in nicht zählbarer Größe in die umliegenden Felswände getrieben worden und miteinander durch schmale, hölzerne Wege verbunden. Seile hingen von einigen dieser Wege hinab, an denen kleinere Fässer gebunden waren.

Pelwick hörte leises Klopfen, dem Schlaggeräusch der gnomischen Schmiede ähnlich, welches von überall her zu kommen schien, und doch konnte der junge Gnom niemanden sehen. Er blickte hinauf und wieder hinab, doch sein Blick verlor sich in scheinbar unendlicher Weite.

Pelwick war von diesem Anblick ergriffen, er bemerkte nicht einmal, wie er den Mund öffnete und vergaß ihn wieder zu schließen. Nachdem er jede sichtbare Einzelheit in sich aufgesaugt hatte, spürte er den Drang weiterzugehen. Er wollte alles von dieser sonderbaren Welt entdecken, denn wenn der Weg hierher erst einmal versperrt worden war, gab es keine Möglichkeit, diesen Ort jemals wieder zu besuchen.

Erst jetzt sah Pelwick den schmalen, hölzernen Weg, der zu seinen Füßen begann und an der Felswand entlang in die Tiefe führte. Der Gnom sah hinunter und erkannte am Ende des Weges einen Eingang, sowie eine Brücke, die hinüber auf die andere Seite führte.

Pelwick betrat den Holzpfad und schritt ihn vorsichtig hinunter. Der Pfad fühlte sich unter seinen nackten Füßen warm an und es war angenehm, auf ihm zu gehen. Irgendwer musste diesen Ort erschaffen haben und er wollte herausfinden, wer es gewesen war. Vielleicht würde es den Gnomen ermöglichen, neue Dinge zu erfahren, möglicherweise sogar Verbündete zu finden.

In Brusthöhe über dem Weg war ein Seil gespannt, an dem Pelwick sich festhielt. Er blickte abermals hinunter und zuckte erschrocken zurück. Die scheinbar unendliche Tiefe verursachte ein ihm unbekanntes Gefühl. Sein Magen krampfte sich zusammen und seine Sinne schienen in einen Strudel zu geraten. Der junge Gnom bemerkte, wie sein Körper zu wanken begann. Rasch presste er sich mit dem Rücken gegen die Felswand, sah instinktiv nach oben und sog tief die kühle Luft in seine Lunge. Sein Herzschlag beruhigte sich langsam.

»Nur nicht wieder nach unten schauen!« Pelwick griff wieder nach dem Seil und machte sich an den weiteren Abstieg.

Er vermied es noch einmal hinab zu sehen und richtete seinen Blick starr auf das Ende des Weges. An der Wand vor ihm brannte unruhig ein Feuerstock in einer Halterung. Pelwick kannte das Feuer der Schmiedeöfen und der Kochstellen, trotzdem schmerzte ihn der helle Schein in den Augen. Nur langsam gewöhnte er sich daran und die dadurch verborgenen Stellen in der Nähe der Feuerstelle nahmen allmählich wieder klare Konturen an.

Auf der langen Brücke zu seiner Linken befand sich niemand. Irgendwie schien alles verlassen, als hätte jemand diesen Ort fluchtartig verlassen. Lediglich die widerhallenden Schläge ließen auf etwas Anderes schließen.

Diese gewaltige Höhle war bewohnt.

Verstohlen sah der Gnom um die Ecke in den Tunnel, der tief in den Fels führte. Auch hier schien in weiter Entfernung ein Feuer zu brennen. Wenigstens vermutete er das, obwohl er die Quelle des schwachen Lichtscheins noch nicht sehen konnte.

Pelwick wandte sich der Brücke zu. Auch wenn die Holzbretter, verbunden mit Seilen und verstärkt durch lange Streben, die das Gestell an den Felswänden absicherten, alles andere als sicher wirkten, faszinierte ihn das Gebilde. Es schien ihm wie eine Mutprobe, diese tiefe Schlucht zu überqueren. Wenn er all dies Peya erzählte, würde ihn niemand mehr als Feigling bezeichnen. Er sollte aber tunlichst vermeiden, die Schlucht hinunter zu sehen.

Er setzte einen Fuß auf das erste Brett.

Insgeheim hatte der Gnom erwartet, dass jetzt alles in sich zusammenstürzen und ihn mit in die Dunkelheit reißen würde, doch nichts Dergleichen geschah. Es war, als würde er auf festem Boden stehen.

Er umfasste die Halteseile, die links und rechts des hölzernen Gebildes entlangführten, und ging vorsichtig voran. Je weiter er kam, desto mehr begann es zu schaukeln. Seine Hände verkrampften. Sein Herz schlug schneller.

Pelwick hatte mittlerweile die Hälfte der Strecke hinter sich gelassen, als ihm die Beine den Dienst versagten. Mit geschlossenen Augen stand er da, unfähig, einen weiteren Schritt zu unternehmen.

»Reiß dich zusammen, Pelwick Tunnelgräber!«

Er bemühte sich, die Nerven zu behalten. Langsam sog er die Luft durch die Nase ein und ließ sie, nach kurzer Verweildauer, durch den Mund entweichen. Atemzug für Atemzug kehrte die Ruhe in ihn zurück. Erleichtert stellte er fest, dass die Brücke unter seiner Bewegungslosigkeit aufgehört hatte zu schwanken.

Pelwick öffnete die Augen und starrte in die Tiefe.

