Irrlicht 15 – Mystikroman - Runa Moore - E-Book

Irrlicht 15 – Mystikroman E-Book

Runa Moore

0,0

Beschreibung

Der Liebesroman mit Gänsehauteffekt begeistert alle, die ein Herz für Spannung, Spuk und Liebe haben. Mystik der Extraklasse – das ist das Markenzeichen der beliebten Romanreihe Irrlicht: Werwölfe, Geisterladies, Spukschlösser, Hexen und andere unfassbare Gestalten und Erscheinungen erzeugen wohlige Schaudergefühle. Als Vivien sich dem Haus näherte und das dunkle Rauschen des Flusses hörte, bereute sie ihren Entschluß. Sie hätte nicht herkommen dürfen! Sie hätte auf die innere Stimme hören sollen, die ihr geraten hatte, nicht an diesen Ort zurückzukehren: Nicht in dieses alte Haus aus verblichenem Ziegel, nicht an diesen Fluß, dessen Rauschen nur Unheil zu verkünden schien. Es war falsch gewesen, doch nun war sie da und stand vor dem Backsteingebäude mit den wuchtigen Mauern. Nur die beiden spitzen Türmchen auf beiden Seiten lockerten das düster wirkende Gemäuer etwas auf. Viviens Blick wanderte über die verblichenen Ziegel. An vielen Stellen waren die Fugen ausgewaschen, und an den Vorsprüngen zeigten sich Risse. Vivien seufzte tief auf. Jetzt kam auch noch ein kalter Wind vom Fluß herüber. Blätter wirbelten durch die Luft, und Vivien erschauerte. Sie mußte sich entscheiden. Entweder kehrte sie auf der Stelle um und nahm den nächsten Zug zurück, oder sie ging auf die Haustür zu und betätigte den alten Türklopfer. Sie dachte an Tante Rosemary, die sie sehnlichst erwartete. Sie konnte sie nicht im Stich lassen, nicht jetzt, wo es ihr so schlecht ging. Tante Rosemary war immer gut zu ihr gewesen. Die Vergangenheit ist ein für allemal vorbei, dachte Vivien, nahm den kleinen Koffer, den sie in den Kiesweg gestellt hatte, und ging auf das Haus zu. Gerade als sie den Fuß auf die erste Stufe setzte, nahm sie eine Bewegung aus den Augenwinkeln wahr. Langsam drehte sie den Kopf. An der hohen Mauer neben dem Grundstück stand ein Mann. Er war mittelgroß, hatte dunkles Haar und seine Augen blickten sie unverwandt an.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 148

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Irrlicht – 15 –

Grauen über Darkshore Manor

Wenn die Heimat zur Stätte der Angst wird…

Runa Moore

Als Vivien sich dem Haus näherte und das dunkle Rauschen des Flusses hörte, bereute sie ihren Entschluß. Sie hätte nicht herkommen dürfen!

Sie hätte auf die innere Stimme hören sollen, die ihr geraten hatte, nicht an diesen Ort zurückzukehren: Nicht in dieses alte Haus aus verblichenem Ziegel, nicht an diesen Fluß, dessen Rauschen nur Unheil zu verkünden schien.

Es war falsch gewesen, doch nun war sie da und stand vor dem Backsteingebäude mit den wuchtigen Mauern. Nur die beiden spitzen Türmchen auf beiden Seiten lockerten das düster wirkende Gemäuer etwas auf. Viviens Blick wanderte über die verblichenen Ziegel. An vielen Stellen waren die Fugen ausgewaschen, und an den Vorsprüngen zeigten sich Risse.

Vivien seufzte tief auf. Jetzt kam auch noch ein kalter Wind vom Fluß herüber. Blätter wirbelten durch die Luft, und Vivien erschauerte. Sie mußte sich entscheiden. Entweder kehrte sie auf der Stelle um und nahm den nächsten Zug zurück, oder sie ging auf die Haustür zu und betätigte den alten Türklopfer. Sie dachte an Tante Rosemary, die sie sehnlichst erwartete. Sie konnte sie nicht im Stich lassen, nicht jetzt, wo es ihr so schlecht ging.

