IRGENDLAND - Geertje Boeden - E-Book

IRGENDLAND E-Book

Geertje Boeden

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Beschreibung

"Menschen sollten mehr Märchen lesen!", sagt der gelbe Rabe an dem anderen Ort. Das gilt vor allem für den selbst ernannten Philosophen. Der muss, mit dem sehr kleinen traurigen Herrn und dem Specht Picoi, das Mädchen nach Irgendland begleiten, um die Mutter aus ihrem Schlaf zu erwecken. Sonst werden die seltsamen Vorkommnisse und Erscheinungen, die über die Großstadt hereingebrochen sind, kein Ende nehmen und der Philosoph sein herrlich misanthropisches Leben nicht zurückerhalten. Das Mädchen will ein Heilmittel für seine Mutter finden. Koste es, was es wolle. Sein einziger Halt sind die Geschichten, die es immer wieder für die Schlafende einsammelt. Und wenn es in dieser Welt keine Möglichkeit mehr gibt, ihr zu helfen, dann geht das Mädchen eben in eine andere! Der sehr kleine traurige Herr hingegen denkt gar nicht weiter darüber nach, was ihm alles begegnen könnte, ihm ist noch nie etwas Aufregendes passiert. Von dem Moment an jedoch, da der kleine Specht Picoi in seinem Leben auftaucht, ändert sich alles für den einsamen Mann. Zunächst eine erzwungene Schicksalsgemeinschaft, werden die vier Einzelgänger in den 94 Bildern, in denen die Geschichte erzählt wird, zu Freunden. Sie lernen auf ihrer Reise, in der sie unter anderem gelben Raben, flauschigen Wärtern, übergroßen Maulwürfen und außerordentlichen Gewächsen begegnen, dass sich manche Dinge nur gemeinsam bestreiten lassen und man bestimmte Wege dennoch alleine beschreiten muss. Wichtig ist, dass man ein Fahrrad findet und die Fantasie keine Grenzen kennt. Ob sie nach Irgendland kommen? Nun das ist die Frage … Solange man liebt, ist es im Grunde ganz egal, wo genau man ist.

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Seitenzahl: 249

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Geertje Boeden

IRGENDLAND

Märchenroman in 94 Bildern

Imprint

IRGENDLAND Geertje Boeden Copyright: © 2018 Geertje Boeden Cover & E-Book-Erstellung: Erik Kinting / www.buchlektorat.net published by epubli www.epubli.de Ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung, die über den Rahmen des Zitatrechtes bei korrekter vollständiger Quellenangabe hinausgeht, ist honorarpflichtig und bedarf der schriftlichen Genehmigung des Autors.

Prolog

Erstes Bild

In dem Park mit den asphaltierten Wegen, hügelig und winkelig, voll gravitätischer Platanen, strahlte das bräunlich fleckige Sommergrün über der Großstadtidylle der Kindergartenkindermütter. Die Tauben gurrten auf den Wegen, geschäftig den Müll der Menschen auflesend und pickend, ob gut oder schlecht hinein ins Kröpfchen. Selbst da, wo man gar keine Krümel ausmachen konnte, wurde der Boden vehement und etwas beleidigt bearbeitet. Die Kinder krähten fröhlich im Sonnenschein. Ein Junge trat mit archaischer Freude gegen eine Taube und kickte sie so unter stiebenden Federn und empört erschrecktem Gegurre den Weg entlang.

Ein ganz gewöhnlicher Freitagnachmittag im Sommer.

An diesem Tag jedoch, passierte etwas, was später nur als der Beginn einer Reihe von seltsamen Begebenheiten bezeichnet werden konnte. Denn nur wenige Sekunden nachdem der Fuß des Kindes das federige Hinterteil der Taube berührt hatte, brach ein ohrenbetäubendes Rauschen und Zischen über das elysische Treiben des Nachmittags hinein, als flögen sämtliche Vögel einer Stadt und deren eingemeindeter Dörfer durch eine Klanginstallation. Vor dem verdutzt aufschauenden Jungen landete ein riesenhafter Vogelfuß, krallenbewährt und knorpelig, der weit in den Himmel hineinragte, ohne dass man das Ende desselbigen hätte absehen können. Er hing dort einen Moment lang in plötzlich eingetretener Stille. Und bevor dem Jungen bewusst werden konnte, dass es an der Zeit gewesen wäre, jetzt einen Laut des Entsetzens über diese ihn überragende Krallenklaue auszustoßen, holte der Fuß aus und kickte ihn mit leichtem Schwung im hohen Bogen davon. Die Mutter, die bis dahin unbeeindruckt mit ihren Freundinnen samt ihrer Kinderwagen geplauscht hatte, schrie auf und sauste mit fliegendem Haar und wedelnden Armen ihrem Jungen hinterher. Dieser setzte unsanft auf dem Rasen in der Mitte des Parks auf und verpasste vor Verblüffung den Augenblick, laut loszuplärren. Er blieb nur mit weit aufgerissenen Augen und halb offenem Mund auf dem Hosenboden sitzen und erwartete so seine tornardoartig heranwirbelnde Mutter.

