Irgendwo in Deutschland - Stefanie Zweig - E-Book
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Irgendwo in Deutschland E-Book

Stefanie Zweig

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Beschreibung

Die Fortsetzung des Welterfolgs "Nirgendwo in Afrika" Die Odyssee, die im Jahr 1938 Walter, Jettel und Regina während der Emigration von Oberschlesien nach Afrika führte, ist noch nicht zu Ende. 1947 kommt die Familie zurück in das Nachkriegsdeutschland der Entbehrungen und des Hungers. Regina, die Afrika nicht vergessen kann, geht heimlich mit ihren Gedanken auf Safari und singt ihrem in Nairobi geborenen Bruder Suaheli-Lieder vor ... Mit einfühlsamen Beobachtungen und einer sehr bildhaften Sprache blättert Stefanie Zweig ein Kapitel fast schon vergessener Nachkriegsgeschichte auf und erzählt das Leben von Regina weiter, deren Geschichte durch "Nirgendwo in Afrika" weltberühmt wurde.

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© für die Originalausgabe: 1996 LangenMüller in der F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München © für das eBook: 2014 LangenMüller in der F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München Alle Rechte vorbehalten

Widmung

Meinem Bruder Max

1

Am 15. April 1947 war der Eilzug mit einer Fahrzeit von nur knapp neunzehn Stunden trotz seines zweistündigen Aufenthalts am Kontrollpunkt zwischen der britischen und der amerikanischen Besatzungszone ungewöhnlich schnell von Osnabrück nach Frankfurt am Main gelangt. Die Reisenden in den Abteilen und Gängen rechneten nicht mit der eher als abrupt denn erlösend empfundenen Ankunft. Noch betäubt von der Kälte der Nacht und der ungewöhnlichen Wärme der Morgenstunden beraubten die Pappverkleidungen an den glaslosen Fenstern des Zuges sie ihrer Orientierungsfähigkeit, und die Sinne verweigerten ihnen einige Minuten lang die so lange ersehnte Gewißheit des Ziels.

Sie zögerten, Rucksäcke, Taschen und Koffer auf den Boden zu stellen und sie so den Gefahren auszusetzen, die bedauerlich typisch für die neue Zeit waren, die auf so empörende Art ohne die intakten Moralbegriffe der trotz allen Leids immerhin überschaubaren Kriegsjahre auskam. Schon gar nicht wollten die Glücklichen, die ihre Bequemlichkeit robust, aber durchaus auf eine Art erkämpft hatten, die sie als gerecht und zeitgemäß demokratisch empfanden, durch einen zu frühen Aufbruch ihre Sitz- oder Stehplätze in den Gängen des Abteils aufgeben.

Nur die wegen ihrer körperlichen Konstitution beneideten Reisenden auf den Trittbrettern und Dächern des Zugs erkannten sofort, daß die verkohlten Balken in der offenen Halle, die lose herabhängenden Drähte, die in der Sonne funkelnden Scherbenhaufen zwischen den Gleisen und die aus den Trümmern aufgeschichteten Steine tatsächlich das Herz des Frankfurter Hauptbahnhofs bildeten. Zunächst wagten es also nur wenige, den Zug zu verlassen. Fast so rasch kletterten die Männer mit Rucksäcken von den Dächern; die Frauen mit Kopftüchern und entschlossenen, rußschwarzen Gesichtern sprangen von den Trittbrettern.

Sie alle hatten einen weitaus günstigeren Ausgangspunkt, um Frankfurt in Besitz zu nehmen, als die aus dem afrikanischen Exil heimkehrende Familie Redlich im letzten Waggon. Der war von außen verriegelt und mußte erst von einem auffallend wohlgenährten, zu langsamen Bewegungen in den Beinen und zu schnellen in den Kiefern neigenden amerikanischen Corporal geöffnet werden.

Walter in einem schweren grauen Mantel, den er drei Tage zuvor in London bei der Entlassung vom Militär als letzte Zuwendung der britischen Army erhalten hatte, stieg zögernd aus dem Zug. Er trug die beiden Koffer, die noch aus Breslau stammten und zehn Jahre zuvor den deutschen Boden verlassen hatten und ihn nun vor ihm berührten. Ihm folgte Jettel in einem Kleid, das sie sich eigens für die Rückreise in die fremde Heimat von einem indischen Schneider in Nairobi hatte nähen lassen. Sie hielt in einer Hand das in der langen Nacht durchnäßte Taschentuch und in der anderen die Hutschachtel, von der sie sich bei keiner Reise in den zehn Jahren ihrer Emigration in Kenia hatte trennen können.

