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Der Deal: Ein Jahr getrennt. Die Hoffnung: Ein gemeinsamer Neuanfang … Alle in dem kleinen irischen Dorf Stickens sind sich einig: Annie und Dan sind das perfekte Paar. Schon in der Schule haben sie einander gefunden und sind seitdem unzertrennlich – bis Annie, die sich schon lange nach etwas Größerem sehnt, das Angebot ihrer Träume bekommt: Eine Rolle am Broadway! Doch mit seiner Tierarztpraxis, einer alternden Mutter und all seinen Wurzeln tief in Irland, kann Dan nicht einfach nach New York ziehen. So geben die zwei einander ein wagemutiges Versprechen: Sie legen eine »Ehe-Pause« ein. Die einzige Verpflichtung: Ein Wiedersehen nach einem Jahr, das über das Schicksal ihrer Beziehung entscheiden soll. Wird Annie im Glamour New Yorks ein neues Leben finden? Oder wird die Liebe sie zurück nach Hause bringen? »Wahnsinnig komisch, charmant und herzerwärmend.« Irish Independent Ein gefühlvoller und vielschichtiger Liebesroman der irischen Bestsellerautorin Claudia Carroll – Fans von Cecelia Ahern werden begeistert sein!
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 502
Veröffentlichungsjahr: 2025
Über dieses Buch:
Alle in dem kleinen irischen Dorf Stickens sind sich einig: Annie und Dan sind das perfekte Paar. Schon in der Schule haben sie einander gefunden und sind seitdem unzertrennlich – bis Annie, die sich schon lange nach etwas Größerem sehnt, das Angebot ihrer Träume bekommt: Eine Rolle am Broadway! Doch mit seiner Tierarztpraxis, einer alternden Mutter und all seinen Wurzeln tief in Irland, kann Dan nicht einfach nach New York ziehen. So geben die zwei einander ein wagemutiges Versprechen: Sie legen eine »Ehe-Pause« ein. Die einzige Verpflichtung: Ein Wiedersehen nach einem Jahr, das über das Schicksal ihrer Beziehung entscheiden soll. Wird Annie im Glamour New Yorks ein neues Leben finden? Oder wird die Liebe sie zurück nach Hause bringen?
Über die Autorin:
Claudia Carroll ist eine irische Bestsellerautorin und Schauspielerin. Geboren und aufgewachsen in Dublin, studierte sie dort Musik und besuchte die ›Gaiety School of Acting‹. Ihre ersten Romane schrieb sie zwischen Takes am Set der TV-Show »Fair City« – heute widmet sie sich voll und ganz ihren Romanen und ihrer geliebten Heimatstadt.
Die Autorin auf Instagram: @claudiacarrollbooks
Bei dotbooks veröffentlichte die Autorin ihre humorvollen Liebesromane »Irisches Wiedersehen«, »Davenport Hall – Liebe nach Drehbuch«, »Liebeschaos auf Irisch«, »Du stehst in meinen Sternen«, »Wolke Sieben kann mich mal« und »Ein irischer Gentleman«.
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eBook-Neuausgabe Mai 2025
Die englische Originalausgabe erschien erstmals 2011 unter dem Originaltitel »Will you still love me tomorrow« bei Avin, London. Die deutsche Erstausgabe erschien 2013 unter dem Titel »Die Ehe-Pause« bei Piper, München.
Copyright © der englischen Originalausgabe 2011 Claudia Carroll
Copyright © der deutschen Erstausgabe 2013 Piper Verlag GmbH, München
Copyright © der Neuausgabe 2025 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung zweier Motives von © darekb22 / jr-Art /Adobe Stock sowie mehrerer Bildmotive von © shutterstock
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (vh)
ISBN 978-3-98952-896-3
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Bei diesem Roman handelt es sich um ein rein fiktives Werk, das vor dem Hintergrund einer bestimmten Zeit spielt oder geschrieben wurde – und als solches Dokument seiner Zeit von uns ohne nachträgliche Eingriffe neu veröffentlicht wird. In diesem eBook begegnen Sie daher möglicherweise Begrifflichkeiten, Weltanschauungen und Verhaltensweisen, die wir heute als unzeitgemäß oder diskriminierend verstehen. Diese Fiktion spiegelt nicht automatisch die Überzeugungen des Verlags wider oder die heutige Überzeugung der Autorinnen und Autoren, da sich diese seit der Erstveröffentlichung verändert haben können. Es ist außerdem möglich, dass dieses eBook Themenschilderungen enthält, die als belastend oder triggernd empfunden werden können. Bei genaueren Fragen zum Inhalt wenden Sie sich bitte an [email protected].
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Claudia Carroll
Irisches Wiedersehen
Irland-Roman
Aus dem Englischen von Karin Dufner
dotbooks.
Widmung
Motto
Prolog
Kapitel eins
Kapitel zwei
Kapitel drei
Kapitel vier
Kapitel fünf
Kapitel sechs
Kapitel sieben
Kapitel acht
Kapitel neun
Kapitel zehn
Kapitel elf
Kapitel zwölf
Kapitel dreizehn
Kapitel vierzehn
Kapitel fünfzehn
Kapitel sechzehn
Kapitel siebzehn
Kapitel achtzehn
Kapitel neunzehn
Kapitel zwanzig
Kapitel einundzwanzig
Epilog
Anhang
Lesetipps
Für Frank Mackey, in Liebe.
Das hier ist dein Jahr, Frankie, vergiss das bloß nicht!
Das Leben ist nichts als ein prachtvolles Lied,
ein Mischmasch aus gar vielen Szenien.
In der Liebe niemals ein Unheil geschieht,
und ich bin Marie von Rumänien.
Dorothy Parker
Not So Deep as a Well (1937)
Der amerikanische Schriftsteller Henry David Thoreau hat einmal gesagt, die Mehrheit aller Menschen führe ein Leben in stiller Verzweiflung. Natürlich konnte er es damals noch nicht wissen, aber er hat offensichtlich mich gemeint.
Sich zu verlieben ist kinderleicht, jeder Idiot kriegt das hin. Nur mit dem Entlieben ist das so eine Sache.
Dazu braucht man Mut, Risikobereitschaft und eine gewisse Skrupellosigkeit, nicht nur im Umgang mit dem eigenen Herzen, sondern auch mit dem eines anderen Menschen. Dazu noch mit dem Herzen von jemandem, dessen schiere Existenz einem einst mehr bedeutet hat als das eigene Leben.
Und wenn Sie je mit dem Mann, mit dem Sie eigentlich bis ans Ende Ihrer Tage glücklich werden wollten, am Küchentisch gesessen und sich gefragt haben, warum Sie keine Schmetterlinge mehr im Bauch haben ... tja, dann können Sie sich vermutlich genau vorstellen, was ich derzeit durchmache.
Ich betrachte Dan schweigend über den Frühstückstisch hinweg, überlege, wann genau diese Kluft zwischen uns entstanden ist, und bekomme den Moment nicht zu fassen. Wann haben wir angefangen, »ich« statt »wir« zu sagen? Früher verstanden Dan und ich uns ohne Worte. Wir haben die Sätze des anderen beendet. Und einander das Essen weggegessen. Herrje, es gab sogar eine Zeit, in der wir ganz auf das Frühstück verzichteten und lieber eine weitere Stunde ineinander verschlungen im Bett verbrachten und uns bis zur Erschöpfung liebten.
Inzwischen bezweifle ich, dass er auch nur von seinem Sudoku in der Times aufblicken würde, wenn ich angezogen wäre wie Lady Gaga, ihm Telephone mit vollständigem Text vorsingen und dazu sämtliche Bewegungen aus dem Video nachmachen würde. Denn die traurige Wahrheit ist, dass unser gemeinsames Liebesleben nur noch eine ferne Erinnerung ist. Im Bett liegen wir nebeneinander wie zwei steinerne Figuren auf einem Sarkophag.
Das Problem in diesem Haus ist allerdings, dass es als positiv gewertet wird, einander aus dem Weg zu gehen. Als Zeichen von emotionaler Reife und Rücksicht. Wir beide wissen, dass wir uns durch ein Minenfeld bewegen, und zwar schon seit geraumer Zeit. Der Grundsatz lautet, dass eine Sache einfach wieder von selbst verschwindet, wenn man nicht darüber spricht.
Das Bedauerliche daran ist nur, dass ich befürchte, bald laut loszuschreien, wenn ich nicht endlich loswerden kann, was mir so durch den Kopf geht. Und das ist, dass mich der derzeitige Zustand unserer Ehe an das stete Piepsen eines Herzmonitors erinnert, der eine gerade Linie anzeigt.
Unsere Liebe ist klinisch tot.
Ich trinke einen Schluck Tee und blicke Dan an, ohne ihn wirklich zu sehen, während sich meine quälenden Gedanken überschlagen. Doch er ist so in seine Zeitung vertieft, dass er es nicht einmal bemerkt.
Offen gestanden, würden Sie schwören, dass wir eine Bilderbuchehe führen, wenn Sie von außen beobachten könnten, wie wir gemütlich schweigend frühstücken. Dan und Annie, Annie und Dan. Sogar unsere Namen passen gut zueinander. Wir sind jetzt schon fast die Hälfte unseres Lebens zusammen, was sich anhört, als wären wir eines dieser weißhaarigen Paare mittleren Alters mit Porzellanteint, die Werbung für Treppenlifte machen. Aber das stimmt nicht. Wir sind beide erst achtundzwanzig. Allerdings kann ich mich kaum noch an die Zeit erinnern, in der wir kein Paar waren.
