Irren ist göttlich - Daniel Sand - E-Book

Irren ist göttlich E-Book

Daniel Sand

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Beschreibung

In der Welt eines fehlerlosen Gottes zu leben, ist sehr angenehm. Solange er keine Fehler macht. Als er den jungen Thariel verflucht, glaubt erst mal niemand an dessen Unschuld. Also reist er in die Stadt des Allmächtigen, nur um zu erfahren, dass es nicht nur um Gott schlechter steht als befürchtet, sondern gleich um das ganze Königreich. Thariel gerät in Intrigen, legt sich mit finsteren Mächten an und strandet mit einem Zeitmaschinen-Prototypen außerhalb von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Wird er den Fluch los und kann er nebenbei das Königreich retten?

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Seitenzahl: 432

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

ZUM BUCH

 

In der Welt eines fehlerlosen Gottes zu leben, ist sehr angenehm. Solange er keine Fehler macht. Als er den jungen Thariel verflucht, glaubt erst mal niemand an dessen Unschuld.

Also reist er in die Stadt des Allmächtigen, nur um zu erfahren, dass es nicht nur um Gott schlechter steht als befürchtet, sondern gleich um das ganze Königreich. Thariel gerät in Intrigen, legt sich mit finsteren Mächten an und strandet mit einem Zeitmaschinen-Prototypen außerhalb von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Wird er den Fluch los und kann er nebenbei das Königreich retten?

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

»Irren ist göttlich«

Thariel Verlag, Berlin

Copyright © 2020 by Daniel Sand

Covergestaltung: Kati Knitt (www.katiknitt.com)

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieser Publikation darf ohne schriftliche Genehmigung des Herausgebers in irgendeiner Form reproduziert und unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

 

ISBN: 978-3-9822093-1-9

 

 

 

 

Daniel Sand

Irren ist göttlich

Ein Abenteuer vom Würfelplaneten

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für Haiko – Weil ich vergessen habe, wem ich es eigentlich widmen wollte.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Tritt irgendwo ein Gott ab, tritt irgendwo ein Gott an.

Ein altes (nicht sonderlich bekanntes) Sprichwort

 

Prolog

 

Über dem Schlachtfeld kreisten schon die Geier und stießen schrille Laute der Vorfreude aus, als Thariel zornig zwischen all den Gefallenen stand. Dunkle Wolken schoben sich vor die Sonne und in der Ferne tanzten Blitze über das Firmament. Bald würde es regnen, auch das noch! Manchmal hörte er auf der Wiese und aus dem nahen Wald noch jemanden seufzen oder stöhnen, doch längst war das Kriegsgeschrei verklungen und eine mächtige Armee war nicht mehr. Thariel trug daran keine Schuld, gewiss nicht! Er hatte eine Strategie gehabt, aber seine Soldaten hatten sie nicht umgesetzt. So war es zu diesem Blutbad gekommen. Er säuberte gerade seine verdreckten Stiefel, als er die Männer den Hügel hinaufkommen sah. Unterhändler aus Tiefburg. Es war Zeit zu verhandeln.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

1

 

Engelsbienen sorgten in der Nacht für Licht. Unzählige Wanderer, die sich in den Rokonischen Sümpfen verirrt hatten, folgten ihnen dankbar durch die Finsternis. Und damit tiefer und tiefer in den Sumpf. Niemand von ihnen kehrte je zurück. Hier draußen, in der Wildnis, wo jeder falsche Schritt der letzte sein konnte, wo noch Fabelwesen durchs Unterholz schlichen und Giftpflanzen geduldig auf ihre Opfer warteten, gab es keine Rettung für sie.

Steine, Äste und Quellen konnten den Tod bringen und wer nicht von Engelsbienen ins Verderben geführt wurde, lauschte womöglich dem Gesang ferner Koboldchöre, gab sich ganz ihrer Musik hin und merkte nicht, wie ihn der Sumpf langsam verschlang. Jedes Geräusch aus den Nebelschwaden konnte eine zuschnappende Falle sein, jeder Pfad im Rachen eines Moorlöwen enden. Manche Sumpfgeister nahmen die Gestalt von Menschen an, um Wanderer in Sicherheit zu wiegen und der süßliche Duft betörender Blumen war nicht selten ein lähmendes Gift. Niemand sollte nachts alleine in den Rokonischen Sümpfen sein … ein Lied pfeifend, hüpfte Thariel von Stein zu Stein und von Wurzel zu Wurzel, immer darauf achtend, nicht auf den feuchten Untergrund zu treten. Zu oft stellte dieser sich als hungriger Treibsand heraus.

Heute Nacht gab es keine Engelsbienen, die ihn verwirren konnten. Das fahle Mondlicht reichte aus, um sich den Weg zu bahnen. Manchmal versuchte eines der Sumpfwesen jedoch, ihn ins Unterholz zu locken, indem es die Schreie von Menschen und das Winseln von Tieren nachahmte. Doch er pfiff weiter sein Lied und störte sich auch nicht an den drei giftgrünen Augen, die ihm eine Weile lang folgten, bevor ein großes rotes Auge auftauchte und es zu einem Kampf in der Düsternis kam. Thariel vermutete hinter den grünen Augen eine Sumpfschlange und hinter dem roten einen Zyklopenbären.

Irgendwann leuchtete ein fernes Licht auf. Ein Haus. Und noch ein Haus. Ein ganzes Dorf. Schon blieb die Wildnis zurück und das Land öffnete sich, wurde breiter und freundlicher. Wald folgte auf Sumpf und fester Untergrund auf feuchten Morast. Als Thariel das Moor endgültig verlassen hatte, drehte er sich noch einmal um. In der Dunkelheit leuchteten Dutzende Augenpaare und es fauchte und knurrte im dampfenden Wasser und in den grauen Ästen toter Bäume.

Thariel liebte es, die Augen zu zählen.

 

»Wo warst du schon wieder?«

Er zuckte zusammen und versteckte etwas unter seinem Hemd, als Lydia plötzlich mit verschränkten Armen hinter ihm stand: »Wir waren bei meinem Vater zum Essen verabredet! Und was versteckst du da?«

Lydia hatte ihre blonden Haare zu einem Zopf geflochten und trug ein grünes Kleid. Er wusste, dass es ihr nicht gefiel, wenn er durch die Sümpfe wanderte. Aber er wollte das nicht aufgeben. Er liebte die Natur und er nahm es den Monstern nicht übel, dass sie ihn fressen wollten. So etwas sollte man nie persönlich nehmen, fand er. Doch Lydia nahm Sumpfkrokodilen, Heckenadlern und den Flammenzahnschnecken genau das übel.

Aber jetzt war die Welt wieder in Ordnung. Die Monster in ihrem Sumpf und Thariel in seinem Dorf.

»Für dich!« Er zog unter dem Hemd nun ein grünlich schimmerndes Etwas von der Größe einer Tontafel hervor, das einen Geruch verströmte, als würde es schwitzen.

»Igitt, was ist das?« Lydia fasste es nicht an.

»Rinde vom Marathonbaum!« Thariel sprach es mit Stolz aus, weil er wusste, wie schwer es war, einen Marathonbaum zu fangen. Es handelte sich immerhin um die ausdauerndste und zäheste Baumart, der noch dazu die eigenen Wurzeln als verwirrende Zahl von Füßen dienten, statt sich tief ins Erdreich zu graben.

Thariel hatte seinen Marathonbaum mindestens zwei Stunden verfolgt und dachte zwischendurch nicht mehr, dass er ihn einholen würde und er hätte es wohl auch nicht geschafft, wenn der Baum nicht einen Krampf erlitten hätte. Also konnte sich Thariel eine Rindenfläche nehmen, wobei er sich für eine entschied, die ohnehin schon schlapp herunterhing. Durch die schweißtreibende Flucht hatte die Rinde natürlich einen starken Eigengeruch entwickelt, was Thariel nicht störte.