Regina, deren vierzehnjähriger Körper Mühe hatte, ein für sie umgeändertes Kleid ihrer molligen Mutter auszufüllen, konzentrierte sich beim Aussteigen auf die Aufgabe, nicht wie ihre Mutter zu weinen, und sie schon gar nicht zu verärgern, indem sie den Anflug jenes hoffnungsvollen Lächelns in ihr Gesicht ließ, das ihr Vater von ihr erwartete. Sie trug ihren einjährigen Bruder Max, der den entscheidenden Moment der Ankunft in seiner neuen Heimat verpaßte. Er hatte sich von den Strapazen der Reise und den durch die ungewohnte Kost von Salatblättern zwischen Weißbrotschnitten hervorgerufenen Blähungen durch anhaltendes Schreien befreit, das die ganze Nacht nichts von seiner Vehemenz verloren hatte. Nun schlief er, auf Reginas Bauch schaukelnd, mit dem Kopf an ihrer Schulter. Als der erste Hauch Frankfurter Luft sein Gesicht streifte, ballte er nur leicht die Faust, wachte jedoch nicht auf.

Die British Army war der Verpflichtung, einen Soldaten in die Heimat zu entlassen, umsichtig und verantwortungsvoll nachgekommen. Bei der Ankunft in Hoek van Holland waren die Redlichs mit einem Jeep bis Osnabrück gebracht und dort eine Nacht in einem Flüchtlingslager untergebracht worden – mit der Ermahnung, Kontaktaufnahme zu den feindlichen Deutschen nach Möglichkeit zu vermeiden.

In Osnabrück waren Walter, Jettel, Regina und das Baby, versehen mit den Rationen, die einem Soldaten als Proviant für einen Tag ohne besondere körperliche Anstrengung zustanden, in den geschlossenen Wagen gesetzt worden. Mitreisende waren ein englischer Major und ein kanadischer Captain, die beide den Zug mit je zwei Whiskyflaschen bestiegen und sehr bald die eine davon ausgetrunken hatten. Abgesehen von dem in regelmäßigen Abständen wiederholten Befehl »Shut up« an das »bloody baby« und der gelegentlich geäußerten Feststellung »Fucking Germans«, wenn Jettel zu laut schluchzte oder Max zu selbstbewußt für ein Kind auf der Verliererseite brüllte, kam es zu keinen weiteren Kontakten. Der Major und der Captain hatten den Zug bereits verlassen, als Walter sich zum erstenmal in Frankfurt umsah.

»Wir sollten hier abgeholt werden«, sagte er, »das haben sie mir doch noch nach London geschrieben.« Es war, zehn Minuten nach Ankunft, sein erster Satz in der Stadt, die er als Heimat begehrte.

»Ich dachte, die Deutschen sind pünktlich«, erwiderte Jettel, »das war doch immer das Beste an ihnen.«

»In Afrika hat auch keiner den roten Teppich ausgerollt, als wir ankamen. Und hier können wir uns wenigstens verständigen. Laß uns Zeit, Jettel.«

»Die lassen sich Zeit«, schniefte Jettel. »Ich kann nicht mehr. Das arme Kind. Wie lange soll so ein unschuldiges kleines Kind solche Strapazen aushalten? Ich kann ihm gar nicht in die Augen gucken.«

»Mußt du ja nicht. Das arme Kind schläft nämlich«, sagte Walter.

Regina starrte auf ihre Schuhe. Sie versuchte, sich darauf zu konzentrieren, weder Hunger, Durst noch die Angst zu spüren, die ihren Körper steif gemacht hatten, seitdem sie bei der Überschreitung der deutschen Grenze die ersten zerstörten Häuser und auf dem Bahnhof in Osnabrück die einbeinigen Männer auf Krücken gesehen hatte. Sie rieb ihr Gesicht an der warmen Haut ihres Bruders und widerstand der Versuchung, ihm jene paar Worte in der Sprache der Jaluo ins Ohr zu flüstern, die ihr Kraft gegeben hätten, den Kampf gegen die Angst aufzunehmen. Es war nicht gut, das Kind einer Mutter zu wecken, die ihre eigenen Augen nicht trocken halten konnte. Erst als Regina merkte, daß ihre Eltern aufgehört hatten, sich zu streiten, und beide in eine Richtung blickten, gestattete sie ihren eigenen Augen die Erlösung und schaute sich um.