Mit fünfzehn war er mein erster Freund, und ich war seine erste Freundin. Und nun, in einem Alter, in dem die meisten Freunde aus unserem alten Leben in der Stadt allmählich mit dem Gedanken spielen, zu heiraten und eine Familie zu gründen, haben Dan und ich uns nach all den Jahren nicht weiterentwickelt.
Dan greift nach einer weiteren Scheibe Toast. Als er meinen Blick auffängt, verzieht sich sein gebräuntes attraktives Gesicht besorgt.
»Alles in Ordnung, Liebling? «
Ich nicke, starre jedoch unverwandt auf das Aufbackbrötchen vor mir.
Es gibt so vieles, was ich ihm sagen müsste, und ich habe keine Ahnung, wo ich anfangen soll.
Ich möchte ihm erklären, dass ich genau weiß, wie der Tag ablaufen wird, obwohl er noch kaum angefangen hat. Er wird mehr oder weniger identisch mit dem gestrigen und dem vorgestrigen sein. Ich werde den Vormittag an einem Arbeitsplatz verbringen, der mir keine Freude macht und wo ich kaum etwas verdiene, nur damit ich aus dem Haus komme und, was das Wichtigste ist, beschäftigt bin. Denn beschäftigt zu sein ist immer gut. Beschäftigt zu sein bedeutet weniger Zeit zum Grübeln.
Auf dem Weg zur Arbeit werde ich vermutlich unserer Nachbarin Bridie McCoy begegnen, die mir in sämtlichen Einzelheiten das spannendste und dringendste aller Themen schildern wird – ihre Furunkel. So wie immer. Wenn ich die Buchhandlung am Ort betrete, wo ich eine Teilzeitstelle habe, wird meine Chefin mir im Scherz dieselbe Frage stellen wie jeden Tag. Wann genau soll es denn losgehen mit der Familiengründung? Immerhin bin ich knapp dreißig und mit Dan von der Stadt in das große Landhaus seiner Eltern gezogen. Und ich werde so reagieren wie sonst auch, nämlich indem ich geschickt das Thema wechsle und mich erkundige, ob sie heute Morgen lieber Jaffa Cakes oder HobNobs zu ihrem Tee möchte. Das klappt jedes Mal.
Wenn ich nach Hause komme, werde ich schon von Dans Mutter erwartet, die einen eigenen Haustürschlüssel hat. Sie wird sämtliche Zimmer kontrolliert haben und mir einen Vortrag darüber halten, dass der gute Tisch im Esszimmer täglich poliert werden müsse. Alternativ könnte eine Predigt über das korrekte Reinigen des Küchenherdes auf dem Programm stehen. Ich werde lächelnd die Zähne zusammenbeißen und mir vor Augen halten, dass The Moorings eigentlich ihr Haus und nicht meines ist, weshalb sie ein Recht darauf hat.
Später am Nachmittag erscheint dann Lisa Ledbetter, begleitet von einem Soundtrack aus Donnergrollen und einem schrillen in eine Orgel gedroschenen Mollakkord in meinem Kopf. Sie kommt ins Haus gestürmt und tut dasselbe wie immer, nämlich am Küchentisch Kaffee trinken und dabei über die Arbeitslosigkeit ihres Mannes jammern. So, als hätte er diesen Zustand absichtlich und nur um sie zu ärgern provoziert. Übrigens ist Lisa hier im Ort aufgewachsen und eine alte Sandkastenfreundin von Dan. Wir sind gleichaltrig, und es herrscht die allgemeine Auffassung, dass wir beide die besten Freundinnen sind.
Doch lassen Sie mich diesen Eindruck sofort berichtigen und feststellen, dass jegliche Freundschaft zwischen uns nichts weiter als ein absoluter Mythos ist. Denn Lisa vereint, wie Sie wissen sollten, interessanterweise Bedürftigkeit, Hilflosigkeit und Anspruchsdenken in einer Person, gehört also zu den Leuten, die sich nicht sträuben, wenn ihre Mitmenschen ihnen die ganze Arbeit abnehmen. Babysitten, das Zubereiten von Mahlzeiten für sie und ihre Kinder, Sie können es sich sicher denken. Hin und wieder bittet sie Dan um Geld, um ihre Rechnungen zu bezahlen, auch etwas, wobei sie nicht die geringsten Skrupel hat.
Also sitze ich da, lausche voller Mitgefühl und nicke wie immer an den geeigneten Stellen mit dem Kopf. Währenddessen konzentriere ich mich darauf, mich nicht von ihr aussaugen zu lassen, wie sie es immer tut.
Später schneit Jules, Dans flatterhafte jüngere Schwester, herein, plündert den Kühlschrank und errichtet sich dann vor dem Fernseher mit Bier, Nachos und den Resten von gestern Abend ein kleines Cockpit. Sie hat gerade das College abgebrochen und scheint nicht sonderlich darauf zu brennen, sich eine andere Beschäftigung zu suchen. Arbeit zum Beispiel, Gott behüte. Jetzt hat sie nämlich alle Zeit der Welt, in unserem Wohnzimmer herumzulungern und pausenlos Seifenopern zu glotzen. Sie benimmt sich wie eine Untermieterin, nur dass sie keine Miete bezahlt.
Verstehen Sie mich nicht falsch, das ist für mich eigentlich der schönste Teil des Tages, hauptsächlich deshalb, weil ich Jules mag. Von allen hier habe ich sie wirklich am liebsten, denn sie ist temperamentvoll, schlagfertig und hat Humor.
Inzwischen wissen Sie sicher, worauf ich hinauswill. Dans Familie und Freunde kommen und gehen, wie es ihnen passt.
Das sind eben offenbar die Freuden des Kleinstadtlebens. Und hier in dem winzigen, im County Waterford gelegenen Bilderbuchdorf namens Stickens (es heißt wirklich so, schlagen Sie es doch nach, wenn Sie mir nicht glauben ...) ist Privatsphäre im wahrsten Sinne ein Fremdwort. Wirklich, wenn ich morgens beim Verlassen des Hauses auch nur niese, haben bis mittags mindestens drei wohlmeinende Nachbarn angerufen, um sich nach meiner Grippe zu erkundigen.
In Stickens gibt es keine Geheimnisse.
Man muss Dan der Fairness halber zugestehen, dass er hier aufgewachsen ist, daher Hinz und Kunz kennt und die Banalitäten des Dorfalltags genießt. Übrigens ist er der Tierarzt hier am Ort. So wie sein Vater vor ihm und davor dessen Vater. Bei Dan ist es Berufung. Er liebt seinen Job abgöttisch und gehört zu den Menschen, die sich keine Sekunde lang vorstellen können, dass es Leute gibt, denen es anders geht.
Doch als sein Dad vor gut drei Jahren starb ... nun, da nahm die Katastrophe ihren Lauf. Mein Mann erbte die baufällige alte Familienvilla, die auch die Praxis beherbergt und für seine Mutter allein viel zu groß und mit zu viel Arbeit verbunden war. Deshalb haben Jules und sie eine kleinere Wohnung im Dorf bezogen, was hieß, dass uns nichts anderes übrigblieb, als unser schönes, glückliches Leben in Dublin aufzugeben und uns in Dans Elternhaus niederzulassen. Es war nicht nur die richtige Entscheidung, sondern die einzige Alternative.
Die Sache mit Dan ist nämlich, dass er offiziell den Titel Nettester Mann der Welt innehat. Das sagen alle. Es dauert zwar ein wenig, bis man seine Zuneigung gewinnt, wenn man es allerdings erst einmal geschafft hat, bleibt sie einem ein Leben lang erhalten. Nach dem Tod seines Vaters wollte er unbedingt so nah wie möglich bei seiner Mutter und seiner Schwester sein, die er übrigens beide weiterhin finanziell unterstützt. Er ist so etwas wie ein Ein-Mann-Wohlfahrtsstaat.
Aber so ist Dan eben; er ist glücklich, wenn er anderen helfen kann.
Wir kriegen das hin, habe ich damals aufmunternd zu ihm gemeint, obwohl das bedeutete, dass ich meine Schauspielerkarriere auf Eis legte, als wir unsere Freiheit in der Stadt aufgaben und den Umzug vorbereiteten. Klar, solange wir zusammen sind, können wir alles meistern, beteuerte ich. Und wenn ich ein Rollenangebot bekomme, pendle ich eben nach Dublin.
Denn unsere Ehe ist das Wichtigste. Oder?
Doch wie bereits gesagt, sind seitdem gut drei Jahre vergangen. Inzwischen haben sich die Eckpunkte verschoben. Und zwar sehr. Erstens hat es sich als um einiges umständlicher entpuppt als erwartet, nach Dublin und wieder zurück zu fahren, sobald sich auch nur die Chance auf eine Rolle ergibt. Und so beschäftige ich mich eben anderweitig. Mittlerweile habe ich fast alles durch, was in Stickens jobmäßig geboten ist. Hin und wieder ein Schauspielkurs für die Schulkinder hier am Ort. Eine Teilzeitstelle im Blumengeschäft. Ich habe alles ausprobiert.