Eine gespenstische Stille legte sich über den Park und dauerte noch einige Augenblicke fort, als wartete man auf den nächsten Tritt der mysteriösen Klaue. Die Parkbesucher, bevor sie selbstvergessen wieder ihren alltäglichen Verrichtungen nachgingen, blickten sich um, das Außerordentliche zu erspähen. Vergebens. Der Fuß war verschwunden.

Erster Abschnitt

Zweites Bild

An diesem Tag war eine Sonnenfinsternis angekündigt. Eine Jahrhundertsonnenfinsternis. Nicht etwa, weil sie ein Jahrhundert lang dauern sollte, vielmehr, weil man nur einmal in diesem Jahrhundert die Möglichkeit haben sollte, eine solche Sonnenfinsternis lebendigst zu erleben. Der Selbsternannte Philosoph warf sich mit einer jahrelang geübten Geste den Schal über die rechte Schulter.

Nein. Dachte er. Nein. Während er einen Kaffee schlürfend aus dem Fenster der Mensa über die Stadt blickte. Wann hatte er das letzte Mal eigentlich Lust verspürt, seine Studenten zu unterrichten? Er konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern. Dabei war er einmal ein so leidenschaftlicher Dozent gewesen. Der Kaffee war heiß und sehr süß, schmeckte aber weniger nach Kaffee als nach purem Zucker mit einem entfernten Hauch von etwas, das einmal Kaffeearoma gewesen sein könnte.

[Dieser Kaffee symbolisiert mein Leben, etwas, das als Idee vielversprechend klingt, die Idee ‚heißer Kaffee mit Zucker‘, aber an der Umsetzung scheitert und nur eine Farce, eine zur Groteske verzerrte Fratze trägt, nein, selber die Fratze ist. Ohne etwas dahinter.] Er ließ seinen Blick auf den Dächern der Häuser ruhen, die, von schmalen Schornsteinen gespickt, den Eindruck von kleinen Fühlern erweckten.

Wie große Schnecken mit winzigen Fühlern. Dachte er und folgte diesem Assoziationsstrang. Wenn die Häuser also Schnecken sind, und die Schornsteine Fühler, mit denen sie sich gegenseitig betrachten und verständigen, was sind dann wohl wir, ihre Bewohner? Schleim und Parasiten. Ja, der Gedanke vom Menschen als Parasiten der Erde war nicht neu. Wohl aber der vom Menschen als Parasit seiner eigens geschaffenen Bauwerke. Selbst die unbelebten Objekte leiden unter dem Menschen und seinem Schleim und Abfall.

Ein zufrieden defätistischer Zug wehte über sein Gesicht. Was für eine wunderbare Stimmung, um ein Seminar über die Theorie und Ästhetik des Theaters zu halten.

Er drehte sich um und ließ die Schneckenstadt zurück.

Der Kaffee ist noch schlechter als letzte Woche. Schleuderte er gut gelaunt der Mitarbeiterin der Mensa entgegen, während er den Kaffeebecher im Mülleimer entsorgte.

Ich wünsche Ihnen auch eine schöne Woche. Antwortete vollständig unbeeindruckt die Mitarbeiterin, ohne vom Lesen ihrer Illustrierten aufzublicken. Deswegen sah sie auch nicht den Schornstein, der sich der Fensterfront der Mensa zuwandte und zweimal neugierig blinzelte.

Drittes Bild

Der Sehr Kleine Traurige Herr arbeitete schon lange Zeit nicht mehr in dem Geschäft für Briefmarken und Schreibwaren. Dennoch konnte er es sich nicht nehmen lassen, jeden Morgen zur selben Zeit aufzustehen, wie er es getan hatte, als er noch dort arbeitete, sich mit einem Waschlappen zu waschen, sorgfältig die Zähne zu putzen, die Haare zu kämmen, seine Nasen- und Ohrenhaare zu stutzen, die Fingernägel zu reinigen und nach einer kleinen Tasse Krümelkaffee mit einem Champignonschmelzkäsetoast, die Wohnung in der Seitenstraße ohne Aufzug zu verlassen und zu seiner früheren Arbeitsstelle zu fahren. Oftmals saß er dann dort auf einer Bank mit stillem Lächeln und wartete. Hätte man ihn gefragt, worauf, hätte er selbst wohl keine Antwort geben können. Er wusste nur, dass er auf dieser Bank warten musste. Das war die Überzeugung des Sehr Kleinen Traurigen Herren. Wie er zu dieser Einsicht gekommen war, hatte er vergessen.

Jeden Morgen, außer sonntags, stieg er in die S-Bahn und fuhr zu der Station, die er so gut kannte. Danach wanderte er ruhig ein paar Meter durch den Park und lächelte verhalten den ihn entgegenkommenden Menschen zu. Ob sie ihn sahen oder nicht. Ein grauer Metallzaun grenzte einen Schrottplatz von dem Park ab, zu dem man gelangte, indem man über eine kleine Überführungsbrücke lief. Die S-Bahn, die man aus dieser Perspektive von weitem sehen konnte, hatte ihn schon als kleines Kind immer an Raupen erinnert, die sich gemächlich durch die Stadt schoben.