»Schön, leg sie doch zu den anderen Sachen aus dem Sumpf, die du immer so mitbringst«, meinte Lydia unbeeindruckt und merkte erst zu spät, dass Thariel auf die Knie gegangen war und ihr die Rinde jetzt mit beiden Händen entgegenstreckte.

Mit dem Grün eines Tintenpilzes hatte er auf die Rinde geschrieben: Willst du mich heiraten, Lydia? Dazu die Antwortmöglichkeiten Ja und Nein.

Lydia wurde erst rot und dann blass. Dann lächelte sie und nahm ihm mit einem leichten Ausdruck von Ekel die Rinde aus der Hand.

»Komm, lass uns ins Haus gehen, mein Vater wartet schon.«

Sie nahmen sich an der Hand und liefen einige Schritte, bevor Thariel fragte: »Und? Wie hast du dich entschieden?«

»Lass mich darüber nachdenken.«

»Was sagt dein Herz?«

»Nichts, Thariel, mein Herz kann nicht sprechen.«

 

Sie gingen nun etwas schneller durch das Dorf, in dem sie beide geboren und aufgewachsen waren. Lydia am einen Ende dieser Siedlung mit zwölfeinhalb Häusern, er am anderen. Ein größerer Abstand war nicht möglich. Deswegen sagten sie oft im Spaß, dass er aus dem nördlichen Teil käme und sie aus dem südlichen. Zumindest er sagte das immer. Haus zwölfeinhalb war schon zur Hälfte in den Sumpf gerutscht und es war absehbar, dass es irgendwann vollständig verschluckt werden würde. Dieses Haus gehörte Thariel.

Das Dorf selbst befand sich auf einer Lichtung, die von drei Seiten von Wäldern umschlossen wurde, deren Bäume bis hinauf in die Wolken reichten. Erst dort oben berührten sich ihre Wipfel. Manche Dorfbewohner hatten deswegen in ihrem Leben noch keine Baumkrone gesehen und kannten nur diese mächtigen Stämme und gewaltigen Äste. Dass die Wälder hier eine solche Höhe erreichten, lag einerseits an der Abgeschiedenheit und andererseits daran, dass es sich um Himmelsbäume handelte. Sie wuchsen ein Leben lang und sie wurden sehr alt. Es gab Exemplare, die noch nie ein Mensch bestiegen hatte. Es hieß, dass manche eine Höhe von 10.000 Metern erreichten. Baumsteiger waren besessen davon, möglichst viele Erstbesteigungen von Himmelsbaumwipfeln für sich zu reklamieren. Aber das Sumpfdorf lag so abgeschieden, dass sich von diesen Extremsportlern bisher keiner hierher verirrt hatte – oder womöglich verspeisten Tiere, Pflanzen und Fabelwesen der Sümpfe sie auch bei der Anreise.

Auf der anderen Seite wurde das Dorf von eben diesem Sumpf begrenzt, dessen Nebelbänke wie Geisterschiffe über dem grünlichen Morast schwebten. Graue Bäume ragten als traurige Pfähle aus der Düsternis und bei der von Algen, Schlick und Moos bewachsenen Uferlandschaft konnte man nie sicher sein, ob beim nächsten Schritt der scheinbar feste Boden nachgab.

Im Ort selbst gab es eine Feuerstelle und einen Brunnen, die das Zentrum darstellten. Ansonsten bauten die Bewohner in ihren kleinen Gärten alles selbst an, was sie benötigten. Es gab auch eine kleine, umzäunte Weide mit drei Kühen und fünf Schafen. Doch die zahmen Tiere vor den hungrigen Raubtieren aus dem Himmelswald zu beschützen, war zeitaufwendig und gefährlich. Auch wenn die schrecklichsten Geschöpfe in den Sümpfen hausten, strichen immer noch genug blutdurstige Wesen durch die Wälder. Neben den üblichen Wildtieren wie Bergdrachenhirschen, Querstrichhyänen oder Rosawölfen machten hier vor allem Zyklopenelefanten den Menschen das Leben schwer.

 

Als Thariel Lydia nun bat, den Leuten am Brunnen die Marathonbaumrinde zu zeigen, hatte sie diese schon verloren.

»Tut mir leid, die war so glitschig, wahrscheinlich ist sie mir aus der Hand gerutscht!«

»Soll ich sie suchen gehen?«

Schon zog er in die eine Richtung und sie in die andere.

»Nein, lass gut sein«, setzte sie sich mit einem heftigen Ziehen durch.

Am Dorfbrunnen schöpften zwei Frauen Wasser und kicherten über diese Unstimmigkeit. Andere Bewohner trockneten Wäsche vor dem Haus oder schnitten Tomaten. Von irgendwo zog der Duft eines Distelkuchens herüber, kleine Kinder tobten um die Häuserecken und in der Ferne sang ein Berguhu sein Lied.

»Wie geht’s, Thariel«, rief eine junge Frau mit schwarzen Haaren und grünen Augen, als sie den beiden entgegenkam. In den Armen trug sie Brennholz.

Er nickte freundlich zurück. »Danke, gut, und dir Sulala?«

Thariel mochte sie ganz gerne. Auch sie wanderte oft durch die Sümpfe und schlief mehr unter freiem Himmel als in weichen Betten.

»Sulalas Haus hat kein Dach«, zischte Lydia.

»Es ist nur ein kleiner Dachschaden, wegen des Kugelblitzes, der darüber rollte«, meinte Thariel.

»Warum widersprichst du mir eigentlich dauernd, wenn es um sie geht?«, giftete sie, »immer nimmst du sie in Schutz, ich frage mich, warum du nicht mit ihr zusammen bist!«

»Das war doch nicht so gemeint«, entschuldigte er sich.

»Sulalas Haus hat kein Dach, wie peinlich ist das denn!«

Er nickte und sie atmete durch.

»Ich liebe dich«, flüsterte sie ihm zufrieden ins Ohr und tätschelte seine Wange, als ob er ein Dressurpegasus war, der ein Kunststück vollführt hat.

»Thariel«, rief jetzt Sulala aus einiger Entfernung, »ich habe was gefunden, was euch gehört!«

»Die gibt auch keine Ruhe«, zischte Lydia und Thariel traute sich nicht, Sulala zu antworten. Lydias Hand bohrte sich so fest in seine, dass ihre Fingernägel ihm wehtaten. Erst als Sulala nicht mehr rief, entspannte sie sich wieder. Nachdem sie schließlich an ihrer Türe angekommen waren, hauchte sie: »Schlaf gut und danke für das Ding, das du mir aus dem Sumpf mitgebracht hast.«

»Marathonbaumrinde.«

»Genau.«

»Und wie wirst du dich entscheiden?«

»Genau«, wiederholte sie und lächelte ihn an.

Er schaute ihr in die dunkelgrünen Augen und träumte davon, sie zu heiraten. Ausgerechnet er, der Kerl mit dem halben Haus und dem unscheinbaren Aussehen. Er war ein schlaksiger Kerl mit braunen Augen und einer etwas breiten Nase über zu dünnen Lippen. Nun wagte er etwas und beugte sich leicht vor, um Lydia zu küssen. Doch statt ihrer weichen Haut spürte er sprödes Holz. Lydia war längst ins Haus gegangen und hatte die Türe geschlossen. Trotzdem ging er danach zufrieden seiner Wege.

 

Wie seine Vorfahren arbeitete er als Reparaturist im eigenen Laden Reparaturen aller Art. Wenn etwas im Dorf nicht mehr funktionierte, wurde es zu ihm gebracht, auch wenn er im Reparieren nie die Kunstfertigkeit seines Vaters und schon gar nicht die seines Großvaters erreicht hatte, von dem das ganze Dorf noch voller Ehrfurcht sprach. Wenn Thariel mal wieder das wacklige Bein eines Tisches endgültig abbrach oder aus einer beschädigten Uhr eine kaputte machte, hieß es deswegen immer nachsichtig: »Er ist eben nicht sein Großvater.« Genau genommen kam es nie vor, dass er etwas so reparierte, dass es danach nicht einfach auf eine andere Art defekt war. Dennoch mochten ihn die Dorfbewohner. Er gab sich Mühe und außerdem hatten sie Mitleid mit ihm, weil sein Haus vom Sumpf verschluckt wurde.