Tante Rosemary war immer gut zu ihr gewesen. Die Vergangenheit ist ein für allemal vorbei, dachte Vivien, nahm den kleinen Koffer, den sie in den Kiesweg gestellt hatte, und ging auf das Haus zu. Gerade als sie den Fuß auf die erste Stufe setzte, nahm sie eine Bewegung aus den Augenwinkeln wahr. Langsam drehte sie den Kopf. An der hohen Mauer neben dem Grundstück stand ein Mann. Er war mittelgroß, hatte dunkles Haar und seine Augen blickten sie unverwandt an.

Vivien fror, als sie diesen Blick spürte. Er schien zu sagen: Ich kenne dich. Sie wollte den Kopf abwenden, die drei Stufen hinaufeilen, doch sie war wie gelähmt. Der Blick des Mannes hielt sie fest.

In diesem Augenblick verzog sich sein Mund zu einem schwachen Lächeln. Aber es war kalt und grausam. Es gehörte zu jemandem, dem es als Kind Spaß gemacht hatte, Fröschen die Beine oder Schmetterlingen die Flügel auszureißen. Er schien mit dem Kopf zu nicken, als wolle er sie begrüßen.

Mit aller Gewalt zwang sich Vivien, ihren Blick abzuwenden und die Stufen hinaufzusteigen. Es war ihr, als trüge sie bleischwere Gewichte an ihren Beinen. Mit letzter Kraft klopfte sie an die Tür. Wenn Tante Rosemary nicht bald auftauchte, würde sie sich auf der Stelle umdrehen und davonlaufen, so schnell sie konnte. Doch schon Sekunden später, die sich für Vivien unendlich lang hinzogen, öffnete sich das kleine rautenförmige Fenster in der Tür und Tante Rosemarys Gesicht erschien. Ihr silbergraues welliges Haar schimmerte wie eh und je.

»Gott sei Dank«, flüsterte Vivien und schlüpfte ins Haus.

»Da bist du ja endlich, mein Kind«, begrüßte Tante Rosemary ihre Nichte und öffnete die Tür weit. Vivien warf noch einen hastigen Blick zurück, packte den Türgriff und warf die Tür zu.

»Was ist los, Vivien?« fragte Tante Rosemary, nachdem sie ihre Nichte liebevoll umarmt hatte.

»Ach nichts, Tante.« Vivien merkte, daß ihre Panik nachließ. »Du riechst immer noch nach Maiglöckchen«, sagte sie rasch. Der vertraute Duft nahm ihr erst einmal jedes Gefühl der Beklemmung.

»Nun, dieser Duft gehört wohl einfach zu mir«, erwiderte Rosemary Baxter und führte Vivien in den Salon, wo ein hübsch gedeckter Tisch bereitstand. Vivien nahm auf dem gemütlichen Sofa Platz, Tante Rosemary schenkte heißen Tee ein und reichte ihrer Nichte den Teller mit den herrlich duftenden Butterplätzchen.

Erleichtert atmete Vivien auf. »Schön, dich zu sehen, Tante Rosemary«, sagte sie. Und das meinte sie auch so. Von dem Mann an der Mauer erzählte sie vorerst nichts. Sie wollte Tante Rosemary nicht unnötig aufregen. Stattdessen erzählte sie von ihrer Arbeit in der Schule und ihrem Leben in dem kleinen Ort in der Nähe von London. Schließlich fragte sie: »Wie geht es dir, Tante Rosemary?«

»Es geht, mein Kind«, erwiderte Rosemary Baxter. »Die letzten Monate waren nicht einfach, das gebe ich zu. Aber was ich mit dir zu besprechen habe, möchte ich noch etwas verschieben. Du bist ja gerade erst angekommen.«

»Wie du meinst, Tantchen«, sagte Vivien und lächelte die alte Dame dankbar an.

»Dein Zimmer brauche ich dir ja nicht zu zeigen«, sagte Tante Rosemary und erhob sich, um den Tisch abzuräumen.