Tatsache jedoch ist, dass ich nur auf der Stelle getreten habe, anstatt das zu tun, was ich wirklich will. Im Grunde meines Herzens war mir schon immer klar, dass ich, wenn ich wirklich als Schauspielerin arbeiten möchte, in der Stadt wohnen muss, wo es Rollenangebote gibt. Ganz zu schweigen von all meinen alten Freunden. Natürlich halten wir per SMS, Telefon und E-Mail-Kontakt, und Skype ist inzwischen aus meinem Leben nicht mehr wegzudenken. Aber das ist nicht dasselbe, wie jemanden ständig zu sehen, oder?
Dauernd flehe ich meine alten Freunde an, mich zu besuchen. Wenigstens übers Wochenende. Und der Fairness halber muss ich sagen, dass die meisten der Einladung einmal gefolgt sind. Das Problem in Stickens ist nur, dass abends nicht unbedingt viel geboten ist. Außer einigen Pubs, in denen die Gäste ein Durchschnittsalter von achtzig haben, kann man nirgendwo hingehen.
Vergessen Sie nicht, dass wir hier von einem winzigen Dorf sprechen, wo ein Spar-Markt, Zeitungskioske und eine große Uhr mitten in der Main Street die Hauptsehenswürdigkeiten sind. Daher ist es nicht weiter verwunderlich, dass meine Dubliner Freunde mir nur selten und nur in größeren Abständen einen Besuch abstatten.
Aber es tut mir gut, Kontakt zu unserem alten Freundeskreis zu halten. Ich freue mich, wenn meine Freundinnen mir erzählen, was in der Stadt so los ist und wie wunderbar sich ihre Karrieren entwickeln. Am liebsten höre ich ihre Berichte direkt von der Singlefront. Selbst wenn ihre Romanzen nicht immer nach Plan laufen, mischen sie sich wenigstens unters Volk, amüsieren sich, verlieben sich, lassen sich das Herz brechen, rappeln sich wieder auf und werfen sich erneut ins Getümmel ... so wie es in unserem Alter eben normal ist.
Manchmal habe ich das Gefühl, dass sie mich als frühzeitig gealterte Hausfrau in geblümter Küchenschürze mit passenden Tischdecken sehen. »Aber du bist doch verheiratet!«, rufen sie aus. »Warum sitzt du nicht zu Hause und wirst dick?«
Am liebsten würde ich ihnen die Wahrheit sagen, nämlich dass ich eigentlich nur geheiratet habe, weil ich mit jemandem alt werden wollte. Doch stattdessen lache ich nur und witzle, eine jungfräuliche viktorianische Braut in einer arrangierten Ehe hätte vermutlich mehr von der Welt gesehen als ich, bevor ich vor den Traualtar trat. Dann ziehen mich alle auf und erinnern mich daran, was für ein Glückspilz ich bin. Schließlich hätte ich nicht nur einen tollen Typen geheiratet, sondern den allertollsten Typen von allen, oder?
Das Herzzerreißendste daran ist, dass es stimmt – das habe ich wirklich.
Die Sache ist nur, dass man immer denkt, die anderen hätten es besser getroffen als man selbst.
Oft denke ich, dass Dan hier ein viel leichteres Leben hat als ich. Schließlich ist er von seiner Familie und seinen Freunden umgeben, die er von Kindesbeinen an kennt. Manche Menschen führen ein Leben, das bis ins letzte Detail für sie vorausgeplant wurde. Bei Dan trifft das zu, und er ist damit völlig zufrieden. Aber wenn ich ehrlich bin, fällt mir nach drei langen Jahren hier die Decke auf den Kopf.
Trotz meiner übermenschlichen Anstrengungen, dazuzugehören und eine gute Ehefrau und eine halbwegs annehmbare Schwiegertochter und Schwägerin zu sein ... schwöre ich, dass ich an manchen Tagen das Gefühl habe zu ersticken. Dann glaube ich, keine Luft mehr zu kriegen.
Und was noch schlimmer ist: Ich werde sterben, ohne das Leben gelebt zu haben, das ich mir erträumt habe.
Allein das Klappern, wenn Dan die Kaffeetasse auf die Untertasse stellt, genügt beinahe, dass ich zu schreien anfange.
Obwohl ich über so vieles mit ihm sprechen muss, sitzen wir nur schweigend da. Wie ein altes Ehepaar, das sich schon seit Jahren nichts mehr zu sagen hat.
Und plötzlich kommt mir ein anderer äußerst unangenehmer Gedanke: Werden wir in zwanzig Jahren auch so weit sein? Denn wie ich es sehe, sind wir genau auf dem richtigen Weg dorthin. Da er rund um die Uhr arbeitet, haben gemeinsame Mahlzeiten Seltenheitswert. Und weil seine Familienmitglieder dieses Haus noch immer als ihres betrachten und hereingeplatzt kommen, wann es ihnen gefällt, haben wir kaum Gelegenheit, miteinander allein zu sein. Ganz zu schweigen von seinen Mitarbeitern, die unser Haus als eine Mischung von rund um die Uhr geöffneter kostenloser Kantine und Hotel nutzen. Und nun vergeuden wir diese kostbare Gelegenheit, endlich einmal zu reden, damit, dass er mit seiner verdammten Zeitung raschelt und ich finster ins Leere starre ...
Dan hebt den Kopf und fängt wieder meinen Blick auf. Ein winziger Hoffnungsschimmer. Vielleicht ist unsere Liebe ja doch noch zu retten ...
»Annie?«
»Ja?«
Los, Dan, mach schon ... komm mir ein Stückchen entgegen.
»Denk doch bitte daran, die Antipilzsalbe gegen die Scherpilzflechte der Katze abzuholen.«
Ich fasse es nicht.
Unglaublich. Einfach unglaublich.
Als ich nicht antworte, legt er die Zeitung beiseite und sieht mich einen Augenblick lang wirklich an.
»Alles in Ordnung?«, fragt er besorgt.
Und ich Feigling mache einen Rückzieher.
Ich zaubere ein höfliches gefrorenes Lächeln auf mein Gesicht und schaffe es sogar, dass es meine Augen erreicht.
»Alles bestens.«
Aber das ist gelogen.
Gar nichts ist bestens.
Winter
Gut, zwei Dinge sollten Sie über mich wissen. Erstens bin ich nicht der Mensch, der aus einer Laune heraus seine gesamte Zukunft aufs Spiel setzt. Und zweitens habe ich durch das Leben in Stickens eines gelernt: Je mehr man die eigenen Erwartungen herunterschraubt, umso geringer ist die Wahrscheinlichkeit, enttäuscht zu werden. Und vor allem darf man niemals, ich wiederhole, niemals damit rechnen, dass hier in der Provinz ein Wunder geschieht.
Man kann sich also vorstellen, dass es mich erschreckt wie ein Blitz aus heiterem Himmel, als um halb zwölf Uhr vormittags mein Mobiltelefon unablässig zu läuten beginnt.
Ich stehe im staubigen Hinterzimmer der Buchhandlung auf einer Leiter und räume Ausgaben einer neuen, sehr angesagten Serie für junge Erwachsene ins Regal, die hoffentlich den dringend benötigten Weihnachtsumsatz ankurbeln wird. Denn wenn man bedenkt, dass es bis dahin nur noch ein paar Wochen sind, laufen die Geschäfte erschreckend schlecht. Heute Morgen hat mir Agnes Quinn, die Inhaberin, mitgeteilt, es tue ihr zwar sehr leid, aber sie glaube nicht, dass sie mich nach den Feiertagen weiterbeschäftigen könne.
Natürlich sei das nicht ihre Schuld, wie sie mir ausführlich erklärte. Den Leuten sitze der Geldbeutel eben nicht mehr so locker wie früher ... heute bestellten immer mehr Kunden ihre Bücher im Internet ... Amazon schnüre ihr die Luft ab ... die Mieten seien zu hoch ... die Rezession sei noch nicht ganz überstanden ... bla, bla, bla ...
Ich kenne diese Geschichte nur allzu gut und habe Verständnis für Agnes. Kopf hoch, sage ich aufmunternd. Sehen Sie doch einmal die positive Seite. Ja, die Geschäfte laufen nicht sehr gut, meine ich freundlich zu ihr. Aber überlegen Sie mal. Nun haben Sie wenigstens Zeit, an Ihrem Buch weiterzuschreiben. Ihre Pausbäckchen röten sich wie immer, wenn man sie an ihr noch immer unvollendetes Opus erinnert. Übrigens ist es ein Kochbuch. Agnes hat sich die letzten drei Jahre durch die Kochrezepte ihrer Großmutter gearbeitet und will sie veröffentlichen.
»Die Stelle hier wird Ihnen sicher nicht fehlen, Annie, mein Kind.« Sie steht an der Kasse und zwinkert mir wissend zu. »Jetzt haben Sie viel mehr Zeit, um sich in The Moorings Ihrer Verwandtschaft zu widmen, richtig?«
Ich reagiere so wie immer – lächelnd und schweigend.
Dann reißt sie einen Pappkarton auf, der gerade geliefert wurde, und seufzt enttäuscht auf. »Oh, schauen Sie nur, noch mehr Bücher.« Sie klingt, als hätte sie Petunien erwartet.
In diesem Moment spüre ich, wie mein Mobiltelefon in der Tasche vibriert. Ich achte nicht darauf, sondern räume weiter Regale ein. Sicher ist es Audrey, meine Schwiegermutter, die mich von meinem Haus aus anruft, um mir mit ihrer brüchigen, dünnen Kleinmädchenstimme etwas vorzujammern, wie sie es jeden Tag tut. Und dabei weiß sie sehr wohl, dass ich in der Arbeit keine Privatgespräche annehmen darf.