Thariel fühlte sich rundum wohl in seinem Heimatdorf. Noch nie hatte er etwas Anderes gesehen als die Sümpfe und noch nie hatte er den Wunsch verspürt, dass sich das eines Tages ändern möge. Wie sein Leben verlaufen würde, schien klar vorgezeichnet zu sein. Er würde heiraten – hoffentlich Lydia – und Kinder haben, die eines Tages den Laden übernehmen würden. Er war immer froh gewesen, dass alles so einfach war. Er träumte von der Zeit, da er am Abend mit seiner Frau auf der Terrasse sitzen würde und sie gemeinsam dem Mond zusehen, wie er hinter dem Sumpf aufgeht. Sie würden den Wasserfall bewundern, der vom Mond hinab auf den Planeten stürzt und im Licht der Sterne silbern glänzt. Und sie würden über die komplexen Flugformationen der Algebrakrähen staunen, wenn sie als Zahlenkombination oder geometrische Form über das Dorf hinwegflogen.

Thariel ging in sein halbes Haus und schaute noch hinüber zu Lydias Zimmer, bis dort die Kerze erlosch und das Haus plötzlich von der Dunkelheit verschluckt wurde. Auch er legte sich ins Bett und dachte noch, dass alles gut war, wie es war. Und genau darin bestand das Problem: Als er am nächsten Morgen aufwachte, war es nicht mehr gut, so wie es war.

Als er verschlafen vor dem Spiegel stand, entfuhr ihm ein Schrei. Über seinem Kopf hing eine Regenwolke. Er schlug nach ihr, als wäre sie eine lästige Fliege, aber seine Hände gingen wie durch Nebel. Er rannte hin und her und machte Liegestützen. Er stellte sich auf den Kopf und kippte sich Wasser in den Nacken. Nichts davon beeindruckte die Regenwolke, die weiter über ihm schwebte. Er wusste nicht, was er noch tun sollte und öffnete darum das Fenster.

»Lydia!«, schrie er über das Dorf hinweg, »Lydia!«

Als sie kurz darauf bei ihm ankam, stand Thariel hinter einem Schrank im Flur, so dass sie ihn nicht sofort sehen konnte.

»Versprichst du mir, nicht zu schreien, wenn ich dir jetzt etwas zeige?«, wollte er wissen.

»Was ist los?« Sie klang verärgert, weil er noch nie zuvor über das ganze Dorf hinweg nach ihr gerufen hatte.

»Es ist alles in Ordnung, keine Sorge, es ist nur so, dass ...«

»Komm hinter dem Schrank hervor!«, unterbrach sie ihn.

»Es ist nur so«, setzte er wieder an, konnte seinen Satz aber nicht beenden, weil dieser in Lydias Schrei unterging. Sie hatte nicht mehr warten wollen und war zu ihm gelaufen. Nun torkelte sie mehrere Schritte zurück und Thariel trat in den Flur hinaus.

Über ihm regnete es.

»Nicht so laut, die Nachbarn!« Er presste dabei den Finger vor den Mund und Lydia ging dazu über, nur noch aufgeregt zu atmen, bis ihr schwindelig wurde und sie sich setzen musste.

Eine Weile saß sie nur da und trank das Wasser, das Thariel ihr gebracht hatte. Dann meinte sie mit ruhigerer Stimme: »Was ist das?«

»Keine Ahnung.« Thariel schüttelte den Kopf.

Als sich Schritte näherten, versteckte er sich erneut hinter dem Schrank und setzte sich erst wieder zu Lydia, als diese sich entfernt hatten.

»Lass mich mal sehen.«

Sie betrachtete die Wolke aus allen Richtungen. Nichts unterschied sie von gewöhnlichen Regenwolken, außer, dass sie viel kleiner war. Lydia blies dagegen, ohne dass es eine Wirkung zeigte. Dann nahm sie einen Holzlöffel und schlug damit in die Wolke, durchdrang sie aber ebenfalls wie Nebel. Sie hielt eine Kerze dicht an sie ran und ließ das erst bleiben, als sie Thariels Haare ansengte. Schließlich nahm sie wieder Platz.

»Da hängt eine Regenwolke über dir«, murmelte sie.

Er nickte. Danach saßen sie wieder da und versuchten beide, diese Tatsache zu verarbeiten. Manchmal hob Thariel die Hand und wollte seinen Begleiter wegschieben, als sei er ein Teller Suppe, von dem man nicht weiter essen möchte. Natürlich gelang es ihm nicht. Obwohl es sich um eine Regenwolke handelte, wurde der Boden um Thariel herum nicht nass, was ihm erst jetzt auffiel. Es war Lydia, die als erste damit begann, die Sache nüchterner zu betrachten.

»Wo kannst du die Wolke herhaben?«, fragte sie, »gab es das schon öfter in deiner Familie?«

»Davon wüsste ich nichts.«

»Oder hast du sie dir in den Sümpfen geholt?«

»Da bin ich schon mein ganzes Leben lang unterwegs, warum sollte das ausgerechnet jetzt passieren?«

»Oder hast du mit grüner Magie experimentiert?«1

»Natürlich nicht.« Er verzog sein Gesicht, wie konnte sie das nur glauben.

»Oder ist es vielleicht ein«, sie stockte und schwieg schließlich. Beide wussten, was sie sagen wollte.

Thariel schüttelte nervös den Kopf und sprach das schlimme Wort auch nicht aus: »Warum sollte das ein … sein?«

»Stimmt, das ist keiner!«

»Das würde ich ausschließen.«

»Ich auch.«

»Absolut!«

 

Lydia ging danach Salben und Kräuter besorgen, um die Wolke auf diese Weise zu vertreiben. Aber auch die brachten außer einem üblen Hautausschlag nichts. Thariel wagte sich nicht aus dem Haus und spähte nur vorsichtig aus dem Fenster. Er sah mehrere Bewohner Holz in einen Schuppen tragen und zwei Kinder, die mit einem Reif spielten, den sie über den Boden rollten.

»Wenn es aber doch ein, naja ... wäre«, begann Lydia, »dann ...«

»Ist es nicht!«, fiel Thariel ihr ins Wort, »ich fühle mich einfach etwas unwohl. Ich habe Fieber und Husten.« Er gab ein Röcheln von sich, das wohl ein Husten sein sollte. Lydia fasste gegen seine Stirn, die kalt wie eine Winternacht war. Sie nickte unbestimmt.

»Ich lege mich ins Bett, wenn ich wieder gesund bin, ist das da oben weg«, kündigte Thariel an und schleppte sich die Treppe hinauf, ohne dass Lydia ihm dabei half.

Kurz darauf lag er da und lauschte auf den Regen über seinem Kopf. Doch der machte keinen Lärm. Es regnete geräuschlos. Irgendwann gelang es Thariel tatsächlich einzuschlafen.

Er wusste nicht, wie lange er geschlafen hatte, doch als er aufwachte, wollte er sofort aufstehen und in den Spiegel schauen. Aber vor dem Bett saß Lydia und schüttelte nur den Kopf. Da ließ er sich wieder auf den Rücken fallen. Er fragte sich, wie die Dorfbewohner wohl reagieren würden, wenn er sich ihnen mit einer Regenwolke präsentierte. Am besten würde er so tun, als sei das vollkommen normal. Aber er wusste, dass das nicht funktionieren würde. Menschen reagierten im Allgemeinen sehr misstrauisch auf plötzliche Veränderungen. Ganz besonders in abgelegenen Sumpfdörfern, wo jede Veränderung als Bedrohung betrachtet wurde.

Lydia und er versuchten sich ganz normal zu unterhalten. Sie vermieden es dabei, die schlimmste Möglichkeit auszusprechen, dass es sich doch um einen, nun ja … um einen … wenn es sich um so was handeln würde. Solche Bestrafungen nahm Gott Thromokosch nämlich persönlich vor.