Vivien nickte. »Nein, das brauchst du nicht. Aber ich werde dir erst beim Abräumen helfen.«

»Laß mal gut sein, mein Kind«, erwiderte Tante Rosemary. »Wenn du nur allein hinaufgehst. Das Treppensteigen fällt mir nach dem Herzinfarkt immer noch sehr schwer.«

»Bleib ruhig hier sitzen, Tante Rosemary. Du sollst dich nicht überanstrengen«, beeilte sich Vivien zu sagen. »Ich gehe jetzt hinauf, und dann werde ich dir helfen.«

Rosemary Baxter blieb im Salon zurück und Vivien stieg die breite Treppe in den ersten Stock hinauf. Es hatte sich kaum etwas in diesem alten Haus verändert. Auf den Stufen lag noch derselbe dunkelgrüne Teppichläufer, der sie immer an weiches Moos erinnerte, und im ersten Stock stand noch der alte Kleiderschrank mit der ovalen Spiegeltür.

Vivien erinnerte sich, daß sie sich einmal in diesem Schrank versteckt hatte. Das war, als ihre Eltern gestorben waren, und sie das Gefühl hatte, alleinsein zu müssen, um ihren Eltern nahe zu sein. Stundenlang hatte sie in dem Schrank zwischen den Kleidern ihrer Mutter gehockt.

Als Vivien die Tür zu ihrem Zimmer öffnete, umfing sie schlagartig dasselbe beklemmende Gefühl wie beim Anblick des Hauses.

Nichts in dem Zimmer hatte sich wirklich verändert: An der Wand hing die Tapete mit den großen dunkelroten Rosen, der Teppich mit dem großen Drachen lag auf den hellbraunen Dielen, Schrank und Tisch standen noch an derselben Stelle, und auf dem Bett saß der Teddybär mit der roten Schleife um den Hals.

Der Raum war wohl kürzlich gelüftet worden. Auch das Bettzeug duftete herrlich frisch, und auf dem Tisch stand eine üppig blühende Topfpflanze. Trotz allem war es Vivien, als lege sich ein enger eiserner Ring um ihre Brust.

Sie trat ans Fenster, das auf den Fluß zeigte. Die Erlen, die das Ufer säumten, waren noch gewachsen, einige Äste erreichten beinahe die Hauswand. Viviens Gedanken gingen zurück in die Vergangenheit. Es war fast genau auf den Tag sieben Jahre her, daß sie Darkshore Manor verlassen hatte, um für ein Jahr nach Deutschland zu gehen, wo sie als Au-pair-Mädchen gearbeitet hatte. Dann war sie nach England zurückgekehrt, hatte studiert und kurz nach ihrem Examen eine Stelle als Lehrerin in einem kleinen Ort östlich von London angetreten. Sie fühlte sich wohl dort. In all den Jahren hatte sie Tante Rosemary nur zweimal besucht. Beide Male war sie krank geworden und hatte sich dann vorgenommen, das Haus erst einmal zu meiden, wofür Tante Rosemary Verständnis gezeigt hatte.

Vivien seufzte. Ob sie auch diesmal wieder krank würde? Oder war sie jetzt so stark, daß sie die Erinnerungen verarbeiten konnte, die auf sie einströmten? Sie öffnete das Fenster und atmete tief ein. Die Luft, die vom Fluß herüberdrang, war kalt und feucht. Vivien merkte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte.

Aber ob sie es wollte oder nicht, einmal mußte sie sich ihrer Vergangenheit stellen. Sie beugte sich ein Stück vor und schrak im selben Moment zurück. Es war ihr, als hätte sie einen Schlag in die Magengrube bekommen. Am gegenüberliegenden Ufer des Flusses stand der Mann, der bei ihrer Ankunft an der Hauswand gelehnt hatte. Wieder schien er zu lächeln, und wieder war Vivien wie gelähmt. Was wollte dieser Mann von ihr? Sie war bereit gewesen, sein erstes Erscheinen als Zufall abzutun, doch als sie ihn jetzt zum zweiten Mal sah, beschlich sie ein furchterregendes Gefühl. Das war kein Zufall. Der Mann beschattete sie. Vivien nahm ihre ganze Willenskraft zusammen, um das Fenster zu schließen. Doch ihre Hand hob sich nur wenige Zentimeter, dann sank sie zurück auf das Fensterbrett.

