Isolde 1.0 - Marika Thommen - E-Book

Isolde 1.0 E-Book

Marika Thommen

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Beschreibung

"Eine heitere bildliche Erzählung, mit viel Charme und Ironie. Eine Geschichte, die verzaubert, die amüsiert, belustigt aber auch nachdenklich macht. Die Schriftstellerin Marika Thommen vereint die Kunst des Schreibens, die Wahl der Worte mit einer Leichtigkeit, so, dass der Leser sich im Geschehen wähnt und ihre Bücher gern verschlingt." A. Lebhaus

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Seitenzahl: 268

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Inhaltsverzeichnis

Ein richtiger Notfall

Ein falscher Notfall

Gedanken schon am Morgen

Zur falschen Zeit am richtigen Ort

Gilbärchen

Katzenbraten

Äffchen am Strassenrand

Sternenkunde

Welche Katze?

Hunger

Immer noch Hunger

Plötzlich Nachbarn

Mutter, Vater, Katze

Kannst Du noch was anderes sagen?

Ein neuer Job

Im Paradies

Ein guter Tag

Es gibt Tage....

Eine Sch(w)eiss – Nacht

Neue Liebe

knapp vorbei gerauscht

müüüüüde

Manche sammeln Briefmarken

Bald kommt die Flut

Glücksfee

Wie nennt man eine männliche Glücksfee?

Ein kreativer Morgen

Völlig aufgelöst

Ich geh mal schnell Gold holen

Verlaufen

Filmreif

Musik im Huhn

Nachschub

6 hängen noch im Schrank

Ein besonderer Morgen

Noch ein besonderer Morgen

Ritter im Anmarsch

Heute bin ich aufgewärmt

Nüsse knacken

weder Hand noch Fuss

Wer kann, der kann

Reicht das?

Lilly

Zuerst roch sie etwas süsslich

süsse Antwort

Der richtige Zeitpunkt

Liebeskrankheit

Gummistiefel und kurze Hosen

Essen ist wichtig

Familie

Da war doch noch was...

Mist!

Murmeltier

unangenehme Fragen

Sahnehäubchen

Freiheit

Ups

Blau oder Rosa

Die Brücke

Auf dem Weg

Ein richtiger Notfall

Der Fensterbankwecker schepperte und machte einen Höllenlärm. Scheinbar war die Nacht schon wieder zu Ende. Wie konnte das sein? Ich war doch erst vor wenigen Minuten ins Bett gegangen.

Verwundert zog ich meine Stirn in Falten.

Irgendetwas stimmte da doch nicht. Ich rollte mich auf die rechte Seite und presste meine Augenlider zu. Ich wollte wieder verschwinden, in das Land der Träume. Ich wollte keinen Wecker, kein Tageslicht und erst recht nicht aufstehen. Der Fensterbankwecker aber war sehr hartnäckig und der Weg ins das Land der Träume schwer zu finden. Da ich aber sehr gerne dort war, presste ich die Augen fest zusammen und suchte krampfhaft nach dem Eingang. Vergebens. Der Wecker schepperte und schepperte gnadenlos. Ich packte das blaue Federkissen neben mir, schnellte wie eine Feder herum und warf das Kissen gezielt nach dem Wecker. Durch den Schwung der Drehung fiel ich hinterher. Ein Aufschrei, ein kurzes schmerzhaftes Stechen und dann war mir erst einmal übel. Ich lag neben dem Bett. Da blieb ich liegen und jammerte laut. Sehr laut. Der Wecker schepperte, genauso laut und ich weinte. So lärmten wir beide eine Zeitlang gemeinsam. Der Wecker gab zuerst auf und schickte sein letzten Ring zu mir. Meine Schmerzen im Fuss waren grausam, also genauer gesagt schmerzte mein Zeh. Mein kleiner Zeh. War er überhaupt noch dran? Ich streckte mein Bein und legte es auf die Kante des Bettes. So akrobatisch musste ich jetzt sein. Ich begutachtete vom Boden aus meinen schmerzenden Zeh. Er war ein wenig blau angelaufen und schwoll zusehends an. Oh, es machte sich Panik in mir breit und gleich wurde mir wieder übel. War mein Zeh gebrochen? Mein armes kleines letztes Zehlein? Der immer am Ende hocken musste, neben all den grossen Brüdern und Schwestern? Ich versuchte die Zehen zu bewegen, aber es schmerze unheimlich. Noch nie hatte ich mir etwas gebrochen! Was nun was, nun was nun?