»Du hast aber wirklich nichts angestellt, oder?«, fragte Lydia und schaute Thariel tief in die Augen.

Er schüttelte den Kopf.

»Wir müssen zu meinem Vater gehen!«

»Auf keinen Fall«, kam es entsetzt zurück und Thariel verschränkte die Arme.

»Aber er ist ein Kräuterhansel!«2

»Wir haben doch schon was mit Kräutern ausprobiert.«

»Mein Vater hat ganze Regale mit Cremes, Wurzeln, Knäueln, Mehl, Kräutern, Blättern, Wassern, Sand, Pfeffer, Gewürzen und Disteln. Er hat bestimmt ein Gegenmittel!«

»Ich weiß nicht«, blieb Thariel unschlüssig.

»Es ist wirklich toll, was er alles heilen kann. Vor kurzem hatte er eine Elchfee im Wald gefunden, verletzt und dem Tode nahe. Er schleppte das schwere Wesen zu uns und braute ein Heilmittel zusammen. Schon am nächsten Mittag konnte die Elchfee wieder entlassen werden.«

»Ach, dann hat sie euren Gartenzaun niedergetrampelt?«

»Ja, und jetzt komm! Wer weiß, vielleicht wird eine Heilung immer schwerer, je länger man wartet.«

Immer noch zaudernd, ergriff er die ausgestreckte Hand und sie machten sich auf den Weg.

 

Torsten Sampftmeier war ein ruhiger und freundlicher Witwer, leicht übergewichtig und etwas gedrungen. Er blickte aus fröhlichen Augen in die Welt hinaus. Als Kräuterhansel genoss er viel Ansehen im Ort. Seine Tochter und Thariel huschten zwischen dem Wolkenwald und den Rückseiten der Häuser entlang, um nicht gesehen zu werden. Als sie schließlich vor der Tür standen und anklopften, hielt Lydia Thariels Hand und flüsterte ihm erleichtert ins Ohr.

»Jetzt wird alles gut!«

Er nickte.

Schritte näherten sich, die Türe wurde geöffnet und der mächtige Leib von Herrn Sampftmeier, wie immer in einen großzügigen, weißen Kittel gehüllt, erschien.

»Papa, wir haben ein Problem«, begann Lydia und kam nicht weiter, weil ihr Vater sofort zu schreien begann, als er die Regenwolke sah. Er zog seine Tochter zu sich und weil sie und Thariel sich noch an den Händen hielten, stieß er ihn weg.

»Du wirst unser Haus nicht mehr betreten, bis das geklärt ist! Und du wirst meine Tochter nicht mehr sehen, bis das geklärt ist!«, brüllte er mit wutrotem Kopf.

Thariel stolperte und fiel in eine Pfütze. Die Tür knallte zu.

 

Er stand nicht sofort wieder auf, sondern stellte erstaunt und entsetzt fest, wie schnell ein Dorf zum Geisterdorf werden kann. Als die Bewohner die Regenwolke sahen, reagierten die Mütter am schnellsten. Hektisch zerrten sie ihre verdutzten Kinder in die Häuser, als nächstes packten die Waschweiber und Sumpfangler ihre Sachen und verschwanden ebenfalls hinter zuschlagenden Türen. Als schließlich auch die Pilzsammler und Himmelwald­gänger zu ihren Familien eilten, gab es schon keine Fenster mehr, vor denen keine schweren Vorhänge hingen. Über dem dampfenden Sumpf strahlte die Sonne blass durch die Nebel, keine Wolke stand am Himmel und dennoch regnete es unaufhörlich auf Thariels Kopf. Lydia stand am Fenster und warf ihm einen Handkuss zu, als er zu ihr aufblickte. Kurz darauf war der Vorhang zugezogen.

Was sollte er jetzt machen? Aus den ersten Häusern flog faules Obst in seine Richtung. Ein Ei zerplatzte an seiner Schulter. Auf einmal traten zwei Wesen zwischen den Häusern hervor. Sie steckten in braunen Anzügen, die nur zwei kleine Sehschlitze hatten. Das eine Wesen trug ein Netz, das andere eine lange Stange, an deren Ende eine Schlinge angebracht war, wie man sie beim Einfangen der Schafe benutzte, wenn sie mal wieder ausgebrochen waren ... Jetzt verstand Thariel! Er sprang auf und in diesem Moment fingen auch die beiden Gestalten an zu rennen.

»Bleib stehen!«, schrie einer und Thariel erkannte die Stimme. Es war der Schuster Reubig, der ihn da zusammen mit einem anderen Bewohner einfangen wollte. Thariel rannte aus dem Dorf hinaus und hörte plötzlich ein seltsames Surren in der Luft, das er sich erst erklären konnte, als das mit kleinen Steinen beschwerte Netz direkt neben ihm gegen einen Feuerpilz krachte, aus dem daraufhin etwas Lava quoll. Thariel verstand die Welt nicht mehr, Reubig hatte ihm gerade gestern noch eine zerbrochene Vase gebracht und ihn für heute zum Sumpfangeln eingeladen. Statt mit ihm zusammen am Ufer zu sitzen, wurde er nun von ihm gejagt. Er achtete kaum darauf, wohin seine Füße traten, die ihn immer tiefer ins Moor führten. Nur weit weg von diesem Netz und dieser Schlinge. Bäume, Wurzeln, Sumpf und Pfad verschwammen, wurden zu einem und dann wieder zu vielen. Irgendwo dampfte es, irgendwo knurrte es, irgendwo schnappte etwas nach ihm.

Thariel schaute sich kurz um und in diesem Moment rutschte er auf einer Schneekastanie aus und fiel einen Abhang hinunter, direkt in den wabernden Sumpf hinein, der ihn gierig schmatzend festhielt und bei jedem Befreiungsversuch mehr in die Tiefe zog. Er fühlte den grünen Schlick schon an seinem Kinn und roch die Fäulnis des toten Gewässers. Er wurde noch weiter hinab gezogen und sein Mund verschwand im Morast. Längst hatte er den Kampf verloren und konnte nur noch seinen Kopf so halten, dass seine Nase möglichst lange über der Oberfläche blieb. Sein linker Arm ragte wie ein Ast hervor, der stumm nach Hilfe rief. Dann machte es einen weiteren Ruck und Thariel tauchte ganz unter. Nur noch seine Hand war zu sehen und vielleicht seine Regenwolke, wie er voller Bitterkeit dachte. Graue Algen streichelten um sein Gesicht, während ihm die Luft ausging. Ihm wurde schwarz vor Augen und er konnte spüren, wie er das Bewusstsein verlor.

Das war das Ende …

 

Eine mächtige Pranke, die nicht zu einem Menschen gehörte, griff seine Hand und zog ihn mit schierer Kraft aus dem Sumpf, der sich heftig dagegen wehrte, seine sicher geglaubte Beute freizugeben. Kaum, dass Thariel am glitschigen Ufer saß und noch schwer atmete, wurde er schon wie ein Sack Kartoffeln auf die Schulter seines Retters geworfen, der stumm und mit langen, schweren Schritten durch die Sümpfe schritt. Thariel bekam von der Wanderung nicht viel mit, da er vor Schwäche immer wieder ihn Ohnmacht fiel. Irgendwann erreichten sie eine kleine Lichtung und Thariel wurde abgesetzt. Er war über und über mit grauen Algen bedeckt, die er nur mühsam und nicht allzu erfolgreich, entfernte.

»Was machst du nur für Sachen, Junge!«, sprach der Retter mit tiefer Stimme, in der kein Groll zu hören war, sondern nur Sorge. Erst als er diese Stimme hörte, kam Thariel wieder richtig in dieser Welt an. Es war Günter der Golem, der ihn gerettet hatte. Er bewachte das Dorf in der Nacht und dafür vertrieben ihn die Bewohner nicht bei Tag. Niemand wusste, wer zuerst hier gelebt hatte, er oder die Menschen. Für ihn sprach, dass sich kein Mensch an eine Zeit vor Günter dem Golem erinnern konnte, aber andererseits dauerte ein Golemleben auch länger als drei Menschengenerationen und es war nicht auszuschließen, dass die Ururgroßeltern der heutigen Bewohner ihn eines Tages willkommen hießen. Im Grunde spielte es keine Rolle, aber »Und was war zuerst da, Golem oder Mensch?« gehörte neben »Wie findest du das Wetter?« zu den beliebtesten Gesprächsthemen am Dorfbrunnen.