Ihr Vater stand nicht mehr neben ihr; ihre Mutter hatte die Hutschachtel abgestellt, den rechten Arm vorgestreckt und rief laut: »Mein Gott, der Koschella. Was macht der denn hier? Der war doch auf unserer Hochzeit.«

Regina sah, daß ihr Vater rannte, vor einem Mann in einem grauen Anzug stehenblieb, einen Moment seinen Kopf schüttelte, beide Arme ausstreckte und plötzlich wieder fallen ließ. Es war der Fremde, der Walters Hand ergriff. Er hatte eine tiefe Stimme, und Regina hörte noch aus der Ferne, daß diese Stimme zu reisen gewohnt war.

»Walter Redlich«, sagte der Mann, »ich hab’s nicht geglaubt, als man mir gestern sagte, ich soll Sie abholen. Ich kann immer noch nicht glauben, daß einer verrückt genug ist, in dieses Land zurückzukehren. Wo in aller Welt kommen Sie her? Ach was, ich weiß es ja. Die ganze Justiz redet seit Tagen nur noch von dem Verrückten, der die Fleischtöpfe Afrikas im Stich läßt, um hier als Richter zu hungern. Du lieber Himmel, sagen Sie nur, das Baby gehört auch Ihnen.«

Regina beobachtete genau, wie der Mann ihrer Mutter die Hand reichte und diese mit einemmal das Lächeln der gestorbenen Tage im Gesicht hatte, als sie in Nairobi noch nichts von der Rückkehr nach Deutschland gewußt hatte. Danach versuchte Regina, dem Mann die Hand entgegenzustrecken, die Bewegung gelang ihr jedoch nicht, weil ihr Bruder, der immer schwerer wurde, von ihren Hüften zu rutschen begann. Sie bemühte sich sehr, gleichzeitig den Namen Koschella in ihrem Mund zu formen und den aufgeregten Reden ihrer Eltern und den hastig gesprochenen, immer ein wenig scharf klingenden Sätzen des Mannes zu folgen; und sie ließ sich zu lange Zeit mit der Grübelei, was das Wort Oberstaatsanwalt wohl bedeutete und ob es wichtig für sie alle wäre.

So beschränkte Regina schließlich die Freude, die ihre Eltern von ihr erwarteten, auf die regelmäßige Bewegung ihrer Beine und die Herausforderung, mit den Männern und ihrer Mutter Schritt zu halten. Ihr ging auf, daß ihr Vater so ganz anders lief als in Afrika. Sie hörte seine Schuhe und sah den Staub, den sie vor sich herstießen, aber er war dunkel und dicht, nicht mehr hell und durchsichtig wie in den guten Tagen der Wärme. Die Gruppe verließ das Grau des Bahnhofs und trat in die Helligkeit des Frühlings, überquerte eine Straße, die von beiden Seiten von zerstörten Häusern gesäumt war und auf der alte Frauen hoch beladene Schubkarren schoben. Auf Pappkoffern und grauen Decken saßen kleine Kinder. Sie hatten die glanzlosen Augen, die Regina von den leprakranken Bettlern in den Markthallen von Nairobi kannte. Eine hellgelbe Straßenbahn klingelte in hohen Tönen. Ihre Türen standen offen; die Menschen, dicht aneinandergepreßt auf den Trittbrettern, wirkten wie die alten Bäume auf der Farm in Ol’ Joro Orok, die der Wind hatte zusammenwachsen lassen. Auf den Schuttbergen der toten Häuser wuchsen kräftige Büsche gelber Pflanzen. Die Vögel zwitscherten. Walter sagte: »Selbst die Vögel singen hier anders als in Afrika.« Koschella lachte und schüttelte den Kopf.

»Immer noch der alte Witzbold«, sagte er.

Regina wurde von ihrem Vater in einen großen, sauberen Raum geschoben, der sehr dunkel war und nach der scharfen Seife roch, die sie an ihre Schule am Nakurusee erinnerte. Einen Moment lang vergaß sie, daß sie die Schule gehaßt hatte, und lächelte bei dem Gedanken, daß sie schon war wie ihre Mutter und die guten mit den bösen Erinnerungen verwechselte. Sie sah aber dennoch die Flamingos hochfliegen und mußte ihren Augen verbieten, in die rosa Wolke einzutauchen.