Hatte sich das Licht verändert? Ein plötzlicher Nieselregen sprühte feinen Tau über den Weg und in das Haar des Sehr Kleinen Traurigen Herrn, so dass es aussah, als säßen kleine Raureiftropfen darin. Er strich sich nebenbei über den Kopf und dachte dabei versonnen an die Raupenbahnen seiner Kindheit.

Heute sollte er jedoch nicht die S-Bahn nehmen. Denn als er den Bahnsteig um 7.23 Uhr betrat, 5 Minuten vor der regulären Ankunft derselben, stand diese bereits auf dem Gleis, abfahrbereit. Niemand war auf dem Bahnsteig zu sehen. Der Sehr Kleine Traurige Herr schaute sich um.

Wie seltsam. Aber warum einmal nicht von der täglichen Routine abweichen. Dachte er sich. Woher diese Abenteuerlust kam, wusste er nicht. Er fühlte sich heute auf sonderbare Art beseelt und wollte eben den Knopf zum Öffnen der Türen drücken, als er entdeckte, dass es keinen Knopf gab. Auch die Konsistenz der Außenwand des Zuges sah verändert aus. Sie glänzte feucht vom Regen, aber das war noch nicht alles. Sie schien von organischer Qualität zu sein. Vorsichtig tastete er mit seinen Fingerspitzen an der Außenwand entlang. Sie war warm, ledrig-gummiartig, etwas glitschig durch den Regen. Die Berührung ließ den Zug erschauern, als wäre er ein lebendiges Wesen. Der Sehr Kleine Traurige Herr trat ein paar Schritte zurück und trippelte unentschlossen erst nach links und dann nach rechts. Vielleicht konnte ihm der Zugführer Auskunft geben.

Aber da war kein Zugführer. An der Front des Zuges angekommen, schaute der Sehr Kleine Traurige Herr in zwei große schwarze, glänzende Augen, die ihn freundlich anglubschten. Es war eine Raupe. Nach wenigen Momenten des gegenseitigen Anstarrens setzte sich das Tier in Bewegung.

[Eine Raupe, die sich vorsichtig aber stetig an den Gleisen entlang schiebt.] Der Sehr Kleine Traurige Herr blickte ihr hinterher.

Jetzt hatte er doch tatsächlich zum ersten Mal in seinem Leben die S-Bahn verpasst.

Viertes Bild

Falsch. Das Mädchen war wieder einmal falsch abgebogen. Besonders überraschend war das nicht.

[Dabei hat der große Herr mit dem Schal den Weg so logisch erklärt.]

Nun. Das erst Mal war es nicht, dass es in die falsche Richtung gelaufen war.

[Also, einfach umdrehen und zum Ausgangspunkt zurück. Die andere Ecke wählen. Warum auch nicht.] Ein Tropfen traf Das Mädchen genau auf den Nasenrücken. Natürlich musste es jetzt anfangen zu regnen. Glücklicherweise hatte es immer einen Schirm dabei. Mit nachlässiger Handbewegung griff es in die tiefe Tasche des roten Mantels und brachte einen kleinen, weißen Schirm mit einer Vielzahl unregelmäßiger, schwarzer Punkte zum Vorschein. Die Punkte stellten sich bei näherer Betrachtung als Löcher heraus, aus denen das Wasser fein nach unten sprühte. Das Mädchen störte sich jedoch nicht an dem lecken Schirm und lief entschlossen in die andere Richtung.

Die Häuserzeilen standen in diesem Teil der Stadt nicht so eng beieinander, vielmehr zeigten sie Züge des vergangenen Großbürgertums und dessen Wohllebens. Früher beherbergten die Bauten nur jeweils eine Familie mit ihren Dienstboten.

[Mit eigenem Garten vor ihren gutbürgerlichen Häusern, heute kollektiv genutzt von mehreren Kleinfamilien, die sich zwischen Stuck und Parkett ihren Schicksalen stellen.

Wie konnte ich nur auf die Idee kommen, hier danach zu suchen?]

Die Bäume auf dem Bürgersteig hingegen zeigten Spuren von Mehltau, die Blätter hatten braune Flecken, durchlöchert, als spiegelten sie die Krankheit einer Stadt wider, die sich selbst verzehrt.

[Wenn die Bäume nicht gesund sind, wie sollen es dann die Menschen sein? Bald werde ich wohl noch zum Ökoterroristen.] Das Mädchen bog nach links ab. Blieb kurz stehen, blickte zurück in die andere Richtung. War es vorhin von hier gekommen, oder war es doch die rechte Seite gewesen?

[Moment mal. Vielleicht wüsste ich besser, wo ich langgehen soll, wenn ich nicht an Bäume denken würde, sondern zur Abwechslung darauf achte, wo ich langgehe!] Es schüttelte verärgert über sich selbst den Kopf, machte einen zögerlichen Schritt nach rechts. Blickte wieder nach links in die Straßenrichtung, in der es abgebogen war, stoppte wieder.

Man soll ja seinem Gefühl folgen. Dachte es sich und ging also in die spontan gewählte Richtung auf der Straße weiter. Was ist jedoch, wenn sich das Gefühl immer als falsch erweist?

