Isolation bis in den Tod - Susan Mary Kuldkepp - E-Book

Isolation bis in den Tod E-Book

Susan Mary Kuldkepp

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Beschreibung

Wien, Salzburg und Estland sind die Stationen eines wahnsinnigen Genies. Der Blick in seine Seele lässt uns erzittern. Seine Opfer finden nicht zufällig den Tod, denn ER ist der Meinung, in jedem Fall mit aller Berechtigung zu handeln...

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Seitenzahl: 297

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Vorwort

Liebe Leserin, lieber Leser,

ab Seite → finden Sie die Kurzcharakteristik und einen Auszug der Biografie jener Personen, die in diesem Krimi eine wesentliche Rolle spielen.

Ob bzw. zu welchem Zeitpunkt Sie dies lesen, bleibt Ihnen überlassen.

Das Wissen, das Sie dadurch erhalten wird jedoch relevant dafür sein, wie Sie die einzelnen Personen wahrnehmen.

Ich möchte Sie ganz bewusst mit ins Geschehen nehmen. Sie sollen mitten drin sein und darüber hinaus den gesamten Überblick haben – nämlich auch den Blick hinter die Kulissen. Denn dann wissen sie nicht nur, WAS geschieht, sondern Sie spüren auch WARUM das eine oder andere so und nicht anders sein kann.

Sie erhalten Gelegenheit mehr zu „sehen“ und den persönlichen Hintergrund eines jeden so zu kennen um dadurch die Fähigkeit des intuitiven Verstehens und einem Wissen – mehr als sich die einzelnen Akteure selbst bewusst sind – zu bekommen.

So wie im wirklichen Leben sind unsere Erziehung sowie die Summe und der Inhalt unserer Lebenserfahrungen maßgeblich dafür verantwortlich, wie wir agieren, denken und fühlen – und in der nachfolgenden Handlung sind dies wesentliche Faktoren.

Viel Spaß!

Die Autorin

Sie traute sich nicht ihren Schritt zu verlangsamen oder gar stehen zu bleiben. Die Panik die sie in sich spürte, konnte sie durch den raschen Schritt einigermaßen kontrollieren. Alles was sie im Moment wahrnahm, war klar und für sie eindeutig einordbar. Häuser, Straßen, Geschäfte und der Beginn eines Arbeitstages. Diese Sinne funktionierten. „Also“ – sagte sie sich – „bin ich keine aus dem Irrenhaus Entflohene. Ich sehe, ich höre und ich verstehe“, waren die Gedanken, die sie sich immer wieder leise vorsagte. „Aber ich WEISS NICHTS“, kam die andere Stimme in ihr laut in den Vordergrund ihrer Gedanken, die auch dafür verantwortlich war, dass sich Angst – nahezu Panik – in ihr breit machte.

Vor zirka einer Stunde öffnete sie auf einer Parkbank ihre Augen. Muss wohl geschlafen haben, stand orientierungslos auf, fühlte sich benommen und ihre Knie gaben für einen Moment nach. Sie musste sich nochmals hinsetzen.

Der erste Gedanke, an den sie sich bewusst erinnerte war „Wo bin ich“. Diesem Gedanken folgten Fragen wie „Was ist geschehen?“ und „Wo gehöre ich hin? Wohin will ich jetzt gehen?“ und die alles entscheidende Frage „Wer bin ich?“.

Keine dieser Fragen konnte sie beantworten. Sie fühlte sich verloren, hilflos, ängstlich.

„Gleich werde ich mich wieder erinnern“, beruhigte sie sich und begann langsam ihre Beine zu bewegen. Spürte wie ihr Kreislauf wieder zu funktionieren begann.

Ausschließlich der Wille die Panik nicht hochkommen zu lassen trieb sie an, weiter zu gehen. Nach dieser Stunde – dem Wahnsinn sehr nahe – musste sie sich eingestehen, dass etwas geschehen war das ihr im Moment die Erinnerung nahm. Sie konzentrierte sich nun auf andere Dinge, sah an sich herunter. Ihre Kleidung war unauffällig und doch keineswegs billig oder gar ungepflegt; schwarze Jeans, weiße Bluse, schwarze Lederjacke und schwarz-weiße Sportschuhe.

Der Blick in den Spiegel eines Optikergeschäftes zeigte ihr eine etwa 40jährige gepflegte Frau mit langen schwarzen Haaren und einer Sonnenbrille. Sie nahm die Brille ab um das Spiegelbild genauer betrachten zu können.

„Das bin ich?“ konnte sie nur ungläubig stammeln. Sie erkannte nicht einmal ihr eigenes Gesicht. Obwohl Augen, Mund und Nase waren ihr vertraut – die Gesamterscheinung jedoch nicht.

So etwas geschieht doch nur anderen. Man liest davon und kann es eigentlich gar nicht nachvollziehen. Unfälle, traumatische Ereignisse oder Krankheiten sind die Verursacher solcher Eskalation des Erinnerungsvermögens.

Dass sie in dieser Form denken konnte, ließ sie vermuten, dass sie keine schwachsinnige Irre war.

