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Sechs Monate sind vergangen, seit die Schwestern aus Iphosia zurückkehrten. Anna verdrängt die Geschehnisse aus der fremden Welt, aber Ellie fällt es Tag für Tag schwerer an ihr altes Leben anzuknüpfen. Eine ansteigende innere Unruhe und die Ungewissheit über Kellans Schicksal lassen sie beinahe an ihrem Verstand zweifeln. Als sich eines Nachts die Möglichkeit ergibt nach Iphosia zurückzukehren, zögert Ellie nicht. In Iphosia versucht sie schließlich verzweifelt Kellan zu finden. Doch in dem magischen Land hat die Federkönigin ihre dunklen Schwingen noch weiter ausgebreitet und schon bald erkennt Ellie, dass nicht jeder das ist, was er vorgibt zu sein ...
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Seitenzahl: 497
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Das Buch
Sechs Monate sind vergangen, seit die Schwestern aus Iphosia zurückkehrten. Anna verdrängt die Geschehnisse aus der fremden Welt, aber Ellie fällt es Tag für Tag schwerer, an ihr altes Leben anzuknüpfen. Eine ansteigende innere Unruhe und die Ungewissheit über Kellans Schicksal lassen sie beinahe an ihrem Verstand zweifeln. Als sich eines Nachts die Möglichkeit ergibt, nach Iphosia zurückzukehren, zögert Ellie nicht. Dort angekommen versucht sie schließlich verzweifelt, Kellan zu finden. Doch in dem magischen Land hat die Federkönigin ihre dunklen Schwingen noch weiter ausgebreitet und schon bald erkennt Ellie, dass nicht jeder das ist, was er vorgibt zu sein ...
Der Autor
Manuel Timm wurde in der Nähe Hamburgs geboren. Seine ersten Kurzgeschichten im Horrorgenre wurden in einer beliebten Gruselserie veröffentlicht. Anschließend widmete er sich mehr dem Fantasygenre und schrieb erste Romane. Heute lebt Manuel Timm mit seiner Familie in einem kleinen Dorf in Schleswig-Holstein.
Weitere Veröffentlichungen des Autors
Handbuch für Drachentöter
Die Gnome
Iphosia – Die Federn des Windes
Iphosia – Der Splitter des Mondes
Mehr über Autor und Werk erfahren Sie auf:
www.manueltimm.de
Für meine Frau, die immer noch an mich glaubt ;-)
EPISODE VIER: AVRANNAH
Kapitel 1: Ellie
Kapitel 2: Ellie
Kapitel 3: Ellie
Kapitel 4: Horace Finton
Kapitel 5: Anna
Kapitel 6: Darkus Rothenschild
Kapitel 7: Ellie
Kapitel 8: Trane Saiz
Kapitel 9: Begayien
Kapitel 10: Trane Saiz
Kapitel 11: Ellie
Kapitel 12: Arien Tulsa
Kapitel 13: Darkus Rothenschild
Kapitel 14: Ellie
Kapitel 15: Horace Finton
Kapitel 16: Trane Saiz
Kapitel 17: Anna
Kapitel 18: Ellie
Kapitel 19: Ylwar
Kapitel 20: Trane Saiz
Kapitel 21: Arien Tulsa
Kapitel 22: Ellie
Kapitel 23: Darkus Rothenschild
Kapitel 24: Magistra telen
Kapitel 25: Ellie
Kapitel 26: Trane Saiz
Kapitel 27: Ellie
Kapitel 28: Darkus Rothenschild
Kapitel 29: Ylwan
Kapitel 30: Ellie
Kapitel 31: Horace Finton
Kapitel 32: Trane Saiz
Kapitel 33: Ellie
Kapitel 34: Horace Finton
Kapitel 35: Begayien
Kapitel 36: Trane Saiz
Kapitel 37: Ellie
Kapitel 38: Espen
Kapitel 39: Ellie
EPISODE FÜNF: VAERA
Kapitel 1: Anna
Kapitel 2: Jarmo
Kapitel 3: Ellie
Kapitel 4: Darkus Rothenschild
Kapitel 5: Jarmo
Kapitel 6: Ellie
Kapitel 7: Darkus Rothenschild
Kapitel 8: Jarmo
Kapitel 9: Ennefe
Kapitel 10: Trane Saiz
Kapitel 11: Arien Tulsa
Kapitel 12: Trane Saiz
Kapitel 13: Darkus Rothenschild
Kapitel 14: Ellie
Kapitel 15: Jarmo
Kapitel 16: Kellan
Kapitel 17: Jarmo
Kapitel 18: Darkus Rothenschild
Kapitel 19: Ylwan
Kapitel 20: Ellie
Kapitel 21: Kellan
Kapitel 22: Ellie
Kapitel 23: Magistra telen
Kapitel 24: Vaera
Kapitel 25: Ellie
Kapitel 26: Arien Tulsa
Kapitel 27: Vaera
Kapitel 28: Ellie
Kapitel 29: Anna
EPISODE SECHS: DAS SCHWEIGEN DES STURMS
Kapitel 1: Magistra telen
Kapitel 2: Ellie
Kapitel 3: Ylwan
Kapitel 4: Magistra telen
Kapitel 5: Jarmo
Kapitel 6: Ennefe
Kapitel 7: Ellie
Kapitel 8: Ellie
Kapitel 9: Keller
Kapitel 10: Ellie
Kapitel 11: Trane Saiz
Kapitel 12: Ennefe
Kapitel 13: Kellan
Kapitel 14: Espen
Kapitel 15: Arien Tulsa
Kapitel 16: Jarmo
Kapitel 17: Darkus Rothenschild
Kapitel 18: Trane Saiz
Kapitel 19: Espen
Kapitel 20: Ellie
Kapitel 21: Anna
Kapitel 22: Ellie
Kapitel 23: Ellie
Kapitel 24: Jarmo
Kapitel 25: Trane Saiz
Kapitel 26: Horace Finton
Kapitel 27: Ellie
Kapitel 28: Espen
Kapitel 29: Trane Saiz
Kapitel 30: Kellan
Kapitel 31: Ellie
Kapitel 32: Magistra telen
Kapitel 33: Vaera
Kapitel 34: Trane Saiz
Kapitel 35: Vaera
Kapitel 36: Magistra telen
Kapitel 37: Trane Saiz
Kapitel 38: Ellie
Kapitel 39: Trane Saiz
Kapitel 40: Ellie
Kapitel 41: Kellan
Kapitel 42: Ellie
Kapitel 43: Ellie
Kapitel 44: Ellie
Kapitel 45: Ellie
Kapitel 46: Ellie
Kompendium
A lso wurde Kellan von dieser Federkönigin getötet?« Die Frau, die Ellie gegenübersaß, hob fragend die Augenbrauen. Ihre schwarzen Haare waren streng nach hinten gekämmt und am Hinterkopf zu einem Knoten zusammengesteckt. Graue Strähnen zogen sich in ebendiesen Bahnen entlang. Der altmodische braune Hosenanzug und die Hornbrille mit dem Kunststoffgestell in Holzoptik, verliehen ihr das Aussehen einer äußerst strengen Lehrerin.
Ellie schüttelte automatisch den Kopf, obwohl sie die Antwort auf diese Frage nicht wusste. Die letzten sechs Monate hatte sie immer wieder darüber nachgedacht, war jedoch nie zu einem für sie annehmbaren Ergebnis gelangt. Natürlich konnte er noch am Leben sein. Ebenso wie seine Schwester Telen. Sie waren allerdings der Federkönigin schutzlos ausgeliefert und Ellie wusste nicht, wie dieser Konflikt ausgegangen war. Wahrscheinlich würde sie es auch niemals erfahren.
Kellan hatte sie auf eine Weise berührt, wie keiner je zuvor. Seit ihrer Rückkehr aus Iphosia konnte sie die Gedanken an ihn nicht abschalten. Anna hingegen verdrängte die Geschehnisse der Vergangenheit und vermied es, auch ihre Geschichte zu unterstützen. Sämtliche Ausreden, die Ellie vorgeschoben hatte, wurden von ihren Eltern nicht akzeptiert, bis sie irgendwann keinen anderen Weg gesehen hatte, als die Wahrheit zu sagen.
Doch die Wahrheit war in den Ohren ihrer Eltern noch weitaus fantastischer als jede Geschichte zuvor. Schließlich drängten sie ihre Tochter dazu, sich in psychologische Behandlung zu begeben. Ellie sträubte sich zunächst, musste sich allerdings eingestehen, irgendwie einen Abschluss zu finden. Es gab keinen Atemzug, an dem sie nicht an Kellan dachte und konnte sich dieses immense Gefühl nicht rational erklären. Eigentlich kannte sie ihn nicht einmal richtig. Also willigte Ellie schließlich ein, sich von einer Psychologin helfen zu lassen. Was jedoch unglaublich schwierig erschien.
»Wer sind die anderen Personen, die in diesem …« Die Psychologin machte eine kurze Pause, bevor sie mit ihrer Frage fortfuhr: »…diesem Land leben?«
»Wofür ist das wichtig?« Ellie sah die Frau, die ihr gegenüber in einem hohen Lehnstuhl saß, fragend an. Sie wollte nicht an all das erinnert werden; nicht alles noch einmal erleben. Ellie wollte wieder ein normales Leben führen, ohne die ständige Angst, dass ein kleiner bebrillter Mann an ihre Haustür klopfte und sie nach dem sonderbaren Buch fragte.
Die Psychologin schlug die Beine übereinander, so dass ihr schwarzer Rock ein wenig hochrutschte und eine braune Strickstrumpfhose offenbarte. Ellie hoffte, sie möge ihren belustigten Blick nicht bemerken.