[In jeder Stadt bin ich anders. Passend zum Ortsschild strömen die Erinnerungen auf mich ein. Menschen und die Gefühle von damals sind mir wieder nah, und dann weiß ich nicht mehr, wie ich mich am nächsten Tag anziehen soll. Zu viele Städte. Wie man mich genannt hat, habe ich vergessen. Meinen Namen habe ich vergessen.] Das Mädchen tauchte aus seinen Gedanken auf, die Augen fanden ihren Blick wieder und erkannten die Umgebung nicht mehr. Abermals hatte das zerebrale Grübelmeer es an einem ganz anderen Stadtteilufer ausgespuckt. Neubauten, kleine Kioske, ein wenig schmuddelig. Ein, zwei Penner mit den Rücken an die Häuserfassaden gelehnt, Alkoholdunst verströmend.

Na toll. Das Mädchen seufzte und schritt weiter aus, zur Ampel, und passierte dabei einen der Alkoholseligen.

Der Penner lallte freundlich. Du bist hier aus Rumänien … Ich möchte deine Sprache kennenlernen.

Etwas irritiert, aber ohne anzuhalten überquerte es die Straße. Auf der anderen Seite blieb es vor der großen spiegelnden Fensterscheibe einer Post stehen und blickte zu dem freundlichen Penner zurück, der in derselben Haltung dort verharrte. Vermutlich hatte er seine Worte schon wieder vergessen. Unwillkürlich versenkte sich Das Mädchen jetzt in die eigene Reflexion im Fenster und musste lächeln.

[Wie sieht denn jemand aus Rumänien aus? … graugrüne Augen? Aschblonde Haare? Müssten mal wieder gewaschen werden. Roter, fast bodenlanger Mantel, tiefe Taschen. Wie alt?] Prüfend näherte es sich mit dem Gesicht der Scheibe und schob die Nase hin und her. [Alterslos.] Worin diese Alterslosigkeit genau bestand, war schwer zu sagen. Zu viel Gleichmut vielleicht, oder im Gegenteil, zu viel Trotz?

[Langsam wird es draußen Schummerstunde.] Die Wolken spiegelten sich rosa in den Fenstern. [Wahrscheinlich gibt es sie eben doch nicht! Wer hört schon auf einen Traum? …]

Immer wenn es dunkelt, kommt der Traum.

Die Alte Dame blinzelt und rückt ihren Hut zurecht.

Das, was du suchst ist nicht ausleihbar. Es existiert, strenggenommen, gar nicht. Und ich kann es dir nicht zeigen. Nur wenn du mir etwas dafür gibst.

Was soll ich Ihnen geben? Ich habe ja nichts.

Ein Sturm kommt auf und zieht einem wie eine unterirdische Meeresströmung die Beine weg. Die Antwort der Alten Dame ist schon nicht mehr zu verstehen, denn ihre Stimme wird immer leiser, wie von einem immer lauter werdenden Flügelrauschen überdeckt. Sie bewegt nur noch ihre Lippen, aber die Worte können einen nicht mehr erreichen. Ein gelber Rabe auf einem Fahrrad fliegt in hohem Bogen um die Alte Dame und die umherstiebenden Blätter. Er trudelt wie im Wirbelsturm umher, bis er immer kleiner und kleiner zu einem Samenkorn wird. Das Samenkorn wächst und kommt immer näher, es hat kleine, haarige Fühler, oder Strahlen, wie eine Sonne, und verdeckt nach und nach die Alte Dame, die ohne Unterlass die Lippen bewegt, ohne einen Laut von sich zu geben.

Was sagen Sie??? Ich kann Sie nicht verstehen!!! Verzweifelt krallt man sich an den Brettern fest. Das Holz reißt einem die Hände blutig und die Blutstropfen wirbeln mit den Blättern der Bücher hinfort. Man wird von dem Sog ergriffen. Man kann spüren, dass etwas hinter einem ist … aber, wenn man jetzt zurückblickt, ist alles verloren. Der wütende Sturm wird immer stärker, die Finger rutschen vom Holz ab. Die Gelenke knacken. Es ist, als würden die Füße von Ketten nach hinten gezogen. In dem Moment, da man den Halt verliert, erwacht man. Das Herz rast. Jede Nacht derselbe Traum.

[Wo war nun diese vermaledeite Bibliothek?]

Für heute musste Das Mädchen aufgeben, nun war es schon fast dunkel. Jetzt hatte es keinen Sinn mehr.

Es stieß die Luft geräuschvoll durch die Nase aus und machte sich auf den Heimweg. Zumindest würde es das tun, sobald es herausgefunden hatte, wo genau es gelandet war.

Fünftes Bild

Die Diskussion in dem Seminarraum lief langsam aber sicher aus dem Ruder. Die Studenten bewarfen sich mit ausgestellter Eloquenz.

Nicht jeder Mensch ist ein Künstler.

Beuys!

Alle Menschen zu Künstlern!

„Wirkliche“ Künstler?

Maßstäbe!

Also Schimpfwort!

Scheißhaufen!

Geniestreich.

Das Verkaufen.

Ökonomischer Mehrgewinn!