Die Straßenschilder die sie las, gaben Aufschluss darüber, dass sie sich in Wien befand. Einem Teil von Wien, den sie nicht kannte. Oder konnte sie auch auf dieses Wissen nicht mehr zugreifen? War sie vielleicht hier zu Hause und hatte auch das vergessen? Schwindel kam hoch und wie um sich an sich selbst festzuhalten, steckte sie ihre Hände, die sich zu Fäusten geballt hatten, in die Jackentaschen. In der rechten Tasche spürte sie Leder, in der linken eine Schachtel. Sie zog beides heraus. Eine schwarze Ledergeldbörse und eine Schachtel Zigaretten waren ihr Fund. Ein erleichterter Seufzer ließ auch gleichzeitig eine kurze Entspannung ihres Körpers spüren. Etwas mehr als € 900,- befanden sich in der Börse. Der Geldsumme schenkte sie keine Beachtung. Sie hatte gehofft etwas zu finden, das ihr zu ihrer Person Aufklärung verschaffte. Deshalb war die Enttäuschung groß. Sofort stellten sich wieder Angst und Hilflosigkeit ein. „Ruhig bleiben“, mahnte sie sich selbst. Außer dem Geld war nichts zu finden, das ihr auch nur im Ansatz Orientierung verschafft hätte.

Nun kam das Bedürfnis nach Menschen hoch und Durst meldete sich. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und spürte, wie ausgetrocknet ihr Mund war.

Sie betrat eine Kaffee-Konditorei, bestellte einen Café-Latte und ein großes Glas Wasser und sagte der Kellnerin, dass sie sich in den Garten setzen würde.

Die Kellnerin antwortete freundlich und gab ihr zu verstehen, dass sie die Bestellung gleich bringen würde. Ob sie gerne einen Kuchen oder ein Stück Torte dazu hätte. Sie verneinte. Als sie sich niedersetzte spürte sie die körperliche Müdigkeit und... den Rucksack nahm sie erst jetzt bewusst wahr. Streifte ihn umständlich über die Schultern und stellte ihn neben sich auf den leeren Stuhl. Sie betrachtete ihn ängstlich, so als ob sie wüsste, dass sich in ihm eine Bombe befinden würde, die jeden Moment explodieren könnte. Sie griff nach ihm um gleich wieder ihre Hand zurückzuziehen, öffnete ihn nicht, stierte ihn unentwegt an, hatte Angst. Angst vor der nächsten Enttäuschung? Angst wovor?

Die Kellnerin hatte das eigenartige Schauspiel beobachtet. In ihrem Beruf kamen ihr aber immer wieder eigenartige Menschen unter. Sie konnte sich nicht um jeden und alles kümmern. Hauptsache es wird bezahlt und deshalb bat sie gleich kassieren zu dürfen, da sie von ihrer Kollegin abgelöst werden würde.

Weder das Verhalten der Kellnerin noch das der anderen Gäste ließ darauf schließen, dass ihre Erscheinung oder ihr Benehmen sonderlich oder gar auffällig war. Diese Erkenntnis ließ sie für einen Moment erleichtert aufatmen.

So als würde sie jemand anderen beobachten, sah sie ihren Händen zu, wie sie Zucker in ihren Kaffee schüttete und danach den Milchschaum zu löffeln begann. Bevor sie noch an dem Kaffee trank, nahm sie einen Schluck Wasser und spürte, wie angenehm die kühle Flüssigkeit war, wie gut sie ihrem Körper tat. Sie griff zu der Zigarettenschachtel in der sich auch ein Feuerzeug befand und zündete sich wie selbstverständlich eine Zigarette an. Sie registrierte offensichtliche Gewohnheiten und etwas, das sie wie ein Außenstehender beobachtete um sich selbst kennen zu lernen. Nannte man das nicht Schizophrenie? Gab es einen gesunden Teil in ihr, der sie noch strukturiert denken und handeln ließ und gleichzeitig einen kranken, der sie in dieses Dilemma gebracht hatte?

Sie lehnte sich zurück, ignorierte und unterbrach dieses Selbststudium, gab ihrer Neugier, den Rucksack nun doch zu inspizieren nicht nach und stellte sich stumm einem inneren Dialog. „Was macht man in solch einer Situation? Na, logischerweise um Hilfe bitten. Zur Polizei gehen oder einen Arzt aufsuchen!“

Nun bekam aber auch ihre Angst eine Stimme, die „alles nur nicht das!“ vehement und laut aufschrie. Etwas in ihr wusste, dass sie sich niemanden anvertrauen durfte. Nicht, solange sie nicht zumindest ein wenig von sich wusste. Man würde sie in die Psychiatrie einliefern und einsperren – so ihre Mutmaßung. Einsamkeit, Traurigkeit und Verzweiflung ließen sie wie ein Häuferl Elend in den Sessel versinken. Gerne hätte sie geweint. Aber nun lernte sie auch den starken Teil in ihr kennen, der ihr vorschlug sich ein Zimmer zu suchen und das was an Verstand noch da war zu sammeln und sich weitere Schritte in Ruhe zu überlegen. Dort konnte sie sich auch dem Inhalt des Rucksackes widmen.

Ja, das waren ihre nächsten Schritte! Sie sprach sich selbst Mut zu, zündete sich jedoch noch eine Zigarette an, so als ob sie dem Ganzen noch ein wenig Zeit lassen würde um während der Verzögerung vor dem weiteren Tun Kraft zu sammeln.

Seltsam, dass der Platz im Garten einer Konditorei so sehr für Wohlgefühl sorgen konnte. Sofern man hier überhaupt von Wohlgefühl reden konnte. Aber für eine kurze angemessene Zeit war das jetzt IHR Platz. Ein Gefühl das sie seit Erwachen auf der Parkbank vermisste. Zu wissen wo sie hin gehörte. Sobald sie diesen Platz verließ, musste sie sich einen neuen suchen. Sie war keine Streunerin, soviel war sicher. Nicht abgefuckt und heruntergekommen und mit viel zu viel Geld in der Tasche um sich als Obdachlose zu betrachten.