»Es ist wichtig, dass du erzählst, Ellie«, sagte die Frau. »Jedes Detail kann ein Schlüssel sein. Es tief in dir zu verschließen wird dir nicht helfen. Du musst davon erzählen. Fang am besten ganz von vorne an, als dieser Mann an die Tür klopfte.«
»Nun gut«, gab Ellie nach und begann zunächst zögernd, dann flüssiger von den vergangenen Geschehnissen zu berichten. Sie ließ nichts aus und fügte auch keine Dinge hinzu. Sie erzählte von dem Mann, Horace Finton, der an die Tür klopfte und nach einem Buch fragte, welches ihrer verstorbenen Großmutter gehört haben soll. Nachdem ihre jüngere Schwester Anna dieses Buch gefunden hatte, wurde sie von dem Mann in ein sonderbares blaues Licht hinein entführt. Ellie hatte dies nicht verhindern können und war ihnen schließlich gefolgt. Dieses Licht entpuppte sich als eine Art Portal, das in die Parallelwelt Iphosia führte. Ellie erzählte von der Federkönigin, die sie gefangen nahm, und von Kellan, der sie schließlich wieder befreite. Sie berichtete auch, wie sie gemeinsam Anna aus der Hand des Kanzlers befreiten und auch von dem Konflikt, der zwischen der magiebegabten Federkönigin und dem technikversierten Kanzler bestand. Zu guter Letzt erzählte sie von der Flucht zurück auf die Erde und dass Kellan zurückbleiben musste. Ellie konnte dabei nicht verhindern, dass ihr eine Träne über die Wange lief.
»Schon gut«, sagte die Psychologin und streckte sich vor, um Ellie sanft über das Knie zu streichen. Diese zuckte zurück und sah der Frau ins Gesicht. Die Psychologin lächelte. Ellie hatte das Gefühl, ihr würde der Boden unter den Füßen weggezogen. Dieses schmale Gesicht, die schwarzen Haare und dieser unergründliche Gesichtsausdruck: Genauso sah die Federkönigin Arien Tulsa in ihrer Erinnerung aus.
Ellie sprang auf, schnappte sich die gesteppte Winterjacke vom Garderobenhaken und drängte der Tür entgegen.
»Ich kann nicht«, sagte sie. »Ich mache einen späteren Termin!«
»Aber es ist wichtig …« Den Rest des Satzes hörte Ellie bereits nicht mehr. Sie riss die Tür auf und stürmte hinaus in den schmalen Flur. Ihre Schritte wurden von dem dicken dunkelroten Teppich verschluckt. Das junge Mädchen hinter dem Empfangstresen beachtete sie keines Blickes. Noch während sie ihre Jacke überstreifte, verließ sie das Gebäude.
Als die schwere Eichentür hinter ihr ins Schloss fiel, blieb Ellie auf der obersten der vier Stufen, die zum Bürgersteig führten, stehen. Kalte Winterluft schlug ihr entgegen. Die Temperatur war um den Gefrierpunkt. Am Rand des Bürgersteigs lag noch Schnee der vergangenen Tage. Das meiste war schon geschmolzen und besonders auf der Straße zu einem regelrechten Matsch geworden. Ellie atmete tief ein und aus. Das Bild der Federkönigin ging ihr nicht aus dem Sinn. Natürlich verbarg sie sich nicht hinter der Psychologin. Diese hatte ein vollkommen anderes Gesicht. Aber nachdem Ellie alles noch einmal erzählt hatte, kam es ihr vor, als wäre sie wieder in dem Raum, in welchem sie die Federkönigin das erste Mal getroffen hatte.
Ellie schüttelte den Gedanken ab. Sie zog die dunkelgraue Strickmütze aus der Tasche ihrer weißen Jacke und setzte sie auf. Das schwarze Metallgeländer, welches beidseitig die Stufen hinabführte, mied Ellie, während sie hinunter zum Bürgersteig ging. Parkende Autos trennten sie von der Straße wie ein bunter Zaun. Andere Menschen waren nur wenige unterwegs.
Für einen kurzen Moment überlegte Ellie wieder die Stufen hinaufzugehen und die Sitzung fortzusetzen.
Diese Liebe basiert nur auf der Extremsituation, in der du dich befunden hast, hatte die Psychologin gesagt. In einem normalen Leben hättet ihr nicht diese starken Gefühle entwickelt. Kellan ist unerreichbar, du musst ihn vergessen.
Ellie schüttelte den Kopf.
Welcher Psychologe gibt einem solche Ratschläge? Von meinen Eltern hätte ich so etwas erwartet. Aber was wussten die schon. Sie waren nicht dabei gewesen. Sie kannten Kellan nicht.
Sie presste die Lippen aufeinander und wandte sich ab. Nachdenklich ging Ellie die Straße hinunter. Ihr Entschluss stand fest: Sie würde hier nicht wieder herkommen.
H ast du die Seite etwa immer noch?« Ellie zuckte zusammen. Sie hatte nicht gehört, dass ihre Schwester ins Zimmer gekommen war. Anna lief wie selbstverständlich auf das Bett zu, wischte mit einer Handbewegung den Atlas, der darauf lag, zu Boden und warf sich darauf. Sie bemerkte nicht das Blatt Papier, welches dabei herausfiel.
»Es ist nicht dein Zimmer!« Ellie erhob sich und legte die zerknitterte und augenscheinlich leere Seite wieder in den Atlas, klappte ihn zu und verstaute ihn im Regal. Sie setzte sich auf die Kante des weißen Schreibtisches, auf dem das geschlossene Notebook unter all den Zetteln, Büchern und Zeitschriften kaum noch zu erkennen war. Sie sah zu Anna hinüber, die es sich inzwischen auf dem Bett gemütlich gemacht hatte und in einem Modeheft blätterte. Sie waren schon immer verschieden, doch erst in der letzten Zeit hatte Ellie gemerkt, wie sehr sie es waren.
Es verging kein Tag, an dem Ellie nicht an das Abenteuer in Iphosia zurückdachte. Hauptsächlich galten diese Gedanken Kellan. Sie fragte sich, was aus ihm geworden war, aus seiner Schwester und überhaupt aus allen, denen sie in dieser kurzen Zeit begegnet war. Anna hingegen hatte am Tag ihrer Rückkehr anscheinend mit allem abgeschlossen. Nicht ein Wort hatte sie mehr darüber verloren und selbst wenn Ellie sie fragte, wich sie nur aus. In gewisser Weise bewunderte sie ihre jüngere Schwester. Alles beiseitezuschieben, klang so einfach – doch ob es Anna innerlich dennoch quälte, war ungewiss.
»Findest du es nicht auch schade, dass Mama und Papa unser Haus verkauft haben?«, fragte Ellie.
»Ist mir egal«, gab Anna, ohne von der Zeitschrift aufzublicken, zurück.
»Deine Freunde wohnen doch alle dort«, bohrte Ellie weiter. »Hier, bei Großmutters Haus, kennst du niemanden. Hier bleibt dir nur der Dachboden …«
Anna schubste das Heft beiseite und funkelte ihre Schwester böse an. »Hör auf damit«, antwortete sie genervt. »Ich weiß genau was du vorhast, aber es funktioniert nicht. Lass mich damit in Ruhe.«
»Du bist doch in mein Zimmer gekommen! Also was willst du?« Ellie spürte, wie der Zorn in ihr aufstieg.
Die jüngere Schwester sprang vom Bett auf und stampfte der Zimmertür entgegen. Sie griff nach der Klinke und wandte sich noch einmal Ellie zu.
»Dann geh‘ doch wieder dahin zurück, wenn du damit besser klar kommst«, keifte Anna. Sie huschte durch den Türspalt und hämmerte die Tür hinter sich ins Schloss.
Ellie packte den ersten Gegenstand in ihrer Nähe, einen buntbemalten Stein, und warf ihn Anna hinterher. Krachend traf er das Türblatt und fiel zu Boden. Das »Hey!« ihrer Mutter aus der unteren Etage, war ebenso laut zu vernehmen, wie der Krach, den die Mädchen verursacht hatten.
Ellie spürte, wie Tränen in ihr aufstiegen. Sie vergrub das Gesicht in ihre Hände und ließ ihren Gefühlen freien Lauf.
Wieso kann ich es nicht? Weshalb kann ich nicht vergessen?
Nach wenigen Minuten beruhigte sich Ellie wieder. Sie erhob sich vom Schreibtisch und ging zur Zimmertür hinüber. Der Stein hatte eine kleine Delle im Holz der Tür hinterlassen. Das Furnier war ein wenig abgesplittert. Na toll, dachte Ellie und ging in die Hocke, um den Stein aufzuheben. Er war grauschwarz und fast kreisrund, wie vom Meerwasser geformt. Darauf befanden sich ein halber Mond und eine Sonne, welche mit orangener und blauer Farbe aufgemalt waren.
Ellie stockte. Dieses Symbol befand sich auch auf dem magischen Buch, welches Horace Finton gesucht hatte. Den Stein hatte sie schon fast vergessen. Er lag schon ewig auf dem Schreibtisch, verborgen unter Zetteln, Zeitschriften und anderem Kram. Doch sie erinnerte sich jetzt wieder daran, wie sie ihn als Kind bemalt hatte, nachdem ihre Großmutter immer wieder fantastische Geschichten von Zauberei erzählt hatte. Vorsichtig hob Ellie den Stein mit Daumen und Zeigefinger auf und legte ihn zurück auf den Schreibtisch. Sie setzte sich auf den Stuhl, bettete das Kinn auf ihre Arme, betrachtete den faustgroßen Stein und dachte nach.