Der Golem ließ sich auf einem morschen Baumstumpf nieder, der mit einem kaum hörbaren Knirschen unter seinem Gewicht zerbrach. Wenige Meter weiter befand sich ein moosbewachsener Stein, der als Sitzgelegenheit bessere Dienste leistete. Thariel blieb einfach stehen. Sie beide einte ein besonderes Band. Günter war die erste Person, an die Thariel sich erinnern konnte. Er musste damals etwa zwei Jahre alt gewesen sein und Günter hatte ihn in einem Korb über eine duftende Blumenwiese getragen. Vielleicht hatte er deswegen niemals Angst vor diesem Koloss gehabt. Günter der Golem überragte alle Dorfbewohner um mindestens zwei Köpfe und hatte einen doppelt so breiten Brustkorb wie die anderen. Sein Körper bestand aus Sand, weswegen er einen gewissen Respekt vor Wasser hatte.

»Danke«, meinte Thariel nach einer langen Weile.

»Ich hatte dich rennen sehen, anders als du sonst rennst. Also bin ich besser mal hinterher.«

Thariel entfernte mit spitzen Fingern mehrere Algen von seiner Brust.

»Was ist das?« Ein breiter Finger, deutete auf die Regenwolke.

»Nichts«, blockte Thariel ab.

»Ist das ein …« Auch der Golem sprach es nicht aus.

»Glaub ich nicht.«

»Die Dorfbewohner wollten dich deswegen fangen, deine eigenen Freunde«, erinnerte ihn der lebende Sandberg, »sie haben Angst vor dir!«

»Tja, da kann man wohl nichts dran ändern. So sind wir Menschen eben. Wir können von einem Moment zum nächsten zu Feinden werden.«

»Es liegt an dem da über deinem Kopf. Du musst ins Dorf zurück und dich der Diagnose3 stellen!«

»Nicht nötig, das geht vorbei.«

Der Golem schüttelte langsam den Kopf. Aus zwei schwarzen Augenhöhlen blickte er Thariel lange an. So lange, dass Thariel wieder über etwas nachdachte, was ihn schon als Kind beschäftigt hatte. Sind das überhaupt Augen oder sind es nur Löcher im Sand? Auf eine seltsame Art hatte diese Augenpartie aber eine sehr beruhigende Ausstrahlung. Egal, ob sie nun wirklich Augen beherbergten oder nur aus zwei Löchern bestanden.

»Ich habe deinem Vater versprochen, dich vor Dummheiten zu bewahren!«

»Am Sumpf wachsen großartige Pflanzen, die gegen solche Krankheiten helfen. Die geh ich jetzt pflücken.« Thariel stand auf und wollte sich wieder auf den Weg machen. Nicht zurück ins Dorf, sondern weiter in den Sumpf. Nur nicht ins Dorf, zur Diagnose.

»Thariel!« Günters Stimme wurde noch etwas tiefer, »du wirst dich der Diagnose stellen!«

»Nein!« Thariel verschränkte die Arme.

»Zwing mich nicht!«, kam es mit tiefer Stimme zurück.

»Zu was?«

»Das willst du nicht wissen, zwing mich einfach nicht!« Der Golem erhob sich und blickte nun aus der Höhe zu Thariel hinab, der den Sand roch und an seine Kindheit dachte. Günter roch immer nach Kindheit.

»Ich habe nein gesagt. Die Wolke ist schon kleiner als gestern.«

»Du zwingst mich?«

»Mach, was du willst!«

»Ist das dein letztes Wort?« Günter hatte sich zu Thariel hinuntergebeugt. Selbst jetzt konnte er nicht sagen, ob und was da in den Augenhöhlen saß. Anstatt zu antworten, zuckte Thariel mit den Schultern. Entsetzt hörte er dann ein Geräusch, das sich anhörte, als ob Lehm auseinanderbricht und schon stand Günter ohne Kopf vor ihm. An seinem langen Arm hielt er den Kopf fest, der nun über dem Sumpf baumelte.

»Tu mir das nicht an, Thariel, bitte! Tu, was er sagt!«, flehte der Kopf.

»Ja, schon gut, ich werde mich der Diagnose stellen«, rief Thariel verstört, »nur nimm den Kopf da weg«.

Wütend lief er mit dem Golem zurück.

»Aber du verhältst dich natürlich sehr erwachsen«, schimpfte Thariel, während sich Günter den Kopf wieder aufsetzte. Wobei er jetzt etwas weiter rechts auf der Schulter hing, was ihn aber nicht zu stören schien. Er ging auch nicht auf Thariels Vorwürfe ein, sondern pfiff leise vor sich hin und war mit sich zufrieden.

Normalerweise liebte Thariel die Geräusche, die man im Sumpf hörte. All die Vögel, Käfer, Frösche, Fische, Schlangen, Tauware und Wölfe, die zusammen rund um die Uhr dieses besondere Konzert gaben. Doch heute ärgerte er sich zu sehr, um sie wahrzunehmen. Er hörte nur Günter und sein Pfeifen.

1 Grüne Magie war relativ leicht zu beherrschen, was sie für Laien attraktiv machte. Gleichzeitig überschätzten sie schnell ihre Fähigkeiten, weswegen es mit keiner Magie so viele Unfälle gab wie mit der grünen Magie.

 

2 Viel später nannten sich die Kräuterhansel in Apotheker um, weil das würdevoller klang.

 

3 Ein Fachzauberer überprüft, ob es sich um einen naja…ob es sich eben um so was handelt. Wenn es keinen Fachzauberer gibt, reicht auch ein Zauberer in Ausbildung, wenn es keinen solchen gibt, ist derjenige befugt, der am lautesten schreien kann.

 

2

 

Wölfe heulten weit draußen in den Wäldern und Thariel stand in einem Käfig, der von allen Seiten von stabilem Wolkenholz verschlossen war. Sein Gefängnis schaukelte leicht hin und her, da es mit einem Seil an einem Ast befestigt worden war. Ein Lagerfeuer trotzte der Nacht ein wenig Helligkeit ab und ließ seine Funken durch die Dunkelheit tanzen. Am Himmel versteckte sich der Mond hinter den Baumwipfeln und Wolken, weswegen Thariel nicht einmal den beruhigenden Wasserfall sehen konnte, der sich aus dem Universum auf den Würfelplaneten ergoss. Er blickte sich um, das war sie nun also, seine Diagnose. Von allen Ritualen, die es gab, war dieses das Schlimmste. Er schaute in die Gesichter von Menschen, die ihn sein Leben lang kannten und jetzt misstrauisch betrachteten.

Zwischendrin saß auch Günter der Golem. Er überragte alle, als würde er als einziger stehen. Die Bewohner hatten Angst, das spürte Thariel ganz deutlich. Was so eine persönliche Regenwolke doch alles verändern konnte, wunderte er sich. Lydia nahm nicht an der Diagnose teil, sie wollte sich das alles nicht anschauen.