Ein Hotelzimmer in Wien zu finden war sicherlich kein Problem. Es ohne Ausweis aber auch buchen und beziehen zu können war sicherlich schon um ein Vielfaches schwieriger. Diese vor ihr stehende Herausforderung ließ sie wieder resignieren und sie spürte wie kraftlos sie war. Körperlich müde und mental überfordert. Deshalb bestellte sie ein belegtes Brot und einen Apfelsaft mit Leitungswasser gespritzt. Sie brauchte noch etwas Zeit um überlegt handeln zu können. Noch immer dieselbe Kellnerin, die doch eigentlich abgelöst werden hätte sollen, fragte sie nach einer Trafik, weil sie sich Zigaretten besorgen wolle. Zwei Häuser weiter sei eine, ließ diese sie wissen.

Sie möge ihre Bestellung bitte bringen. Sie würde gleich wieder da sein, wolle nur schnell in die Trafik gehen.

In der Trafik angekommen, bestellte sie jene Zigaretten, die sie in der Manteltasche vorgefunden hatte.

„Das ist wahrscheinlich „meine“ Sorte“, überlegte sie für sich, ohne es tatsächlich zu wissen und beeilte sich, schnell wieder zu dem beinahe heimeligen Platz im Kaffeehaus zu kommen.

Die Zeit die sie sich dann ihrem Sandwich widmete war so etwas wie Erholung. Ihr Kopf war nun leer. Keine Fragen spukten herum und kein Teil in ihr suchte weiter nach Antworten. Sie beobachtete die anderen Gäste. Es waren nicht viele. Die Kellnerin lehnte untätig an der Theke und rauchte eine Zigarette. Das Bild das sich ihr bot war ein alltägliches und friedliches. Die Sonne strahlte bereits und die Welt schien in Ordnung. Nur ihre Welt nicht ! Wieder war sie da, die Erkenntnis sich in einer schicksalhaften Situation zu befinden, aus der sie sich nur selbst befreien konnte – musste. „Also dann auf“, sprach sie sich selbst Mut zu. Bezahlte und verließ mit bestimmtem Schritt, so als ob sie wisse wohin sie gehen müsse, die Konditorei.

Nach wenigen Minuten, einige Gässchen – wie sie für Wien typisch sind – weiter, stand sie vor einem Hotel, das mit einer großen Leuchtreklame um Gäste warb „Nächtigung mit Frühstück NUR € 72,-! Zimmer frei“.

Kurz entschlossen betrat sie das Foyer. Ging an die Rezeption und bat eines der Zimmer sehen zu dürfen, das noch frei wäre. Man begleitete sie in den ersten Stock und zeigte ihr ein ca. 20m2 großes sehr gediegen eingerichtetes Zimmer.

„Für € 72,- fast ein Geschenk“, folgerte sie im Stillen. „Woher habe ich dieses Wissen?“, stellte sie sich auch nahezu im gleichen Atemzug die Frage ohne eine Antwort darauf zu bekommen.

Sie würde dieses Zimmer gerne für drei Nächte nehmen. Aber ihr Gebäck wäre noch bei Bekannten und ihren Ausweis hätte sie auch in diesem Gebäck. Ob das ein Problem wäre, hörte sie ihre resolute bestimmte Stimme. Kein bisschen von dem was sie an Seelennöten hinter sich hatte war ihr anzumerken oder selbst von einem aufmerksamen Beobachter auch nur zu vermuten.

Der Rezeptionist schaute sie mit offenem Blick an. Er konnte sich auf seine Menschenkenntnis verlassen. In diesem Beruf wurde sein Blick geschult und er wagte zu behaupten, dass ihm ein Augenkontakt genügte um zu wissen ob er es mit GUT oder mit BÖSE zu tun hatte.

„Kein Problem, gnä` Frau. In diesem Fall müsste ich Sie jedoch bitten, die Rechnung im Vorhinein zu begleichen.“

„Ja, natürlich. Sehr nett von ihnen. Danke!“

Das Schicksal meinte es ja doch noch gut mit ihr. Das ging leichter als sie es sich gedacht hatte. Ihre Befürchtungen wurden nicht bestätigt.

Sie bezahlte, nahm den Zimmerschlüssel, nickte dem Hotelangestellten lächelnd zu und machte sich auf den Weg zu ihrem Zimmer.

Als die Türe zu ihrem Zimmer hinter ihr ins Schloss fiel, fiel auch von ihr die Kraft, die sie so selbstbewusst auftreten ließ und die ihr auch ohne Ausweis zu diesem Zimmer verhalf. Sie lehnte sich an die Tür. Tränen rannen nun über ihr Gesicht. Die Knie gaben nach und sie saß kraftlos und weinend an die Zimmertüre gelehnt am Boden.

Umständlich, ihrer sportlichen Figur so gar nicht entsprechend, erhob sie sich. Ging zum Spiegel, der sie in ihrer gesamten Größe zeigte.

Betrachtete das Spiegelbild. Ging näher um das Gesicht besser studieren zu können. „Du bist eine hübsche Frau. ICH bin eine hübsche Frau“. Wie ein Kind, das noch nicht lange sprechen konnte stammelte sie diese simplen Sätze leise und eindringlich.

„Warum sprichst du nicht mit mir?“ fragte sie ihr Spiegelbild und ließ sich gleich wieder auf den Boden gleiten um in den nächsten Weinkrampf zu fallen.

Wie ein Baby robbte sie auf allen Vieren zum Bett. Zog sich hoch, streckte sich, atmete tief durch und begann nun wieder, dem kindlich verzweifelten Anfall trotzend, sich darauf zu besinnen, dass sie eine erwachsene Frau war. Putzte ihre Nase, trocknete ihre Augen und versuchte sich zu sammeln.

