Die Federn des Windes - Manuel Timm - kostenlos E-Book

Die Federn des Windes E-Book

Manuel Timm

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Beschreibung

"Entschuldigen Sie bitte, aber ich bin wegen des Buches hier!"   (Die komplette 1. Episode als Leseprobe) Niemals hätte Ellie geahnt, dass dieser einfache Satz der Beginn eines mitreißenden Abenteuers für sie und ihre jüngere Schwester Anna sein würde. In eine fremde Welt entführt und voneinander getrennt, bleibt Ellie allein die Möglichkeit dem jungen, charismatischen Kellan zu vertrauen. Hin- und hergerissen zwischen Liebe und Misstrauen, muss sie sich auf ihn verlassen, will sie Anna und einen Weg nach Hause finden. Für die Schwestern beginnt eine gefährliche Reise durch eine Welt, die vielleicht doch nicht so märchenhaft ist, wie sie zunächst scheint ...

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Manuel Timm

Die Federn des Windes

Iphosia (Die komplette 1. Episode als Leseprobe)

BookRix GmbH & Co. KG80331 München

Die Federn des Windes - Iphosia

Manuel Timm

 

 

IPHOSIA

Kapitel 1 "Ellie"

 

 

 

 

Kapitel 1

Ellie

 

 

"Entschuldigen Sie bitte die Störung. Mein Name ist Horace Finton. Ich bin wegen des Buches hier.“ Der kleine Mann sprach mit einem Akzent, den Ellie noch nie zuvor gehört hatte. Jetzt, als er vor ihr stand, ärgerte sie sich bereits darüber, die Haustür überhaupt geöffnet zu haben.

Horace Finton lächelte freundlich. In seinem hellgrauen Anzug, der aus dem vorletzten Jahrhundert zu stammen schien, wirkte er sogar ein wenig komisch. Der etwas zu große Kopf und die viel zu kleine Nickelbrille unterstrichen das kuriose Gesamtbild.

„Haben Sie es mittlerweile gefunden?“, hakte er nach.

„Ich weiß nicht, welches Buch Sie meinen“, antwortete Ellie mit leicht genervter Stimme. „Kommen Sie doch wieder, wenn meine Eltern da sind.“

Für den letzten Satz hätte sie sich ohrfeigen können. Dadurch erhielt er die Einladung noch einmal wiederzukehren.

„Es ist ein großes Buch. Mit einem roten Ledereinband. Auf dem Deckel ist ein goldener Mond, der eine Sonne verschlingt.“ Horace Finton ließ nicht locker. Bei jedem Satz wippte er auf den Zehenspitzen. Dieser Kerl steigerte den Ärger in der jungen Frau immer mehr. Allein schon durch seine bloße Anwesenheit.

Vor einer Woche war er zum ersten Mal aufgetaucht. Es war genau einen Tag nach der Beerdigung von Ellies Großmutter, deren Haus sie derzeit mit ihren Eltern und ihrer jüngeren Schwester bewohnte, um den Nachlass zu regeln. Ein paar Wochen fern von der Großstadt waren zudem eine Abwechslung, auch wenn die vielen Erinnerungen an die geliebte Großmutter sehr schmerzten. An jenem Tag hatte Horace Finton mit Ellies Mutter gesprochen und auch sie nach dem Buch gefragt. Sie hatte ihn abgewimmelt und versprochen ihn anzurufen, wenn sie es finden würde.

Dazu kam es allerdings nicht: Ihre Eltern sind am Morgen für zwei Tage zu Tante Sarah gefahren, in deren Wohnung eingebrochen worden war. Ellie blieb mit ihrer Schwester in Großmutters Haus. Und als hätte Horace Finton es geahnt, tauchte er plötzlich am heutigen Abend wieder auf.

„Es tut mir leid, Herr Finton. Vielleicht kommen Sie später wieder!“ Ellie versuchte die Tür zu schließen, doch der kleine Mann stellte rasch einen Fuß in den Spalt.