Das Gebilde unter seinen Füßen schien in die Finsternis zu stürzen. Die Schlucht riss ihr alles verzehrendes Maul auf und wollte nach ihrer Beute schnappen. Dem Gnom wurde schwindelig. Alles um ihn herum verschwand in einem riesigen Strudel und verschlang jede Einzelheit, jede Kontur. Die Füße des Gnoms rutschten weg, seine Hände packten die Seile noch fester. Die Brücke geriet ins Wanken. Pelwick versuchte, sicheren Stand zu finden, doch er trat ins Leere. Er strampelte mit den Beinen, suchte verzweifelt nach einem Halt. Die Grabkrallen an seiner Hose lösten sich, prallten auf das Holz der Brücke und fielen in die schier undurchdringliche Dunkelheit. Der Gnom drehte sich und kam zum Sitzen.

In dieser Haltung blieb er eine Weile und ließ die Brücke ausschaukeln.

»Nicht nach unten sehen«, ermahnte er sich selbst.

Nach einer kurzen Erholungspause zog er sich an den Seilen hoch und kam wieder auf die Füße.

Pelwick blickte zu beiden Enden der Brücke. Er befand sich ungefähr in der Mitte, schickte sich an, seinem ersten Drang zu folgen und zurück zu gehen. Doch seine Neugierde zwang ihn, den entgegengesetzten Weg zu nehmen.

Dieses Mal strengte sich mehr an, nicht noch einmal hinunter zu sehen, versuchte sich langsam und gleichmäßig vorwärts zu bewegen und setzte seinen Weg fort.

Am Ende der Brücke sah Pelwick einen Tunnel. Die letzten Schritte lief er, um die tückische Schaukelbrücke hinter sich zu lassen. Erleichtert erreichte er wieder den kalten Steinboden.

Der Gnom sah zurück. Weit entfernt konnte er den Gang sehen, aus dem er gekommen war. Die Brücke war länger, als er gedacht hatte.

Pelwick schlich auf den Tunnel zu. Er war ebenso beschaffen wie jener hinter der sonderbaren Höhle. Fein behauene Wände, und die Decke befand sich gut drei Kopf über ihm. Der Weg vor ihm beschrieb einen Halbkreis. Er konnte nicht sehen, was sich am Ende befand, und ging mit dem Rücken an eine Wand gepresst vorwärts.

Die Anspannung in ihm wuchs. Je weiter er in die Kurve hineinging, umso mehr krampfte sich sein Magen zusammen. Sein Verstand befahl ihm einfach umzudrehen und zurück in die Sicherheit Chupa Waias zu gehen, doch seine Neugier war stärker als die Vernunft.

Wenigstens das Ende des Gangs abwarten,überredete er sich selbst.

Und das kam schneller, als er gedacht hatte. Gleich vor ihm mündete der Gang in einer großen Höhle. Glänzendes Gestein lag dort, reflektierte den Schein der brennenden Fackeln zu einem hellen Licht, welches die Höhle in einem goldenen Glanz erstrahlen ließ.

Geblendet wandte Pelwick das Gesicht ab. Er musste seine Augen erst langsam an die plötzliche Helligkeit gewöhnen, bevor er wieder einen Blick hinein werfen konnte. Allmählich wurden die Konturen innerhalb der Höhle vor ihm schärfer. Sie schien natürlichen Ursprungs zu sein, da es keine fein bearbeiteten Wände gab, welche die Tunnel zuvor geprägt hatten. Die Höhle war sehr groß, beinahe der Oni Thal ebenbürtig. Auch hier gab es vielzählige Löcher und Tunnel in den Wänden.

Beinahe willenlos tappte er in die Höhle und bestaunte die hellen Gesteinsbrocken, welche durch das Licht der Fackeln die Höhle in dieses faszinierende Lichtspiel tauchten. Einige der Steine kannte Pelwick, wie Eisen und Silber, aber es gab andere Dinge, die er nie zuvor gesehen hatte.

Viele der Gesteine waren in grob gezimmerte Holzkisten gepackt, andere lagen, zu kleinen Hügeln aufgeschichtet, einfach auf dem Boden. Pelwick sah auch Werkzeuge, wenigstens nahm er an, dass es sich um welche handelte, da sie ihn entfernt an Grabkrallen erinnerten. Es waren Holzstäbe mit großen Metallzinken oder -klötzen an einer der beiden Seiten.

Der junge Gnom sah sich um, bevor er tiefer in die Höhle ging. Er hatte eine Kiste erspäht, in der Edelsteine lagen. Diese waren ihm nicht unbekannt, er hatte selbst oft beim Graben welche gefunden. Er kniete sich vor die Kiste und sah sich den Inhalt genauer an. Er sah Rubine und Saphire, Diamanten und Opale.

Aber warum sollte sie jemand sammeln?

Sie leuchteten nicht in der Dunkelheit, wie die Glimmsteine, und besaßen auch sonst keinen Nutzen für die Gnome. Man konnte nicht einmal Werkzeug aus ihnen schmieden.

Was für ein Volk lebt hier?

»He, du da!«

Pelwick zuckte zusammen. Die Stimme kam aus einem Seitengang der Höhle. Der junge Gnom sah zur Seite und erkannte eine fremde Gestalt, die sich anschickte, die Höhle zu betreten. Der Fremde war etwas größer als er selbst und von breiter, kräftiger Statur. Er hatte kleine, wachsame Augen in einem gedrungenen Gesicht und eine dicke, fleischige Nase. Der Bart, den er trug, legte sich breit und lang über die aus Leder und glänzendem Metall bestehende Rüstung.

»Was machst du da?«, herrschte der Fremde den Gnom an.

Pelwick verstand die Sprache des Anderen, obwohl sie ein wenig anders klang als die seine. Aber er war unfähig zu antworten.

»Na warte!«

Der Bärtige stürmte plötzlich auf Pelwick zu. Die Starre löste sich von dem Gnom, er sprang auf und hastete dem Ausgang entgegen. Der Fremde folgte ihm.