Nun trat der Zauberer Zimon (in Ausbildung) vor Thariel. Ein Kerl mit zu langen und zu dünnen Beinen, die nur deswegen nicht umknickten, weil auf ihnen nur die Last eines sehr leichten Körpers ruhte. Alles an ihm schien zu dünn, nur die Hühnerbrust kämpfte gegen diesen Eindruck an. Thariel kannte ihn gut. Als Kind hatte er ihm immer tote Frösche in die Stiefel gelegt. Zimon tat mittlerweile so, als wüsste er das nicht mehr, aber Thariel glaubte ihm das nicht. Zimon befand sich noch in der Ausbildung und trug darum erst die gelbe Zaubermütze.4 Das befähigte ihn dazu, eine Überprüfung der Sache durchzuführen, die hier niemand aussprechen wollte, ohne jedoch selbst zum Zaubern fähig zu sein. Nun schaute sich der Zauberer (in Ausbildung) die Regenwolke an und war sich sofort sicher. »Das ist ein Fluch.«

Da war es, das Wort, ausgesprochen, nackt und kalt: Fluch! Er hatte es nicht einmal umschrieben oder verschwiegen, wie es üblich war. Nein, Fluch, ganz laut und deutlich. Es hallte in Thariels Kopf nach und ohne, dass er es richtig merkte, drückte er seine Stirn gegen den Käfig. Dorfbewohner schüttelten fassungslos den Kopf, nachdem der Verdacht zur Gewissheit geworden war. Thromokosch verfluchte nie ohne Grund. Thariel musste etwas angestellt haben, etwas sehr Schlimmes.

Der Zauberer (in Ausbildung) genoss es, endlich einmal im Mittelpunkt zu stehen. Flüche waren die schlimmste Strafe, die Thromokosch aussprach5 und weil es Gerüchte gab, dass Flüche sich ausbreiten konnten wie Krankheiten, hatten die Menschen vor nichts mehr Angst als vor einem Verfluchten.6 Und nun hatte es sie hier im Sumpf getroffen. Das Böse war in ihr Dorf gekommen, in Gestalt eines Mannes, dem sie vertraut hatten.

»Hast du noch etwas zu sagen, Thariel, bevor wir das Urteil sprechen?«

Mit diesen kühlen Worten erhob sich der Bürgermeister, ein beleibter Herr, der es verstand, seinen weißen Bart kunstvoll zu zwirbeln und in dessem linken Auge ein Monokel steckte. Er stützte sich auf einen Spazierstock und fuhr fort.

»Willst du vielleicht beichten, was du getan hast?«

»Gar nichts habe ich getan«, rief Thariel mit zitternder Stimme und rüttelte am Käfig, »ich will aber eines wissen! Warum? Warum bin ich verflucht?«

Alle Augen richteten sich auf den Zauberer (in Ausbildung).

»Das ... darf ich dir nicht preisgeben. Die Reiter des letzten langen Wochenendes würden sonst Tod und Verderben über uns bringen«, rief er pathetisch und schlug die Hände vors Gesicht.

Unbeeindruckt schrie eine alte Frau, »verrate schon, was du weißt!«

Auch die anderen forderten Aufklärung. Die Situation fing an zu kippen, merkte der Zauberer (in Ausbildung).

»Ruhe, Ruhe«, versuchte er die Gemüter zu beruhigen, wofür seine zu dünne Stimme aber kaum ausreichte, »ich werde euch den wahren Grund verkünden, warum ich es nicht preisgeben darf!«

Stille senkte sich über das Dorf. Nur Thariels Haus war zu hören, als es wieder ein Stück mehr im Sumpf verschwand.

»Ich«, der Zauberer (in Ausbildung) hob seinen Holzstab, denn einen echten Zauberstab durfte eine Gelbmütze nicht besitzen, »weiß es nicht!«

Weiterhin Stille. Seine Schultern senkten sich herab.

»So weit bin ich in meiner Ausbildung noch nicht. Ich kann erkennen, dass es ein Fluch ist, mehr nicht. Wenn ihr mich aber vielleicht in zwölf Monaten ... «

»Lass gut sein«, unterbrach ihn der Bürgermeister, »es ist nicht deine Schuld, dass wir uns für dich entschieden haben und nicht für einen begabteren Zauberer-Aspiranten, du kannst jetzt gehen.«

Tief gekränkt zog sich der Zauberer (in Ausbildung) in seine kleine Studierstube zurück. Wie sollte er den Unwissenden auch begreiflich machen, dass es kaum etwas Schwereres gab als den genauen Grund einer Verfluchung zu enträtseln? Auch, dass er der Jahrgangsbeste in seinem Fernstudiumskurs war, interessierte sie nicht. Wenn er davon erzählte, nickten sie nur gleichgültig und fragten ihn, ob er noch wüsste, dass ihm Thariel früher immer tote Frösche in die Stiefel gesteckt hatte.

Nachdem der Zauberer (in Ausbildung) die Runde verlassen hatte, wandte sich der Bürgermeister an Thariel. »Du bist ein Sohn unseres Dorfes und der Sohn deines Vaters, der wiederum der Sohn seines Vaters ist, der der Sohn seines Vaters ist, der der Sohn seines Vaters ist. Wir sind enttäuscht und besorgt, weil du etwas Schlimmes getan hast, was du uns nicht verraten willst. Deswegen verbannen wir dich, wie es das Gesetz zwingend vorsieht, verzichten aber auf die Vierteilung, die ist zwar erlaubt, aber nicht zwingend vorgeschrieben!«

»Ich bin unschuldig!«, rief Thariel dazwischen und Günter der Golem nickte als einziger, obwohl er das nicht glaubte, was Thariel ihm umso höher anrechnete.

»Nun gut«, begann der Bürgermeister nach einer kurzen Denkpause, »aus Respekt vor deiner Familie lassen wir dir die Möglichkeit, zurückzukehren, sobald der Fluch gelöst ist! Nicht früher.«

Dann öffnete er den Käfig. Aber frei war Thariel trotzdem nicht mehr.

4 Reihenfolge: Weiße Mütze, gelbe Mütze, grüne Mütze, blauer Hut, brauner Hut, schwarzer Zylinder.

 

5 Gut, er konnte auch töten und machte das auch manchmal. Aber der Tod war ja im Grunde keine Strafe im Diesseits, ein Fluch schon.

 

6 Es gab nur zwei Fluchologen, und die waren auch noch bis aufs Blut verfeindet, aber beide kamen sie zum Ergebnis, dass Flüche nur individuell vergeben werden und sich eben nicht ausbreiteten. Sicher waren sie sich aber nicht.

 

3

 

Thariel wusste, was das heißt. Er musste nach Mammama reisen, dort wohnte der Glasmeister und wachte über die Scherbe der einen Glaskugel, in der das Schicksal aller Menschen stand. Nur von ihm konnte er erfahren, was es mit dieser Regenwolke auf sich hatte. Mammama war eine Stadt, deren Gründerväter den Fehler gemacht hatten, den Stadtnamen im Rahmen eines Kinderschreibwettbewerbs festlegen zu lassen, den schließlich die kleine Irstin (3 Jahre) gewonnen hatte.

 

Natürlich kam niemand, um Thariel zu verabschieden. Nur zwei Personen warteten vor der Kutsche. Die eine war Günter der Golem, der ihm aufmunternd auf die Schulter klopfte und die andere Sulala, die ihn kurz umarmte und den Tränen nahe schien. Lydia fehlte, was Thariel ihr aber nicht übelnehmen wollte. Es war ein sonniger Tag und die Regenwolke regnete auf sein Gesicht. Mehrere Kinder beobachteten den Aufbruch schüchtern hinter einem Baum versteckt. Thariel umarmte noch einmal seinen erdigen Freund und roch diesen angenehmen Duft, der ihn immer in vergangene Zeiten entführte. Dann stieg er über die zwei Stufen in die Kutsche ein.

Er hatte kaum Gepäck dabei. In einem Beutel befand sich eine kleine Kohlezeichnung von Lydia für seinen Nachttisch. Als die Kutsche gerade losfahren wollte, hörten sie eine Frauenstimme. Thariel blickte hinaus und sah seine Lydia zur Kutsche rennen. Mit Rucksack und zwei vollen Taschen aus Fledermausfell.

»Halt!«, rief sie immer wieder.

Thariel sprang aus der Kutsche und breitete die Arme aus.

»Du kommst mit?« Natürlich hatte er heimlich davon geträumt, aber es doch nicht zu hoffen gewagt. Als sie ihn erreicht hatte, fiel sie ihm nicht in die Arme, sondern stützte sich auf dem Oberschenkel ab und atmete schwer durch. Nachdem sie sich etwas erholt hatte, schüttelte sie den Kopf.