Ich wurde nervös. Ich drehte mich zum Wecker. „Du bist Schuld!“ rief ich ihm laut entgegen. „Warum musst Du auch immer klingeln!?“ Ein allerletztes quäkendes kurzes Ring war seine Antwort. Es sollte wohl heissen: „Weil ich ein Wecker bin und es meine Aufgabe ist Dich zu wecken, liebe Isolde.“ „Sei endlich still.“ rief ich. Ja, manchmal redete ich halt auch mit meinem Wecker. Ich redete ja auch mit dem Kaktus. Der hatte noch immer das Kissen aus seinem Stachelhaupt, denn getroffen hatte ich den Wecker nicht, sondern ihn, den Wecker - Nachbarn. Ich versuchte aufzustehen, was auch gelang, aber das Auftreten war nicht möglich. Ich spürte einen unheimlichen Schmerz und begann wieder zu weinen.

„Aua...auuuuuuaaaa.“ Irgendwann hörte ich aber auf. Das Problem war ja, dass ich allein in meiner Wohnung sass und kein rettender Held würde ich erlösen. Meine Güte, ich musste ja heute auch arbeiten! Das war ja so nicht möglich. Ich versuchte noch einmal aufzutreten. Lediglich auf der Ferse konnte ich stehen. Mein Zeh pochte. Mir wurde heiss. Ich brauchte einen Plan. Denn so konnte ich nicht arbeiten gehen. Noch nie hatte ich mich so kurzfristig abgemeldet. Ich hechelte. Was nun, was nun? Ich hüpfte auf einem Bein zum Tisch. Der ganze Holzboden vibrierte. Aus dem Rucksack zog ich das Handy und wählte Marios Nummer.

„Isolde?“ meldete sich mein Küchenchef. “Ich habe ein Problem.“ Ich begutachtete mein kleines armes Zehlein. Es war heiss und rot. „Ich habe meinen Zeh gebrochen.“ Also so glaubte ich zumindest. „Es tut unheimlich weh, ich kann gar nicht stehen.“ Mario wünschte gute Besserung und legte auf.

Was mache ich denn jetzt bloss? Mami! Ich rief nach meiner Mutter. Neee, Stopp. Mutter war keine Option. Ich...mhhh was sollte ich tun? Ich war etwas ratlos. Was macht man denn, wenn man einen Zeh gebrochen hat. Ich musste in ein Krankenhaus. Natürlich. Die wissen dort schon was zu tun ist. Ich weinte wieder. „Huuuuhhhh ich muss ins Krankenhaus! Whääääähhh!“ Ich klagte vor mich hin und hielt mein vor Schmerzen fast abfallendes Bein fest. So, nun ist aber auch mal wieder gut! Augenblicklich hörte ich mit dem Jammern auf. Tapfer hüpfte ich in der Wohnung umher, packte meine 7 Sachen und eine Krankenhaustasche. Vielleicht musste man mich ja behalten. Man weiss nie, aber dafür wäre ich dann aber vorbereitet. Da ich mich nicht umziehen konnte, blieb ich in meinem Häschen – Schlaf – Fleeceoverall. Ich zog weite Socken über die Füsse und biss die Zähne zusammen. Die nächste Frage war: wie komme ich in das Krankenhaus? Mit einem Krankenwagen und Blaulicht? Diese Idee verwarf ich wieder. Schliesslich hing ich ja nicht am seidenen Faden, noch nicht. Ich wollte Rainer fragen. Und Rainer stand auch innerhalb weniger Minuten in meiner Wohnung. Er war sehr aufgeregt und drückte mich zuerst einmal fest. „Tut es sehr weh?“ Ich nickte schweigend. „Oh Du armes Schätzchen.“ Er streichelte mir die Wange. Zuerst wollte er mich tragen. Dies klappte aber aus verschiedenen Gründen nicht. Der Hauptgrund war wohl mein Gewicht. Vielleicht war das aber auch der einzige Grund. Dennoch: Rainer war eine gute Hilfe. Rasch kamen wir im Krankenhaus an. Mein Rettungsfahrer brachte mich noch bis in den Warteraum der Notaufnahme, dann musste er gleich wieder in den Laden zurück. Diesen hatte er extra für mich geschlossen. Er tätschelte mir die Schulter. „Ruf an, wenn ich Dich abholen soll.“ Und dann war ich allein. Eine eilige Frau kam zu mir und fragte nach Beschwerden. „Ich glaube, ich habe mir den Zeh gebrochen.“ Sie schob ihre Augenbrauen in die Höhe und kritzelte etwas auf ihren Zettel. „Soll ich es ihnen zeigen?“ Sie hob abwehrend ihre Hand.