Antipodischer „wahrer“ Künstler.

Nur Heuchelei.

Selbstinszenierung.

Hungerleider?

Romantisches Kunstverständnis.

Real!

Wust von Künstlern.

Scharlatan.

„Wahrhaftiges“.

Ein Raunen ging durch den Seminarraum.

Sprachlosigkeit!

Das ephemere Fühlen.

Das Erleben.

Was hinter allem steht.

Die Vorgänge hinter den Vorgängen.

Der Selbsternannte Philosoph stöhnte auf.

Nichts steht hinter irgendwas. Nicht mal hinter einem Vorhang, geschweige denn, einem Vorgang! Das ist doch alles esoterisches Muschebubu. Aber bitte, reihen Sie sich ein in die Mittelmäßigkeit des Mainstreams, in die Welt des Erlebens und des Totfabulierens über das eigene Empfinden. Betrachten wir einmal die Regisseure in Theater und Oper. Regisseure haben das Problem, dass sie im Grunde genommen, ‚nichts wirklich Eigenes, nichts Bleibendes‘ erschaffen. Deswegen haben sie den Drang entwickelt, sich selbst durch das Stück unsterblich zu machen … nicht wegen des Stückes, sondern um ihrer selbst willen. Sie sind nicht mehr Bewahrer der menschlichen Kultur oder Ritter im Streit um das Lebendig-Erhalten der Kunst, sondern sie kämpfen mit ihren Inszenierungen gegen das Entsetzen angesichts der eigenen Sterblichkeit. Den Schwätzern und Scharlatanen gehört die Welt! Es ist 13.45 Uhr. Heute Abend den Opernbesuch nicht vergessen.

Damit rauschte der Selbsternannte Philosoph in langbeinigen Schritten aus seinem Seminarraum.

[All mein Witz ist hier verschwendet.] Wie immer konnte er es kaum erwarten, in sein Café zu kommen, um dort den Geist der großen Philosophen und Revolutionäre der Zeiten zu preisen und anschließend runterzuspülen. Doch dazu sollte es heute nicht kommen.

Der Idealismus der Studenten hatte ihn ganz erschöpft.

Er brauchte schon vorher etwas zu Trinken.

Sechstes Bild

Die Alte Dame manövrierte mit der Strenge einer ehemaligen Ballettlehrerin für musikalische Früherziehung entschlossen ihren Trolley durch die Reihen des Supermarktes. Jeder, der ihr im Weg stand, wurde mit einem kleinen Pfiffgeräusch und Handzeichen, den Weg freizumachen, bedacht, ganz selbstverständlich und nebenbei. Wobei das Wort Pfiff nicht den genauen Laut des Geräusches wiederzugeben vermag, das sie produzierte. Vielmehr war es ein Die-Luft-im-Mund-herumgurgeln-und-sie-durch-die-Vorderlücke-der-Zähne-wieder-ausstoßen. Vor lauter Verblüffung taten die so angezischten Leute, wie ihnen geheißen, und gaben ihr den Weg frei.

Ich fühle mich heute äußerst isolativ. Also lassen Sie mich in Ruhe. Beachten Sie ihn gar nicht, er ist ein klassischer Panikschläfer. So murmelte die Alte Dame vor sich hin. Sie trug einen glockigen Rock, der sich nur im Ganzen vor und zurück zu bewegen schien. Dabei war er von solcher Länge, dass ihre Füße unsichtbar waren. Den Akt ihrer Fortbewegung konnte man in diesem Sinne nicht als Gehen bezeichnen, es wirkte vielmehr so, als führe sie motorisiert in ihrem Rock durch die Gegend, anstatt einen Fuß vor den anderen zu setzen und auszuschreiten.

Der Selbsternannte Philosoph, ebenfalls so zur Seite kommandiert, verdrückte sich mühsam ein zynisches Grinsen. [In dieser Stadt gibt es täglich mehr Verrückte und Grenzdebile.] Er hatte das Getränk seiner Wahl in der Hand und schickte sich an, auf seinen langen Beinen zur Kasse zu staksen. Die Schlange war, wie üblich an einem Freitagabend, so lang wie die Milchstraße. Er seufzte verärgert, als sein Blick von etwas ganz Bestimmtem angezogen wurde. Niemand schien etwas zu bemerken. Vor ihm stand unverkennbar ein Mann in der Warteschlange, der eine riesige, haarige Spinne wie einen Rucksack auf seinem Rücken trug. Er schloss kurz die Augen. Das war ja unmöglich. Er sah wieder hin. Die Spinne, die sich mit vieren von ihren Gliedmaßen an den Rücken seines Vordermannes klammerte, grinste ihn an – hätte sie Ohren, wäre der Ausdruck ‚von einem Ohr zum anderen‘ angebracht gewesen – und begann manierlich die Einkäufe in ihren Beutel zu ordnen. Ein mulmiges Gefühl breitete sich im Magen des Selbsternannten Philosophen aus. Er starrte mit halb geöffnetem Mund auf das Geschehen. Dann, panisch hin- und herblickend, aber seiner Stimme nicht Herr werdend, wollte er seine co-präsenten Schlangensteher auf diese Ungeheuerlichkeit aufmerksam machen. Aber niemand nahm von ihm oder der Spinne Notiz. Auf den Gesichtern der Menschen lag der gleichmütig halb abwesende Großstadt-Ausdruck des Alles-ist-so,-wie-es-seine-Ordnung-hat-Punkt. [Das kann doch nicht sein, das muss eine Halluzination sein. Ich kann mich doch im Supermarkt nicht wie ein Tourist verhalten, der, Verzückungsschreie ausstößt, weil er vor einer mit Papageien bemannten Palme steht, während die Stadt unbeeindruckt weiter pulsiert. Ich bin derjenige, der sich über solche Gestalten lustig macht. Lächerlich ist das.] Doch sein innerer Monolog überzeugte ihn nur zum Teil. Denn das Spinnentier grinste weiterhin äußerst charmant zu ihm hinüber. Er knetete den Flaschenhals in seiner Hand. Jetzt hatte es ihm auch noch zugezwinkert. Es musste eine neue Erfindung der Spielzeugindustrie sein. Ein interaktiver Beutel. [Das war es!]