Großmutter hatte von dem Symbol erzählt. Es stand für den Tag- und Nachtwechsel, für Anfang und Ende, für Leben und Tod.
Ellie lief ein Schauer über den Rücken, als sie daran dachte. Von dem Buch selbst hatte ihre Großmutter nur wenig erzählt, beinahe so, als wollte sie keine schlafenden Geister wecken. In ihren Gedanken tauchte Ellie wieder in die Welt Iphosia ein. Erneut spulten sich die Ereignisse der Vergangenheit ab und endeten, wie immer, mit einem letzten Blick auf Kellan, dessen Gesicht hinter einem blauen Schleier verblasste.
Vorsichtig streckte sie eine Hand aus und fuhr mit den Fingerkuppen über das gemalte Symbol auf dem Stein. Obwohl es töricht war, hoffte sie insgeheim auf ein Zeichen, auf eine Reaktion, die der Stein zeigen würde.
Doch es tat sich nichts. Enttäuscht zog Ellie die Hand zurück und eine einsame Träne lief über ihre Wange.
Ellie konnte nicht sagen, wie lange sie noch in dieser Haltung gehockt hatte. Schließlich stand sie auf und zog sich aus. Sie schlüpfte in ihre Schlafsachen, wusch sich im Badezimmer, putzte die Zähne und ging schlafen.
Jedenfalls wollte sie es. Stattdessen lag sie mit offenen Augen im Bett, zwang sich irgendwann zu schlafen, um dann doch fünfzehn Minuten später auf den Wecker zu starren. Erst gegen zwei Uhr dreißig gewann die Müdigkeit.
»Mädchen«, hörte sie eine flüsternde Stimme. Sie war schwach zu vernehmen, glich einem gedämpften Ton. Ellie reagierte nicht darauf. Sie band dieses Geräusch in ihren Traum ein, bis es lauter wurde.
»Mädchen!« Die Stimme war jetzt deutlicher. So, als würde jemand direkt neben ihrem Bett hocken und in ihr Ohr sprechen.
Ellie schlug die Augen auf und drehte abrupt den Kopf. Doch neben dem Bett war niemand. Der Raum war dunkel, bis auf das schwache Leuchten in der Nähe des Fensters. Sie setzte sich auf und griff nach der Wasserflasche neben dem Bett. Schlaftrunken öffnete sie den Verschluss, blickte zum Fenster und ließ die Flasche fallen.
Wie gebannt starrte sie auf das bläuliche Schimmern in der Zimmerecke. Es erinnerte sie an das Portal, doch dieses Licht war kleiner und runder. Und aus der wallenden, blauleuchtenden Masse formte sich ein Gesicht. Es nahm Konturen an, verblasste und erschien erneut. Ellie verschlug es den Atem. Sie kannte dieses Gesicht. Es gehörte Horace Finton!
V erunsichert rutschte Ellie zurück, bis sie mit dem Rücken gegen die Zimmerwand stieß. Sie zog die Beine an und zerrte die Bettdecke bis zum Kinn, als wäre sie ein Schutzpanzer zwischen sich und der Erscheinung. Zunächst glaubte sie an ein Trugbild, an etwas, das ihr vom Unterbewusstsein vorgespielt wurde. Sie rieb sich die Augen, doch das bläuliche, hologrammartige Abbild von Fintons Gesicht blieb. Und es begann zu sprechen:
»Mädchen«, wiederholte er erneut. »Ich habe nicht viel Zeit, doch ich brauche deine Hilfe!«
Ellie öffnete den Mund, wollte etwas erwidern, aber ihr versagte die Stimme.
»Du brauchst nichts zu sagen«, fuhr die Erscheinung fort. »Ich kann dich nicht verstehen. Aber du musst mir zuhören. Ich habe Schlimmes getan, um diese Verbindung zu schaffen, aber Iphosia ist in großer Gefahr. Kellan ist in Gefahr. Nur du und deine Schwester seid in der Lage uns zu retten. Anna muss die Seite lesen. Sie kann es! Sie ist eine Hohepriesterin des Windes, sie weiß es nur noch nicht. Sie muss es üben. Wieder und wieder. Sie muss dabei an Avrannah denken. Hörst du? Avrannah!«
Ellie nickte stumm. Sie hatte die ganze Zeit gehofft, eine Möglichkeit zu finden, um zurückzukehren. Sie hatte vergeblich versucht, Anna die Seite lesen zu lassen. Ellie hatte sich schon beinahe damit abgefunden, Iphosia und Kellan niemals wiederzusehen. Und nun, während Horace Fintons Abbild zu ihr sprach und ihr einen Weg offenbarte, kam es ihr so unwirklich vor.
»Deine Schwester muss üben!« Die Stimme wurde schwächer. Die Verbindung schien sich dem Ende zu nähern. »Wieder und wieder! Avrannah! Anna muss die Seite lesen! Alles hängt davon ab …«
Die Stimme erstarb. Die blaue Erscheinung erstrahlte in grellem Licht, fiel in sich zusammen und löste sich auf. Mit einem Mal war es in Ellies Zimmer wieder dunkel. Noch einige Sekunden lang starrte sie auf den Fleck, an dem sich vor kurzem noch Fintons Gesicht befunden und zu ihr gesprochen hatte. Nun hörte sie nichts mehr, abgesehen von ihrem eigenen, überlauten Herzschlag.
Nur langsam konnte sie sich wieder beruhigen. An Schlaf war nun nicht mehr zu denken. Dieser nächtliche Besuch hatte sie zu sehr aufgewühlt. Sie knipste die Wandlampe an, die neben dem Bett hing, und stand auf. Zielsicher holte sie den Atlas aus dem Regal und zog das Blatt Papier daraus hervor. Es sah an den Kanten ein wenig mitgenommen aus und zeigte eine deutliche Abrisskante. Ellie starrte auf die leere Seite und hoffte, darauf irgendetwas erkennen zu können, doch sie entdeckte nichts. Wenn ihre Schwester eine Magische war, sogar eine Hohepriesterin, wie Finton behauptete, so hatte Ellie nichts von diesen Fähigkeiten erhalten. Für sie blieb es ein unscheinbares Stück Papier, welches keines seiner Geheimnisse offenbarte.
Für einen kurzen Augenblick erwog sie, hinüber zu ihrer Schwester zu gehen und ihr die Seite unter die Nase zu halten. Anna musste einfach versuchen ein Portal nach Iphosia zu erschaffen. Die Zahl, die Ellie jedoch in hellen, roten Ziffern auf ihrem Wecker sah, brachte sie von diesem Vorhaben ab. Vier Uhr fünfundreißig war eindeutig zu früh, um von Anna Unterstützung zu erwarten. Sie musste sich noch ein wenig gedulden, auch, wenn es ihr im Moment mehr als schwerfiel.
D er letzte Tropfen Flüssigkeit löste sich in rotem Nebel auf. Zurück blieb eine leere, halbrunde gläserne Schale. Horace Finton lehnte sich zufrieden zurück. Die Verbindung hatte tatsächlich geklappt. Er hatte Ellie sehen können, zwar nicht hören, aber das war auch nicht notwendig gewesen. Er hatte sie erreicht – und nur das war wichtig. Nun kam es darauf an, dass dieses Mädchen das Richtige tat.
Horace Finton rückte seine Brille gerade und zog vier goldfarbene Kabel und zwei durchsichtige Schläuche aus den, an der Schale angebrachten Buchsen. Er wickelte sie gekonnt auf, während er ihrem Verlauf zu der ehemaligen Portalmaschine folgte. Er hatte die Maschine zwar nicht wieder reparieren können, aber es war ihm gelungen, sie für diesen anderen Zweck herzurichten.
Er hängte die Kabel und Schläuche über eine Halterung, betätigte einige Schalter und drehte Ventile zu. Das pulsierende Wummern der Maschine wurde langsamer und endete in einem lang gezogenen Zischlaut. Anschließend entfernte er das andere Ende der Schlauchleitungen aus dem Kopf des nackten Mannes, der an die Maschine gekettet war. Seine Haut war ungewöhnlich fahl und die Augen vor Angst und Schrecken weit aufgerissen. Doch in ihnen befand sich kein Leben mehr.
»Es tut mir sehr leid«, sagte Finton, während er auch zwei Kabel aus der Brust des Mannes zog. »Aber ich brauchte eure Magie, Priester. Ihr habt Iphosia einen großen Dienst erwiesen. Wenn es eine andere Möglichkeit gegeben hätte, so glaubt mir, ich hätte sie erwählt. Aber mit wem rede ich da? Ihr habt die Prozedur ja leider nicht überlebt.«
Horace Finton nickte dem toten Priester zu, legte die Kabel beiseite und ging zur Tür. Er wandte sich noch einmal um und überlegte, ob er aufräumen sollte. Aber wahrscheinlich würde dieser Raum in Zukunft nicht mehr benötigt. Das Begräbnis für den Toten hatte Zeit. Die Kunde über den Erfolg der Übertragung duldete allerdings keinen Aufschub.
D as Rütteln war mehr als unsanft. Schlaftrunken schreckte Anna hoch und sah verschwommen eine sitzende Gestalt auf ihrer Bettkante. Doch recht schnell erkannte sie ihre Schwester.
»Verdammt«, fluchte Anna und rieb sich die Augen. »Hab ich verschlafen?«
»Nein«, meinte Ellie. »Es ist noch nicht einmal sechs.«
Noch nicht einmal sechs? Anna traute ihren Ohren kaum. Warum um alles in der Welt, sollte sie mehr als eine halbe Stunde vor der eigentlichen Aufstehzeit geweckt werden? Annas Gedanken spielten verschiedene Szenarien durch und sie kam immer nur zu einem bestimmten Ergebnis: Es musste etwas Schlimmes passiert sein!