„Ist das alles?“ fragte sie. Was meinte sie damit? Ich schaute verständnislos. „Haben Sie sonst noch Beschwerden?“ Ich schüttelte den Kopf. Sie zeigte auf meine prall gefüllte Krankenhaustasche. „Ist das beim Sport passiert?“ Ich schüttelte wieder den Kopf. „Ich bin aus dem Bett gefallen.“ Die Frau im weissen Kittel musterte mich und nickte.

„Natürlich.“ murmelte sie. „Sie müssen ein paar Minuten Geduld haben, wir haben einige Notfälle heute Morgen.“ Sie lief davon, drehte sich nochmals zu mir herum. „Also, richtige Notfälle, meine ich, die kommen vor Ihnen dran.“ Aha. Mein Zehlein ist also kein richtiger Notfall. Sei nicht traurig, sagte ich innerlich und schickte den Satz an mein kleines rot - blaues klopfendes Zehlein. Für mich bist Du ein richtiger Notfall.

Ein falscher Notfall

Aus den paar Minuten wurden gefühlte Stunden. Es war ein Kommen und Gehen. Viele Leute kamen selbst in den Wartebereich oder wurden hinein geschoben, wenn sie nicht mehr selbst laufen konnten. Jeder hatte wohl irgendwelche Leiden. Oder auch nicht. Manchmal konnte man es gleich erkennen, manchmal nicht. Der Mutter mit ihrem Kind zum Beispiel schien es gar nicht so schlecht zu gehen. Sie liess ihr Kind auf ihren Knien hopsen und flocht ihre lange Zöpfe. Die ist ja wohl auch kein Notfall dachte ich. Was sollte die denn haben? Die Mutter sah sehr gesund aus. Die hatte sicher kein Wehwehchen. Ich habe wenigstens ein gebrochenes Zehlein. Also, wahrscheinlich. Ich scannte die Mutter von oben bis unten. Mein Ergebnis: kerngesund. Ich nickte. Eindeutig, das sah man ja auch auf den ersten Blick. Nur das Kind war ein wenig blass. Und dann kamen die beiden auch schon dran. „Amy Zimmermann.“ Das kleine Mädchen mit den langen Zöpfen kletterte von Mutters Schoss. Die Arztgehilfin nahm das Mädchen an die Hand und führte sie und ihre Mutter durch eine Tür. Dialyse stand an der Tür angeschrieben. Dann passierte lange Zeit nichts. Ich lehnte den Kopf an die Wand und die Augen fielen mir zu. Mein Zehlein pochte sanft und ich wünschte mich in mein Bett zurück. Die richtige Bekleidung hatte ich ja bereits an. Durch meine halboffenen Lider beobachtete ich die Leute, die auf den Arzt warteten. Eine Frau hielt sich ein Tuch auf die Stirn, eine weitere Frau sass nach vorn gebeugt und keuchte immerzu. Dem Mann mit Gipsbein schien es nicht so schlecht zu gehen, er unterhielt sich mit seiner Sitznachbarin die ihren Finger mit einem Lappen verbunden hatte. Der Lappen hatte bereits einige rote Flecken. Die alte Dame im Rollstuhl machte schon ein Nickerchen und schlief auch weiter, als sie davon gerollt wurde. Ein junger Mann, mit einer Zeitung in der Hand und einer blutigen Nase im Gesicht, setzte sich auf den freien Platz neben mich. Ich drehte mich langsam zu ihm. „Na, schon ne Schlägerei gehabt am frühen Morgen?“ Der Nasenmann schaute mich verständnislos an. „Na, wegen der blutigen Nase.“ Der Mann schlug die Zeitung auf und sagte: „Ich hatte einen Arbeitsunfall.“ Ahja, darum wohl auch der blaue Arbeitsoverall und die Arbeitsschuhe. Nickend drehte ich meinen Kopf wieder zurück und wollte lieber schweigen. „Und Sie?“ „Ich habe einen gebrochenen Zeh.“ antwortete ich stolz. Der Mann zeigte auf meine pralle Krankenhaustasche. „Ist es beim Sport passiert?“ „Nein, ich bin aus dem Bett gefallen.“ erklärte ich. Der Mann lachte leise. „Wohl mit dem falschen Fuss aufgestanden...“ Ich schwieg. Mein Zehlein pochte leise vor sich hin und ich zählte die Schläge. Der Takt war gleichmässig und beruhigend. Ich verweilte in dieser zufriedenen Gleichmässigkeit und folgte dem sanften Takt. Erst als man an mir rüttelte, wurde mein Takt wieder schneller. Ich öffnete die Augen. „Sie dürfen jetzt mitkommen.