Nach nochmaligem hastigen Umblicken auf der vergeblichen Suche nach einem irritierten Mitseher, entschied er sich dafür, dem Rucksack keinerlei Beachtung mehr zu schenken und gleichfalls so zu tun, als wäre alles so wie immer.

Stoisch, aber etwas verzagt, kaufte er schließlich, als er an der Reihe war, seine Flasche.

Siebentes Bild

Ein großer Herr in Jackett und wohlgelegtem Schal kam ihm entgegen. Er torkelte etwas. Nicht viel, nur gerade so viel, dass man erkennen konnte, dass sich die Welt um ihn herum gerade schneller drehte als um alle anderen. Er bog in einem eleganten und nebensächlichen Bogen von der Brücke ab und blieb vor dem grauen Metallzaun stehen.

Der Sehr Kleine Traurige Herr spähte ihm neugierig hinterher. Der große Mann schien angestrengt auf den Schrottplatz zu starren. Da vernahm der Sehr Kleine Traurige Herr ein Geräusch, das dem Rauschen eines Wasserhahnes ähnelte. Er schaute sich um und erkannte plötzlich, dass es kein Wasserhahn war, sondern der Mann am Metallzaun, der ausgiebig urinierte und dabei so tat, als würde er etwas Bekanntes in der Ferne des Schrottplatzes erblicken. Verschämt wandte sich der Sehr Kleine Traurige Herr in die andere Richtung und musste doch noch einmal einen Blick zurückwerfen. Wie seltsam es doch war, dass ihn dieses Verhalten mehr beschämte, als wenn er den Mann einfach bei der Verrichtung seiner Notdurft ertappt hätte. Durch den Vertuschungsversuch, der einer kleinen Theatervorstellung gleichkam, fühlte er sich aber, als hätte er ihn bei einem fatalen und peinlichen Fehler ertappt.

Er setzte etwas betreten seinen Weg über die Brücke fort und lief langsam ein paar hundert Meter den hügeligen Weg entlang, Richtung Innenstadt. Spät war es geworden. Von weitem konnte man die S-Bahngleise sehen. Trotz seines Raupenerlebnisses beruhigte ihn der Anblick wieder. Technische Geräte oder Abläufe verorteten seine Welt immer wieder an dem Platz, an den sie, seiner Meinung nach, gehörte, wohingegen die organische Verfügbarkeit und Unberechenbarkeit der Menschen ihn aufs Tiefste beschämte und irritierte. Auf Gegenstände war in ihrer Statik und ihrem Stoizismus Verlass.

Oder nicht?

Das Kribbeln, das sich in seinen Zehen zusammenbraute, wurde von dem Licht, das gerade wieder durch das Blattgrün der Bäume brach und Muster auf den Asphalt malte, angehalten. Da hinten, außerhalb des Parks, sah er seine Bank.

Achtes Bild

Die Leuchter an der Decke des Opernhauses kamen dem Selbsternannten Philosophen vor wie Quallen, die gerade im Begriff waren sich zusammenzuziehen.

[Kein Wunder, wenn man schon mittags fast eine ganze Flasche Whiskey kippt.] Fast hatte er den Spinnenrucksack darüber vergessen, und der Ansatz eines Lächelns wollte sich gerade an seinen Ohren ausbreiten. Blitzartig erstarb es.

Es WAREN Quallen, die an der Decke hingen. Er schloss die Augen und schüttelte kurz den Kopf, wie ein Pferd, das versucht, eine Fliege abzuschütteln. Öffnete die Augen und – sie waren immer noch da. Sein Verstand raste wie eine Lokomotive und ihm wurde übel.

[Es ist soweit, ich bin verrückt geworden. Gab es eine andere Möglichkeit? Erst die Spinne, jetzt die Quallen …]

Er zwang sich ruhig zu atmen. Immerhin hatte er einiges intus.