Gut, es gibt drei mögliche Gründe für ihren Anruf: a) Sie möchte mich auf ihre bewährte passiv-aggressive Methode zur Schnecke machen, weil ich noch immer keinen Weihnachtsbaum aufgestellt habe, b) Sie hat wieder einen kleinen Anfall von »Unwohlsein«, weshalb ich dringend sofort nach Hause kommen muss, obwohl ich arbeite. Es ist ja nicht so, dass sie nicht selbst eine Tochter hätte, die ihr rund um die Uhr zur Verfügung steht, weil sie arbeitslos ist, weshalb sie viel mehr Zeit hat als ich. Und trotzdem ruft sie immer mich an, als sei ich eine Art Nikotinpflaster für ihre Nerven.
Die schlimmste Möglichkeit wäre natürlich c). Wenn Audrey die Anlässe ausgehen, mir Schuldgefühle zu machen, sie aber trotzdem das Bedürfnis hat, sich an mir abzureagieren, durchsucht sie in meiner Abwesenheit das ganze Haus und beschuldigt mich dann, ich hätte angeblich hinter ihrem Rücken etwas verändert. Ein paar verrutschte Möbel oder umgestelltes Porzellan auf der Küchenanrichte fallen übrigens bereits in diese Kategorie. Und wenn ich versuche, besagte Veränderung abzustreiten, schüttelt sie ihr liebstes Beschwerdethema aus dem Ärmel, nämlich dass ich die Frechheit hatte, die geblümte Tapete von den Schlafzimmerwänden zu entfernen und selbige stattdessen cremefarben zu streichen. Das ist nicht gelogen. Als ich sie damals nach oben führte, um ihr in meiner frisch verheirateten Unschuld stolz mein Werk zu präsentieren, ist die gute Frau beinahe geplatzt. Der Hausarzt musste kommen und ihr ein Beruhigungsmittel verabreichen. Bis heute reibt sie mir dieses Schwerverbrechen unter die Nase.
Das war, nebenbei bemerkt, der einzige Eingriff in die Gestaltung des Hauses, den ich seit dem Umzug vorgenommen habe. Der erste und auch der letzte. Wie konnte ich nur auf den Gedanken kommen, so kaltherzig zu sein? Nie werde ich vergessen, wie Audrey wimmernd und einer Ohnmacht nah auf dem Sofa lag und mich anklagend ansah. Ich hätte nicht nur die Atmosphäre des Raumes völlig zerstört, schniefte sie, sondern wisse auch nicht zu schätzen, dass diese Tapete bereits bei ihrem Einzug als junge Braut da gewesen sei.
Oh, ... vermutlich irgendwann im frühen achtzehnten Jahrhundert.
The Moorings ist, wie ich hinzufügen muss, eine riesige angejahrte Villa mit acht Zimmern. Gnadenlos viktorianisch und von einer abweisenden Mauer aus Granit umgeben. Für so ein Haus würde jemand, der einen Drehort für einen Agatha-Christie-Film mit Hercule Poirot sucht, einen Mord begehen. Die Innenausstattung lässt sich am besten mit »frühe Thatcher-Jahre« beschreiben. Ein wahrer Jammer, denn mit ein wenig Arbeitseinsatz könnte ich wirklich etwas aus dem Haus machen, wenn man mich denn ließe. An The Moorings ist alles intakt und genau so, wie es sein sollte: die Gewölbe, das Mauerwerk und die beeindruckenden fünf Meter hohen verputzten Decken. Allerdings legt sich der altmodische, längst überholte Geschmack eines anderen Menschen darüber wie eine Decke. Folglich fühle ich mich in meinem eigenen Zuhause wie ein Gast.
Das Problem ist, dass Audrey sich seit dem Tod von Dans Vater Königin Viktoria zum Beispiel nimmt und alles in dem Zustand belassen will, in dem es zu seinen Lebzeiten war – es ist ein bewohntes Mausoleum. Trauernde Menschen tun manchmal merkwürdige Dinge, meinte Dan nach dem Tapetendebakel verständnisvoll zu mir, worauf ich mich wortreich entschuldigte und feierlich schwor, niemals etwas zu tun, das eine Wiederholung dieser Szene hervorrufen könnte. Mir bleibe nichts anderes übrig, als mir auf die Zunge zu beißen und Audrey zu unterstützen, solange sie das brauche. Wir müssten Geduld mit ihr haben, sagte Dan zu mir. Gemeinsam könnten wir ihr helfen, darüber hinwegzukommen.
Natürlich war das etwa um die Zeit, als er anfing, sich zu verdrücken, um fünfzehn Stunden am Tag zu arbeiten. Er kommunizierte nur noch per Post-Its an der Kühlschranktür mit mir, auf denen stand, ich müsse nicht aufbleiben, um auf ihn zu warten, da es spät werden könne. Selbstverständlich besuchte Jules damals noch das College, weshalb man ihr nicht zumuten konnte, auch nur einen Finger krumm zu machen.
Was hieß, dass es ganz allein an mir hängen blieb, mich mit Audrey herumzuschlagen.
Versuchen Sie mal, in einem Mausoleum zu leben, mit einer Schwiegermutter, die es noch immer für ihr Zuhause hält, und einem Mann, der nie da ist. Und der, wenn doch, kaum mit einem spricht.
Los, ich möchte Sie mal in dieser Lage erleben.
Nun wieder zurück zur Buchhandlung, wo mein Mobiltelefon immer weiter läutet und ich es standhaft ignoriere, wobei ich mich zum wohl tausendsten Mal frage, ob Audrey überhaupt eine Vorstellung von angemessenem Verhalten am Arbeitsplatz hat. Man kann keine Telefonate annehmen, wenn man arbeiten muss. Allerdings ist genau das der springende Punkt; für sie gilt das, was ich tue, nicht als »Arbeit«. In ihren Augen ist es ein richtiger, anständiger Beruf, wenn man Tierarzt ist wie Dan, während ich nur ein bisschen jobbe. Nur für den Fall, Gott behüte, dass ich mir etwas darauf einbilden sollte.
Gegen Mittag ist so wenig los, dass die arme, besorgte alte Agnes mir sagt, ich könne für heute Schluss machen.
Um kurz vor eins habe ich wieder Gelegenheit, die Nachrichten auf meinem Telefon abzufragen.
Zu meiner Überraschung ist keine einzige von Audrey.
Angezeigt ist hingegen eine Dubliner Nummer, die ich schon seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr am Apparat hatte. Eine gewisse Hilary Williams. Auch bekannt als ... dramatischer Trommelwirbel ... meine Agentin.
Okay, hier eine Kurzbeschreibung von Hilary: Erstens war sie gar nicht begeistert über meine Entscheidung, nach Stickens zu ziehen. Sie ist über sechzig, eine Altachtundsechzigerin und Feministin. Bei der bloßen Vorstellung, dass ich meine beginnende Theaterkarriere opferte und, Gott bewahre, tatsächlich meiner Ehe den Vorzug gab, hätte sie sich beinahe in ein abgedunkeltes Zimmer gelegt, ein paar Tabletten genommen und Delfinmusik aufgelegt.
Außerdem qualmt sie am Tag mindestens sechzig Zigaretten. Sie ist der einzige Mensch, den ich kenne, der tatsächlich Demonstrationen gegen das Rauchverbot organisiert hat. Alle ihre Klienten wissen, dass man sich nur mit mindestens zwei Päckchen unter dem Arm in ihr Büro wagen darf.
Deshalb klingt ihre Stimme normalerweise dunkel, kehlig und rau, ja fast ein wenig wie die eines Mannes, aber ... nicht heute. Sie hat mir vier Nachrichten hinterlassen, und zwar in einem Tonfall, der dazu geeignet ist, Menschen aus dem Schlaf zu reißen.
»Mein Gott, Annie, warum rufst du mich nicht zurück? Kannst du dich gnädigerweise bei mir melden? Und zwar ... jetzt?«
Ich höre die Nachricht ab, rufe sie sofort zurück ... und springe auf der Stelle ins Auto.
Und dann mache ich mich in blitzartiger Geschwindigkeit auf die lange, lange Fahrt nach Dublin.
Wenn man sich ans Tempolimit hält, braucht man von Stickens nach Dublin gute drei Stunden, und glauben Sie mir, es ist keine Strecke für zaghafte Menschen. Den Großteil kann man zwar auf der Schnellstraße zurücklegen, doch zuerst muss man mehr als fünfundsiebzig Kilometer auf schmalen, kurvigen Landstraßen hinter sich bringen. Jedenfalls schaffe ich es, aufgepeitscht vom Adrenalin, a) ein Höllentempo vorzulegen, b) nicht von der Polizei erwischt zu werden und c) meinen eigenen Rekord zu brechen, indem ich, das Gaspedal durchgetreten und mit wild klopfendem Herzen, die Stadt in knapp zweieinhalb Stunden erreiche.
Am späten Nachmittag komme ich in Dublin an, entgehe dem schlimmsten Berufsverkehr und ergattere auf wundersame Weise einen Parkplatz in einem rund um die Uhr geöffneten Parkhaus, direkt in der Innenstadt und ganz in der Nähe von Hilarys Büro. Obwohl ich völlig durchgeschwitzt bin und kurz vor einem Herzinfarkt stehe, erinnere ich mich zu meinem eigenen Erstaunen sogar daran, die obligatorischen Marlboro Lights für sie zu besorgen.