“ Ich schaute mich um. Der Platz des Nasenmannes war leer und auch Gipsbeinmann und Lappenfrau waren schon weg. Ich humpelte der Arztgehilfin hinterher und musste mich auf eine Bank setzen und meinen Strumpf abziehen. Sie begutachtete den Zeh, aber sagte ausser: „Der Arzt kommt gleich“, nichts. Sie töckelte in Turbogeschwindigkeit etwas in den Computer und verliess den Raum. So sass ich nun und baumelte mit den Beinen. Ich sass recht unbequem, so auf Dauer und legte ich mich dann rücklings auf die weiche Bank. Aber da klopfte es schon an der offenen Tür und der Arzt trat herein, gefolgt von der schweigsamen Arztgehilfin. Ich rappelte mich, so gut es ging, elegant auf. Ich glaube, so geschmeidig sah es schlussendlich nicht aus, weil, so seitwärts, naja, Ihr wisst schon, meine Kilos waren da nicht kooperativ. Und meine sportlichen Fähigkeiten waren jetzt nicht so top. So unterstützte mich die Arztgehilfin und rückte einen kleinen Hocker vor meine Füsse. Dort nahm der Arzt Platz. „Frau Weisshaupt, Sie haben Schmerzen an Ihrem Zeh, ist das richtig?“ fragte er und putzte seine Brille. „Ja, ich denke, er ist gebrochen.“ Der Arzt zeigte auf meine prall gefüllte Krankenhaustasche. „Ist das beim Sport passiert?“ „Ähm, nein, ich bin aus dem Bett gefallen.“ Der Arzt war erstaunt. „Oh, aus welcher Höhe denn?“ Ich überlegte. „30 Zentimeter vielleicht?“ Der Arzt nickte und untersuchte meinen bläulichen Zeh. Tapfer biss ich auf die Lippen. Also, sooo schmerzhaft war es zwar nicht, aber, ich wollte parat sein, falls der starke Schmerz noch käme. „Nun, wir können ein Röntgenbild machen. Aber auch wenn der Zeh gebrochen ist, werden wir nichts tun.“ Nichts tun? Wie meinte er denn das? Fragend wartete ich auf weitere Erklärungen. „Nun, Zehen werden in der Regel nicht operiert, jedenfalls nicht die kleinen. Es heilt von selbst. Wir tapen ihn mit dem Nachbarzeh zusammen, dann ist er ruhig gestellt. Das Bein muss hochgelagert werden, damit die Schwellung abklingt. Aber nun machen wir doch erst einmal ein Röntgenbild.“ Die Arztgehilfin führte mich aus dem Zimmer, ein Bild wurde gemacht und nach 30 Minuten Wartezeit kam der Arzt zurück. Er schaute sich das Bild im Computer an und nahm dann wieder auf seinem Höckerchen Platz. „So, Frau Weisshaupt, ihr Zeh ist gebrochen.“ Ich schluckte leer. Herz klopfte laut! Mein armes kleines Zehlein. „Er ist glatt gebrochen. Nichts Schlimmes.“ Nichts Schlimmes? Hallo?! Mein Zeh ist gebrochen! Tot! Ich schluckte nochmals und wollte weinen. Meine Augen füllten sich bereits mit Wasser. Der Arzt tätschelte auf meinem Arm herum. „Das ist alles halb so wild.“ Er gab der Arztgehilfin irgendwelche Anweisungen und sagte: „Sie können Schmerzmittel nehmen wenn die Schmerzen zu stark sind. Sie sollten das Bein hochlagern und den Zeh kühlen.“ Mir wurde übel. Das Zehlein rief pochend nach mir im Takt. „Aua, aua, aua! „Keinen Sport.“ Er schaute auf die Sporttasche und winkte ab. „Ach, Sie sind ja aus dem Bett gefallen. Nun, in 4-5 Wochen ist alles vorbei und Sie können den Fuss wieder richtig belasten.“ Er drehte sich um. „Bis dahin sollten sie den Fuss schonen. Alles Gute.“ Ich murmelte ein „Danke“ und eine Träne tropfte in meinen Schoss. Die Arztgehilfin tapte mir den Zeh und sagte. „Das ist doch nicht weiter schlimm, Frau Weisshaupt. Bald können Sie wieder tanzen.“ Sie tätschelte mir das Knie. Tanzen? Wie kommt sie denn auf tanzen? Ich wollte doch gar nicht tanzen. „Wir haben hier täglich richtig ernste Fälle.“ Sie zog mir den Socken vorsichtig über den Fuss. Ich nickte. Sie reichte mir meine pralle Krankenhaustasche. „Bei denen wir den Menschen das Leben retten müssen.“ Sie öffnete mir die Tür. „Verstehen Sie, so richtige Notfälle.“ Ich nickte wieder und rutschte von der Bank. „Ich habe schon verstanden.“ murmelte ich. In meinem Kopf summte es. Ich bin also ein falscher Notfall.