„Verzeihung, aber wenn Sie mich vielleicht hineinbitten würden? Ich könnte selbst nach dem Buch suchen.“

Ellie spürte die Panik in sich aufsteigen. Ihr Herz begann wie wild zu schlagen, ihr Magen krampfte sich zusammen. Sie stemmte sich gegen die Tür und versuchte Finton zurück zu drängen. Doch der kleine Mann war stärker, als seine Erscheinung vermuten ließ.

„Hauen Sie ab!“, schrie Ellie. Sie gab seiner Bewegung ein wenig nach, um sich im nächsten Augenblick mit der Schulter gegen die Tür zu werfen.

Horace Finton wich zurück. Die Tür fiel ins Schloss.

„Ich möchte doch nur…“

„Verschwinden Sie!“ Ellie presste sich mit dem Rücken gegen die Tür, als wolle sie diese noch mit ihrem Körper verstärken. Ihr Atem ging stoßweise, sie zitterte am ganzen Leib. Sekundenlang verweilte sie in dieser Position, vermochte sich nicht zu bewegen.

„Was ist hier los?“

Ellie zuckte zusammen. Sie wandte den Kopf und blickte zu der schmalen Treppe am Ende des Flurs. Dort stand ihre zwölfjährige Schwester, die sie fragend ansah.

„Was ist denn los?“, wiederholte Anna die Frage. Ohne auf eine Antwort wartend, hüpfte sie die letzten Stufen hinunter, wobei ihre hellblonden, langen Locken auf und ab wippten.

„Warte da!“, zischte Ellie. Sie war noch immer von dem Vorfall sehr mitgenommen, wagte nicht einmal laut zu sprechen.

Erschrocken gehorchte Anna dem Befehl ihrer Schwester und blieb wie angewurzelt stehen. Fragend riss sie ihre blauen Augen auf. Ellie überlegte was sie ihrer Schwester sagen konnte, ohne sie in Angst zu versetzen und beschloss, die letzten Augenblicke ein wenig herunter zu spielen.

„Der komische Mann war wieder wegen dem Buch da. Er hat schon geklingelt, aber ich habe keine Lust ihm zu öffnen“, log sie.

„Ist er noch da draußen?“ Anna war ebenfalls in einen Flüsterton übergegangen. Ellie wusste, dass ihre Schwester Abenteuer liebte und ihr diese Geheimnistuerei gefiel. Solange sie nicht davon erfuhr, dass Horace Finton versucht hatte in das Haus einzudringen, fand sie das Ganze interessant. Und so sollte es auch bleiben.

„Ich weiß es nicht“, gab Ellie zu. Die Nähe zu ihrer sechs Jahre jüngeren Schwester ließ die Angst abflauen. Stattdessen gewann der Beschützerinstinkt Oberhand. Sie holte tief Luft, drehte sich und riskierte einen Blick durch das kleine, ovale Fenster im oberen Türdrittel. Dazu musste sie sich auf die Zehenspitzen stellen. Sie fürchtete den sonderbaren Mann vor der Haustür stehen zu sehen, aber dort stand niemand. Verlassen lag die schmale Veranda vor ihr. Durch eine Hängelampe erhellt, wirkte sie wie eine einsame Insel in der Dämmerung des Abends. Ellies Blick wanderte über die Kiesauffahrt und den, seit einigen Wochen, ungemähten Rasen hinweg. Sie sah bis zu den halbhohen Kiefern, die das Grundstück begrenzten, aber alles war ruhig. Es gab kein Anzeichen dafür, dass sich Horace Finton noch draußen befand.

Erleichtert atmete sie aus, ihre Muskeln entspannten sich.

„Und?“ Die Stimme erklang nah in Ellies Rücken und jagte ihr einen Schrecken ein. Obwohl sie wusste, dass sie ihrer Schwester gehörte, wähnte sie Anna nicht so dicht hinter sich.