Hinter einem langen Tisch saß eine junge, sehr blonde Frau mit sehr roten Lippen. Ihr blaues Kleid hatte einen weißen Kragen. Ihr Kopf mit dem in gleichmäßigen Wellen gelegten Haar erreichte die höchste der gelben Rosen in einer blauen Vase.

Koschellas kräftige Stimme wurde noch eine Spur lauter, als er: »Oberstaatsanwalt Doktor Hans Koschella« sagte und nach einer kleinen Pause, die die Frau zu einem unwilligen Blick nutzte, hinzufügte: »Dies ist Amtsgerichtsrat Doktor Walter Redlich aus Nairobi. Ich habe gestern für ihn und seine Familie zwei Zimmer reserviert.«

Die Frau fuhr sich mit einem Finger durch die unterste Haarwelle. Obwohl sie kaum ihre roten Lippen bewegte, vernahm man sehr deutlich: »Bedauere. Das Hotel Monopol ist für Deutsche off limits.«

»Was soll das heißen? Das hätten Sie mir gestern sagen sollen, als ich die Zimmer bestellte.«

»Dazu«, sagte die Frau und lächelte so lange, bis die obere Reihe ihrer Zähne zu sehen war, »bin ich ja gar nicht gekommen, Herr Doktor Koschella. Sie haben die Zimmer bestellt und gleich aufgehängt.«

»Dann verweisen Sie mich an ein anderes Hotel. Glauben Sie, die Justiz kann es sich leisten, einen Richter aus Afrika kommen zu lassen und ihm kein Quartier zu verschaffen? Wie stellen Sie sich das denn vor?«

»Es gibt keine Hotels in Frankfurt für Deutsche. Das müßten Sie doch wissen, Herr Oberstaatsanwalt. Sie sind alle von der amerikanischen Militärregierung beschlagnahmt.«

»Dann verlange ich sofort, Ihren Direktor zu sprechen.«

»Das Monopol gehört zu den Hotels, die direkt von der Militärregierung verwaltet werden. Wir haben keinen Direktor. Ich muß Sie auch darauf hinweisen, daß ich mich strafbar mache, wenn ich Deutsche in der Hotelhalle sitzen lasse.« Doktor Hans Koschella sah eine Zeitlang die Frau und noch länger seine Uhr an. Er machte eine winzige Bewegung in Richtung des Babys auf Reginas Bauch; sie hielt ihm das Kind hin, das mit ihren Haaren spielte, damit er es streicheln konnte, aber er nahm die Hand zurück, schaute Walter an und sagte, nicht mehr so bestimmt wie zuvor, aber noch immer mit einer Stimme, die gewöhnt ist, gehört zu werden: »Tut mir entsetzlich leid, Redlich. Das ist irgendwie dumm gelaufen. Leider hab ich einen dringenden Termin und kann mich nicht weiter um Sie kümmern. Na, das werden Sie ja bald selbst erleben, daß man die paar Juristen, die heute noch arbeiten dürfen, ganz schön herumhetzt.«

»Aber was sollen wir denn machen?«, fragte Jettel leise. »Auf alle Fälle machen Sie sich keine Sorgen, Frau Jettel. Ihr Mann fährt am besten gleich zum Wohnungsamt und läßt sich eine Wohnung zuweisen. Er hat ja wohl die entsprechende Dringlichkeitsbescheinigung von der Justiz. Kommen Sie, Redlich, schauen Sie nicht so unglücklich drein. Ich begleite Sie zur Straßenbahn. Die Zeit nehm ich mir einfach. Und lassen Sie sich bloß von den Beamten dort nicht ins Bockshorn jagen. Die sind verpflichtet, Rückwanderer bevorzugt zu behandeln. Man darf heute nicht mehr zu zurückhaltend sein.« Regina begleitete Walter zur Tür. Ihre Füße waren schwer und der Mund trocken. Sie wußte, daß ihre Mutter sie beobachtete, und so traute sie sich nicht, ihren Vater zu fragen, wo Jettel, sie und Max auf ihn warten sollten. Sie sah ihm und Koschella so lange nach, bis die Silhouetten sich in dem hellen Sonnenlicht auflösten, und kehrte so langsam, wie es ihre Füße zuließen, zu ihrer Mutter zurück. Sie kam gerade an dem Tisch mit den Rosen an, als die blonde Frau auf eine Lederbank in der dunkelsten Ecke des Zimmers wies und zu Jettel sagte: »Setzen Sie sich dahin, bis Ihr Mann zurückkommt. Aber halten Sie um Himmels willen das Kind ruhig. Wenn einer Sie hier entdeckt, bin ich dran und muß Sie auf die Straße schicken.« Die Straßenbahn war so voll, daß Walter erst nach der zweiten Haltestelle vom Trittbrett in den Wagen gelangte. Obwohl er seit der Abfahrt von Osnabrück kaum etwas gegessen hatte, um die Militärrationen für Regina und Max zu sparen, und ihm schwindlig und übel war, empfand er die Anstrengung als durchaus willkommene Gelegenheit, ihn von seinem Zustand, einer verwirrenden Mischung aus Empörung, Beklommenheit und Schock, abzulenken.