Drei Tage hatte sie sich zugestanden. In dieser Zeit musste es eine Lösung geben. „Vielleicht werde ich morgen munter und alles ist wieder da. All mein Wissen und mein Gedächtnis. Ich

mache hier jetzt nur Urlaub. Wovon und von wem auch immer. Egal, ich werde es herausfinden. Es wird gut weitergehen“.

So redete sie sich selbst Mut zu, während sie ins Bad ging, Wasser in die Wanne ließ und sich auszog. Den Rucksack hatte sie nicht vergessen. Doch sie ließ sich ganz bewusst Zeit damit, ihn zu durchsuchen. „Alles was er zu bieten hat, hat er auch noch in einer Stunde zu bieten. Dann fühle ich mich zumindest körperlich wohler und bin gerüstet für allfällige Enttäuschungen“.

Sie war eine starke Frau. Gewohnt mit schwierigen Situationen fertig zu werden und nie zu kapitulieren. Sich

selbst ihrer Stärke nicht bewusst, haderte sie mit der Unfähigkeit JETZT zu wissen, was als nächstes zu tun wäre. Aber sie gestand sich selbst etwas Auszeit in Form eines ausgiebigen Bades und sprach sich selbst laut Mut zu. Hier in diesem Zimmer konnte sie Selbstgespräche führen, ohne gehört zu werden. Hier konnte sie sich für kurze Zeit gehen lassen um gleich wieder Kraft und Hoffnung zu schöpfen. „Drei Tage sind eine lange Zeit. Lange genug um Licht in meine dunkle Geschichte zu bringen“. So und ähnlich suggerierte sie sich selbst, dass sich alles bald zum Guten wenden würde.

Das Bad mit viel Schaum und so heiß wie sie es nur ertragen konnte, genoss sie. Ihre körperliche Ermüdung steigerte sich zur Erschöpfung. Mit all ihrer Kraft stieg sie bereits nach einer halben Stunde aus der Wanne, trocknete sich ab und ließ sich nackt auf das noch mit der Tagesdecke gemachte Bett fallen.

Sie fiel in einen traumlosen Schlaf. Erst nach Stunden wachte sie auf weil sie fror. Sie zog sich den Bademantel an, der vom Hotel zur Verfügung gestellt wurde, nahm sich einen kalten Kaffee aus der Zimmerbar, ging auf den Balkon und zündete sich eine Zigarette an.

All ihre Erinnerung war da. Aber nur jene ab dem Moment als sie auf der Parkbank munter wurde. Was die Zeit davor und ihre eigene Person betraf hatte sich nichts geändert. Als eine erwachsene Frau müsste sie in einen riesengroßen „Lebenssack“ schauen können und doch erblickte sie nicht mehr als ihren Körper. Dieser Körper, der Hülle für jahrzehntelange Lebenserfahrung war und nichts preisgab. Das wahre und nicht ersichtliche ICH war gehüllt in Leere und Finsternis. Düstere Lautlosigkeit wo jeder andere die unterschiedlichsten Melodien seiner Lebenskapelle zu hören bekam. Sie bekam zu spüren, dass unerwünschte Stille Schmerzen in all ihren Facetten verursachte.

Das Hotel lag in einer ruhigen Seitengasse und der Blick vom Balkon ließ ihre Lebensgeister auch nicht wieder lebendig werden. Nur wenige Menschen waren hier unterwegs. Die wenigen

Autos fuhren in gemäßigtem Tempo die Gasse entlang. Auch der Haupteingang des Hotels war auf der anderen Seite des Gebäudekomplexes. Eigentlich eine wunderbar ruhige Lage des Zimmers. Nur sie hätte sich gewünscht etwas mehr Treiben und Leben zu sehen um ihre schweren Gedanken wieder in eine positive Richtung lenken zu können.

Sie ging wieder ins Zimmer und drehte den Radio an. Die Stimme des Nachrichtensprechers informierte sie darüber, dass es gerade 15 Uhr geworden war.

„Ich beginne mit banalen Dingen und besorge mir in der noch verbleibenden kurzen Zeit etwas Gewand“. Sie nahm die Börse aus der Lederjacke und zählt penibel jeden Euro. Sie fand mehr Geld als sie nach der schnellen Kontrolle nach Hinweisen über sich zu haben glaubte. Nach bereits beglichener Hotelrechnung, der Konsumation in der

Kaffee-Konditorei und dem Erwerb einer Stange Zigaretten blieben ihr 850.-- Euro, 800.-- US-Dollar, 800.-- Ch-Franken!!! Dollar und Franken waren in einem nicht gleich sichtbaren Fach der Börse. Dieser Fund weckte nun all ihre etwas entschlummerten Lebensgeister. Vielleicht fand sie noch ein Fach, das noch mehr Schätze enthielt, nämlich Informationen. Der für sie im Moment größte Schatz den zu finden sie hoffte! Sie nahm den Flaschenöffner aus der Zimmerbar und riss mit dessen Spitze die Geldbörse in kleinste Teile. Nichts konnte mehr verborgen bleiben. Aber es kam nicht mehr ans Tageslicht als die doch recht ansehnliche Geldsumme.

„Schade! Aber zumindest brauche ich mir für die nächsten Tage keine Gedanken über meine finanzielle Situation zu machen“, kam es doch mehr resignierend als fröhlich über ihre Lippen.

Sie schlüpfte in ihre Sachen und verließ – dem sympathischen Mann hinter der Rezeption zuwinkend – in schnellem Schritt das Hotel.

So als ob sie schon immer gewusst hätte, wo sich hier die nächste Einkaufsstraße befand stand sie Minuten später inmitten eines Einkaufsparadieses für zahlungskräftige Einkaufswütige.