„Mensch, Annie!“ Ellie wirbelte herum. „Musst du dich so anschleichen? Ich wäre fast gestorben!“

„Also ist der Zwerg weg?“, kombinierte Anna richtig.

„Ja, ist er. Aber er ist kein Zwerg, sondern lediglich ein kleiner Mann.“

„Und vor dem fürchtest du dich?“ Anna legte den Kopf schräg und lächelte ihre Schwester herausfordernd an.

„Nein“, Ellie fühlte sich ertappt. „Nein! Ich habe nur keine Lust mich mit ihm über dieses blöde Buch zu unterhalten. Und jetzt ab in die Küche mit dir. Wir können essen!“

Anna lief eilig den Weg in Richtung Küche. Ellie sah ihr nach, bis sie aus ihrem Blickfeld verschwunden war. Ellies Herzschlag war noch immer nicht im Normalzustand angekommen. Verstohlen blickte sie durch das Türfenster, konnte aber keine Veränderung ausmachen. Horace Finton war nirgends zu sehen.

Ein wenig beruhigter folgte sie ihrer Schwester. Dennoch blieb ein mulmiges Gefühl in ihrer Magengegend zurück und sie hoffte inständig, dass der seltsame Mann nicht wiederauftauchen würde.

Kapitel 2 "Horace Finton"

 

 

 

 

Kapitel 2

Horace Finton

 

 

Horace Finton zog sich zurück. Das Buch befand sich zwar noch nicht in seinem Besitz, aber er hatte einen Teilerfolg errungen. Zufrieden betrachtete er die kleine Porzellanfigur, die er unbemerkt von dem Tisch gestohlen hatte, der sich innen neben der Haustür befand. Für sich gesehen hatte dieses Abbild eines sitzenden Kindes mit rotem Ball keinen Wert, aber Horace brachte es ein gutes Stück näher an das begehrte Buch. Die Figur stammte aus dem Inneren des Hauses, in dem er das Buch vermutete. Mit ihr hatte er nun die Möglichkeit in das Haus hinein zu sehen.

Eilig lief der kleine Mann über den ungemähten Rasen auf einige Kieferbäume zu. Ein bläuliches Licht war sein Ziel. Es sah aus wie ein ovaler Spiegel und schwebte knapp über dem Boden zwischen den Bäumen. Es pulsierte und veränderte seine Oberfläche, erinnerte dabei an einen Wasserstrudel. Wolken erschienen in diesem blauen Licht, wurden vom Strudel erfasst, und zerfaserten auf dem Weg ins Zentrum.

Horace musste sich beeilen. Es bedurfte einiges an Vorbereitung, bis er in der Lage war das Buch zu rufen. Aber dann würde er zurückkommen.

Kapitel 3 "Ellie"

 

 

 

 

 

Kapitel 3

Ellie

 

 

Die beiden Mädchen saßen schweigend am Tisch. Ellie mochte nicht über die Geschehnisse sprechen, aber sie wusste auch, dass Anna viele Fragen unter den Nägeln brannten. Ab und an blickte Ellie auf, sah Anna motivationslos die Nudeln mit der Gabel auflesen und sie in die Tomatensauce tunken. Als selbst die vierte Gabel nicht den Weg in den Mund ihrer Schwester gefunden hatte, reichte es Ellie.

„Ok, was ist los?“, fragte sie.

Anna hob den Kopf. Sie versuchte das Grinsen zu unterdrücken, schaffte es aber nicht wirklich.

„Wollen wir das Buch suchen?“, schoss es aus ihr heraus.