Er hatte, als er gegen Jettels Widerstand und Reginas nie ausgesprochene Verzweiflung den Entschluß zur Rückkehr nach Deutschland durchgesetzt hatte, sich keine Illusionen gemacht und gewußt, daß die Heimkehr ihn vor Probleme stellen würde, die er sich in Afrika selbst in Stunden von größtem Pessimismus nicht ausmalen konnte. Nie aber war ihm in den Sinn gekommen, die Ironie des Schicksals könnte ihn sofort mit der gleichen Scham belasten wie im Januar 1938, als er mittellos und verzweifelt in Kenia angekommen war. Die Scham hatte sein Selbstbewußtsein in dem Moment zerlöchert, da er Jettel, Regina und Max nun allein im Hotel hatte zurücklassen müssen. Die Erfahrung der Vergangenheit gab ihm die Gewißheit, daß diese neue Demütigung ihn sehr lange begleiten würde. Walter rechnete damit, daß er viel Zeit brauchen würde, um das von Koschella beschriebene Haus zu finden, und stieg bedrückt an der Haltestelle aus. Schon der erste Mann jedoch, den er nach dem Weg fragte, zeigte auf ein graues Gebäude mit notdürftig verkleideten Fenstern und einer hölzernen Eingangstür. Auf einem mit Reißnägeln befestigten Pappschild stand »Städtisches Wohnungsamt«.

Von einem alten Mann mit einer schwarzen Augenklappe wurde Walter in einen Raum mit dem Schild »Zuzug« geschickt; von vier jüngeren Männern, deren Bewegungen denen des ersten Manns ähnelten, verblüfft angestarrt, abgewiesen und mit sehr knappen Sätzen umdirigiert. Bei keinem gelang es ihm, mehr als seinen Namen zu nennen und zu erzählen, daß seine Frau und seine Kinder in einer Hotelhalle saßen, in der sie nicht sitzen durften.

An der fünften Tür stand »Flüchtlingsbetreuung«. Der Beamte saß an einem kleinen Holztisch, auf dem Akten, drei kurze Bleistifte und eine angerostete Schere lagen. Daneben stand ein Blechbecher mit einer dampfenden Flüssigkeit. Walter glaubte sich erinnern zu können, daß so Kamillentee roch. Schon an das Wort hatte er mehr als zehn Jahre nicht gedacht. Das beschäftigte ihn auf eine Weise, die er als unwürdig für diesen Moment äußerster Anspannung empfand. Der Mann blätterte in einem Stapel aus grauem Papier, als Walter auf ihn zuging, und kaute an einer dünnen, auffallend gelben Brotscheibe. Er wirkte nicht anders als seine Kollegen, und Walter stellte sich auf die Müdigkeit der abweisenden Bewegung ein, doch der Mann sagte überraschenderweise erst: »Guten Morgen«, und dann: »Nehmen Sie erst einmal Platz.«

Seine Stimme hatte den singenden Klang, der Walter sofort an seinen Freund Oha in Gilgil erinnerte. Er sträubte sich abermals gegen die Willkür seines Gedächtnisses, bis ihm aufging, daß die Menschen in Frankfurt wohl alle wie Oha sprechen würden, der ja schließlich aus Frankfurt stammte. Sein Magen, der sich verkrampft hatte, als er den Beamten sein Brot kauen sah, beruhigte sich etwas. Walter lächelte und genierte sich seiner Verlegenheit.

Der Beamte hieß Fichtel, war heiser, trug ein graues Hemd, das ihm am Hals sehr viel zu weit war, und hatte trotz seines großen Adamsapfels und der eingefallenen Wangen die Andeutung einer Gutmütigkeit im Gesicht, die Walter Mut machte.

»Nun erzählen Se mal«, sagte Fichtel.