Schnell hatte sie alles gefunden, was sie für die nächsten Tage benötigte. Eine Frau mit dem Blick für das Besondere, das nicht mal das Teuerste sein musste. Geschickt hatte sie Kombinationen gefunden, die ihr untereinander ausgetauscht immer ein anderes Outfit bringen würden. Selbst in den sportlichen Teilen sah sie elegant und niveauvoll aus. Sie wusste ihre schlanke sportliche Figur gut zu kleiden und war zielbewusst und klar in ihrer Auswahl der Kleidungsstücke. Unentschlossenheit zählt offensichtlich nicht zu ihren Charaktereigenschaften. Auch das registrierte sie nun bewusst und sprach nun lächelnd im Gedanken mit sich selbst: “Das gefällt mir an dir schöne Fremde. Hoffentlich bleibst du nicht zu lang DIE FREMDE.“

Dieser Einkauf verlief nicht wie bei so vielen anderen Frauen. Sie verfiel nicht in einen Kaufrausch und ihre Stimmung hob sich nicht ins Fröhliche auch wenn sie kostengünstig, qualitativ hochwertige schöne Stücke erstand. Sie empfand diesen Kauf wie eine zu erledigende Arbeit, die mit Verstand und Überlegung zum Abschluss gebracht werden musste.

Und doch hatte dieser Einkauf etwas in ihr verändert. Ihr Verstand war geschärft, ihre Traurigkeit wohl noch spürbar aber in die letzte Ecke ihres Bewusstseins verbannt, so dass sie den klaren Gedanken und dem Bedürfnis nach Handeln nicht mehr im Wege stand.

Sie hatte sich die Sachen ins Hotel schicken lassen, denn es war unmöglich all die Schachteln und Tüten selbst ins Hotel zu tragen.

Bevor sie sich auf den Rückweg ins Hotel machte, gönnte sie sich in einem Gasthaus ein Fiakergulasch mit einem kleinen Bier.

Nun fühlte sie sich wohl und dem was der Rucksack zu bieten hatte gewachsen. Als sie ihr Hotelzimmer betrat musste sie lächeln und hörte sich gleichzeitig sagen: „Wer sagt, dass die Wiener gemütlich und ein bisschen langsam wären? – Hey, auch über die Wiener weiß ich ein wenig. Wieder ein mm2-Puzzlestein im km2 großen leeren Bilderrahmen. Aber immerhin!“

All das von ihr Erstandene war bereits geliefert und vor ihrem Bett aufgestapelt.

Nun verstand sie auch die Worte „ihres“ Helfers hinter der Rezeption: „Hatten sie einen erfolgreichen Tag, gnä` Frau? Wünsche einen angenehmen Abend.“

Es war nun an der Zeit, sich mit dem Inhalt des Rucksackes auseinander zu setzen. Aber sie hatte Schiss davor. Noch eine Zigarette,... und noch eine ,... Fernseher an ,... Fernseher ab,... Radio an,... noch eine Zigarette ..., Radio ab,... auf die Toilette,... frisieren,... eine letzte Zigarette.

Als sie den Rucksack dann endlich nahm und sie es sich mit ihm auf dem Bett gemütlich machte, merkte sie, wie schwer er war. Sie hatte in ihrer ersten Verwirrung so viel Ballast mit sich herum geschleppt und hatte ob ihrer schweren Seelenpein nicht gemerkt, wie viel in diesem Rucksack – ebenfalls aus feinem Leder -eingepackt war.

Langsam klippte sie die Lasche auf und öffnete den Knoten des Lederbandes, das streng zusammengezogen war. Nun musste sie nur mehr hineingreifen und den Inhalt des Rucksackes herausnehmen. Zu oberst lag eine Tasche mit den wichtigsten Toilette-Utensilien wie man sie für eine längere Reise braucht. Als sie diese Tasche öffnete nahm sie einen Duft wahr, den sie kannte. Ihr Parfum! Sie war sich sicher, nie zuvor in ihrem Leben solch eine Freude über diesen Duft empfunden zu haben. Das war ein Teil von ihr!!! Emporio von Armani. Neben vielen anderen für den täglichen Bedarf wichtigen Dingen waren auch zwei Haarfärbetuben zu finden. Schwarz glänzend! Also doch! Dass sie ihr Spiegelbild so fremd empfand lag daran, dass ihr Haar gefärbt war!

Sie hielt nach dieser Erkenntnis kurz inne. Andächtig. Vor ihr lag eine Offenbarung, die möglicherweise Licht in ihr dunkles Dasein brachte. Der Rucksack hatte noch einiges an Inhalt zu bieten. Sie wusste, dass das was sie nun vorfinden würde die nächsten Tage -ihre Zukunft – bestimmen würde.

Als nächstes nahm sie einen Leinenbeutel heraus. Vorsichtig langsam öffnete sie ihn. Unterwäsche, Socken und Strümpfe waren sein Inhalt. Sie roch daran. Auch diesen Duft kannte sie. Das waren ihre Sachen! Sie verfiel in Sentimentalität obwohl sie den Grund dafür nicht nennen konnte. Nichts von den Dingen gab ihr etwas an Erinnerung zurück und doch berührten sie diese Gegenstände auf eindrückliche Weise.

Sie hatte etwas in der Hand, das ein Teil ihrer Identität war.

Nun stand sie auf und legte jeden Toilettartikel und den Inhalt des Leinenbeutels sorgfältig auf den Boden.

Nachdenklich und bedächtig reihte sie einen Gegenstand an den anderen. Das Hotelzimmer war ja groß genug um dem Wunsch alles aus ihrem Leben „davor“ vor sich auszubreiten, zu entsprechen.

Sie saß auf dem Bett und sah sich ihr Werk an.