[Ein Rausch also, genau.] Oder er hatte plötzlich die Macht, seine Phantasien in die reale Welt zu transportieren. [So etwas gibt es nur im Film, oder in Fantasy-Romanen.] Er verfolgte den Gedanken. Wenn es so wäre, müssten die Spinne und die Quallen von anderen bemerkt worden sein. Mit der Folge einer Massenpanik. Dann müsste es auch in der Zeitung stehen. Oder aber es wurde aus Verlegenheit totgeschwiegen, ob der Unmöglichkeit des tatsächlich Existierenden.

[Unwahrscheinlich.] Er schielte wieder nach oben. Phosphoreszierend und langsam wabernd zogen die Quallen an der Kuppel des Opernhauses auf und ab. Friedlich, als hätten sie es von jeher getan. [Vielleicht hatten sie es ja, es hat bloß bis zum heutigen Tage noch keiner bemerkt?] Sein Blick fiel auf eine Ondulierte Frau mittleren Alters, die mit offenem Mund, den Schrei Edvard Munchs imitierend, an die Decke starrte. Tonlos, wie die Quallen.

[Ich bin also nicht der Einzige.] Er fühlte sich seltsam erleichtert. [Herr Munch muss wohl einmal etwas Ähnliches erlebt haben.] Fast musste er lachen, während sich eine hysterische Euphorie in seinem Magen ausbreitete.

[Wenn ich malen könnte, dann würde ich heute ein ähnliches Werk erschaffen. Das Entsetzen des Betrachters über das Widernatürliche. Das Unheimliche als das Hereinbrechen des Unmöglichen in den Erwartungshorizont. So mag es den Theaterbesuchern angesichts mancher Inszenierungen gehen.] Er blickte sich um. Wenn auch die Ondulierte Frau die Meerestiere sehen konnte, vielleicht war es ja dann doch ein Trick. Ein sehr gut gemachter Theaterzauber, der sich im Laufe der Aufführung erklären würde! Diese Idee beruhigte ihn ungemein, und er beschloss, die schwebenden Körper über ihm als Teil der Theateraufführung zu betrachten. Die Lähmung, die andernfalls wieder über ihn gekommen wäre, hätte sonst wohl kaum als produktive Rezeptionshaltung bezeichnet werden können.

Neuntes Bild

Die Stadt am Samstagmorgen im frühen Zwielicht wirkte verkatert. Sie bewegte sich vorsichtig, verwundert über die eigene zähflüssige Stille. Das Mädchen öffnete leise die Tür zum Krankenzimmer. Eigentlich war das überflüssige Vorsicht, denn Komapatienten werden in der Regel nicht von Geräuschen wie einem Türklappen gestört.

Hallo Mami. Sagte Das Mädchen. Ich bin wieder da.

Es umfasste vorsichtig die trockene, warme Hand der Mutter. Zum Glück bin ich wieder da. Die anderen Städte sind nichts für mich. Ich konnte dort nicht finden, was ich suche, aber ich glaube, hier wird es diesmal klappen.

Das Mädchen blickte zum Fenster. Ein bisschen frische Luft vielleicht.

Auf dem Weg hierher habe ich wieder eine Geschichte für dich eingesammelt. Auf dem Bahnsteig standen heute lauter Pinguine. Wartende Menschen, die wie Pinguine mit hängenden Armen in die Ferne blickten und nach ihrem Zug Ausschau hielten. Woran sie wohl dachten? Ihre nächsten Einkäufe, die Kinder, den Mann, die Frau, die Nachrichten, das Fensterputzen. Eine ICE-Zugdurchfahrt traf alle mit plötzlicher Wucht, auch mich, und mein Atem setzte für einen kleinen Moment aus, als hätte ihn der Zug mitgenommen. Du kennst das, oder? Man hält den Atem an, so als würde man eine viel größere Druckwelle, einen Aufprall erwarten, der aber ausbleibt. Der Zug rauscht vorbei und wird von einem Pollenschwarm begleitet, die wie Putzerfische neben einem Wal herschwimmen. Eifrig tummeln sie sich an der glatten Oberfläche, herumgewirbelt vom eigenen Übermut und den Launen der Schwerkraft. Man glaubt fast ihr Juchzen zu hören, wenn sie vom Geschwindigkeitsstrudel erfasst, in den Himmel trudeln. Vielleicht sind sie in Irgendland Federn eines großen plustrigen Flauschballs, der von Ast zu Ast hüpft und girrend vor sich hin tschirpt. Wie der phantastische Bruder der Schneeeule, girrtschirpend hopst er von Ast zu Ast, und dabei lösen sich bei jedem Hopser die runden Federsterne, die vom Wind davongetragen werden. Sie umschwirren die Objekte unserer Welt und dort, wo sie landen, wächst ein Baum mit dem Astloch, in dem das Ei des Girrtschirpers heranwächst, von den Säften des Baumes versorgt, um nach vielen Wochen auszuschlüpfen und die Zweige zu bewohnen. Dort hausen sie und dienen als aufmerksame Wächter dem wissenden Finder als Eingangszeichen nach Irgendland. Jedes Mal, wenn ein Zug an mir vorbeifährt, stemme ich deswegen meine Füße fest in den Boden, ich habe sonst das Gefühl genau wie die Flusen weggeweht zu werden und mich womöglich ins Nichts aufzulösen. Der Magen fährt Fahrstuhl und es kribbelt unter dem Brustbein, fast so als wäre man verliebt. Die Züge sollten langsame, große Raupen sein. Oder Raupenwale, dann kann man auf ihren Rücken sitzen und die kleinen Sonnen um sich herum auf der Haut spüren.