Als ob der Mann die winzige Bewegung ihrer Hand gesehen hätte, hob er statt dessen seine Hand und winkte ihr zu. Vivien stockte der Atem. Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn. Wie hypnotisiert sah sie zu, wie der Mann den Arm senkte, sich langsam umdrehte und hinter den Stämmen der Pappeln im hohen Gras verschwand. In Viviens Kopf überschlugen sich die Gedanken: Träume ich oder gibt es diesen Mann wirklich? Was will er von mir?

Die junge Frau rannte aus dem Zimmer, die Treppe hinunter. Beinahe hätte sie die Bodenvase umgeworfen, die immer noch neben der Garderobe stand. Wo war Tante Rosemary? Ich muß sie unbedingt fragen, ob sie diesen Mann kennt, dachte sie und versuchte, ihre Panik zu unterdrücken. Sie durfte ihre Tante nicht zu sehr aufregen. Vielleicht gibt es ja eine plausible Erklärung für sein Erscheinen. Es könnte doch sein, daß er hier arbeitet und ich mir nur einbilde, daß er mich beobachtet. Sie riß die Tür zum Salon auf, aber Tante Rosemary war nirgendwo zu sehen.

Vivien lief über den Flur in die Küche. Auch hier war Tante Rosemary nicht. Das Geschirr stand in der Spüle, und der Teller mit Plätzchen war mit Folie zugedeckt. Vivien lief durch den Flur in den hinteren Teil des Hauses, wo Tante Rosemary ihre Zimmer hatte.

Als sie vor der Türe stand und gerade anklopfen wollte, zögerte sie. Sie konnte Tante Rosemary jetzt unmöglich mit ihrer Angst belasten. Ihre Tante brauchte dringend Ruhe. Es wäre egoistisch, sie jetzt danach zu fragen, was es mit dem Mann auf sich hatte, der sie, Vivien, in Angst und Schrecken versetzte. Langsam ließ sie die Hand sinken und ging zurück in die Küche.

Sie setzte sich an den runden Tisch in der Eßecke und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Wahrscheinlich hatte die Ankunft in Darkshore Manor sie doch ziemlich aufgewühlt. Auch wenn die schrecklichen Erlebnisse der Vergangenheit schon lange zurücklagen, war es Vivien, als sei alles erst gestern geschehen. Es wird am besten sein, wenn ich abwarte und morgen in aller Ruhe mit Tante Rosemary rede, dachte sie.

Sie überlegte kurz, ob sie noch eine Kleinigkeit essen sollte, aber die Butterplätzchen hatten sie ziemlich gesättigt. Sie nahm sich noch einen Apfel aus der Schale und ging wieder nach oben. Erst einmal mußte sie versuchen zu schlafen und Kraft zu sammeln.

Sie ging in das kleine Bad neben ihrem Zimmer und machte sich fertig für die Nacht. Dann legte sie sich ins Bett, den Teddy mit der roten Schleife platzierte sie neben sich und legte den Kopf an das flauschige Fell ihres Kameraden aus Kindertagen.

Mitten in der Nacht erwachte Vivien. Im ersten Augenblick wußte sie nicht, warum ihr Kopf am Fußende des Bettes lag und das Mondlicht von der falschen Seite ins Zimmer schien, aber dann fiel ihr ein, daß sie nicht zu Hause in ihrem Bett lag, sondern in ihrem alten Zimmer auf Darkshore Manor.

Sie hielt den Atem an und lauschte. Vom Fenster her drang ein kühler Hauch und das monotone Rauschen des Flusses. Aber dazwischen war noch ein anderes Geräusch zu hören. Vivien stützte sich auf die Ellenbogen und horchte angestrengt. Es war, als ob in der oberen Etage etwas über den Boden strich.

Vivien drehte den Kopf zum Fenster. Dann sah sie, daß das Fenster ziemlich weit offenstand. Langsam schob sie die Bettdecke zurück, stand auf und ging auf nackten Füßen zum Fenster. Eine kalte Bö traf ihr Gesicht, und dann sah sie im Mondlicht, wie der Wind die Äste der Erlen hin und her schwang. Einige der Äste berührten die Hauswand und strichen über das Gemäuer.