„Warum?“ Ellie verdrehte die Augen. „Dieses blöde Buch interessiert mich nicht im Geringsten. Was ihr bloß alle mit diesem dusseligen Buch habt!“

„Wen meinst du mit wir alle?“

„Na, dich und diesen komischen Mann.“

„Du bist doof! Aber es ist bestimmt bei Omas Sachen. Wir können es finden und nachsehen, was daran so besonders ist. Ob dieser Mann aus Omas Geschichten stammt?“

„Was redest du für einen Blödsinn? Das ist irgendein Mann, den Oma wahrscheinlich von früher kannte. Er hat ihr ein Buch geliehen und sie hat vergessen es zurück zu geben. Das geht uns überhaupt nichts an. Mama und Papa können sich darum kümmern, wenn sie Montag wieder hier sind.“

„Und wenn der Mann noch einmal kommt?“ Anna verengte die Augen zu Schlitzen und machte dabei ein gruseliges Gesicht.

„Wird er nicht.“ Ellie war von ihrer Aussage selbst nicht wirklich überzeugt. Bei dem bloßen Gedanken, dass Finton wieder vor der Tür stehen könnte, lief ihr ein eisiger Schauer über den Rücken. Sie konnte es zwar nicht benennen, aber irgendetwas an diesem Mann bereitete ihr Angst.

„Aber er hat doch Mama schon nach dem Buch gefragt…“

„Und Mama hat vergessen nachzusehen. Sie hatte genug damit zu tun, um Oma zu trauern. Und dann noch dieser Einbruch bei Tante Sarah. Das hat sie ziemlich mitgenommen.“ Ellie fügte eine kurze Pause ein. „Nach dem Wochenende sind Mama und Papa wieder da und dann können sie Omas altem Freund das Buch geben.“

„Findest du es nicht auch komisch, dass bei Tante Sarah eingebrochen wurde? Vielleicht war es dieser Mann? Er hat bestimmt das Buch schon bei ihr gesucht!“

Ellie entwich die Farbe aus dem Gesicht. Sekundenlang starrte sie ihre Schwester an. Dieser Gedanke war der jungen Frau noch nicht gekommen. Aber war es so abwegig?

„Du spinnst!“ Ellie stand auf und stellte ihren halbleeren Teller beiseite. Die plötzliche Angst, die von ihr Besitz ergriff, verärgerte sie. Sie war eigentlich keine Person, die schnell aus der Fassung gebracht werden konnte. Doch diese ganze Situation war ihr zutiefst unheimlich und ihre kleine Schwester sollte ihr dies nicht anmerken.

„Wenn du nicht mehr essen willst, dann stell‘ deinen Teller weg und geh‘ ins Bett. Es ist Zeit!“, fauchte sie Anna an.

„Was soll das denn jetzt? Es ist doch erst halb acht!“ Annas Blick war voller Unverständnis.

„Na und? Du stocherst doch eh nur in den Nudeln!“

„Aber…“

„Ins Bett!“ Ellies Angst verwandelte sich in Wut, die nun ihre Schwester zu spüren bekam. Verärgert stand Anna auf. Sie schubste den Teller von sich weg, stampfte an Ellie vorbei und murmelte etwas Unverständliches, während sie die Treppe hinauflief. Ellie war froh, Annas Gemurmel nicht verstehen zu können. Mit Sicherheit waren es einige unschöne Beleidigungen, die sie nur noch mehr in Rage gebracht hätten. Ein lauter Knall bewies, dass ihre Schwester in ihrem Zimmer angekommen und die Tür schwungvoll geschlossen hatte.

Ellie stützte sich am Rand der Spüle ab und starrte ins Becken, ohne dabei etwas Bestimmtes zu fixieren. Es tat ihr schon wieder leid, Anna derart angefahren und sie so früh nach oben geschickt zu haben. Wäre sie dieses Wochenende nicht allein im Haus der Großmutter, würde sie sich sicherer fühlen. Aber so hatte sie nicht nur Angst um sich selbst, sondern auch um ihre Schwester. Vielleicht war es doch keine schlechte Idee das Buch zu suchen und es Horace Finton zu geben, wenn er wiederkommen würde. Morgen früh sollten sie damit beginnen.