»Nein, ich komme nicht mit, aber ich wollte dir noch etwas mitgeben.«

Sie reichte ihm einen versiegelten Brief im gelben Umschlag.

»Öffne ihn erst, wenn du vor einer schweren Entscheidung stehst. Er wird dir helfen, dich richtig zu entscheiden!«

»Ja«, er war verwirrt, »aber warum hast du all das Gepäck dabei?«

»Das«, sie deutete auf den Rucksack und die Taschen, »ach, das sind nur ein paar Sachen, die ich zum Picknick mitnehme.«

»Du gehst zum Picknick?«

Sie nickte und lächelte dabei.

»Mit wem?«

»Leider nicht mit dir, Thariel«, hauchte sie traurig, aber auch etwas aufgesetzt, und streichelte ihm über die Wange, »mach es gut, und verlier den Brief nicht!«

»Mach du es gut!«, flüsterte er.

»Nein, mach du es gut!«, kam es gespielt trotzig zurück.

»Nein, mach du es gut!«, ging Thariel darauf ein und stupste ihr gegen die Nase.

»Nein, mach du es gut!«, Lydia stupste nun seine Nase.

»Nein, mach du es gut!«

»Mach es immer so ein Stück besser gut!« Lydia breitete die Arme zur vollen Breite aus

»Und du sollst es immer so ein Stück besser gut machen!« Thariel kam auf noch mehr Armlänge.

»Du sollst …«, wollte sie gerade mit der Neckerei weitermachen, da schob sich der Kopf des Bürgermeisters aus der Kutsche, »Schluss jetzt, steig endlich ein!«

Lydia gab ihm einen letzten Kuss und winkte ihm noch nach, bevor sie schwer bepackt mit jemandem zum Picknick ging, der nicht Thariel war.

Scheppernd und klappernd setzte sich die Kutsche in Bewegung. Thariel verstaute den Brief sorgfältig in seiner Hose, um ihn ja nicht zu verlieren. Nur ein schmaler Weg führte aus dem Dorf heraus. Bevor die Kutsche um die Kurve bog, versank Thariels Haus wieder ein Stück mehr im Sumpf. Neben ihm in der Kutsche saßen Zimon der Dorfzauberer (in Ausbildung) und der Bürgermeister, an dessen Händen Thariel mehrere Kleckse blauer Farbe auffielen.

»In der Welt da draußen lauern Gefahren und Unsicherheiten. Ich rate dir eines: Sieh dich vor«, erklärte er Thariel, der sich bedankte, obwohl er fand, dass dieser Ratschlag recht allgemein ausgefallen war. Trotzdem zwinkerte der Bürgermeister ihm zufrieden zu. Der Zauberer (in Ausbildung) hatte seine langen Beine umständlich in die Kutsche gezwängt und musste sich ducken, um mit dem Kopf nicht gegen die Decke zu stoßen. Was dennoch bei jeder Wurzel und jedem Stein geschah, die sie überfuhren. Der Kutscher sprach kein Wort und konzentrierte sich darauf, seine beiden gezähmten Einhorngiraffen anzutreiben.

»Thariel«, begann der Zauberer (in Ausbildung), »lange überlegte ich, was ich dir mit auf den Weg geben kann.«

Wieder machte er eine der langen Pausen, wegen denen er bei den Dorfbewohnern so unbeliebt war.

»Was denn?«, fuhr ihn der Bürgermeister an und schob nach, »tote Frösche?«

Zimon überhörte die Spitze und fuhr fort. »Nimm diese zwei Goldstücke mit, alle großen Zauberer besitzen solche Goldstücke.«

Thariel griff nach den beiden Münzen. Sie glänzten geheimnisvoll.

»Danke, was haben sie für Fähigkeiten?«

»Diese Münzen ermöglichen es dir«, der Zauberer (in Ausbildung) schob seine Mütze zurecht und donnerte wegen einer Boden­welle wieder gegen die Decke, »in jeder Gaststätte oder Herberge Speis und Trank und Übernachtungen zu erhalten.«

»Für immer?«

»Ja!«

»Danke, das hilft mir sehr«, freute sich Thariel.

»Also«, schränkte der Zauberer (in Ausbildung) dann doch noch ein, »natürlich nur so lange, bis das Geld eben aufgebraucht ist.«

»Wann ist magisches Geld denn aufgebraucht?«

»Ähm, das ist kein magisches Geld«, murmelte der Zauberer (in Ausbildung).

»Es sind also nur zwei Goldmünzen?«

»Zwei Goldmünzen«, wiederholte der Zauberer (in Ausbildung).

»Keine Magie.«

»Nein.«

Thariel schaute kurz aus dem Fenster und murmelte dann, »trotzdem danke.«

Er packte die beiden Goldstücke ein. Der Bürgermeister murmelte etwas in Richtung des Zauberers (in Ausbildung), was sich wie ein Schimpfwort anhörte.

Die Kutsche hatte mittlerweile den engen Pfad hinter sich gelassen und eine Stelle erreicht, an der eine Hauptstraße kreuzte. Hier stieg Thariel aus.

Der Bürgermeister wiederholte seinen Ratschlag: »Sieh dich vor.«

Der Zauberer (in Ausbildung) warnte ihn vor allerlei falschen Feen und Druiden und der Kutscher haute ihm zum Abschied seine kräftige Pranke so fest auf die Schulter, dass Thariel sich sicher war, dass er den Schmerz noch bei seiner Rückkehr ins Dorf spüren würde – sollte es je zu einer solchen Heimkehr kommen.

Weil langsam die Dämmerung hereinbrach, dauerte dieser letzte Abschied nicht lange. Die drei wollten das Dorf wieder erreichen, bevor es Nacht wurde, denn in der Dunkelheit konnten die Wesen hier draußen sehr unangenehm werden. Außerdem hatte Zimon noch eine private Verabredung, was ihm aber keiner glaubte. Die Kutsche wendete und verschwand nach wenigen Augenblicken in den Nebelschwaden.

Thariel war zum ersten Mal auf sich alleine gestellt und der Regen prasselte auf ihn herab.

4

 

Thariel lief los. Er sollte der befestigten Hauptstraße folgen und kam gut voran. Doch er fühlte sich nicht sicher auf den Beinen. Bei jedem Schritt hatte er das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Sein Weg wurde von mächtigen Fliederbäumen eingerahmt, deren Blätterwerk sich weit über ihm berührten und so den Eindruck eines Tunnels machten. Dann wurde ihm sein Problem klar: die befestigte Straße. Thariel war noch nie auf einer solchen gelaufen. Es fühlte sich unangenehm an, wenn der Untergrund nicht nachgab, weswegen er versuchte, zwischen der Straße und den Fliederbäumen zu gehen. Im Dickicht summten, pfiffen und zirpten die Kreaturen des Waldes. Bald würde die Sonne untergehen, was Thariel beunruhigte, weil in der Nacht seltsame Wesen durch die Wälder wandelten.

Er wusste schon seit Kindertagen, dass man ihnen aus dem Weg gehen sollte. Normalerweise war das auch kein Problem, man ging einfach ins Haus und schloss die Türe oder unterhielt sich laut mit einem Begleiter, wenn man auf Reisen war. Aber Thariel hatte hier draußen weder Begleiter noch eine Haustüre und wenn er ... ein rot schimmerndes Wesen schwebte aus dem Wald hervor, der in der Nacht nur noch aus einem schwarzen Schlund zu bestehen schien. Man konnte durch das Wesen hindurchsehen wie durch klares Wasser. Es hatte den Kopf und den Körper eines Menschen, aber anstelle der Armen und Beinen nur unzählige schmale Streifen, die bei jeder Bewegung wie Papier im Wind flatterten.

Thariel versuchte, nicht hinzusehen.