»Was ist los?« Mit einem Mal war sie hellwach. »Geht es Mama und Papa gut?«
»Ja, ja. Es ist alles in Ordnung.« Ellie legte ihre Hand beruhigend auf Annas Schulter. »Ich brauche deine Hilfe!«
»Was? Jetzt?«
»Du musst das lesen!« Das Blatt Papier, dass Ellie ihr plötzlich vor die Nase hielt, kannte sie ebenfalls. Anna konnte nicht verhindern, wie die Wut wieder in ihr aufkeimte. Sie hatte mit alldem abgeschlossen. Sie hatte es tun müssen, um wieder ein normales und geregeltes Leben zu führen. Und für ihr Empfinden kam sie damit sehr gut zurecht. Ellie hingegen hielt an den Erlebnissen in Iphosia fest und Anna konnte jeden Tag sehen, wie sehr es ihre Schwester quälte. Freunde hatten sich abgewandt und sie als Spinnerin abgestempelt. Anna war froh, dass sie es so gut verdrängen konnte. Um keinen Preis wollte sie, dass es einen Weg zurück an die Oberfläche fand.
»Ellie, du nervst«, schimpfte das junge blonde Mädchen. »Ich habe es schon so oft versucht. Ich kann dir kein Portal beschwören!«
»Doch, du kannst es!« Ihre Schwester ließ nicht locker. »Horace Finton hat gesagt, dass du es kannst!«
»Horace Finton?« Anna glaubte, sich verhört zu haben. »Wie kommst du denn jetzt auf den?«
»Er war bei mir!«
Anna hatte das Gefühl, ihr würde der Boden unter den Füßen weggezogen. Sie spürte, wie die Ereignisse vor sechs Monaten wieder aufkeimten und ihr Schutzmechanismus zu bröckeln begann. Ängstlich starrte sie ihre Schwester an, unfähig auch nur ein einziges Wort zu sagen.
»Er ist mir letzte Nacht erschienen«, fuhr Ellie fort. »Nicht er selbst. Nur sein Gesicht. Es war wie ein Hologramm. Er sagte mir, Iphosia sei in Gefahr und wir müssen helfen. Er hat mir versichert, dass du die Seite lesen kannst. Du musst nur üben und es wirklich wollen!«
Annas Finger zitterten. Die Furcht davor, dies alles erneut durchleben zu müssen, kehrte zurück. Am liebsten würde sie losschreien und ihre Schwester so lange schütteln, bis auch sie nicht mehr an die Vergangenheit dachte. Etwas in Ellies Blick hinderte sie daran. Dort las sie ebenfalls Angst, aber auch eine große Hoffnung. Aus irgendeinem Grund klammerte sich Ellie an diesen flüchtigen Moment, den sie mit Kellan erlebt hatte, und kam nicht mehr davon los. Irgendwie tat sie ihr leid.
»Ellie, ich weiß nicht …«, sagte Anna nachdenklich.
»Versuche es wenigstens«, flehte Ellie. »Du kannst es lesen, hat Finton gesagt. Du musst es nur wollen. Und dabei an Avrannah denken!«
»Was soll das sein?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht ein Ort oder eine Person?«
»Hast du überhaupt keine Angst dahin zurückzukehren? Dort will man dich immer noch töten. Hier bist du sicher!«
»Ich weiß.« Ellie senkte den Blick. »Aber hier fühle ich mich irgendwie verloren. Mir ist, als gehörte ich hier nicht mehr her. Verstehst du das? Wahrscheinlich nicht. Ich verstehe es ja selbst kaum. Natürlich habe ich dich und Mama und Papa, aber trotzdem ist diese Leere in mir und dieses Verlangen wieder zurückzukehren. Als wäre Iphosia eine Verbindung mit mir eingegangen, die einem seelische Schmerzen zufügt, wenn man zu weit voneinander getrennt ist.«
»Bist du verhext?«
»Vielleicht. Nein. Ich weiß es nicht.«
Ellie war mit ihrer Situation keineswegs glücklich. Anna erkannte dies und überlegte, wie sie ihrer Schwester aus dieser Lage helfen konnte. Es musste einen anderen Weg geben, als sie wieder in dieses Land zu schicken. Ellie war dort nicht sicher. Möglicherweise war es auch eine Falle der Federkönigin, die auf diesen Weg versuchen wollte, die Mädchen zurück zu locken. Aber wie sie es auch drehte und wendete, Anna fiel kein anderer Weg ein. Seitdem sie aus Iphosia zurückgekehrt waren, hatte sich Ellies Zustand von Tag zu Tag verschlechtert. Sie hatte sich immer mehr zurückgezogen. Mann hatte sie zum Arzt geschickt, zu einer Therapeutin, doch nichts hatte geholfen. Anna spürte den Kloß in ihrem Hals größer werden. Sie mochte es sich kaum eingestehen, aber der einzige Weg Ellie zu helfen, schien tatsächlich jener zurück nach Iphosia zu sein.
»Aber ich habe keine andere Wahl«, setzte Ellie nach. »Es ist, als würde Iphosia nach mir rufen und ich muss diesem Ruf folgen. Ich bin auf irgendeine Weise an diese Welt gebunden. Wenn ich an die Zeit dort zurückdenke, bin ich glücklich. Versuche ich aber, die Erinnerung daran zu verdrängen, geht es mir schlecht. Ich muss dorthin einfach zurück, sonst finde ich keine Ruhe. Nicht, bevor ich meine Aufgabe verrichtet habe, welche auch immer sie sein mag.«
Der Kampf, den Ellie im Inneren ausfocht, war deutlich zu erkennen. Mit ihr war etwas geschehen, das noch viel tiefer saß, als die Schwärmerei für Kellan. Sie war nicht mehr die junge Frau, die sie vor der Reise in die fremde Welt gewesen war. Iphosia glich einem Stachel, der tief in Ellies Seele zu sitzen schien und nicht entfernt werden konnte. Dieser hatte sie verändert und forderte nun ihre Rückkehr!
Aber helfe ich ihr, wenn ich sie dorthin zurückschicke? Wird sie jemals wiederkommen? Oder wird alles nur noch viel schlimmer?
Die Fragen quälten Anna. Sie wollte ja helfen, nur war dies der richtige Weg? Ellies Gesicht sah müde und abgekämpft aus. Ihre Augen blickten trüb und nichts darin erinnerte mehr an die Fröhlichkeit von einst.
»Okay, versuchen wir es.« Kaum hatte Anna den Satz beendet, bereute sie es auch schon. Sie war einfach nicht in der Lage, eine klare Entscheidung zu treffen, welche wirklich gut für ihre Schwester war. Am liebsten wäre ihr ein Mittelweg - aber den gab es nicht.
»Aber erst heute Nachmittag«, fügte Anna rasch hinzu. »Wenn wir nicht bald runtergehen, kommt Mama uns holen.«
Ellies Erleichterung war für Anna deutlich zu sehen. Es schien, als wäre mit einem Mal eine unglaubliche Last von ihr gelöst worden und der Hoffnung gewichen. Ein zaghaftes Lächeln huschte über ihr Gesicht.
»Danke!« Ellie hauchte Anna einen Kuss auf die Wange und verließ das Zimmer. Verwundert starrte sie ihr nach. Zum ersten Mal seit langer Zeit wirkte ihre Schwester schon fast wieder fröhlich. Anna hoffte sehr, dass sie damit keinen Fehler machen würde.
S eine Welt lag vor ihm, doch er erkannte sie nicht. Schmerzlich berührt blickte Darkus Rothenschild auf die Trümmer seines Lebens. Kesselberg, der einstige Stolz seiner Herrschaft, war nicht mehr. Nachdem der Kanzler Elora angegriffen hatte, war die Rache der Federkönigin gekommen. Die Stürme, welche von ihren Priestern beschworen wurden, hatten über das Land gefegt. Kesselberg hatte diesen Naturgewalten nicht trotzen können. Die Kuppel war in Stücke zerrissen worden, die Gebäude in Trümmern gelegt und auch der Palast, in dessen Turm der Kanzler nun stand und über sein Reich blickte, war kaum mehr als eine Ruine. Viele Bewohner Kesselbergs waren geflohen, die meisten jedoch gestorben.
Rothenschild und Finton hatten überlebt. Während über ihnen das Chaos tobte und Kesselberg zur Geisterstadt mutierte, fanden sie rechtzeitig Zuflucht in den unterirdischen Tunneln, von deren Existenz kaum jemand wusste.
Die Mischung aus Wut und Machtlosigkeit trieb dem Kanzler Tränen in die Augen. Sein Volk der Techniker war versprengt. Sicherlich versteckten sich einige irgendwo, doch die Aussicht auf einen Neuanfang schien in unendliche Ferne zu rücken. Doch nicht allein das war es, was ihn derart quälte. Es waren die Nachrichten, die ihm zugetragen wurden. Noch immer gab es Sympathisanten, die für ihn Augen und Ohren außerhalb von Kesselberg offenhielten. Die jüngste Nachricht war der Tod seiner Frau Selen. Sie sei gequält worden, hieß es, bevor sie für immer die Augen geschlossen hatte. Obwohl Rothenschild sich von ihr abgekehrt hatte, zerriss diese Nachricht sein Herz. Er konnte nicht einmal sagen, ob es ihr Tod war, oder vielmehr der Umstand, dass sie all die Jahre im Exil gelebt hatte. Der Kanzler hatte ihren Tod schon vor langer Zeit betrauert, nichtsahnend, dass sie sich vor ihm und der Federkönigin versteckte.