Ellie spülte das Besteck, die Teller und die Töpfe ab, verließ die Küche und ging über den Flur in Richtung Wohnzimmer. Auf dem Weg dorthin, warf sie noch einen Blick zur Haustür. Dabei kroch erneut eine Gänsehaut über ihren Rücken. Erschaudert wandte sie sich ab und betrat das Wohnzimmer. Der Raum war recht klein, aber sehr gemütlich. Ein altes Dreier-Sofa, ein Sessel in gleichem Design, ein kleiner, runder Couchtisch in dunkler Eiche und ein niedriger Schrank, auf dem ein alter Röhrenfernseher thronte, fanden darin Platz. Ellie strich sich durch das schulterlange, dunkle Haar und las die Zeitschrift vom Sessel auf. Mit angezogenen Beinen hockte sie sich auf das rotgrüne Sofa. Eine Zeit lang blickte sie immer wieder zur Zimmertür, warf schließlich die Zeitschrift zur Seite und schaltete den Fernseher ein. Sie brauchte jetzt dringend eine bessere Ablenkung.

Kapitel 4 "Anna"

 

 

 

 

 

Kapitel 4

Anna

 

 

Anna war über sich selbst erschrocken. Sie hatte die Zimmertür gar nicht derart lautstark zuknallen wollen. Sie rechnete damit, jeden Moment ihre Schwester meckernd im Zimmer stehen zu sehen, aber sie kam nicht. Anna setzte sich aufs Bett, drückte ihren Kuschelhasen an den Körper und starrte lustlos ins Leere. Sie mochte noch nicht schlafen gehen. Es waren Ferien und ihre Eltern einige Tage nicht da. Besser hätte die Möglichkeit gar nicht sein können, wenn Ellie nicht alles kaputt machen würde.

Sie mochte ihre Schwester natürlich. Es kam zwar öfter zu Streitigkeiten wegen irgendeinem unwichtigen Kram, doch meistens vertrugen sie sich gut. Bis auf diese Tage, an denen Ellie allein auf sie aufpassen musste. Dann tat sie immer so erwachsen, obwohl sie erst seit kurzem achtzehn war. Und ihre Hauptverantwortung schien nur darin zu bestehen, ihre Schwester viel zu früh ins Bett zu stecken. Sie war sich sicher, dass Ellie den Abend vor dem Fernseher nun für sich allein beanspruchte. Unfair!

Annas Zimmer war nicht besonders groß. Ein weißes Bett, eine weiße Kommode und ein weißer Kleiderschrank. Dazu noch ein weißer Schreibtisch mit weißem Stuhl. Für die farbliche Abwechslung sorgten die Unmengen an Kuscheltieren, die sich in nahezu jedem Winkel des Zimmers befanden. Anna wohnte immer in diesem Zimmer, wenn sie mal bei ihrer Großmutter war. Dies geschah eigentlich immer, wenn ihre Eltern mal etwas Zeit ohne Kinder wollten, oder einfach mal so übers Wochenende.

Es war immer spannend bei Großmutter. Draußen gab es einen kleinen Wald am Rande des Grundstücks, dort wo die Kiefern die Grenze bildeten. Ein See, der zu Abenteuern einlud, war auch nicht weit entfernt. Am spannendsten war allerdings der alte Dachboden. Großmutter hatte dort viele sonderliche Dinge verstaut. Alte Requisiten vom Varieté, wo sie früher gearbeitet hatte. Dazu kamen alte Büsten, Kleider und Statuetten. Uralter Schmuck und noch ältere Bücher.

Anna lief eine Träne über die Wange, als sie an die vergangene Zeit dachte. Ihr fehlte die Großmutter. Es war für Anna schwer sich vorzustellen, sie nicht wiederzusehen. Nie mehr vor dem Schlafengehen ihren fantastischen Geschichten zu lauschen oder mit ihr kleine Häuschen aus Streichhölzern zu bauen. Sie hatten es immer so schön zusammen gehabt.