»Annie, beweg deinen Arsch hierher und setz dich!«, lautet ihre Begrüßung. Das mag ein wenig unfreundlich klingen, muss bei Hilary allerdings eher als Liebesbeweis gewertet werden. Ich gehorche, trete ein und überreiche ihr, während wir einen Luftkuss austauschen, brav die Zigaretten.
Es ist über drei Jahre her, dass ich das letzte Mal einen Fuß in dieses Büro gesetzt habe. Seit unserem letzten Telefonat ist mindestens ein Jahr vergangen. Daher empfinde ich es als beruhigend, dass sich hier zum Glück kaum etwas verändert hat, obwohl ich so lange aus dem Verkehr gezogen war. Hilary hat noch immer dieselbe graue Igelfrisur, dieselben grauen Hosenanzüge, dieselbe dazupassende graue Hautfarbe. Dieselbe scharfe Zunge und dieselbe Reizbarkeit. Oh, und sie raucht noch immer Kette, als ernähre sie sich von den Dingern.
Ach, und noch etwas, bei ihr gibt es niemals Small Talk. Zeit ist Geld, weshalb sie immer sofort auf den Punkt kommt. Sie lässt sich hinter ihrem Schreibtisch nieder, wirft ein dickes Skript vor mich hin und beugt sich dann vor, um mich gründlich unter die Lupe zu nehmen.
»Sehr gut.« Mit einem Nicken mustert sie mich so prüfend wie ein Schönheitschirurg, während sie sich eine Zigarette anzündet.
»Äh ... Verzeihung, Hilary ... was ist sehr gut?«
»Du siehst noch genauso aus wie auf der Porträtaufnahme in deinem Lebenslauf. Das Einsiedlerleben auf dem Lande hat dich optisch kaum verändert. Wenigstens etwas.«
Ich kann aus dieser Bemerkung nur schließen, dass sie befürchtet hat, ich könnte in schlammigen Gummistiefeln, mit Stroh in den Haaren und einer Mistgabel in der Hand in ihrem Büro erscheinen. Obwohl das normalerweise der Wahrheit ziemlich nah kommt (Stickens ist nicht unbedingt Paris während der Modewoche), habe ich heute nicht die üblichen Jeans mit Wollpullover an, sondern mein bestes Buchhändlerinnenoutfit: einen warmen Wollmantel, ein Wickelkleid und einigermaßen ordentliche Stiefel ohne Schlammspritzer.
»Nein«, brummt sie. »Du siehst noch immer aus wie die Annie Cole von früher. Was eine gute Nachricht ist. Weil wir genau das brauchen.«
Die Wände ihres Büros sind mit Schwarz-Weiß-Fotos all ihrer Klienten bedeckt, und ich kann mein eigenes durch die Rauchschwaden erkennen. Es ist vor über vier Jahren entstanden, doch außer ein paar Falten und einigen überzähligen Pfunden ... nein, sehr verändert habe ich mich nicht. Dieselbe dunkle Haut, dasselbe lange, dunkle, in der Mitte gescheitelte und störrische Haar. Um es zu glätten, braucht man so viel Haarspray, dass die Ozonschicht aufschreit. Also alles genauso wie früher.
Komisch, aber der Anblick meines Fotos erinnert mich immer daran, wie sehr Dan und ich uns ähneln. Wir haben die gleiche Augenfarbe, Dunkelbraun, und beinahe könnten wir als Bruder und Schwester durchgehen. Oder wie Jules es so zartfühlend ausdrückt: Ich sehe aus wie er in Frauenklamotten.
Autsch.
»Okay, jetzt zum Geschäftlichen«, beginnt Hilary, beugt sich vor und legt die Zigarette am Rand eines Aschenbechers ab. »Die Arbeiten von Jack Gordon sind dir doch sicher ein Begriff. «
»Du meinst den Jack Gordon? Willst du mich auf den Arm nehmen? Ja, klar, natürlich sind mir die ein Begriff. Ich bewundere ihn«, platze ich heraus und frage mich, was das wohl werden wird.
Jack Gordon ist übrigens einer der jüngsten und angesagtesten Theaterregisseure in der Stadt und unbeschreiblich erfolgreich. Das ist kein Scherz. Schauspieler würden ihr letztes Hemd hergeben, nur um bei ihm vorsprechen zu dürfen, geschweige denn, um für ihn zu arbeiten. Seine Inszenierungen sind stets rasant, provokant und unweigerlich Stadtgespräch der Kulturbeflissenen. Kurz und gut, er ist der Alexander McQueen der Theaterwelt.
»Dann lies das«, sagt Hilary und wirft mir ein gebundenes Manuskript zu.
Ich werfe einen Blick auf den Titel. Hochzeitsglocken. Von einem Dramatiker, dessen Name mir nicht vertraut ist.
»Es ist eine Mischung aus Komödie und Drama und wird sicher ein großer Erfolg«, fährt Hilary fort. »Die Handlung spielt in einem Wellnesshotel, wo eine Gruppe von Frauen verschiedenen Alters, aber alle aus derselben Familie, ein Wochenende lang einen Junggesellinnenabschied feiern, weil die eine von ihnen heiraten wird. Die Premiere fand im Oktober im National Theatre im Rahmen des Theaterfestivals statt, und die Vorstellungen sind noch immer ausverkauft.«
Allmählich klingelt bei mir etwas.
»Ja, richtig ... ich habe die Kritiken in der Zeitung gelesen«, erwidere ich aufgeregt, greife nach dem Manuskript und blättere darin herum.
Hilary zieht die Augenbrauen hoch, als könne sie es nicht fassen, dass wir in Stickens tatsächlich Zeitungen kaufen, anstatt per Brieftaube mit der Außenwelt zu kommunizieren. Doch das kümmert mich nicht, da ich inzwischen aufgeregt auf der Stuhlkante sitze und mich frage, was all das nur mit mir und meiner beschaulichen Welt zu tun haben mag. Das Stück läuft bereits, weshalb ich wohl kaum dafür vorsprechen kann, oder? Wäre ich da nicht ein paar Monate zu spät dran?
»Heute Abend um Punkt halb acht hebt sich der Vorhang. Ich habe bereits einen Platz für dich ergattert und möchte, dass du erscheinst«, spricht Hilary weiter und zieht so heftig an ihrer Zigarette, dass sich der Rauch fast aus ihren Zehen kräuselt. »Dann kannst du wieder zurück in die Prärie ...« Ich lasse ihr diesen Kommentar aus diplomatischen Gründen durchgehen. »... wo du die restliche Nacht damit verbringen wirst, das Manuskript zu lesen, als ob es um dein Leben ginge. Dann, morgen Nachmittag.«
»Aber, Hilary, ich verstehe nicht ganz ... das ergibt doch keinen Sinn. Die Rollen sind bereits besetzt, das Stück läuft ...«
»Wenn du mich vielleicht ausreden lassen würdest. Ich wollte dir soeben erklären, dass eine der Darstellerinnen gerade gekündigt hat. Sie ist schwanger und wird sehr bald aus der Produktion aussteigen. Offenbar ist sie schon im vierten Monat, und die Schwangerschaft lässt sich leider nicht mehr leugnen. Außerdem wirst du, wenn du das Stück liest, feststellen, dass die Rolle körperlich ziemlich anspruchsvoll ist, weshalb ihre Ärzte ihr geraten haben, so schnell wie möglich aufzuhören. Natürlich wegen der Gesundheit und Sicherheit des Babys.«
»Schwanger?«, wiederhole ich verdattert.
»Und jetzt kommst du ins Spiel. Jack Gordon hat sich daran erinnert, dich vor vielen Jahren in Die zwölfte Nacht gesehen zu haben. Das war natürlich, bevor du beschlossen hast, in Frührente zu gehen.«
Wieder beiße ich mir auf die Zunge und gehe nicht darauf ein. Im Moment bin ich viel zu aufgeregt, um mir die Mühe zu machen, mein Leben zu verteidigen.
»... und er glaubt, dass du dich vielleicht für die Rolle eignest ...«
»Das hat er tatsächlich gesagt?« Meine Stimme überschlägt sich fast, so sehr erstaunt es mich, dass sich der große Jack Gordon überhaupt noch an mich erinnert.
»Wenn du vielleicht einmal zwei Sekunden am Stück den Mund halten könntest, hätte ich die Möglichkeit, die wirklich gute Nachricht loszuwerden. Jack lässt diese Woche nur drei Schauspielerinnen für die Rolle vorsprechen. Und du, mein Kind, bist eine der drei Glücklichen.«
Zum ersten Mal seit meiner Ankunft stehe ich so unter Schock, dass ich keinen Ton mehr herauskriege.
Ich verlasse Hilarys Büro und schaffe es irgendwie, mich in einen Starbucks zu schleppen, wo ich mir eine stille Ecke suche und verzweifelt versuche, mich zu beruhigen. Allerdings klopft mein Herz so heftig, dass ich schon befürchte, in eine Papiertüte atmen zu müssen. Nachdem ich mir einen Becher Kaffee geholt habe, fange ich mit zitternden Händen an, das Manuskript zu lesen, obwohl ich alles nur verschwommen sehe. Ich bin ja so nervös.