„Also materiellen Besitz habe ich ja schon. Jetzt braucht sich nur noch meine Seele, mein Geist, mein Verstand und mein Herz zu öffnen und ich bin auch wieder im Besitz all dessen, was mich über Jahrzehnte zu dem gemacht hat, was ich noch vor 24 Stunden war“.

Das nächste, das zum Vorschein kam, war ein Wertkartenhandy. Nagelneu und unbenutzt. Mit einem Aufladebon im Wert von € 100,--.

„Wen soll ich anrufen? Ich kenne keine Telefonnummer. Habe alle Menschen aus meinem Gedächtnis gestrichen. Sogar mich selbst. Was soll ich damit anfangen?“.

Das Handy fand keinen Platz bei den liebevoll am Boden gelegten Sachen. Sie verstaute es in einem der Nachtkästchen.

Beim nächsten Griff in ihre Wundertüte – wie sie den Rucksack inzwischen nannte – erspürte sie etwas Weiches, Kuscheliges. Ein kleiner, nur ca. 10cm großer Teddybär war die nächste Trophäe. Ihn sah sie lange an. Er sollte doch die Kraft haben, sie an etwas zu erinnern. Aber nein, er fühlte sich nur gut an und sah niedlich aus, obwohl er schon ziemlich abgegriffen war. Doch sie war sich sicher, dass er zu all den Sachen am Boden gehörte. Sie setzt ihn mitten hinein.

Nun konnte nicht mehr viel zu finden sein. Sie hob das Gepäckstück. Es fühlte sich bereits sehr leicht an und war sicherlich schon leer. Sie drehte die Wundertüte um und schüttelte sie so, dass ein noch möglicher Inhalt herausfallen konnte.

Und tatsächlich, zu guter Letzt fiel ein Brief heraus. Ihr Herz begann wild zu schlagen. Das Kuvert war zugeklebt. Doch sie konnte spüren, dass sich ein kleiner Schlüssel in dem Kuvert befand.

„Tief durchatmen und ruhig bleiben“, so gab sie sich selbst einen Befehl um ihre Gefühle kontrollieren zu können. Sie spürte, dass sie sich einem Zustand näherte, der einer ängstlichen Hysterie ähnlich war.

Die Lebensgeister, die fürs Überleben zuständig waren, arbeiteten auf Hochtouren und hatten Schwerarbeit zu leisten.

Das Kuvert war schnell geöffnet, auch wenn ihre Hände wie die einer sich auf Entzug befindlichen Süchtigen zitterten. Ihre Handinnenflächen begannen feucht zu werden und bevor sie den nun ans Tageslicht kommenden Brief zu lesen begann, musste sie sich mit einem Taschentuch über ihre feuchten Augen wischen. Durch die hochkommenden Tränen konnte sie nur verschwommen sehen.

Doch von einer auf die andere Minute änderte sich ihre Stimmungslage. „Führ dich nicht so auf, mach jetzt endlich“, ging sie hart mit sich selbst ins Gericht.

Sie setzte sich in den gemütlichen hohen Ohrensessel, knipste die Leselampe an, schlug die Beine übereinander, atmete noch einmal tief und hörbar durch und begann zu lesen:

Meine Liebe,

ich hoffe es geht dir wieder einigermaben gut, wenn du diese Zeilen liest.

Was du in den letzten wochen durchlebt hast, hat deine Psyche schwer angegriffen.

Du hast phasenweise sogar vergessen, dass du seit 9 jahren meine Frau bist!

Neben dem ohnedies groben Druck der aufgrund unserer Handlung auf mir gelastet ist, prasselte diese Erkenntnis folgenschwer auf mich ein.

Wir hatten doch nur mehr uns und du hast dich diesem Wissen in den letzten Wochen immer wieder entzogen. Ich war verzweifelt!

Aber ich musste der Wahrheit ins Gesicht schauen. Musste vorsorge treffen, damit du und ich ein leben in Freiheit weiterleben können. Auch wenn diese Tatsache eine zusätzliche schwere Bürde ist, wir müssen nun getrennte Wege gehen und dürfen nicht mehr gemeinsam gesehen werden!

Gemeinsam haben wir die folgenschwere Tat geplant und vollbracht. Dass das dann für dich psychisch zu viel wurde, war nicht wirklich eine überraschung für mich. Ich war es gewohnt in unserer Beziehung verantwortung zu übernehmen und für alles zu sorgen. Du hast leider nicht die Stärke, die mich auszeichnet. Aber deshalb liebe ich dich auch so sehr. Weil du ein so zartes, zerbrechliches Geschöpf bist. Alles in meiner Macht stehende habe ich während deiner Rekonvaleszenz organisiert und veranlasst, damit du die Chance hast in ein neues leben zu gehen.

Mein Geständnis, das ich dir beilege, soll dir die Möglichkeit geben, dich frei zu fühlen. Wenn du es nicht schaffst unterzutauchen, soll es dich bei einer Ergreifung entlasten. Du bist noch so jung und hast das leben noch vor dir.

Vernichte diesen Brief. Er würde dich nur unnötig belasten. Bewahre mein Geständnis, es wird dich beschützen und frei von jeder Schuld sprechen.

Das, was wir getan haben, ist vor dem Gesetz ein verbrechen. Unserer Moral entsprechend haben wir uns verpflichtet gesehen zu handeln. Unsere liebe war die Triebfeder für diese letztendlich verzweifelte Tat. Herr all unserer sinne und weit entfernt von Gefühlskälte haben wir uns entschlossen die verantwortung zu übernehmen und im weitesten Sinn Schicksal zu „spielen“.