Das Mädchen hielt inne.

Mami … wach auf.

Es horchte auf den Atem der Mutter. Das Gesicht nahe an dem ihrigen.

Wenn du nicht zu mir kommst, komme ich zu dir. Flüsterte Das Mädchen. Es wartete auf eine Antwort.

Aber die Mutter blieb stumm.

Zehntes Bild

Um Punkt Achtzehn Uhr machte sich der Sehr Kleine Traurige Herr, wie jeden Tag, auf den Nachhauseweg, auch wenn er heute sehr viel später als sonst auf seiner Bank gesessen hatte. Er drückte den Knopf an der Ampel, um den Fußgängern eine grüne Phase zu bescheren. Wie immer klopfte es sacht in dem gelben Knopfkasten. Oder klopfte es in dem Ampelpfeiler? Der Gedanke war ihm noch nie gekommen. Der Sehr Kleine Traurige Herr legte sein Ohr an das kalte Metall. In der Tat. Es klopfte aus dem Pfeiler! Die Ampel schaltete auf Grün, ein elektrisches Summen wie ein Stromschlag hallte im Inneren des Pfeilers wieder, gefolgt von einem hysterischen Hämmern. Er hüpfte vor Schreck in die Höhe, ging aber nicht über die Straße, sondern legte sein Ohr wieder an den Pfeiler. Es trommelte darin gegen das Metall wie ein Maschinengewehr. Die Ampel schaltete wieder auf Rot und das langsame Klopfen stellte sich ein, gefolgt von einem verzagten, kurzen Piepsen. Was war denn das? Er drückte abermals den Knopf, um zu sehen, ob sich das Hörspiel wiederholte. Und tatsächlich. Das Umschalten, das hysterische Trommeln, das Zurückschalten und langsame Klopfen, gefolgt von einem verzagten Piepsen. Er musste es noch einmal versuchen. Er drückte den Knopf und war gerade dabei, sein Ohr abermals an den Pfeiler zu drücken, als er ein unmissverständliches, dumpfes Schimpfen aus dem Inneren der Metallröhre vernahm. Was die Worte waren, konnte er nicht ausmachen. Aber es schimpfte eindeutig aus dem Ampelpfeiler an der Kreuzung seines Parks. War etwa ein Lebewesen darin gefangen? Wenn dem so war, musste er es retten! Der Sehr Kleine Traurige Herr sah sich eifrig nach einem Gegenstand um, der ihm helfen konnte, das Metall aufzubrechen. Normalerweise liegt jedoch kein Schlagbohrer einfach so auf der Straße herum. [Wenn das überhaupt das passende Instrument wäre, um dieses Metall zu durchdringen.]

Nachdem er mehrere Minuten nach etwas Geeignetem gesucht hatte und die Ampel von einer Grün- wieder zu einer Rotphase übergegangen war, wollte er schon aufgeben. Da kam ihm der Gedanke, zunächst das Wesen in der Ampel von seinem Plan zu unterrichten. Vielleicht wusste es Rat, auf welche Art und Weise eine solche Tat zu vollbringen sein könntewäresollte. Er näherte sich mit dem Mund dem Metall und sprach sehr deutlich, so dass es der Gefangene darin hören musste.

ICH WILL SIE BEFREI-EN. DOCH LEI-DER SCHEINT SICH IN UN-MIT-TEL-BA-RER NÄ-HE NICHTS ZU BE-FIN-DEN, WAS GE-EI-GNET WÄ-RE, DAS ME-TALL AUF-ZU-BRECH-EN!

Das Klopfen verstummte.

Der Sehr Kleine Traurige Herr wollte gerade seine Worte wiederholen, als eine piepsige, sehr leise Stimme, die von weither zu kommen schien, aus dem Inneren des Pfeilers antwortete.

Nicht nötig. Sie müssen nur den Knopfkasten dazu bringen sich von selbst zu öffnen.

Erleichtert richtete sich der Sehr Kleine Traurige Herr auf. [Was für ein Glück!]

Wie bringe ich den Knopf dazu?

Die Stimme aus dem Inneren antwortete leise. Nur wenn Sie hundert mal hundert Mal den Knopf im Dreivierteltakt mit ihrem kleinen Finger der linken Hand drücken.

Hundert mal hundert? Also Zehntausend Mal? Der Sehr Kleine Traurige Herr guckte auf seinen linken kleinen Finger. Ihm wurde schummerig zumute. Dann fasste er sich ein Herz.

Ich tue es! Rief er aus. Hätten ihn Passanten dabei gesehen, die heute seltsamerweise ausblieben, hätten sie ihn in der Tat für einen verrückten Alten gehalten.

Die ersten hundert Mal gingen ihm noch leicht von der Hand. Die Stimme im Inneren piepste jeden Knopfdruck mit und sang dazu die Ouvertüre der Fledermaus