Gedanken schon am Morgen

Oft fand ich Zettel an meinem Kühlschrank hängen. Manchmal sah ich sie zu spät, manchmal gar nicht und manchmal wollte ich den Zettel nicht sehen. Dieser aber hatte ich sich bereits in mein Gehirn gebrannt. Nur „Momo“ stand drauf, mehr nicht. Und Momo bedeutete miese Laune. Heute war Momo – Abholtag, 3 Tage am Stück lag ich nun im Bett, es wurde wirklich Zeit, dass auch mal wieder aufstand. Um meine Zeit mit dem gebrochenen Zehlein zu überstehen, hatte ich mir einen grossen Korb ans Bett gestellt. Einen Fresskorn mit Allerlei Gutem, für meine Seele, für meinen Magen, zur Belohnung und auch einfach so. Das war eine schöne Zeit, so in meinem Kuschelbett, mit all den Leckereien. Okay mein Laken war krümelig und ja, auch fleckig. Das Kissen war noch feucht vom verschütteten Orangensaft und ein paar Gummibärchen ertastete ich unter meinem Bauch. Momo hiess auch: heute bekomme ich ungewollt ein Haustier. Eine verwöhnte Perserkatze. Mutters Katze. Nur weil Mutter auf die Idee kam, wieder in ein Liebesleben zu starten und ihr Lover allergisch gegen Katzen war, musste ich dran glauben. Ich seufzte tief. Gilbert. Wie Mutter den Namen aussprach, - Schilbär - als ob es völlig normal wäre, dass da einer Gilbert heisst. Ich wackelte vorsichtig mit meinen Zehen. Nun, das kleine gebrochene Zehlein pochte zwar noch leise, schmerzte jedoch nicht mehr so stark. Erstaunlich, dass Mutter in ihrem Alter sich noch auf so was einliess. Auf so was wie ein Liebesleben, meine ich. Noch erstaunlicher fand ich es, dass sich jemand auf sie einliess. Auf Mutter! Ich stellte mir vor, wie sie ihren Gilbert küsste. Nein, dass konnte ich mir gar nicht vorstellen! Absurd! Ich verzog mein Gesicht und schüttelte den Kopf. Unmöglich! Vielleicht hatten sie ja eine platonische Beziehung? Ich überlegte, das war ja auch möglich. Einfach, damit man nicht allein leben musste, für den Rest, welchen man auf der Welt noch verbrachte. Ich schlug die Decke zurück und warf meine Beine mit Schwung über den Bettrand. In meinem Rücken knarrte es. Vom langen Liegen schmerzte er schon etwas und ich streckte mich ausgiebig. Ich schaute an mir herunter. Okay, der Hasen – Plüsch – Schlafoverall musste auch in die Wäsche. Das Tapes hatte sich vom Zehlein gelöst. Zehlein sah noch etwas rötlich aus, aber die Schwellung war zurückgegangen. Sollte ich das Bein nicht eigentlich hochlegen? Naja, das hatte ich vergessen. Ich schlurfte zum Aquarium. Bulli hatte ich seit 3 Tagen nicht besucht. Gut, hatte er ein Futtergerät, so verhungerte er nicht, während ich in einer Fressorgie im Schlafzimmer weitere Speckrollen anfrass. Ich winkte Bulli zu. Er interessierte sich nicht für mich. Er war beschäftigt, mit seiner Plastikfrau. Da hatten wir es wieder. Bulli, Mutter.... Alle hatten einen Partner, nur ich nicht. Okay, ich hatte Rainer. Rainer war ein guter Freund geworden. Es war angenehm mit ihm. Er war lustig. Ich schlurfte in die Küche und füllte den Teekessel mit Wasser. Ich