Als er hörte, daß Walter soeben aus Afrika angekommen war, pfiff er mit einem langen, geradezu absurd jugendlichen Ton, und sagte: »Kerle, Kerle«, was Walter nicht verstand. Ermuntert durch den wachen Ausdruck, der Fichtels Gesicht mit einem Mal belebt hatte, begann er, ausführlich von den letzten zehn Jahren seines Lebens zu berichten.

»Und ich soll Ihnen glauben, daß Sie freiwillig in dieses Drecksland gekommen sind? Mann, ich würde lieber heute als morgen auswandern. Das wollen alle hier. Was hat Sie zurückgetrieben?«

»Die wollten mich nicht in Afrika.«

»Und wollen die Sie hier?«

»Ich glaube schon.«

»Na, Sie müssen es ja wissen. Heutzutage ist alles möglich. Haben Sie wenigstens Kaffee von den Negern mitgebracht?«

»Nein«, sagte Walter. »Oder Zigaretten?«

»Ein paar. Aber die hab ich schon aufgeraucht.«

»Kerle, Kerle«, sagte Fichtel. »Und ich dachte immer, die Juden sind schlau und kommen überall durch.«

»Besonders durch die Schornsteine von Auschwitz.«

»So hab ich das nicht gemeint, ganz bestimmt nicht. Das können Sie mir glauben«, versicherte Fichtel. Seine Hand zitterte ein wenig, als er die Stempel von einer Seite des Tisches zur anderen schob. Seine Stimme war unruhig, als er sagte: »Auch wenn ich Sie sofort auf die Dringlichkeitsstufe eins setze, bekommen Sie bei mir in Jahren noch keine Wohnung. Wir haben gar keine. Die meisten Wohnungen sind entweder zerbombt oder von den Amis beschlagnahmt. Für Sie ist die Judengemeinde im Baumweg viel besser. Es heißt, daß die Wunder tun kann und ganz andere Möglichkeiten hat als unsereins.«

Der Satz verwirrte Walter so, daß er sich keine Zeit für die Empfindungen nahm, die ihn bedrängten.

»Sie wollen doch nicht sagen, daß es hier in Frankfurt eine Jüdische Gemeinde gibt?«, fragte er.

»Klar«, sagte Fichtel, »da sind doch aus den Lagern, von den’ heut draußen alle Welt redet, genug zurückgekommen. Und wie man hört, geht es denen nicht schlecht. Bekommen ja die Schwerarbeiterzulage. Steht Ihnen ja auch zu. Kommen Sie, ich schreib Ihnen die Adresse auf, Herr Rat. Sie werden sehen, morgen können Sie schon in der eigenen Wohnung sitzen. Ich sag’s ja immer. Die eigenen Leute lassen einen nicht im Stich.« Es war nach vier, als Walter ins Monopol zurückkehrte. Er hatte bei der Jüdischen Gemeinde nur eine Frau angetroffen, die ihn für den nächsten Tag bestellt hatte, und er erwartete, Jettel, wenn überhaupt, in Tränen vorzufinden. Er sah sie von weitem und glaubte, die Halluzinationen, die ihn seit dem Abschied von Koschella bedroht hatten, hätten ihn endgültig erbeutet.

Jettel saß in einem Jeep neben einem Soldaten in amerikanischer Uniform, Regina mit Max auf dem Schoß hinten. Walter war ganz sicher, daß man dabei war, seine Familie wegen verbotenen Aufenthalts in dem Hotel zu verhaften, und hetzte in Panik, mit krampfendem Magen und Gesten, die ihm so absurd wie der Verlauf des ganzen Tages erschienen, auf den Wagen zu.

»Komm«, rief Jettel aufgeregt, »ich dachte schon, die bringen uns hier weg, ehe du wiederkommst. Wo um Himmels willen hast du gesteckt? Das Kind hat keine einzige trockene Windel mehr und Regina andauernd Nasenbluten.«

»Sir«, schrie Walter, »this is my wife. And my children.«

»Dann laß das nächste Mal deine schöne wife nicht in einem beschlagnahmten Hotel herumsitzen, du Trottel«, grinste der Sergeant.