Das Stück ist übrigens nicht nur ausgezeichnet, sondern der absolute Knaller. Es ist heutzutage für Frauen schwer, eine halbwegs anständige Rolle zu finden. Und dieses Stück ist ein Traum. Eine ausschließlich weibliche Besetzung von einer Jugendlichen bis zu einer Frau Mitte fünfzig. Und die Rolle, für die ich vorgesehen bin, ist die zukünftige Braut, vierundzwanzig, genau dasselbe lächerlich jugendliche Alter, in dem ich selbst geheiratet habe.
Es ist nicht nur so dahingesagt, dass es wirklich meine Traumrolle wäre. Sie hat einfach alles. Höhen, Tiefen, Spannung, Gefühlsausbrüche und eine Wendung, auf die man niemals im Leben gekommen wäre. Das Stück lullt einen mit einem falschen Sicherheitsgefühl ein ... und verpasst einem dann einen Schlag in die Magengrube. Es beginnt als Farce und endet als Tragödie.
Also meiner eigenen Ehe gar nicht so unähnlich, wenn man es sich genauer überlegt.
So sehr bin ich in die Lektüre versunken, dass es kurz nach sieben ist, ehe ich mich’s versehe. Also haste ich zum National Theatre, das zum Glück mitten in der Stadt, also nur einen kurzen Dauerlauf entfernt, ist. Unterwegs rufe ich Dan an, obwohl ich natürlich weiß, dass ich nur die Mailbox erreichen werde, weil er noch Hausbesuche auf den Farmen macht.
Also hinterlasse ich ihm eine chaotische Nachricht, erkläre ihm, was passiert ist, und verspreche, gleich nach der Vorstellung brav nach Hause zu kommen. Die ganze Geschichte kann sicher warten, bis wir Gelegenheit haben, miteinander zu reden. Und zwar persönlich. Natürlich habe ich inzwischen drei verpasste Anrufe von Audrey, die sich fragt, was wohl aus mir geworden sein mag, wo ich bin, ob mir klar sei, dass heute ihre Rente ausgezahlt wird, weshalb ich sie zum Postamt fahren muss? Doch ich rufe sie nicht zurück und beschließe, die Schuldgefühle auf morgen zu verschieben.
Ich schwöre bei Gott, allein schon ein Theater zu betreten versetzt mich in Hochstimmung. So, als bekäme die kleine Schauspielerin, die nun schon seit Jahren in mir vor sich hin stirbt, plötzlich einen Adrenalinstoß bis ins Mark. Ich bin schon oft am National Theatre aufgetreten, und es ist ein unglaubliches Glücksgefühl, hier zu sein und alle wiederzusehen.
Tom, der knackige Empfangschef, kommt sofort auf mich zu, umarmt mich und begrüßt mich so herzlich, dass mir beinahe die Tränen in die Augen treten. Die Mädchen an der Kasse kreischen los, als ich den Kopf zur Tür hereinstecke, und sagen, es sei wie früher, dass ich wieder hier sei. Das Stück selbst ist eine Wucht. Zum Schreien komisch, strotzend von schwarzem Humor und gleichzeitig von einer solchen Durchschlagskraft, dass das Publikum, wenn ich mich umsehe, vollkommen gebannt ist, bis der Vorhang fällt. Das Ensemble muss sich erstaunliche drei Mal stehend Beifall spenden lassen, und ich bin mir sicher, dass ich die Letzte bin, die den Zuschauerraum verlässt. Am liebsten würde ich bleiben, die Atmosphäre in mich aufsaugen und die magische Stimmung aufrechterhalten, die uns alle umgibt.
Am besten ist, dass eine Freundin, die ich schon seit Jahren kenne, eine Schauspielerin namens Liz Shields, auch zum Ensemble gehört. Also schicke ich ihr eine SMS und teile ihr mit, ich sei hier und warte in der Bar auf sie, um Hallo zu sagen. Zehn Minuten später kommt sie aus ihrer Garderobe gelaufen, noch immer in Kriegsbemalung und mit den wallenden blonden Haarverlängerungen, allerdings in ihrem üblichen Rockerbrautoutfit, bestehend aus Jeans und Leder.
Das ist kein Scherz. Liz ruft so laut meinen Namen, dass sich das halbe Lokal umdreht, um das Spektakel zu genießen.
»Gütiger Himmel, Annie Cole, das gibt’s ja nicht! Komm und lass dich umarmen! Hast du überhaupt eine Ahnung, wie sehr ich dich vermisst habe?« Wir fallen uns kreischend um den Hals und küssen uns. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie toll es ist, sie wiederzusehen.
Liz und ich haben in grauer Vorzeit hier in Dublin zusammen die Schauspielschule besucht und uns auf Anhieb gut verstanden. Sie ist absolut wild und durchgedreht – und man kann mit ihr gut feiern.
Jedenfalls setzen wir uns an einen Tisch und bestellen einen Wodka für Liz und eine Cola für mich und erzählen uns erst mal, was in letzter Zeit alles so passiert ist. Dabei reden wir genauso chaotisch durcheinander wie früher und führen fünf Gespräche gleichzeitig.
»Und wie findest du das Stück?«, fragt sie aufgeregt. »Womit ich natürlich meine, wie du mich fandest? Los, lass hören. Und keine Beschönigungen bitte. Sei grausam und gemein.«
»Das ist nicht schwer, elf von zehn Punkten«, antworte ich kichernd. Ich genieße das Geplänkel. Bis jetzt war mir gar nicht klar, wie sehr ich das vermisst habe. Seit Menschengedenken habe ich nicht mehr so herzhaft gelacht.
»Verschon mich, elf von zehn Punkten klingt unehrlich.«
»Also gut, neun Komma neun von zehn, wenn du mir dann glaubst! Wirklich, Liz, weißt du überhaupt, wie toll du heute Abend warst? Echt, du würdest die Leute sogar begeistern, wenn du dich hinstellen und die Bauanleitung für ein Ikea-Sofa vorlesen würdest ... aber in einem so guten Theaterstück wie diesem? Du warst eine absolute Wucht! Das ist die reine Wahrheit, Schätzchen.«
Sie versetzt mir einen scherzhaften Klaps und ruft dann dem Barmann zu: »Wann kriegen wir endlich was zu trinken? In der nächsten Eiszeit?«
Liz, wie sie leibt und lebt. Ich umarme sie spontan und erzähle ihr dann den wahren Grund, warum ich heute ganz allein ins Theater gekommen bin. Wahrscheinlich kann man ihre Jubelrufe bis nach Stickens hören. Ich glaube tatsächlich, dass sie wegen des Vorsprechens noch aufgeregter ist als ich, wenn das möglich ist.
»Sag mal«, frage ich dann, »wie ist es denn so, mit dem großen Jack Gordon zusammenzuarbeiten?«
Liz denkt nach und lässt sich mit der Antwort Zeit.
»Jack ist ... schwer zu erklären ... Ich kenne ihn eigentlich nicht, obwohl ich ihn schon seit Jahren kenne. Er ist einfach ein Genie, aber auch ein Idiot, falls du verstehst, was ich meine. Nie ist der mit der Aufführung zufrieden, nicht einmal an Abenden, an denen wir dreimal rausmüssen, weil die Leute stehend applaudieren. Immer hat er etwas zu meckern.«
Bei diesen Worten krampft sich mir das Herz zusammen, und mir wird plötzlich flau im Magen, weil ich ihm morgen vorsprechen muss.
»Oh, und er hat etwas mit einem der Mädchen von der Theaterkasse«, fährt Liz fort. »Die Kleine ist noch so jung, dass sie nicht einmal alle Folgen von Friends gesehen haben kann. Und er behandelt sie wie den letzten Dreck. Immer verspricht er ihr, sie anzurufen, und tut es dann nicht. Oder er lädt sie ein, nach der Aufführung mit ihm essen zu gehen, und kommt nicht. Dann steht die Arme allein da, während wir anderen sie betreten anschauen und es nicht wagen, über ihn herzuziehen, nur für den Fall, dass es ihm zugetragen wird. Also: Vorsicht. Jack gehört zu den Leuten, der anderen sagt, was sie hören wollen, und auf ihnen herumtrampelt, um seine Vorstellungen durchzusetzen. Und weil ihn alle als das Wunderkind des Theaters feiern, lässt man es ihm durchgehen.«
Im nächsten Moment werden die Getränke serviert, und wir beide fangen automatisch die »Ich übernehme das/Nein, Finger weg, ich bin dran«-Debatte an. »Ist dir eigentlich klar«, wechselt Liz zum Glück das Thema, »dass wir beste Freundinnen spielen, wenn du die Rolle kriegst? Mann, Annie, das wäre ja einfach genial!«
Ich strahle und erlaube mir kurz die Hoffnung, dass dieser Traum wirklich in Erfüllung gehen wird. Dann jedoch erinnere ich mich an die Einzelheiten, die Hilary mir ausführlich in ihrem Büro erläutert hat. Das absolut hundertprozentige Engagement, das von mir erwartet wird, falls sich die Dinge wirklich und wahrhaftig in meinem Sinne entwickeln. Mit anderen Worten: Ganz gleich, wie überwältigend die Vorstellung auch sein mag, um die Rolle zu bekommen, werde ich einen ziemlich hohen Preis zahlen müssen.
Allerdings habe ich keine Zeit, darüber nachzugrübeln, da Liz bereits das nächste wichtige Thema angeschnitten hat und mich über ihr Liebesleben aufklärt.