Vivien war erleichtert, als sie die Ursache für das unbekannte Geräusch herausgefunden hatte, und schloß das Fenster. Ihr Blick wanderte noch kurz über das Gartenstück bis zur Mauer hinüber, aber sie konnte nichts Außergewöhnliches entdecken. Aufatmend ging sie zurück und schlüpfte unter die warme Decke. Trotzdem wäre ich lieber zu Hause, dachte sie und war froh, als sie merkte, wie ihre Glieder schwer wurden und sie wieder einschlummerte.

Am nächsten Morgen betrat Vivien um kurz nach neun die Küche. Tante Rosemary war schon auf und hantierte am Herd. »Guten Morgen, mein Kind. Hast du gut geschlafen?«

»Ja«, antwortete Vivien und schnupperte.

»Es gibt Eier mit Speck«, sagte Tante Rosemary und stellte die Pfanne auf den gedeckten Tisch. »Dazu Toast, Marmelade und Quark mit frischen Kräutern.«

»Wunderbar«, sagte Vivien. Sie war entschlossen, sich das gute Frühstück schmecken zu lassen und den neuen Tag optimistisch zu beginnen.

»Ich wollte etwas mit dir besprechen«, sagte Tante Rosemary, nachdem sie Vivien noch einen Toast mit Marmelade auf den Teller gelegt hatte. »Wie du weißt, geht es mir gesundheitlich nicht so gut, wie ich es mir wünsche. Die Ärzte meinen, daß ich jederzeit wieder einen Herzinfarkt bekommen könnte. Das ist natürlich kein schönes Gefühl, wenn man hier allein abseits vom Dorf lebt.«

»Das verstehe ich gut«, meinte Vivien und sah ihre Tante erwartungsvoll an.

Ihre Tante lehnte sich zurück. »Ich überlege, ob ich das Haus verkaufe und in ein Heim gehe.«

»Aber bist du für ein Heim nicht viel zu jung?« wandte Vivien ein. »Du bist doch erst…«

»Gerade fünfundsechzig geworden«, vollendete Tante Rosemary den Satz. »Ehrlich gesagt, habe ich überhaupt keine Lust, mich in ein Altenheim zu begeben, und deshalb habe ich mir etwas anderes überlegt.« Die alte Dame schwieg und sah Vivien an.

»Was hast du dir überlegt?« fragte Vivien. Sie merkte, wie sie nervös wurde.

»Nun, ich wollte ich dich fragen, ob du Lust hast, hierher zu ziehen.« Es entstand ein lange Pause.

»Ich?« Vivien war völlig perplex. »Aber… das geht doch nicht. Ich habe doch meine Arbeit…«

»Natürlich«, sagte Tante Rosemary. »Wenn es hier keine Stelle für dich gäbe, hätte ich dich nicht gefragt.«

»Was für eine Stelle?« fragte Vivien.

»An der Schule in Ortsville, ungefähr zehn Kilometer von hier entfernt.«

»Ja, aber…« Vivien war immer noch völlig überrascht von diesem Vorschlag.

»Nun, ich kenne den Direktor; er war mit Edward zusammen an der Universität; wir reden hin und wieder, wenn wir uns in der Stadt treffen. Beim letzten Mal sagte er mir, daß er wirklich ganz dringend eine Lehrkraft sucht.«

»Das kommt jetzt ziemlich überraschend für mich«, sagte Vivien. Sie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. »Ich habe mich in Wiltshore eingelebt. Ich habe ein paar Freunde gefunden, es gefällt mir.« Was sie verschwieg, war, daß sie auch eine bittere Enttäuschung erlebt hatte. Frank, ein Kollege an der Schule, hatte ihr einreden können, daß er sie liebe, was sich dann schließlich als Lüge herausstellte. Er hatte nur seine Verführerqualitäten an ihr ausprobiert, und sie war darauf hereingefallen. Wie eine Vierzehnjährige. Es war ihr eigener Fehler gewesen, und das ärgerte sie am meisten.