legte meinen Kopf schief und überlegte. Ja, Rainer war unterhaltsam und sehr hilfsbereit. Das war er. Und er war verliebt in mich, scheinbar. Und ich? Was empfand ich, Isolde Weisshaupt für Rainer? Gute Frage, ich wollte da mal ganz fest in mich hineinhorchen. Musste man das überhaupt? Spürte man so etwas nicht einfach? Ja, manchmal flogen da schon ein paar Schmetterlinge durch meinen Bauch und in meinem Herz stichelte es so sonderbar. Ich wusste wie Rainer roch und ich kannte seine Schuhgrösse. Reichte das schon um sich zu verlieben? Mein Wasserkessel pfiff und riss mich aus den Gedanken. Nach den vielen süssen Sachen in den letzten 3 Tagen, wählte ich jetzt einen deftigen Ingwer – Orangentee aus. Der Tee wärmte von innen und ich stieg aus meinem Plüschoverall aus. Die nächste Frage war: was ziehe ich an? Nach dem Tee schlurfte ich ins Schlafzimmer und öffnete meinen Kleiderschrank. Durch ständiges Suchen nach tragbarer Kleidung war mein Schrank schon lange nicht mehr aufgeräumt. Aber das spielte ja auch keine Rolle. Keiner würde in meinem Schrank nachschauen, ob da alles fein säuberlich, wie wahrscheinlich bei meiner Mutter, einsortiert und aufgehangen war. Ich zupfte also ein Kleidungsstück nach dem anderen aus dem Haufen im Schrank und hielt es hoch. Es dauerte eine Weile bis ich etwas Brauchbares in den Händen hielt. Es war ein dunkelgrünes Oberteil mit einer goldenen Bordüre. Das fand ich schick. Sah etwas orientalisch aus. Ja, heute wollte ich nicht langweilig herumlaufen. Also, ich laufe ja eigentlich nie langweilig herum, naja, vielleicht ab und zu, das kann schon sein. Heute, so wollte ich sagen, möchte ich auffallen. Wenigstens mit diesem grünen Oberteil. Ehrlich gesagt war es mir immer zu weit, aber, es schien geschrumpft zu sein, denn es passte perfekt. Die schwarzen Leggings schmückten meine Beine und meine Stofflatschen passten da hervorragend. Diese Dinger passten sowieso immer und überall. Im Badezimmer zeigte der Spiegel mir noch die Schokoladenflecken im Mundwinkel. Die waren schnell beseitigt. Meine wilden Locken sperrte ich in eine grosse goldene Spange ein. Dann trug ich ein wenig Farbe auf meine Augenlider und schon war ich fertig. Ich konnte sowieso nie verstehen, wieso manche Frauen stundenlang im Bad standen um sich für irgendetwas zurecht zu machen. Das ging doch alles ruck zuck! Ich nickte dem Spiegelbild zu und warf einen Blick auf die Uhr. Die Zeigen nahmen nie Rücksicht auf mich und tickerten und tackerten unaufhaltsam. Dabei schrien sie immer: „zu spät...zu spät...zu spät ...zu spät!“ Aber nein, heute war ich nicht zu spät! Ich war so was von goldrichtig und super gut in der Zeit! Es war viertel vor 9, bis zur Bushaltestelle waren es nur wenige Schritte. Kurz vor 9 fuhr der Bus. Ich kniff meine Augen zu und warf dem Fensterbankwecker einen bösen Blick zu. „Hah! Pech gehabt, heute hast Du mich nicht überholt!“ Ich stopfte mein Handy in die Tasche, warf den Schlüssel dazu und zog die Tür ins Schloss.