Rothenschild haderte mit sich. Er hätte ihr verzeihen sollen, doch dafür war es nun zu spät. Damals hatte er Arien Tulsa die Schuld gegeben und diese gab er ihr auch heute. Der Hass auf sie blieb ungebrochen.
Mit Tränen in den Augen folgte er den Weg, den seine Finger über den kalten, weißen Stein nahmen. Staub blieb an seinen Fingerkuppen zurück, während kleine Steinchen zu Boden fielen. Die Mauern des Palasts waren brüchig. Es war nur eine Frage der Zeit, bis alles in sich zusammenstürzte und die Natur sich ihr Eigen zurückholte.
Die Natur würde erneut siegen. Vielleicht war es auch besser so.
»Herr«, hörte der Kanzler eine zaghafte Stimme hinter sich. Er musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, wer den Turm erklommen hatte und nun in seinem Rücken stand.
»Ihr hättet mich vor Elora sterben lassen sollen«, sagte Rothenschild mit bebender Stimme. Ihm war es egal, was Horace Finton ihm zu berichten versuchte. Es konnten jedenfalls keine erfreulichen Nachrichten sein.
»Vielleicht«, wiegelte Finton ab. »Aber nun seid ihr am Leben und es eröffnen sich neue Möglichkeiten.«
»Welche?« Darkus Rothenschild fuhr herum und funkelte den kleinen Mann finster an. »Soll ich mich für den Rest meines Lebens vor Tulsa verstecken? Jeden Tag hoffen, dass mich nicht einer ihrer Meuchelmörder findet? Ein recht zweifelhafter Sinn des Lebens.«
»Nein, nein«, wieselte Finton. »Das sollte nicht eure Aufgabe sein. Ihr seid der wahre Herrscher Iphosias. Ihr solltet euch auch so verhalten. Sammelt eure Kräfte, sucht neue Verbündete und selbst wenn es zunächst im Verborgenen geschieht, so dürft ihr die Federkönigin nicht länger walten lassen. Jemand muss sie bekämpfen. Und wer soll dieser Jemand sein, wenn nicht Ihr?«
In einem ersten Anflug wollte der Kanzler protestieren, Finton davon überzeugen, dass es vorbei war. Aber war es das wirklich? Rothenschild war niemand, der einfach aufgab. Selbst, wenn die Hoffnung noch so klein schien, war sie dennoch vorhanden.
»Was schlagt Ihr vor?«, fragte er. »Kesselberg wiederaufzubauen?«
»Gehen wir ein Stück«, forderte Horace Finton und begann bereits die Treppe wieder hinabzusteigen.
Die Männer verließen den Turm schweigend. Sie passierten den Durchgang zum Palast oder was davon übriggeblieben war. Die Außenwände waren teilweise zerstört, die vielen Säulen umgestürzt und die ehemals großzügigen Räume übersät mit Dreck und Geröll. Vereinzelt sah man rötliche Flecken auf dem Boden und den Steinen, die noch auf die Tragödie hinwiesen, die hier stattgefunden hatte. Die Toten waren jedoch schon längst beerdigt.
»Wolltet Ihr mir nicht irgendetwas erzählen?«, drängte Darkus Rothenschild. »Oder führt Ihr mich nur hierher, um mir meine Niederlage erneut vor Augen zu halten?«
»Wie könnt Ihr so etwas glauben?« Horace Finton blieb stehen und sah seinen Herrn mit treuem Blick an. »Bisher gab es keinen Grund für Euch an meinem Tun zu zweifeln. Ich habe Euch stets gut beraten, vielleicht auch Dinge getan, mit denen Ihr nicht einverstanden ward, die aber zu Eurem Besten waren.«
Rothenschild senkte den Kopf. Fest presste er die Lippen aufeinander.
»Ihr habt ja recht«, sagte er plötzlich. »Es tut mir leid. Es ist nur so viel zerstört worden in der letzten Zeit. Ich weiß einfach nicht, worin ich noch einen Sinn sehen soll.«
»Euer Reich ist zerstört.« Finton gab sich nicht einmal die Mühe, Mitgefühl in seine Stimme zu legen. »Aber ihr habt noch einen Feind, der bezwungen werden muss. Darauf solltet Ihr Euch konzentrieren. Andernfalls wird Iphosia für immer unter dem Joch der Federkönigin stehen.«
»Soll der Sinn meines Lebens nun Rache sein?«
»Warum nicht?«, spottete Finton. »Aber es gibt noch mehr: euer Sohn ist zwar ein Gefangener Tulsas, aber ich habe Spione ausgesandt, die Informationen über den Verbleib Eurer Tochter beschaffen. Ihr Wohl sollte ebenfalls in Eurem Interesse stehen.«
»Das tut es!« Rothenschild wandte sich ab und schritt durch die Überreste seines Palasts. Sand und kleine Steine knirschten unter den Stiefeln. »Sie werden mit Sicherheit von Arien Tulsa gefangen gehalten. Wie nur, kann ich ihnen helfen, Horace?«
Finton eilte an die Seite seines Herrn.
»Es gibt immer noch viele, die an Euch glauben und Euch folgen werden. Die Vergangenheit war ein Schock für sie, aber der wird sich legen. Wir bauen eine neue Armee auf. So lange Ihr Euch stark und kämpferisch gebt, gibt es für Iphosia wieder Hoffnung!«
In diesem Augenblick trat ein Mann in den Palast. Er erspähte den Kanzler und lief eilig auf ihn zu. Rothenschild erkannte die Uniform, die zu seiner Leibgarde gehörte. Dicht vor ihm blieb der Soldat stehen.
»Herr«, sagte er, während er salutierte. »Ich habe Informationen über den Verbleib Eurer Tochter Magistra Telen.«
Der Blick Rothenschilds hellte sich auf.
»Lasst hören«, bat er ungeduldig.
»Es tut mir leid, aber ich habe schlechte Neuigkeiten. Eure Tochter wurde von einem Pfeil getötet.«
In diesem Augenblick zerbrach etwas in dem ehemals stolzen Mann. Regungslos sah er zu Horace Finton hinunter, der wie versteinert neben ihm stand.
»Welche Hoffnung, Horace?«, fragte er zitternd. »Welche Hoffnung?«
E llie sah ihre Schwester erwartungsvoll an. Sie saß auf dem kleinen Sessel in der Ecke des Zimmers, hatte die Knie bis ans Kinn hochgezogen und die Beine mit den Armen umschlungen. Die Mädchen waren sofort nach dem Abendessen hinaufgegangen. Durch das Fenster fiel nur noch ein schwacher rötlicher Lichtschein.
Anna selbst saß im Schneidersitz auf dem Fußboden. Die Seite aus dem magischen Buch lag vor ihr.
»Nun mach schon«, drängte Ellie ungeduldig. Aus ihrer Position war die Seite nichts weiter, als ein leeres Stück Papier. Ein wenig zerknittert und an einigen Stellen eingerissen. Buchstaben oder gar Wörter konnte sie auf ihr nicht entdecken. Ellie zweifelte bereits an dem Erfolg der Beschwörung, hoffte aber insgeheim, Anna möge es gelingen.
»Was erhoffst du dir davon?« Das blondhaarige Mädchen blickte ihrer Schwester in die Augen.
»Ich weiß es nicht«, gab Ellie zu. »Doch ich muss es versuchen. Ich muss das alles verstehen und das kann ich nur, wenn ich wieder nach Iphosia zurückkehre. Ich weiß, du kannst es nicht nachempfinden und das verlange ich auch nicht. Probiere es wenigstens. Für mich.«
Anna atmete hörbar aus. Ellie sah den feuchten Schimmer in den blauen Augen ihrer Schwester. Aber es gab so viele unbeantwortete Fragen. So viele ungeklärte Dinge.
»Also gut«, unterbrach Anna die Gedanken ihrer älteren Schwester mit einem abschließenden tiefen Seufzer. »Das Portal in eine andere Welt!«
Ellie fühlte die Erregung, die von ihr Besitz ergriff. Ein gleichzeitig unangenehmes, wie auch wohliges Kribbeln kroch über ihren Rücken. Gebannt starrte sie auf die Seite und erwartete die Entstehung eines bläulich-pulsierenden Portals, wie sie es schon vor wenigen Monaten in Iphosia gesehen hatte.
Doch nichts geschah.
Deutlich hörte sie die Worte, die von Anna vorgelesen wurden. Einige davon kamen ihr vertraut vor, andere hingegen hatte sie noch nie zuvor gehört. Dann endete die Beschwörung. Zurück blieb Stille.
Sekundenlang sahen sich die Schwestern reglos an. Schließlich war es Anna, welche das Schweigen brach:
»Ich sagte dir doch, dass ich es nicht kann!«
»Du musst dich mehr anstrengen!« Ellie passte es ganz und gar nicht. Sie war so kurz davor nach Iphosia zurückzukehren und war noch lange nicht bereit aufzugeben. Horace Finton hatte es doch gesagt: Anna musste die Seite lesen.
»Vielleicht musst du es anders betonen«, fuhr Ellie fort. »Hast du dabei an ‚Avrannah‘ gedacht?«
»Ja, klar«, gab Anna genervt zurück. »Lass die Sache doch endlich ruhen!«
»Nein!« Schon beinahe wütend funkelte Ellie ihre jüngere Schwester an. Doch im gleichen Augenblick wurde ihr bewusst, dass es keinen Grund dafür gab.