»Mal ganz was Neues«, beginnt sie und trinkt einen großen Schluck Wodka. »Ich bin noch immer Single. Seit wir uns zuletzt gesehen haben, hatte ich insgesamt etwa dreizehn Affären, war ungefähr ebenso oft mit einem Typen im Bett und hatte nur einen richtigen Freund. Mist, findest du nicht? Oh, und mit ›einem richtigen Freund‹ meine ich, um das klarzustellen, einen Kerl, mit dem ich mehr Zeit verbracht habe als nur ein einziges Wochenende. Inzwischen war ich auf so vielen Blind Dates, dass ich allmählich einen Blindenhund beantragen sollte. Kurzum, Annie, ich wirke weiterhin unbeschreiblich anziehend auf emotional unerreichbare Typen mit niedrigem Selbstbewusstsein und Bindungsneurotiker. In der Hälfte der Fälle sind sie auch noch arbeitslos. So, nun weißt du es. Du hattest Glück, während ich noch immer Schwachköpfen hinterherjage. Wie dem auch sei«, sie hält inne und gibt dem Barmann ein Zeichen, ihr noch einen Wodka zu bringen, »wenn Matt Damon Single und nicht berühmt wäre und wenn er in Dublin wohnen und arbeiten und mich kennen würde ... wären wir ziemlich sicher zusammen.«
»Das sind aber recht viele Wenns, Schätzchen.« Ich kichere.
»Du hast leicht reden. Lass uns den Tatsachen doch ins Auge sehen: Du hast den letzten brauchbaren Mann auf der nördlichen Erdhalbkugel geheiratet.«
Ich schüttle nur schweigend den Kopf, schmunzle in mich hinein und erinnere mich an die langen Nächte, in denen wir Liz’ Liebesleben in seine Bestandteile zerlegt und wieder zusammengesetzt haben.
»Doch wenn wohlmeinende, aber neugierige Angehörige mir wegen dieses Themas zusetzen, antworte ich immer Folgendes«, spricht sie lachend weiter, kippt den Rest ihres Wodkas hinunter und setzt einen britischen Oberschichtakzent auf. »›Einer der Gründe, weshalb ich trotz der atemberaubenden Auswahl an Verehrern nie geheiratet habe, war meine feste Entschlossenheit, mir keine Vorschriften machen zu lassen.‹ Los, Annie, woraus ist das?«
Dieses Spiel treiben wir übrigens schon seit der Schauspielschule – Erkenne das Zitat. Eine von uns zitiert eine Stelle aus einem bekannten Film oder Theaterstück, und die andere muss erraten, woraus es stammt. Und da Liz einen scharfen Verstand und ein erstaunliches Gedächtnis für Kleinigkeiten hat, gewinnt sie unweigerlich.
»Äh ... Glenn Close als Marquise de Merteuil in Gefährliche Liebschaften?«, versuche ich mein Glück.
»Zehn von zehn Punkten! Du hast es noch drauf, Schätzchen. Aber jetzt genug von mir. Erzähl mir, was bei dir so los ist.«
»Los? In Stickens? Machst du Witze? Schön wär’s.«
»Oh, komm schon, Schätzchen. Wie geht es deinem tollen, knackigen Ehemann? Wie lebt es sich denn in einer Bilderbuchehe im ländlichen Idyll?«
Natürlich ist das mein Stichwort, um zu lügen, mir nichts anmerken zu lassen, fröhlich zu lächeln und zu erwidern, alles sei wundervoll, traumhaft und perfekt.
»... und das bringt mich zu meiner nächsten Frage«, sagt Liz und kaut, eine alte Angewohnheit, auf einem Eiswürfel aus ihrem leeren Wodkaglas herum. »Wenn mit dem Vorsprechen alles klappt ... glaubst du, Dan wird einverstanden sein ... ich meine, mit der ganzen Sache ... was alles damit einhergeht? Es ist eine ziemliche Verpflichtung, etwas, das eine weniger gefestigte Ehe als deine belasten könnte, Liebes.«
Ich sehe sie verlegen an und trinke einen Schluck. »Weißt du, Liz ... er ahnt noch nichts davon.«
Es ist absurd spät, kurz vor halb drei Uhr morgens, als ich endlich in die gewaltige mit Kies bestreute Einfahrt von The Moorings einbiege und mich auf Zehenspitzen in unser Schlafzimmer schleiche. Inzwischen habe ich im Kopf, welche Dielenbretter knarzen und welche nicht, und pirsche mich im Zickzackkurs nach oben, um Dan nicht zu wecken. Wirklich, wer mich so sehen könnte, würde schwören, dass ich sturzbetrunken bin, auch wenn ich den ganzen Abend nichts Stärkeres als Cola light getrunken habe.
Obwohl es stockfinster ist, als ich ins Schlafzimmer schlüpfe, kann ich im rötlichen Schummerlicht des Weckers Dans kräftige, muskulöse Umrisse erkennen. Er hat die Bettdecke weggeschleudert, sein dunkler zerzauster Haarschopf sträubt sich, und er trägt nichts als ein T-Shirt. Seine breit gebauten eins fünfundachtzig nehmen etwa neunzig Prozent der verfügbaren Liegefläche ein. Außerdem schläft er wie immer in der Haltung eines Menschen, der gerade am Strand angespült worden ist. Völlig weggetreten und nicht ahnend, dass möglicherweise ein Damoklesschwert über unserer beider Köpfe schwebt.
Am liebsten würde ich ihn jetzt wecken und ihm alles erzählen, aber die Vorsicht siegt. Es geht nicht. Er ist überarbeitet und müde, weshalb es nicht nett von mir wäre. Also muss es bis morgen warten, so einfach ist das.
Das Komische ist, dass ich ihn zum ersten Mal seit einer Ewigkeit wieder wirklich sehe, als ich ihn so betrachte. Mir fallen Dinge auf, die ich entweder verdrängt oder für selbstverständlich genommen habe. Erstens sein breitschultriger, durchtrainierter Körper, straff und phantastisch in Form, da sein Beruf mit ziemlich viel sportlichem Einsatz einhergeht. Die leisen Geräusche, die er ausstößt, wenn er wirklich tief und fest schläft. Sein moschusartiger Geruch und die Hitze, die er abstrahlt, seine pulsierende, lebendige Wärme. All die Neckereien damals, als wir noch glücklich waren. Wir zogen einander auf, weil ich ständig friere, während er wie ein riesengroßes Federbett in Menschengestalt ist, an das man sich nachts so wunderbar kuscheln kann. Ich sei die Klimaanlage für den Sommer und er die Heizdecke für den Winter.
Ich ziehe mich aus, so schnell ich kann, und tue mein Bestes, nicht darauf zu achten, wie ich mich immer beklommener fühle. Mein Gott, allein der Gedanke an das wichtige Gespräch, das er und ich irgendwann morgen werden führen müssen, genügt, dass ich wieder starkes Herzklopfen bekomme. Was wird Dan sagen ... wie wird er reagieren ... was wird er empfinden? Oder, noch schlimmer, vielleicht empfindet er ja gar nichts.
Inzwischen brummt mir vor Furcht der Schädel, als ich meinen Pyjama anziehe und leise neben ihn in das weiche, warme Bett schlüpfe. Denn ganz gleich, ob es mir nun gefällt oder nicht, lässt sich durch nichts in der Welt verbergen, dass unsere Ehe auf gefährlich tönernen Füßen steht, und zwar schon seit geraumer Zeit.
Und hier bin ich.
Im Begriff, sie in einen Scherbenhaufen zu verwandeln.
***
Wie Dan und ich uns kennengelernt haben
In meiner Jugend wurde ich von allen beneidet. Wirklich von allen. Und das, obwohl ich mein Bestes tat, um jedem, der es hören wollte, zu sagen, dass es absolut fehl am Platz sei, auf meine Kindheit eifersüchtig zu sein. Meine Mutter ist nämlich Diplomatin im Dienste des Auswärtigen Amtes. Derzeit ist sie nach einer Beförderung in Washington, D.C., im Einsatz. Wenn ich Glück habe, bekomme ich sie etwa einmal im Jahr zu sehen ... aber das ist eine andere Geschichte.
Jedenfalls hieß das für mich, dass ich meine prägenden Jahre bei meiner alleinerziehenden Mum verbrachte. Sie und ich gegen den Rest der Welt.
Mein Vater, der sich, wie ich oft denke, von einem erfolgreichen Energiebündel wie meiner Mutter eingeschüchtert fühlte, hatte uns verlassen, als ich noch ganz klein war. Inzwischen lebt er mit seiner zweiten Frau und meinen beiden Halbbrüdern in Moskau. Ich bin ihnen noch nie begegnet, und es wird vermutlich auch nie dazu kommen. Allerdings bin ich ihm nicht böse. Es war sicher nicht leicht für ihn, immer den Bill Clinton für eine durch die Weltgeschichte gondelnde, karrierebewusste, tüchtige, ehrgeizige und zu guter Letzt viel erfolgreichere Hillary zu spielen. Und glauben Sie mir, mein Vater ist kein Versager.
Also wuchs ich bei meiner Mutter auf, folgte ihr von einem Auslandsposten zum anderen und bekam in ihrem Kielwasser viele Länder zu Gesicht. Es mag seltsam klingen, doch es war seine Herkunft, die mich anfangs am meisten an Dan reizte. Seine Eltern waren ein richtiges Ehepaar, die ein stinknormales Leben führten, und er hatte eine reizende kleine Schwester. Und alle vier lebten glücklich zusammen unter einem Dach.