Seine Sprache war unüberhörbar badischen Ursprungs; er hieß Steve Green, war ursprünglich ein Stefan Grünthal gewesen und seit der Besetzung Frankfurts bei der amerikanischen Militärregierung, seiner Sprachkenntnisse wegen, für alle Problemfälle zuständig, die Deutsche betrafen. Steve Green war von der Sekretärin des Hotels Monopol alarmiert worden, als der aufging, daß sie die jammernde Jettel, ihre schluchzende Tochter und das schreiende Baby nicht auf dem üblichen Weg der einschüchternden Arroganz würde loswerden können. Steves Eltern besaßen bis 1935 ein kleines Hotel in der Nähe von Baden-Baden. Die Mutter kochte die beste Hühnersuppe der Welt und haßte die Deutschen. Der Vater hatte sich in New York vom Nachtportier in Brooklyn zum Verkäufer in einem Schmuckgeschäft in der 47th Street hochgearbeitet, ging jeden Schabbes in die Synagoge und haßte die Deutschen auch. Steve haßte vor allem Frankfurt, die bloody Army und die deutschen Angestellten im PX-Laden, die die Waren auf dem Schwarzen Markt verschoben, ehe die GIs sie kaufen konnten.

Das alles erzählte er in einer Mischung aus fließendem Deutsch und unverständlichem Amerikanisch, während er den Jeep in rasender Fahrt und mit Flüchen, die weit gröber waren als alles, was Walter je beim britischen Militär gehört hatte, durch die von ausgebrannten Häusern gesäumten Straßen der Frankfurter Innenstadt trieb. Zwang ihn eine Straßenbahn oder Männer mit Schubkarren zum Anhalten, warf er, je nach Gegebenheit, eine Zigarette aus dem Jeep und freute sich an den Leuten, die sich um sie balgten. Oder er vergaß, daß er die Deutschen haßte, und überraschte verdutzte junge Frauen, die er entweder »Fräulein« oder »Veronika« nannte, mit einem Riegel »Hershey’s«-Schokolade.

Steve schenkte Regina ein Paket Kaugummi, verwechselte bei hoher Geschwindigkeit immer öfter Jettels Knie mit dem Schaltknüppel und beantwortete Walters Fragen nach dem Ziel der Reise augenzwinkernd mit dem Hinweis »off limits«. Eine Viertelstunde nach Beginn der Fahrt bog er von einer großen Allee mit blühenden Kastanienbäumen ab und in die schmale, auffallend guterhaltene Eppsteiner Straße ein, sprang aus dem Jeep, half Jettel galant aus dem Wagen, drängte in eiliger Grobheit Walter und Regina mit dem Baby auf dem Arm zum Aussteigen, nahm eine Pistole aus der Hosentasche, stürmte in den Hausflur, rannte in den zweiten Stock und drückte auf eine Klingel.

Eine grauhaarige Frau machte zögernd die Tür auf und rief erschrocken: »Ach!«

»Beschlagnahmt«, brüllte Steve in Richtung der erschrockenen Frau und »okay« hinunter ins Treppenhaus. Die Frau wurde blaß, wischte sich immer wieder die Hände in einer geblümten Schürze ab und jammerte mit geschlossenen Augen: »Ich hab ja nur noch zwei Zimmer.«

»Eins zuviel«, schrie Steve, »die Leute bleiben hier. Einquartierung für eine Woche.«

Die Frau machte ihren Mund auf, aber gleich wieder zu, als Steve »Shut up« sagte und sie fragte: »Hab ich den Krieg verloren oder du? Und was zu essen rückst du auch raus. Sonst komme ich wieder. In Begleitung.«

Danach streichelte er Jettel über das Haar, klopfte Walter auf die Schulter, schob Regina beiseite und steckte Max einen Kaugummi in den Mund, den Jettel ihm in Panik entriß und selbst zu kauen begann. Max fing an zu brüllen. Die Frau stöhnte und sagte, sie heiße Reichard, hätte selbst nichts zu essen und bis zur Besetzung von Frankfurt in einer Fünf-Zimmer-Wohnung gewohnt.

Ihr Haar war im Nacken zu einem Knoten geflochten, der ihr ein strenges, einschüchterndes Aussehen gab, und ihre Arme hielt sie vor dem Bauch verschränkt; einen Moment schien es so, als wolle sie eine Bewegung machen, um Jettel aus der Tür zu drängen, aber da sagte Walter: »Es tut mir sehr leid, wenn wir Ihnen Ungelegenheiten machen.«