Was ist nur los mit mir?
Feuchtigkeit stieg in Ellies Augen auf. Sie vergrub den Kopf zwischen ihren Knien und gab sich den Tränen hin. Es war alles zwecklos. Sie verlor sich in einer Illusion, versuchte ein Ziel zu erreichen, welches für sie unerreichbar war. Niemals wieder würde sie durch ein blaues Portal gehen, niemals Kellan wiedersehen. Als Finton erschien, war es für einen kurzen Moment in greifbare Nähe gerückt. Doch nun schien es weiter entfernt als je zuvor. In Gedanken kehrte sie an jenen Ort zurück, der für sie ebenso vertraut wie fremd war. Sie sah die Federkönigin, den Kanzler und Kellan. Sie vermochte kaum zu sagen, wie sehr sie ihn vermisste.
Aber ist das noch normal? Bin ich normal?
Gedämpft hörte Ellie ihren Namen. Sie hatte den Eindruck, als käme er aus jener weit entfernten Welt. Jemand rief nach ihr. Ist es Kellan? Doch wie sollte sie diesem Ruf folgen? Es gab keinen Weg mehr zurück.
»Ellie?«
Wieder hörte sie die Stimme ihren Namen rufen. Doch es war nicht die des Schattenkriegers. Sie war jünger und weiblich.
»Ellie!«
Das Mädchen schlug die Augen auf. Sie sah ihre Schwester hinter einem bläulichen Tränenschleier nach wie vor auf dem Boden sitzen. Nur langsam verschwand der Schleier, doch das bläuliche Licht blieb.
Ellie drehte den Kopf nach links und schlug erschrocken die Hände vor den Mund. Ein wahrer Sturm aus Gefühlen stürzte auf sie ein, als sie das pulsierende Portal an der Zimmerwand erblickte. Die Freude über eine Rückkehr nach Iphosia, wich der Angst, diesen entscheidenden Schritt zu gehen. Ellie war sekundenlang unfähig zu reagieren. Starr blickte sie auf den pulsierenden Strudel und in ihrem Kopf wechselten sich immer wieder dieselben Fragen ab:
Was wird mich dort erwarten? Laufe ich in eine Falle? Bin ich hier nicht sicherer?
»Und nun?«, fragte Anna mit zitternder Stimme. Sie schien von dem, was sie soeben geschaffen hatte, sichtlich mitgenommen.
Es fiel Ellie schwer, sich vom Anblick des Portals loszureißen. Als sie schließlich zu ihrer Schwester schaute, sah sie den feuchten Schimmer in deren Augen.
»Komm doch mit«, flüsterte Ellie und erhob sich langsam vom Sessel.
Anna schüttelte vehement den Kopf.
Ellie verharrte unschlüssig. Das Ziel war zum Greifen nah und doch war sie sich mit einem Mal nicht mehr sicher, ob sie es tun sollte. Es waren einfach zu viele Fragen, die auf sie einprasselten, und die sie sich eigentlich schon lange selbst beantwortet hatte. Im Grunde gab es hier keine Zukunft. Sie musste zurück nach Iphosia, zurück zu Kellan, um herauszufinden, was es für sie bedeutete. War es nur ein Verlangen, welches tief in ihrem Inneren alles durcheinanderbrachte und dafür sorgte, dass sie kaum noch einen klaren Gedanken fassen konnte? Oder war es mehr?
Mit einem Mal war Ellie klar, dass sie es nicht herausbekommen würde, sofern sie diesen Schritt nicht tat.
Ja, sie musste gehen. Ihre Welt, ihre Eltern und ihre Schwester zurücklassen – wenigstens für eine gewisse Zeit.
»Geh‘ nicht«, flüsterte Anna mit tränenerstickter Stimme.
Die Bitte ihrer Schwester zerriss Ellie das Herz. Neben ihr ging sie auf die Knie und starrte in das engelsgleiche Gesicht, in dem die Tränen ihre Bahnen über die Wangen zogen.
»Du hast es dort doch gemocht«, sagte Ellie sanft. »Du mochtest den Kanzler und die Aufgabe, welche er dir zugedacht hat. Es wäre doch möglich …«
»Bitte hör‘ auf!« Anna unterbrach den Überredungsversuch und strich sich mit dem Handrücken die Wangen trocken. »Du musst gehen, ich weiß es. Obwohl ich es nicht will. Aber ich kann auch nicht mit dir kommen.«
Das blonde Mädchen hob die Seite auf, faltete sie in der Mitte und gab sie ihrer Schwester.
»Nimm sie mit«, sagte Anna. »Damit du zurückkommen kannst.«
Ellie nahm die Seite und schob sie in die Gesäßtasche ihrer Jeans.
»Anna, ich …«, versuchte sie es erneut, doch diese wandte sich ab.
»Du musst dich beeilen, sonst verschwindet das Portal wieder!«
Anna vergrub das Gesicht in ihren Händen. Ellie hörte ihre Schwester leise weinen. Ihr selbst schnürte es die Kehle zu und sie vermochte kein Wort hervorzubringen. Ihre Lippen zitterten und auch ihre Augen füllten sich mit Tränenwasser. Wortlos schritt sie auf das Portal zu, dessen Intensität sich tatsächlich ein wenig abgeschwächt hatte. Noch einmal drehte sich Ellie um. Ihre Schwester hockte nach wie vor auf dem Boden, hielt den Kopf gesenkt, die Hände vor dem Gesicht und ihre Ellenbogen ruhten auf den Oberschenkeln.
Die magische Kraft des Portals zerrte bereits an Ellie, nur noch ein Schritt und sie würde zurück nach Iphosia gelangen. Sie verschwendete keinen Gedanken daran, wo sie auf der anderen Seite herauskommen würde. Ihre einzigen Gedanken kreisten in diesem Augenblick um ihre Schwester.
Auf einmal drehte sich Ellie um. Zwei, drei Schritte brachten sie zu Anna, vor der sie auf die Knie fiel. Sie umschlang ihre Schwester mit beiden Armen und drückte sie fest an sich. Sie konnte die Tränen nun nicht mehr zurückhalten und beide Schwestern ließen ihren Gefühlen freien Lauf.
»Du wirst mir fehlen«, schluchzte Ellie.
»Du kommst doch wieder?«, stammelte Anna, während ihre Tränen von dem dicken Pullover ihrer Schwester aufgesogen wurden.
»Natürlich«, gab Ellie flüsternd zurück. »Natürlich!«
»Geh jetzt!« Anna drückte Ellie von sich. »Das Portal!«
Das ältere Mädchen drehte den Kopf. Das Tor nach Iphosia war tatsächlich kaum mehr als ein schwacher Schimmer. Wenn sie jetzt nicht ging, wäre diese Möglichkeit vertan und wer weiß, ob es Anna ein zweites Mal gelingen würde.
Ellie hauchte ihrer Schwester einen Kuss auf die Stirn und erhob sich.
»Bis bald«, sagte sie und lief in das Portal, einer unsicheren Zukunft entgegen.
Anna blieb noch minutenlang sitzen und starrte auf ihre Zimmerwand. Das Portal und Ellie waren längst verschwunden.
Z ielsicher flog der Pfeil seinem Ziel entgegen, um doch im letzten Augenblick, durch eine einzige Handbewegung, magisch abgelenkt zu werden. Statt in das ursprüngliche Ziel, bohrte sich das Geschoss tief in den Rücken von Magistra Telen.
Immer wieder spielte sich diese Szene in seinen Gedanken ab. Jedes Mal war dieser Treffer ein tiefer Stoß in sein eigenes Herz. Seit nunmehr zwei Monaten verfolgte ihn dieser dunkle Moment jeden Tag und jede Nacht. Er hatte zwar ihren Tod nicht feststellen können, aber er war erfahren genug, um zu wissen, welche Treffer tödlich waren. Und dieser war es mit Sicherheit. An diesem Tag hatte er blutige Rache, an der Person, die sich dafür verantwortlich zeigte, geschworen. Er würde erst ruhen, wenn dies vollbracht war.
Trane Saiz kniete am Ufer des grauen Flusses und starrte gedankenversunken auf die beinahe glatte Wasseroberfläche. Es war windstill. Ohnehin hatte sich seitdem kaum ein Lüftchen geregt, beinahe so, als wäre der Gott des Windes in Trauer fortgegangen. Saiz zog die Pfeife aus dem Mundwinkel und blies den würzigen Dunst in die Luft. Anschließend klopfte er den Tabak mit Hilfe eines kleinen Steins aus der Glimmkammer und steckte das hölzerne Gerät ein.
Irgendwo hinter sich, hörte er ein Mädchen schreien. Zunächst war es lediglich ein schwaches Schluchzen, das an seine Ohren drang, doch es schwoll rasch zu einem regelrechten Kreischen an. Trane Saiz drehte sich langsam um und blickte zu dem kleinen Dorf hinüber. Ein kleiner Trupp von königlichen Soldaten scheuchte die Bewohner vor sich her. Ein kleines Mädchen war gestürzt und wurde brutal wieder auf die Beine gerissen. Mühselig erhob sich der Oberbefehlshaber aus dem feuchten Gras. Er klopfte den Dreck von seiner Uniform und rückte die Augenklappe gerade. Mit müdem Gang ging er den Soldaten entgegen, konnte dabei die Kraftlosigkeit in seinen Bewegungen nicht vollkommen kaschieren.