Eine Weile gab sich Anna den Tränen hin. Dann ließ sie den Kuschelhasen aufs Kopfkissen fallen, wischte sich die Wangen trocken, sprang auf und schlich zur Zimmertür. Sie legte eine Hand auf die Klinke, hielt die Luft an und öffnete die Tür. Nahezu lautlos schwang sie auf. Anna steckte vorsichtig den Kopf durch den Spalt. Von ihrer Schwester war nichts zu sehen. Lediglich ein paar leise Stimmen waren zu hören, die wohl vom Fernseher aus dem Wohnzimmer kamen. War ja klar, dachte sich das blonde Mädchen.

Sie schlüpfte in den Flur. Sie blickte kurz die Treppe hinab, drehte sich um und schlich zufrieden in die andere Richtung. Außer ihrer Zimmertür befanden sich noch vier weitere in dem Flur. Drei an den Seiten und eine, am kurzen Ende der Treppe gegenüber. Dahinter befand sich der Aufstieg zum Dachboden. Dies war Annas Ziel.

Die Türen waren allesamt in Form und Farbe identisch. Auch die zum Dachboden, war in schlichtem Weiß gehalten. Anna öffnete sie, betätigte den Lichtschalter an der Seitenwand dahinter und stieg die schmalen Stufen hinauf. Am oberen Ende verhinderte ein Geländer, dass jemand von oben die Treppe hinabstürzte.

Für Anna war es jedes Mal, als würde sie in eine fremde, fantastische Welt eintauchen, wenn sie hier heraufkam. Beidseitig an den schrägen Wänden standen Schränke, auf denen viele kleine Statuen und Büsten standen. Sonderbare Apparaturen aus Messing und Kupfer befanden sich ebenfalls dort. Das blonde Mädchen hatte nicht den blassesten Schimmer, wofür diese eigentlich gut waren. In der Mitte des Spitzbodens hing ein mehrflammiger Kronenleuchter, der ebenfalls recht sonderbar aussah. Kleine Wesen aus blankem Silber umschlangen den Messingleuchter in Richtung der fünf großen Glühlampen. Die Wesen, welche sich nah am Licht befanden, hatten ihre Köpfe abgewandt und schützten die Augen mit den Armen. Sofern sie welche besaßen. Einige von ihnen trugen sogar Flügel, sahen allerdings nicht sehr engelshaft aus.

Stundenlang konnte sich Anna diesen Leuchter betrachten, fand immer wieder Figuren darauf, die sie zuvor noch nicht entdeckt hatte. Dieses Mal interessierte sie sich jedoch nicht für die Lampe, sondern ging unter ihr hindurch auf das große Bücherregal zu, welches die gesamte Stirnseite einnahm. Es war über und über mit alten Schriften gefüllt, die meisten von ihnen in Leder gebunden, einige einfach nur aufgerollt und übereinandergestapelt. Es gab kaum einen unbenutzten Platz in diesem Regal.

Sie stellte sich davor und betrachtete zunächst die Rücken der Ledereinbände. Auf ihnen standen allerdings nur selten die Titel der Bücher. Einige waren in Dunkelrot, andere in dunklem Blau. Hauptsächlich herrschte aber schwarz und braun vor. Anna tippelte mit den Fingerkuppen über die Buchrücken, zog eines hervor und steckte es zurück. Sie nahm wieder eines, betrachtete es kurz und legte es auf den Boden. Anschließend suchte sie weiter. Hin und wieder hielt sie inne und lauschte. Von Ellie hörte sie glücklicherweise nichts. Nur der Wind pfiff um die Ecken des alten Hauses, heulte sein altes Klagelied. Anna fand es unheimlich. In Verbindung mit dem Dachboden und seinem ungewöhnlichen Inhalt kam es ihr vor, als würde sie sich in einem Gruselfilm befinden. Unwillkürlich fröstelte sie. Anna schüttelte sich kurz und kämpfte das Unbehagen nieder. Auch wenn sie Abenteuer liebte, fühlte sie sich heute besonders unwohl hier oben.