Eine Bilderbuchfamilie.
Ich hingegen musste mir ständig anhören, was für eine exotische Kindheit ich gehabt hätte. Wie aufregend. Ach herrje. Du hast ja solches Glück. Erzählen Sie doch mal, wie es sich unter den oberen Zehntausend so lebt, Madame Botschafterin.
Gut, nun ist es an der Zeit, mit den falschen Vorstellungen aufzuräumen. Denn wissen Sie, damals wurde Mum nie in eine der schicken Weltstädte wie Paris, Buenos Aires oder auch nur Monaco versetzt. Keine Chance. Als ich in die Oberschule kam, hatte ich bereits in Lagos, Nigeria und Osttimor gelebt, nicht zu vergessen die funkelnden Lichter und das glamouröse Nachtleben von Karatschi, Pakistan. Mit anderen Worten: Wir zogen herum wie die Zigeuner, nur mit mehr Sozialprestige.
Es war die entwurzelte Kindheit einer Nomadin, die in mir eine tiefe und lebenslange Sehnsucht nach einem beständigen Familienleben auslöste. Vorzugsweise in einem Land, wo man das Leitungswasser tatsächlich trinken und ohne Polizeischutz das Haus verlassen kann.
Außerdem hatte ich im zarten Alter von vierzehn Jahren bereits sage und schreibe fünf internationale Schulen besucht, eine Erfahrung, die mich schüchtern und ein wenig introvertiert gemacht hatte. Bis heute habe ich eine Todesangst vor Veränderung. Immer war ich die Neue, immer die Außenseiterin, und es lief stets auf dieselbe Weise ab: Kaum wurde ich von meinen Mitschülern angenommen und begann, Freundschaften zu schließen, war es Zeit, mich wieder einmal aus dem Klassenverband zu reißen und mich in eine andere Schule im nächsten entlegenen Land zu stecken, wo mich neue Sprachbarrieren und fremde Leute erwarteten.
Als ich fünfzehn war, wurde meine Mutter erneut versetzt, diesmal nach Georgetown in Guyana, Südamerika – eine Stadt, die für viele Dinge berüchtigt ist, berühmt jedoch weder für ihren Reichtum noch für ihr Schulsystem. Natürlich wollte Mum, dass ich die bestmögliche Schulbildung bekam und stolz mein Abschlusszeugnis vorzeigen konnte.
Und das bedeutete für sie selbstverständlich nur eines: Sie würde mich auf ein Internat schicken. Zu Hause in Irland. Mit der Hilfe meiner Dubliner Großmutter, die es kaum erwarten konnte, ihr einziges Enkelkind in ihrer Nähe zu wissen, entdeckte sie schließlich die passende Schule: Allenwood Abbey im County Westmeath, ein Internat für Jungen und Mädchen. Nicht zu weit entfernt vom Dubliner Flughafen, damit ich Mum in den Schulferien besuchen konnte, und dennoch nah genug bei meiner Großmutter, um sie an den freien Wochenenden zu sehen.
Ich erinnere mich noch deutlich an die Todesangst, mit der ich in Allenwood Abbey eintraf, und zwar eine ganze Woche nach Beginn des Schuljahrs, weil sich die Abreise aus Pakistan verzögert hatte. Ich weiß noch, wie wir die kilometerlange Allee entlangfuhren, die vom Schultor zum Hauptgebäude führte. Ich saß zwischen meiner Mutter und meiner Großmutter, die beide versuchten, mir die Schule schmackhaft zu machen. Mum trug Hermès und Perlen, Oma Schottenrock und Stützstrümpfe. Ich duckte mich so tief wie möglich auf dem Rücksitz zusammen und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass niemand draußen auf den Sportplätzen die Ankunft der Neuen bemerken und mich als aufdringliche Göre abschreiben würde, die alles tat, um sich in den Vordergrund zu drängen. Ich fiel nicht nur auf, weil ich die Neue war, sondern fühlte mich, als schwebe eine Neonreklame über meinem Kopf. »Schaut mich an«, verkündete sie. »Hier kommt die Spinnerin! Was für ein Spektakel!«
Mir war so absolut elend.
Wir drei wurden in eine Eingangshalle, die fast als Kathedrale hätte dienen können, und dann einen breiten steinernen Flur entlang ins Büro des Direktors geführt, der Professor Proudfoot hieß. Noch nie im Leben war ich einem Menschen wie ihm begegnet. Er trug tatsächlich einen wallenden schwarzen Talar und wirkte mit den schneeweißen Augenbrauen ein wenig wie ein mittelalterlicher König.
Professor Proudfoot bestand darauf, dass es das Beste sei, mich sofort in mein neues Klassenzimmer zu bringen, um meine Verspätung wettzumachen. Danach sei auch noch Zeit genug, um auszupacken und meine Zimmergenossin Yolanda kennenzulernen.
Bis heute steht mir eine Erinnerung deutlich vor Augen: Ich umarme Mum zum Abschied, rieche ihr Parfüm von Bulgari und suche in ihrem Gesicht nach Anzeichen dafür, dass sie ebenso leidet wie ich. Doch sie war so stark geschminkt, dass ich nichts erkennen konnte. Dann fiel ich Oma um den Hals, die genauso roch wie immer – nach starken Pfefferminzbonbons, gemischt mit Unkrautvernichtungsmittel (Gartenarbeit ist ihre Religion). Ich zwang mich zu einem fröhlichen Lächeln und drängte die Tränen zurück, als wir uns kurz voneinander verabschiedeten. Und schon wurde ich den eiskalten steinernen Gewölbegang entlang ins Erwachsenenleben geleitet.
Unterwegs zu meinem ersten Klassenzimmer fühlte ich mich wie eine Tote. Es befand sich in einem neueren Anbau der Schule, den man über weitere endlose, voneinander abzweigende Korridore erreichte. Das Licht der Neonröhren an der Decke war grell genug, um Gangsterbosse zu verhören.
»Kopf hoch, das wird schon«, meinte der Direktor lächelnd und blieb stehen, um an eine Klassenzimmertür zu klopfen. Im nächsten Moment standen wir vor der fünften Klasse im Senior House, und dreißig Augenpaare richteten sich nur auf mich. Als ich vorgestellt wurde, errötete ich wie ein Buschfeuer. Dann erzählte Professor Proudfoot der Klasse ein wenig über mich. Er sagte, ich käme gerade aus Karatschi, hätte überall auf der Südhalbkugel gelebt und sei seit dem Kindergarten nicht mehr in Irland zur Schule gegangen. Alle sollten dafür sorgen, dass ich mich willkommen fühlte.
Ich bemerkte, dass mehrere Dinge gleichzeitig geschahen, als der Lehrer mir einen freien Platz in der dritten Reihe anwies: Alle Augen folgten mir neugierig, es wurde kurz und höflich applaudiert, und ein hübsches blondes Mädchen packte mich am Arm und flüsterte mir zu, sie sei meine Zimmergenossin und finde meine Sommerbräune wirklich toll.
Später erfuhr ich, dass es Yolanda Jones war, und mit der Zeit freundeten wir uns miteinander an. Eigentlich schon um Mitternacht waren wir die besten Freundinnen, sobald sie festgestellt hatte, dass ihr ziemlich viele meiner Sommersachen aus Pakistan passten.
Yolanda war viel mädchenhafter als ich. Eigentlich betrachtete sie die Oberschule nur als zwei Jahre Zeit, um Spaß zu haben. Selbst mit fünfzehn Jahren sah man ihr bereits die Glamourgene an, die in ihr schlummerten. Sie wissen schon, das Erbgut, das dafür sorgt, dass sich ein Mädchen später im Leben nach Haarverlängerungen, künstlichen Fingernägeln und einem Cabrio sehnt.
Dann pfiff mir ein kräftig gebauter blonder Junge nach, der eher auf ein Rugbyfeld als in ein Klassenzimmer gepasst hätte, fragte mich, begleitet von hämischem Gekicher, frech, ob ich am Abend schon etwas vorhätte, und erbot sich, mir alles hier zu zeigen.
Damals wusste ich es noch nicht, doch das war Mike Sherry, der knackigste Typ der Klasse und Lustobjekt aller Schülerinnen. Einer der Jungs, die Frauen nicht den Hof machen, sondern russisches Roulette mit ihren Gefühlen spielen. Später am selben Tag brachte er sein romantisches Interesse an mir dadurch zum Ausdruck, dass er meine Schnürsenkel ans Pult band, als ich nicht hinsah, und noch in der gleichen Woche übertraf er sich selbst, indem er mir das Handtuch wegriss, mit dem ich mich im Schwimmbad so gut wie möglich zu bedecken versuchte, und es am tiefen Ende ins Becken warf. Mike gehörte zu den Jungen, die nichts davon hielten, cool zu sein oder Mädchen, die ihm gefielen, zu ignorieren.
»Das da links am Fenster ist dein Platz, Annie«, sagte der Lehrer hilfreich, als ich vor den Augen der ganzen Klasse über meine eigenen Füße stolperte, weil ich mich noch nicht an die klobigen, Amish-artigen Schuhe gewöhnt hatte. Wieder Gekicher. Ich war mir sicher, dass ich mich gleich aus dem Fenster stürzen würde, wenn ich noch länger im Mittelpunkt stehen müsste.