»Das ist keine Entscheidung, die man in fünf Minuten trifft«, sagte Tante Rosemary. »Darüber muß man schon ein paar Nächte schlafen.« Sie beugte sich vor und nahm Viviens Hand.

»Ich will dich nicht verletzen, Tante Rosemary, und ich stelle es mir auch ganz schön vor, mit dir zusammen zu leben, aber du weißt ja auch, mit welchen Erinnerungen dieses Haus für mich belastet ist.«

»Vivien, es war nicht deine Schuld«, sagte Tante Rosemary und sah ihre Nichte beschwörend an. »Du konntest nichts dafür, daß Reuwen…« Sie löste ihre Hand, bevor sie weitersprach. »… daß er in den Fluß gestürzt und ertrunken ist.«

»Das versuche ich auch immer wieder, mir klar zu machen, aber manchmal überfällt mich die Erinnerung daran wie ein wildes Tier. Vor Angst und Schuldgefühlen halte ich es kaum aus. Besonders nachts ist es grauenhaft. Mir geht dann nur ein Gedanke durch den Kopf: Wenn wir uns doch bloß nicht gestritten hätten! Dann wäre er nicht so schnell weggelaufen. Er wäre nicht ausgerutscht, er wäre nicht in den Fluß gestürzt…« Ihr kamen die Tränen. Schluchzend schlug sie die Hände vors Gesicht.

»Vivien, er hat dich geärgert, er hat dich gequält, deshalb habt ihr euch gestritten, dich trifft keine Schuld«, sagte Tante Rosemary beschwörend. »Hör auf zu weinen.«

Vivien hob den Kopf. Ihr liefen noch immer die Tränen übers Gesicht. »Ich kann es einfach nicht vergessen«, sagte sie schluchzend. »Als ich hier ankam… ich wäre am liebsten wieder weggefahren.«

»Aber du bist geblieben; das zeigt, wie stark du eigentlich bist«, sagte Tante Rosemary tröstend. »Ich bin auch der Meinung, daß es gut ist, wenn du dich noch einmal der Vergangenheit stellst. Damit du mit dir ins reine kommst und nicht ewig die Schuldgefühle mit dir herumschleppst.«

Vivien seufzte tief und nickte. »Ich glaube, du hast recht, Tante Rosemary.«

»Ich weiß, wie schwer es dir fällt, dich dem ganzen noch einmal zu stellen. Ich will versuchen, dir zu helfen. Und das mit meinem Vorschlag sollst du dir in aller Ruhe überlegen. Ich habe Zeit. So schnell werde ich ja wohl nicht sterben.« Tante Rosemary versuchte zu lächeln, aber es gelang ihr nicht richtig.

»Das hoffe ich doch«, sagte Vivien und drückte ihrer Tante die Hand. »Du hast immer versucht, mir zu helfen.«

Entschlossen erhob sie sich, um den Frühstückstisch abzuräumen. Sie griff nach den Tellern. »Ach, übrigens, beschäftigst du im Augenblick jemanden, einen Mann, Anfang Dreißig, mit rötlichem Haar?«

»Nein, wieso fragst du?«

»Ach, nur so. Als ich ankam, stand ein Mann an der Mauer. Mittelgroß, dunkles Haar, stechende Augen. Es sah aus, als kennte er mich. Irgend etwas an ihm kam mir auch bekannt vor.«

Tante Rosemary schüttelte den Kopf. »In letzter Zeit treiben sich immer wieder merkwürdige Gestalten in der Gegend herum.«

»Abends war er immer noch da«, meinte Vivien.

»Neulich stand ein langer Artikel in der Zeitung. Über Leute, die ausbaldowern, ob die Häuser bewohnt sind. Sie suchen Schlafplätze oder kundschaften aus, wo es etwas zu holen gibt. Aber ich denke, wir sind hier sicher. Natürlich müssen wir immer darauf achten, daß das Haus immer abgeschlossen ist«, sagte Tante Rosemary und erhob sich ebenfalls.

Liebevoll legte sie den Arm um Vivien. »Mach dir einen schönen Tag, Vivien. Ich freue mich, daß du da bist und mir zumindest für ein paar Tage Gesellschaft leistest.«