Sie musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um die nächste Regalreihe zu erreichen. Wieder zog sie zwei Bücher heraus und legte sie auf den Stapel, der langsam anwuchs. An die nächste Reihe kam sie nun nicht mehr heran. Anna biss sich auf die Unterlippe. Dies tat sie immer, wenn sie mit einem Ergebnis nicht zufrieden war und überlegte, wie sie es besser machen konnte.

Sie blickte sich um. Es gab hier oben keinen Stuhl oder einen Tisch, den sie nutzen konnte. Aber sie war mit ihrer Suche noch nicht fertig. Dieses sonderbare Buch musste hier zu finden sein, da war sie sich sicher. Einige Bücher auf dem Stapel sahen bereits vielversprechend aus, aber sie wollte alle möglichen zusammen haben, bevor sie mit dem Durchblättern begann.

Der Stapel. Anna sah auf die, von ihr aufgeschichteten, Bücher. Die Höhe sollte ausreichen. Kaum hatte sich die fixe Idee in ihren Gedanken gebildet, begann sie schon den Bücherstapel dichter an das Regal heran zu schieben und kletterte darauf. Wieder glitten ihre Finger suchend über die Buchrücken. Ein Exemplar in dunkelrotem Ledereinband, ein bisschen größer als die anderen, erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie versuchte es hervorzuholen, doch es war zu schwer für nur eine Hand. Anna nahm die zweite Hand zu Hilfe und zog. Es bewegte sich kaum. Sie musste sich ein wenig strecken, um das Buch besser anfassen zu können. Der Stapel unter ihr schwankte. Das Mädchen stützte sich kurz am Regal ab, um mehr Halt zu bekommen und zog erneut mit beiden Händen. Es gab einen Ruck. Das Buch gab nach. Mit einem Mal rutschte sie mit dem linken Fuß weg, verlor den Halt und fiel auf den Boden. Heftig stieß sie sich das Steißbein auf dem Holzfußboden. Tränen schossen in ihre Augen, sie biss die Zähne zusammen. Ihr einziger Gedanke war, dass ihre Schwester von alledem nichts mitbekam. Mit schmerzverzerrtem Gesicht schluckte sie den Aufschrei, der ihr bereits auf den Lippen lag, hinunter.

Anna gab sich einige Sekunden und blieb liegen. Sie achtete dabei auf jedes Geräusch, aber nur das verzweifelte Heulen des Windes drang an ihre Ohren. Sie war erleichtert und versuchte aufzustehen. Ein stechender Schmerz im Rücken zwang sie sich nur langsam aufzurappeln. Es dauerte einen kleinen Moment, bis sie wieder stand und allmählich ebbte der Schmerz wieder ab. Das rote Buch kam ihr wieder in den Sinn.

Sie blickte das Regal hinauf und bemerkte einen leeren Platz an der Stelle, wo es sich befunden hatte. Sie hatte überhaupt nicht mitbekommen, dass es mit ihr hinuntergefallen war.

Anna drehte sich im Kreis und sah dabei suchend über den Boden. Viele Bücher lagen in ihrer Nähe. Doch das eine war nicht darunter.

Verwirrt sah sie sich um, aber das Buch war auf Anhieb nicht zu entdecken. Erst als sie sich anschickte den gesamten Dachboden abzusuchen, fand sie es vor einem der beiden Gaubenfenster liegen. Sie hob es auf und betrachtete es. Der Ledereinband schien sehr alt zu sein, war an einigen Stellen stark abgeschabt. Nirgends war ein Titel zu lesen, nur auf dem Buchdeckel befand sich eine goldfarbene Zeichnung. Sie sah aus wie nachträglich von Kinderhand aufgemalt und zeigte einen Viertelmond, dessen anderer Teil aus einer halben Sonne bestand.