»Du, hey du!«, rief das Wesen. Thariel tat so, als ob er nichts gehört hatte. Manchmal funktionierte es. Doch schon schwebte es an seiner Seite. Es hatte harte Gesichtszüge und seine Augen funkelten vor Wut. Seine Hände zitterten und ballten sich immer wieder zu Fäusten.

»Ich kann es nicht mehr hören!«, schrie das Wesen aus der Dunkelheit Thariel an, »immer werde ich vertröstet. Wie lange noch? Gerade letzte Woche war es wieder soweit, ich warte und warte und mir wird versprochen, dass ich jetzt an der Reihe bin und was passiert dann? Mein Schalter wird zugemacht! Der Kerl vor mir wird noch durchgewunken, ich nicht! Seit Jahrhunderten geht das schon so. Was für ein Pech kann man haben? Wobei ich denke, das hat System. Man will mich bestrafen, mich brechen. Weil ich eine eigene Meinung habe. Das gefällt nicht allen. Und darum wird versucht, mich verrückt zu machen! Ich kann schon nicht mehr zählen, wie oft die direkt vor mir den Schalter zugemacht haben, glaubst du mir das?«

Thariel ging weiter und er spürte anklagende Blicke auf sich ruhen. Er wollte nicht, aber etwas zwang ihn dazu, »ja« zu sagen.

»Wenigstens einer glaubt es mir!«

Jetzt schwebte das Wesen direkt vor Thariel. Ihre Köpfe trennten nur wenige Zentimeter.

»Die wollen mich brechen, zermürben. Aber da kennen die mich schlecht. Meine Zeit kommt noch! Sie kommt!«

Das Wesen schwieg jetzt und blickte Thariel ernst an, was fast noch gespenstischer war, als wenn es sprach.

»Tut mir leid für Sie«, hörte er sich sagen und ärgerte sich schon beim Sprechen darüber.

»Danke!«, donnerte das Wesen mit neuer Wut los, »manchmal denke ich, ich bin verflucht und das wird nie aufhören. Manche warten schon seit Tausenden von Jahren! Aber ich denke, irgendwann muss ich einfach an der Reihe sein. Es ist mein Recht, mein Recht!«

Die letzten Worte schrie es so laut, dass Thariel die Ohren weh taten.

»So«, kam es danach deutlich ruhiger und fast entspannt, »das hat gutgetan, sich mal Luft zu machen, den Ärger loszuwerden. Danke, mein Freund, danke.«

Während es diese Worte sprach schwebte es in die Dunkelheit davon und schimmerte noch kurz zwischen den Ästen, bevor es vom Wald verschluckt wurde.

Thariel dröhnte der Kopf und er beeilte sich, schnell weiterzukommen.

In einiger Entfernung sah er drei weitere Wesen lautlos über den Weg gleiten. Eine ganze Gruppe, das hätte ihm noch gefehlt. Dabei hatte er durchaus Mitleid mit diesen Geistern noch nicht geborener Wesen, die sich immer übergangen fühlten. Oft sogar zu Recht, weil viele von ihnen wirklich schon lange warteten und deswegen irgend­wann keine Geduld mehr hatten.

Endlich hatte er den Wald hinter sich gelassen und schlief in einer kleinen Höhle ein. Als er erwachte, schien die Sonne und er blickte staunend auf eine Wiese hinab, die er in der Nacht nicht gesehen hatte. Der Wind wiegte die Halme, als ob sie bei der Morgengymnastik waren. Was hinter der Wiese folgte, sah sogar noch schöner aus. Ein Blumenmeer aus allen möglichen Farben. Thariel atmete den frischen Duft von Gras und Blumen ein, als er den Hügel hinablief. Die Sonne kitzelte ihm auf der Nase und für einen Augenblick vergaß er dabei, dass die Regenwolke über ihm niederging. Er legte sich auf das warme Gras und schaute in den Himmel hinauf, der in kräftigem Blau und mit wenigen weißen Wolken vom süßen Sommer sprach. Es duftete nach den Rosen und Lavendel, nach Chrysanthemen und Gladiolen, nach Tulpen und Narzissen des nahen Blumenmeers. Thariel fühlte sich wohl hier im hohen Gras und wälzte sich übermütig hin und her. Die Halme kitzelten ihn an Armen und Beinen und er fühlte sich bei ihnen geborgen. Trotzdem stand er bald wieder auf, das Blumenmeer zog ihn an.

Während er sich dem Meer näherte, strichen seine Hände über die Gräser, als sei er der Hirte und sie seine Herde. Dann blieben sie zurück und er stand vor dieser gewaltigen wogenden Blumenpracht, die sich in all ihren Farben bis zum Horizont erstreckte. Seine Augen waren mit all diesen Farben ebenso überfordert wie seine Nase mit den süßen Düften, die in der Luft lagen. Er wollte nicht nur am Ufer stehen, er wollte zwischen all diesen Blumen liegen und in sie eintauchen. So nahm er Anlauf und sprang ins Blumenmeer … und spürte, wie oben und unten sich auflösten und ihn etwas mit sich riss. Seine Arme und Beine fanden keinen Halt, unsichtbare Kräfte zogen ihn mit sich. Thariel konnte noch ein letztes Mal die Sonne als gelben Punkt erahnen, nun schon weit weg und wie durch einen Filter. Und dann dachte er, dass er doch nicht wirklich schon wieder ertrinken konnte. Ihm wurde schwarz vor Augen. Er spürte nur noch, dass er sank und sank, tiefer und immer tiefer.

5

 

HATSCHI! HATSCHI!

Das Niesen weckte Thariel auf, der nur mit Mühe die Augen öffnen konnte. Er erkannte sehr verschwommen und doch direkt vor sich eine Person, die sich mit einem Taschentuch die Nase putzte. Es dauerte noch weitere Augenblicke, bevor er wieder klar sehen konnte. Wo war er hier? Die Welt schien sich auf und ab zu bewegen. Und wer war diese Person, die ihn da so brutal angrinste und dabei zwei verholzte Zahnreihen zeigte? Sowohl oben als auch unten hatte diese Person nur noch Zähne aus Fichtenholz, wie Thariel beim Blick auf diesen Mundforst vermutete. Auch der restliche Mann wirkte verwegen und entschlossen und wie einer, der beim Münzwurf zu oft auf Zahl gesetzt hatte, wenn es Kopf wurde. Narben überzogen sein Gesicht rund um die breite Nase, doch machten vor allem die Augen einen schlimmen Eindruck. Rot unterlaufen, tränend und dick angeschwollen. Um das linke Knie hatte er einen Verband gewickelt. Sie befanden sich offenbar auf einem Schiff, das ruhig auf und nieder ging.

»Du verdammter Glückspilz!«, meinte die Gestalt jetzt, während sie sich Tränen aus den Augen rieb.

»Warum?«, fragte Thariel den Mann, der braune Hosen und ein weißes Hemd trug. Als Antwort kam ein schallendes Gelächter, als ob Thariel einen Scherz gemacht hatte.

»Was denkst du wohl, wie hoch die Chance ist, im Blumenmeer nicht zu ertrinken, wenn man hineinspringt?«

Erinnerungen kehrten zurück. Die Wiese, der Himmel, die Blumen, die Düfte, der Sprung.

HATSCHI! HATSCHI! HATSCHI!

Das Niesen schüttelte den Mann hin und her, dessen Augen dadurch nur noch mehr tränten. Erneut kam das Taschentuch zum Einsatz.

»Das Blumenmeer«, begann Thariel und nur langsam ordneten sich die Worte, »ist ein Meer?«

»Warum heißt es wohl Blumenmeer?« Der Kerl mit den Holzzähnen grinste wieder sein Fichtenlächeln. Sein Atem roch angenehm nach Harz, »ich habe noch nie erlebt, wie sich jemand mit vollem Anlauf in dieses Meer stürzte.«

»Ich dachte«, begann Thariel, ließ es dann aber sein, weil jede Erklärung doch nur weiteres Lachen auslösen würde. Stattdessen interessierten ihn zwei andere Dinge.

»Von wem wurde ich gerettet?«