»Ich zeig Ihnen Ihr Zimmer«, seufzte Frau Reichard, »aber, daß Sie es gleich wissen. Ich hab nur eine Gemüsesuppe aus Schalen. Zu mehr bin ich nicht verpflichtet.« Von den Rätseln des Tages, die später nie mehr gelöst werden konnten, blieb sie das größte. Aus der Gemüsesuppe wurde ein Eintopf, aus einem Pappkarton ein Kinderbett; es gab für jeden eine Scheibe dünnes Brot und danach aus Meißener Porzellantassen ein heißes Getränk, das Frau Reichard als Kaffee bezeichnete. Sie nannte Max »Bobbelche«, schaukelte ihn auf ihrem Schoß und weinte. Vom Dachboden holte sie ein Feldbett für Regina. Nach dem Abendessen erzählte Frau Reichard von ihrem Mann, den »die Amis geschnappt« hatten, und ihrem einzigen Sohn. Er war in Rußland gefallen. Jettel sagte, das täte ihr leid, und Frau Reichard sah sie überrascht an.

Zu viert schliefen sie in Frau Reichards Zimmer. Über dem Ehebett hing ein Bild von zwei pausbäckigen Engeln, die Regina faszinierten. An der gegenüberliegenden Wand war ein großer, heller Fleck, der ihren Vater interessierte. Er behauptete, dort habe ein Hitler-Bild gehangen. Jettel sagte: »Schade, daß du immer so schlau bist bei den Sachen, auf die es nicht ankommt«, doch ihre Stimme klang nicht bösartig, denn Walter lachte und sagte: »Das hat schon deine Mutter gesagt.«

Regina war froh, daß sie keine vergifteten Pfeile auffangen mußte, ehe sie Beute machen konnten. Sie dachte kurz an die Schokolade, die Steve den jungen Frauen zugeworfen hatte, und lange an den Duft des Guavenbaums in Nairobi, ihr Magen war jedoch nicht voll genug und ihr Kopf zu leer, um die Safari zu genießen.

Kurz vor dem Einschlafen hörte sie ihre Eltern doch noch streiten, aber es waren fast wie in den besten Stunden der verwehten Tage ein harmloser Kampf und ein schnell geschlossener Friede. Erst konnten sie sich nicht einigen, wer Koschella zur Hochzeit eingeladen hatte, und dann waren beide im gleichen Moment sicher, daß sie ihn wohl verwechselt hätten und er wahrscheinlich sein Lebtag nie in Breslau gewesen sei.

2

Samstag, 20. April Hurra. Heute bin ich zum ersten Mal in Frankfurt glücklich (fast). Endlich sind wir von Frau Reichard weg. Zum Schluß hat sie uns sehr schikaniert. Bis wir eine Wohnung zugewiesen bekommen (wird sehr lange dauern), dürfen wir in der Gagernstraße 36 wohnen. Vor drei Tagen hat Papa endlich jemanden bei der Jüdischen Gemeinde erreicht – den nettesten Mann der Welt. Er heißt Doktor Alschoff und hat dafür gesorgt, daß wir im ehemaligen jüdischen Krankenhaus unterschlüpfen dürfen. Es ist sehr kaputt und kein Krankenhaus mehr, sondern ein Altersheim. Wir haben ein Zimmer mit drei Betten, einem Tisch, drei Stühlen und einer Kochplatte. Wir waschen uns in einer Schüssel, die auf einem dreibeinigen Ständer steht, der mir sehr gut gefällt. Das Klo ist auf dem Flur. Eine Mahlzeit bekommen wir vom Koch des Altersheims, aber nur für drei Personen, weil Max eine Lebensmittelkarte für Kleinkinder hat, und da sind zu viele Marken für Milch und zu wenig für Fett. Sagt der Koch. Unsere Kleider bleiben in den Koffern. Zum erstenmal in meinem Leben bin ich froh, daß ich so wenig zum Anziehen habe. Wir wurden auf einem Lastwagen in die Gagernstraße gebracht. Eigentlich hätten wir schon am Samstag kommen können, aber das durften wir nicht, weil Juden am Schabbes nicht fahren, und das Heim ist koscher. Ich bin froh, daß ich Tagebuch führen kann. Das habe ich Doktor Alschoff zu verdanken. Er hat mir heute zum Empfang drei Hefte und zwei Bleistifte geschenkt, und nun habe ich endlich jemanden zum Reden. In diesem Tagebuch werde ich nämlich nur Englisch schreiben. Da komme ich mir vor wie zu Hause. Ich muß sehr klein schreiben und nicht jeden Tag, weil Papier in Deutschland sehr knapp ist. Wer weiß, ob ich je neues bekomme.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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