Deinen körperlichen und geistigen Zusammenbruch, den du erlitten hast, als die Tat vollbracht war, konnte ich leider nicht verhindern. Ich musste mich um unseren Libeling kümmern. Hatte ich mir doch geschworen, ihn nicht mehr leiden zu lassen.

Als sich Frieden in unserem Haus breit gemacht hatte und unser Liebling in eine Welt gehen durfte in der es keinen Schmerz mehr spüren würde, hat mich alles an Kraft verlassen, das mich zu unserem Tun bewogen hat. Stundenlang kniete ich am Bettchen und hatte mit Schuldgefühlen und Trauer zu kämpfen. Ich hatte nicht mal die Kraft, mich um dich zu kümmern.

Einmal bist du aus deiner Ohnmacht erwacht. Hast dich versucht aufzurichten. Als du den Blick auf mich richtetest, entfuhr deiner Kehle nur ein schmerzliches Stöhnen und du flüchtetest wieder in diese Ohnmacht.

Wie lange ich in meiner knienden Position verharrt bin, weiß ich nicht mehr. Sehr lange habe ich jedenfalls gebraucht um Energie dafür aufzubringen, mich dann auch um dich zu kümmern. Wie in Trance habe ich dich und deinen Koffer ins Badehäuschen gebracht.

Ich habe dich für die darauf folgenden Wochen mit Beruchigungs- und Schlaftabletten ruhig gestellt. Deiner Seele wird diese Zeit des Stillstandes Hilfe gewesen sein, das Erlebte einigermaben zu verarbeiten und letztendlich zu überleben. Davon bin ich überzeugt und deshalb habe ich auch so und nicht anders gehandelt.

Was in weitere Folge geschehen ist, war von mir so nicht geplant.

Dein Zusammenbruch hat mich emotional zusätzlich unter Druck gesetzt und in meiner Standhaftigkeit zu beenden was begonnen, derartig gefordert, dass ich Fehler gemacht und Spuren hinterlassen habe. Es sollte wie ein natürlicher Tod aussehen. Sie haben die injektion gefunden, die sofort Aufschluss darüber gab, dass an unseren Liebling Hand angelegt wurde.

Der von mir gerufene Arzt hat postwendend die Polizei verständigt.

Sie haben sich in rührender weise um mich gekümmert und mich in beschämender weise unterstützt. Für sie stand schnell fest, dass du allein die Täterin bist.

Sofort haben sie eine Suchaktion gestartet, haben herausgefunden, dass du frühzeitig von der Wohltätigkeitsveranstaltung abgereist bist-möglicherweise gar nicht daran teilgenommen hast-und der Todeszeitpunkt mit deinem Heimkommen nahezu ident sein müsste. Deine Abwesenheit und das Fehlen des Gepäcks bestätigten ihre Vermutungen.

Nur kurze Zeit musste ich dich im Keller unseres Hauses verstecken. Dann konnte ich dich ins Haus holen und mich um dich kümmern. Man suchte dich überall. Kurz auch in unserem Haus. Gott sei Dank vergeblich! Danach gingen die Recherchen Richtung Ausland. ich habe nach den ersten Tagen der Ermittlungen bis heute keinen Ermittler mehr zu Auge bekommen. Man entschuldigte sich bei jeder telefonischen Kontaktaufnahme und war bemüht, mir meine Ruhe zu lassen. So konnte ich Vorbereitungen treffen.

Nach den ersten schweren Tagen, in denen ich gedankenlos und verwirrt durch die Gegend lief, stellte sich bald wieder mein klarer verstand ein, den du immer so sehr an mir geschätzt hast.

Ich wog meine weiteren Schritte ab und war auch kurz davor mich zu stellen. Mein leben ist ohnedies bereits beendet und für alle Zeit leer und glücklos. Ob ich es in einer Gefängniszelle oder in einer fragwürdigen Freiheit verbringen würde, ist nicht wirklich von Belang.

Einzig und allein mein Bestreben der Menschheit zu dienen, die Medizin und die Forschung in jeder nur erdenklichen Art und Weise zu unterstützen hat mich dazu bewogen, alles so zu lassen wie es sich ohne mein Zutun entwickelt hat.

Alles was ich an materiellen Gütern zu Geld machen konnte ohne aufzufallen, habe ich veräußert. Mir selbst ist nicht mehr viel geblieben. ich brauche auch nichts. Nur so viel habe ich behalten um mein leben nach außen zu erhalten um keine unangenehmen Fragen entstehen zu lassen.

Ein Konto habe ich mich nicht getraut zu eröffnen. Deshalb liegt alles Bargeld im Schließfach. Den Schlüssel dazu findest du bei diesem Brief, die Adresse des Schließfaches auf dem Kärtchen, das ich auf den Schlüssel gehängt habe.

Und nun muss ich mich doch entschuldigen. Nämlich dafür, dass ich dich in einer Absteige wie es das Hotel, „DISKRETION“ ist, vorerst untergebracht habe.

Dieses Hotel ist aber bekannt dafür, dass man anonym und ohne viel Fragen für einige Tage hier untertauchen kann. Geld regiert DISKRETIONs Welt. Moral und Gewissen sind Werte, die mit ausreichend vielen Geldscheinen ausradiert werden, als würde es sie auf dieser Welt nicht geben.

Deinen schlechten gesundheitlichen Zustand habe ich so erklärt, dass ich den Entzug, den du gerade hinter dich bringst aus gesellschaftlichen Gründen verborgen halten muss.

Dir deine schönen brünetten Haare Schwarz zu färben war nicht nur eine Kraftanstrengung weil dein Körper in seiner Bewegungsunfähigkeit sehr schwer wurde, sondern kostete mich viel Überwindung.