»Hauptmann«, rief Saiz, als er die erste Hütte des Dorfes passierte. Der angesprochene Soldat drehte sich zu ihn um und ließ das Mädchen augenblicklich los, welches sofort zu seiner Mutter eilte. Der Blick des Hauptmanns ließ Unverständnis und Überraschung erkennen. In seiner weißblauen Uniform, und in Kombination mit der roten Schärpe, ähnelte er einem seltenen Paradiesvogel.
»Der Junge ist das Ziel!« Trane Saiz baute sich vor dem Hauptmann auf. »Oder irre ich? Demnach solltet Ihr Eure Zeit nicht mit den Mädchen verschwenden!«
»Verzeiht«, antwortete der Soldat freundlich, aber mit ernstem Klang in der Stimme. »Doch wenn ich nicht irre, seid Ihr nicht länger Oberbefehlshaber der Truppen. Die Königin hat Euch all Eurer Ämter enthoben, da Ihr mit dem Attentäter geflohen seid. Also steht uns nicht im Weg, sondern ergebt Euch besser, sofern Euch Euer Leben noch etwas wert ist. Da Ihr Euch hier bei diesen Bauern im Dorf verkriecht, scheint mir der Junge nicht allzu fern.«
Trane Saiz gefiel es überhaupt nicht, von einem Untergebenen in diesem Ton angesprochen zu werden. Vor zwei Monden noch, hätte er diesem jungen Möchtegern einmal gezeigt, wer hier das Sagen hat. Allerdings hatte Saiz es vorgezogen, eine andere Richtung einzuschlagen und der Federkönigin nicht weiter dienlich zu sein. Die Gedanken an jenen schicksalhaften Tag kehrten in sein Gedächtnis zurück. Deutlich, als wäre es eben erst passiert, sah er, wie der Pfeil Telens Rücken traf. Das teuflische Lächeln Arien Tulsas würde er sein Leben nicht vergessen. Noch ehe er die Lage überhaupt hatte begreifen können, wimmelte der Raum bereits von Soldaten, welche die Königin schützten und Kellan gefangen nahmen. Trane Saiz blieb lediglich den jungen Jarmo zu schnappen und den Wachen glaubhaft zu machen, dieser wäre sein Gefangener und er hätte alles unter Kontrolle. Nur so war es ihm gelungen, zusammen mit dem Jungen, von Elora zu fliehen. Nun war die Zeit des Widerstandes gekommen und den Tod seiner Liebsten zu rächen.
»Ihr steht hiermit unter Arrest, Trane Saiz«, sagte der Hauptmann mit überlegenem Grinsen. »Es wäre das Beste, Ihr verratet uns, wo der Junge steckt und vermeidet somit, dass wir noch mehr von diesem Bauernpack foltern müssen!«
Die Blicke der beiden Kontrahenten trafen sich. Die Genugtuung in den Augen des wesentlich jüngeren Hauptmanns störte Saiz nicht. Er kannte diese Art von Männern, die in ihrem neuen Posten aufgingen und so manches Mal dabei über das Ziel hinausschossen. Trane Saiz ging einen Schritt vor und hielt dem Blick des Jüngeren mühelos stand. Die in der Luft liegende Spannung war beinahe spürbar. Die Soldaten des Hauptmannes ließen von ihren gegenwärtigen Handlungen ab und traten an die beiden Männer heran. Wie zwei Duellanten standen sie sich gegenüber, so nah, dass sie sich beinahe berührten. Kein Anzeichen von Nervosität, keine Schweißperle zeigte sich auf der Stirn des jungen Hauptmanns. Saiz merkte, dass er ihn nicht einschüchtern konnte.
Ohne eine Miene zu verziehen, stieß Trane Saiz den rechten Arm vor. Sein Gegenüber zuckte kurz, die Augen des Mannes weiteten sich vor Überraschung und Fassungslosigkeit. Saiz spürte die warme Flüssigkeit, die über seinen Handrücken lief. Er stützte den Hauptmann mit der anderen Hand, während er sah, wie die Augen des Jüngeren ihren Glanz verloren. Erst dann zog er den langen Dolch wieder aus dem Körper und ließ den Mann zu Boden sinken.
Es dauerte wenige Lidschläge,ehe die Soldaten aus ihrer Starre erwachten. Sie fixierten den Mörder ihres Hauptmannes, blickten einander an und waren unsicher, ob sie angreifen sollten oder nicht. Trane Saiz stand ihnen reglos gegenüber und wartete. Ein jüngerer, vollbärtiger Soldat reckte schließlich sein Schwert gen Himmel und schrie:
»Für den Hauptmann!«
Der Ruf löste die Starre! Die Soldaten stürmten vor. Trane Saiz ließ den Bärtigen dicht an sich herankommen, beobachtete den Weg des gegnerischen Schwertes, welches mit weitem Schwung auf ihn niederrauschte. In letztem Augenblick tauchte Saiz unter dem Hieb hindurch, packte dabei den Waffenarm seines Gegners und riss ihn herum. Der nachfolgende Angreifer konnte seine Attacke nicht mehr stoppen und hieb mit seinem Schwert in den Körper seines Gefährten, den Saiz wie einen Schild vor sich hielt. Die anderen Soldaten schafften es nicht mehr nahe genug an ihren Gegner heran. Hinter den Hütten tauchten in diesem Moment ein dutzend Bauern auf. Jeder von ihnen hielt einen Bogen in der Hand und zögerte nicht, den todbringenden Pfeil auf die Angreifer zu schießen. Die Soldaten hatten dem Hinterhalt nichts entgegenzusetzen. Noch bevor sie Trane Saiz erreichten, brachen sie unter mehreren Treffern zusammen. Einige waren sofort tot, andere schrien und wimmerten vor Schmerz.
Der einstige Oberbefehlshaber ließ den bärtigen Soldaten los, wischte den Dolch an seiner Hose ab und steckte ihn zurück in das Futteral am Gürtel. Einer der Bogenschützen lief zu ihm hinüber. Die anderen, zum Teil auch Kinder und junge Frauen, folgten ihm in einigem Abstand.
»Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie auch hierher kommen«, sagte Saiz zu Jarmo, einem der Bogenschützen. »Eure Ausbildung hat sich bezahlt gemacht. Tötet die Soldaten, die nicht mehr zu retten sind. Sorgt dafür, dass sich die Überlebenden unserer Sache anschließen. Wir werden bald aufbrechen, um die anderen Dörfer aufzusuchen. Ich hoffe, wir finden noch ausreichend kampffähige Männer und Frauen.«
»Bestimmt«, gab sich Jarmo zuversichtlich. »Es gibt einige Dörfer entlang des Flusses und auch weiter im Südosten. Sie werden sicherlich gewillt sein, sich unsere Sache anzuschließen!«
Trane Saiz ließ seinen Blick an den wenigen Holzhütten vorbei in Richtung Südosten schweifen.
»Sofern sie noch leben«, sagte er mit einem Hauch von Bitterkeit in der Stimme.
N achdenklich blickte Begayien durch die matte Scheibe, die nur verschwommen erkennen ließ, was sich in dem Raum dahinter befand. Es reichte jedoch aus, um die in der Wanne liegende Frau zu beobachten. Das Gesicht des hünenhaften Mannes war wie versteinert. Die langen, schwarzen Haare, die bis weit über seine Schultern fielen und sich irgendwo im Wirrwarr seines dunkelbraunen Pelzmantels verloren, gaben ihm das Aussehen eines wilden Kriegers. Im Grunde war er das auch. Er war im ewigen Eis geboren und hatte von Beginn an gelernt, der unwirtlichen Landschaft zu trotzen. Sie hatte ihn gezeichnet und geformt. Körperliche und geistige Stärke, sowie einen unerschütterlichen Willen und beispiellosen Mut, hatten ihn an die Spitze des Schneevolks und zum Herrscher über die Eisstadt Avrannah gebracht.
»Es ist ein Wunder, dass sie noch lebt«, hörte er eine Stimme in seinem Rücken. Begayien musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, wer soeben den Raum betreten hatte. Er kannte diese Stimme beinahe schon sein gesamtes Leben.
»Ihr Glück, dass wir sie so weit von Avrannah überhaupt gefunden haben«, antwortete Begayien ohne eine Miene zu verziehen. »Sie hat zu lange gezögert. Ist sie die Richtige? Ist es sicher?«
Tanner stellte sich neben seinen Anführer und sah ebenfalls durch die Scheibe, die aus purem Eis bestand. »Jedenfalls ist sie über den Berg. Sie entspricht der Beschreibung und wenn sie aufwacht, wissen wir mehr.«
Dieser Raum und jener, hinter dem Eisfenster, waren nur spärlich beleuchtet. Eine große, flache Schale, in der ein grünliches Feuer loderte, diente als Lichtquelle. Je eine dieser Schalen stand in der Mitte des jeweiligen Raums. Die beiden Männer sahen im Widerschein des grünen Feuers wie bizarre Schattengestalten aus.
Tanner war gut einen Kopf kleiner und wesentlich schmächtiger als Begayien. Die dunklen Haare waren, ebenso wie der kurze Bart, an einigen Stellen angegraut. Das Gesicht war schmal, in welchem die fleischige, breite Nase wie ein Fremdkörper wirkte. Seine Augen blickten müde und abgekämpft. Auch er hatte seinen Körper mit einem dicken Fellmantel umhüllt, so wie ein jeder innerhalb Avrannahs.
»Vierzehn Stunden«, meinte Tanner. »Vielleicht auch weniger.«
Begayien nickte kaum merklich.
»Wo ist die andere?« Eine innere Unruhe schien plötzlich von ihm Besitz zu ergreifen. Ihm war nichts über einen zweiten Fund zugetragen worden, obwohl man ihm einen zweiten Besucher angekündigt hatte.