Aber dein äußeres musste so stark wie nur möglich verändert werden. Für das schneiden deiner vollen Haarpracht hat mir letztendlich doch Courage gefehlt.

Nun, da du diesen Brief gelesen hast, wirst du für dich eine Entscheidung treffen müssen, ich kann sie dir nicht abnehmen.

Entweder gehst du mit meinem Geständnis zur Polizei und alles nimmt seinen normalen gesetzlichen Verlauf, oder du versuchst mit den finanziellen Mitteln, die ich dir zur Verfügung gestellt habe ein neues leben zu beginnen. Tauchst für die nächsten Monate unter und fängst von neuem an.

Ich habe dann die Chance Gutes zu tun soweit es meine körperliche und emotionale Kraft zulässt, bin der Gesellschaft nicht Belastung sondern werde mit all meinen mir zur Verfügung stehenden Mitteln versuchen, die Not und das Elend auf dieser Welt zu lindern.

Nur alleine das ist in meinem leben mehr ein zu verfolgendes Ziel. Alles das mir lieb und wert war und noch ist, habe ich verloren. Aber ein Teil meines Idealismus bewegt mich dorthin zu gehen, wo es mir möglich ist zu verändern was in meiner Macht liegt und mit Mut zum Guten verändern werde, wozu ich fähig bin.

Ich habe nicht das Recht dich um etwas zu bitten. Du wirst tun, was für dich wichtig ist um wieder ein einigermaben normales leben führen zu können. Jede deiner Entscheidungen ist richtig.

Dieser Brief ist die 11. Fassung. In all den zehn Versionen davor habe ich meine Gefühle dich betreffend niedergeschrieben. Aber ich habe sie jetzt ganz bewusst weg gelassen. Möchte dich nicht noch mehr belasten und unter Druck setzen. Du weißt um meine Gefühle zu dir. Du hast 9 Jahre mit mir gelebt und kannst nicht alles vergessen haben. Kennst mich, wie mich keiner kennt und weißt um alles Bescheid.

Ich werde mich dem fügen, was auf mich zukommt und mein leben nur mehr so gestalten, damit es der Menschheit dient. Egal ob aus einer Gefängniszelle oder in „Freiheit“.

Kraft, Mut und Menschlichkeit sollen deine Lebensbegleiter sein und all die viele Charaktereigenschaften denen du deine Erfolge zu verdanken hast, sollst du nie verlieren!

Ich wünsche dir dass du den Willen aufbringen kannst, dir ein neues lebenswertes Leben zu schaffen um irgendwann wieder so etwas wie Glück zu empfinden.

In Liebe X.

Diesem Brief war ein weiterer beigelegt, der wie angekündigt in kurzen knappen Worten das Geständnis und eine in sachlichen Worten verfasste Entlastung ihrer Person beinhaltete:

GESTÄNDNIS:

Ich gestehe, dass ich den Tod meines Kindes zu verantworten habe, meine Frau unschuldig ist und nichts mit meiner Tat zu tun hatte.

Unterschrieben mit

„X. H.“

Das Lesen dieses Briefes hatte sie erschöpft. So als ob sie den Bericht einer dramatischen Geschichte gelesen, die sie unendlich berührte und trotzdem nichts mit ihrer Person zu tun hatte. Sie fühlte die schmerzhafte Resignation in dem Bewusstsein, nichts an solchen Geschichten ändern zu können. Kein analytischer Gedanke sondern ausschließlich von ihrem Verstand nicht nachvollziehbare Gefühle waren Befehlsgeber dafür, sich wie totstellend, reglos im Sessel zu verharren. Hätte sie sich gestattet die Augen zu schließen, wäre sie auf der Stelle eingeschlafen. Aber selbst dafür fehlte ihr im Moment der Mut.

Nichts von dem was sie gelesen hatte, konnte sie mit sich in Verbindung bringen. Keine Bilder, keine Erinnerungen kamen hoch. So als wäre das die Geschichte einer anderen. Und um dem Ganzen nochmals ein wenig Grausamkeit hinzuzufügen, formulierten ihre Lippen die dramatische Wahrheit: „Du bist eine Mörderin“.

Sie merkte nicht, dass es draußen bereits dunkel geworden war.

Das Läuten des Hoteltelefons brachte sie auf unsanfte Art und Weise in die Realität zurück. Widerwillig erhob sie sich. Mit leiser kraftloser Stimme meldete sie sich: „Ja, bitte?“

„Rezeption. Ein Paket wurde für sie abgegeben. Soll ich es hinaufbringen lassen, gnä` Frau?“

So wie es jedem gehen würde, der etwas zu verbergen hat, wie einem gesuchten Verbrecher auf der Flucht, erfasste sie Panik und schlechtes Gewissen. Wie sollte sie reagieren – RICHTIG reagieren? WER schickte ihr etwas? Wer wusste noch außer X. von ihr? Wurde sie beobachtet? War man ihr schon auf die Spur gekommen?

„Dann hätte man mich verhaftet“, beruhigte sie sich.

„Nein danke, ich komme runter“, hörte sie sich sagen.

Ein schneller Blick in den Spiegel im Badezimmer sagte ihr, dass ihr Äußeres nicht ihrem inneren Chaos entsprach.

„Was sollte noch Schlimmeres geschehen? Vielleicht bekomme ich nun Kontakt zu irgendeinem Menschen, der mir gut gesonnen ist und dem ich mich anvertrauen kann.“

Sie atmete durch, richtete sich auf und nahm die Treppen ins Erdgeschoß.

„Gepäck ist keines gekommen. Aber vielleicht sind das ihre Papiere“, wurde sie freundlich und mit dem schon gewohnten Lächeln empfangen.

„Danke. Wer hat es denn abgegeben?“