»Es gibt keine andere«, antwortete Tanner trocken. »Wir haben die Umgebung abgesucht. Entweder ist sie allein gekommen oder die andere wurde von wilden Tieren verschleppt. Allerdings gab es dafür keine Anzeichen.«
»Die Kleidung?«, fragte Begayien. Trotz Tanners Erklärung blieb die Unruhe. In vierzehn Stunden würden sie mehr wissen.
»Dort drüben.« Tanner zeigte auf eine hölzerne Kiste in einer Ecke des Raums, der, wie die gesamte Stadt, aus Schnee und Eis geschaffen war. Begayien ging hinüber. Fester Schnee knirschte unter den Sohlen seiner Fellschuhe. Vor der Kiste kniete er sich nieder und durchsuchte die klammen Kleidungsstücke. Er fand einen Schlüsselbund und eine kleine Geldbörse, die er jedoch unbeachtet zur Seite legte. Aus der Gesäßtasche der dunkelblauen Jeanshose zog er ein gefaltetes Blatt Papier hervor. Vorsichtig entfaltete er es. Anhand der Abrisskante vermutete er, dass es sich dabei um eine Buchseite handelte. Auch die Maße von 2 mal 3 Handbreit unterstützten diesen Verdacht. Doch das Blatt war leer. Er faltete es wieder zusammen und ließ es in seiner Brusttasche verschwinden.
»Sie ist es«, sagte er, als er ans Fenster zurückkehrte. »Sorgt dafür, dass es niemand erfährt und lasst sie schnell aufwachen. Sie ist hier nicht allzu lange sicher.«
Tanner nickte stumm. Begayien wusste, dass er seine Untergebenen damit großer Gefahr aussetzte. Schon zu viele Personen hatten mitbekommen, wen sie dort am frühen Morgen aus dem Eis geborgen hatten. Es würde somit nicht allzu lange dauern, bis es auch die Federkönigin wusste. Und dann wäre es äußerst schwierig werden, für das Leben des Mädchens zu garantieren.
D ie Dämmerung legte sich wie ein dunkles Tuch über das Land. Die Gebirgskette auf der Nordseite des Grauen Flusses war kaum mehr, als ein finsterer Schatten. Die Temperaturen lagen zu dieser Jahreszeit des Nachts nicht selten unterhalb des Gefrierpunkts. Die achtundvierzig Männer, Frauen und Kinder, die im Schutze der Dunkelheit ihr Dorf Richtung Osten verließen, hatten sich dementsprechend gekleidet. Es waren einfache Bauern, die kaum mehr besaßen, als ihr Vieh und ihre Felder. Ihr Kälteschutz bestand daher vorwiegend aus Decken, die sie sich um ihre Körper geschlungen hatten.
Trane Saiz führte die Gruppe an. Die gefallenen Soldaten hatte er entsprechend dem Brauch der Magischen verbrennen lassen, damit sich Seele und Asche mit dem Wind vereinen konnten. Die Überlebenden waren gefesselt im Dorf zurückgeblieben. Früher oder später würde man sie finden. Der einstige Oberbefehlshaber hoffte allerdings inständig, dass dies noch ein wenig dauern möge und man ihre Spur nicht allzu schnell fand.
Die Gruppe war schwach, das wusste Saiz. Knapp ein Drittel von ihnen waren kleine Kinder oder alte Leute, die kaum noch in der Lage waren eine Waffe zu schwingen. Eine Konfrontation mit den Häschern der Königin würde in einem Blutbad enden. Dies war auch einer der Gründe, warum sie das Dorf Botho verlassen mussten. Er sah es als seine Aufgabe an, das einfache Volk gegen Arien Tulsa zu führen. Auch wenn es im Grunde sein eigener Feldzug war, so widerstrebte es ihm, die anderen nicht zu schützen.
Trane Saiz war lange Zeit nicht mehr außerhalb Eloras unterwegs gewesen. Er war sich unsicher, wie viele dieser kleinen Dörfer es im Umland gab. Vielleicht zehn? Oder mehr? Fand er dort überhaupt genug Unterstützung? Er kannte die Antworten auf diese Fragen nicht und eigentlich waren sie ihm auch egal. Es würde sich schon finden. Es half ihm allerdings dabei, nicht an Magistra Telen zu denken, während er sich mit ihnen beschäftigte.
Zum Glück ist der Boden fest, dachte Saiz. Vor wenigen Wochen noch, war das Erdreich vom Dauerregen regelrecht aufgeweicht gewesen. Ein zügiges Vorankommen somit undenkbar. In jenem Fall hätten sie einen Weg weiter südlich einschlagen müssen und wären nicht am Ufer des Flusses marschiert. Welche Route schlussendlich die Sichere war, blieb abzuwarten. Mit dem Fluss im Norden hatte Trane Saiz wenigstens eine mögliche Angriffsrichtung ausgeschlossen.
Der einäugige Mann warf einen Blick über seine Schulter. Zwölf Fackeln zählte er, die von den Bauern getragen wurden. Natürlich waren sie somit schon über eine weite Entfernung auszumachen. Das Risiko musste er allerdings eingehen. Zu leicht hätte jemand eine Verletzung nach einem unbedachten Schritt davontragen können und auch die wilden Tiere vermochten sich dem Feuer nicht zu nähern. Den Bauern fiel es durch den hellen Schein leichter, zusammenzubleiben. Soweit er es überschauen konnte, war auch noch niemand zurückgefallen.
Einer der Fackelträger schloss weiter auf und hielt mit Trane Saiz an der Spitze Schritt. Es war Jarmo. Seine Gesichtszüge waren ernst geworden, jede Kindlichkeit aus ihnen verschwunden. Saiz wusste, dass es nicht nur die Schatten des Fackelscheins waren, die diesen Eindruck vermittelten. Der Junge hatte Schlimmes durchgemacht und ebenfalls einen schmerzhaften Verlust zu beklagen.
»Geht es den Dörflern gut, Junge?« Trane Saiz fühlte sich in gewisser Weise verantwortlich für Jarmos Schicksal. In den letzten Wochen hatte er ihn zu schätzen gelernt.
»Ja!« Jarmo unterstrich seinen Ausspruch mit heftigem Nicken. »Wir sind zwar wenige, aber zuversichtlich. Und sie glauben an Euch. Der Ausblick auf ein besseres Leben, sofern Ihr es ihnen ermöglichen könnt, beflügelt sie.«
»Sie hätten ihr Viehzeug zurücklassen sollen.« Trane Saiz presste die Lippen aufeinander. »Ich weiß nicht, in wieweit uns Schafe und Ziegen im Kampf helfen sollen? Vor Allem wird ihr Gestank die Wölfe anlocken.«
Jarmo zog die Augenbrauen hoch.
»Es ist alles, was sie haben«, sagte er. »Sie haben das Wichtigste mitgenommen. Dazu zählen ihre Tiere. Außer ihnen haben sie nichts mehr. Allzu viele sind es ja nicht. Vielleicht sind wir auf unserer Reise auf ihre Milch oder ihr Fleisch angewiesen.«
Trane Saiz musste sich eingestehen, dass der Junge recht hatte. Trotzdem gefiel es ihm nicht, zusammen mit den kampfunerprobten Bauern und zwei Dutzend Streicheltieren, in die Schlacht zu ziehen.
»Wir sollten zunächst Dorgut aufsuchen«, schlug Jarmo vor. »Es ist das größte Dorf in der näheren Umgebung. Dort werden wir mit Sicherheit reichlich Unterstützung finden. Es liegt am Ende des Flusses …«
»Das war mein Plan«, meinte Saiz trocken.
»Und wie geht der Plan weiter?«, fragte der Junge. »Ich meine, wenn wir in allen Dörfern waren und genug Kämpfer haben?«
Der ehemalige Oberbefehlshaber schwieg und starrte in die Nacht. Er hatte noch keinen blassen Schimmer, wie er gegen die Federkönigin vorgehen wollte. Vor allem ohne die Bauern auf die Schlachtbank zu führen.
Das Einzige, was er sicher wusste, war, dass Arien Tulsa sterben musste.
E s war nicht vollkommen dunkel. Von irgendwoher kam ein unregelmäßiger Lichtschein, dessen grünliches Leuchten von den hellen Wänden reflektiert wurde. Der Raum war nicht besonders groß und, abgesehen von einem kleinen Schrank, den Ellie aus den Augenwinkeln erkennen konnte, anscheinend leer.
Es fiel ihr schwer, die Augen offen zu halten. Sie schloss sie wieder für einen Moment, von dem sie nicht sagen konnte, wie lang er war. Als sie sie irgendwann wieder öffnete, wurde das Bild des Raumes klarer. Die Wände kamen ihr sonderbar glänzend vor und erinnerten an überdimensionale, matte Eiswürfel. Dieses Bild wiederholte sich, egal, in welche Richtung sie blickte. Selbst über ihr. Es schien, als wäre sie im Eis eingeschlossen.
Ellie versuchte, die letzten Fragmente ihrer Erinnerung zu rekonstruieren. Der Abschied von Anna war noch relativ klar, dann wurde es verschwommen. Sie sah den Schnee. Überall um sie herum wirbelte dieser eiskalte, weiße Zauber, der ihr erbarmungslos die Kräfte nahm. Und nun war sie hier, liegend in einem wannenähnlichen Gefäß inmitten dieses Eiswürfels.
Eine dunkle, übelriechende Flüssigkeit bedeckte ihren nackten Körper. Ihre Arme und Beine kribbelten, als würden tausende kleine Nadeln auf sie einstechen. Trotzdem waren die Stiche nicht wirklich schmerzhaft.