Zur falschen Zeit am richtigen Ort

Ich lief die wenigen Schritte zur Bushaltestelle und stellte mich brav unters Vordach. Weit und breit keine Menschenseele. Warum auch, heute war Sonntag. Die Leute hatten sicher Besseres zu tun, als an einem Sonntag Mutters Katze umzuquartieren. Ich freute mich, dass ich pünktlich war, denn am Sonntag fuhren die Busse reduzierter. So würde ich diesmal von Mutter keine unnötigen Kommentare an den Kopf geworfen bekommen. Siehste, lachte ich still in mich hinein, ich konnte auch pünktlich sein. Meistens war auch nicht einmal ich an meinen Verspätungen Schuld. Da passierten halt immer so unvorhergesehene Dinge und schwupps. Vielleicht sollte ich mir ein Auto kaufen, dachte ich. Dann wäre ich unabhängig von Zeit und Raum. Uiiiii ich kicherte. Von Zeit und Raum. Wie spacesisch. Ich trat vom einen Fuss auf den anderen und hielt nach dem Bus Ausschau. Mutter wohnte am anderen Ende der Stadt, in einem neu renovierten Stadthaus. Sie wohnte recht prunkvoll in einem wirklich schönen Haus. Natürlich betonte sie immer, wie sehr ihre Eltern dafür gearbeitet hatten. „Von nichts kommt nichts!“ waren so ihre ermahnenden Worte. Diese hörte ich bereits in meiner Schulzeit. Gut, ich konnte ihr ja eh nichts Recht machen und erreicht hatte ich in ihren Augen ja auch nichts. Aber ich war zufrieden. In dem Moment fiel mir ein, dass mein Auszug aus dem Haus immer näher rückte. Darum hatte ich mich noch nicht gekümmert. Ich seufzte. Das wäre noch wichtig, Isolde! Der Abriss des Hauses wurde zwar laut letzter Mitteilung um 2 Monate verschoben, aber auch diese 2 Monate werden verstreichen und dann? Ich schimpfte mit mir selbst. Gleich nach der Polen – Reise wirst Du Dich darum kümmern. In der Ferne hörte ich die Kirchturmuhr schlagen. Mhh wo blieb denn dieser doofe Bus? Der hatte jetzt schon sicher 5 Minuten Verspätung! Ich holte tief Luft und studierte nochmals den Fahrplan. Sonntag 8:55. Heute war Sonntag und es war bereits nach 9 Uhr. Ich schaute suchend in den Himmel und überlegte. War heute wirklich Sonntag? Ich zählte die Tage. Ja, es war Sonntag. Ich hatte allerdings das Gefühl, dass irgendetwas anders war. Es war so merkwürdig hell heute. Heller als sonst. Oder nicht? Mein Handy in der Tasche summte. Mutter schrieb: „Wo bleibst Du?“ Ähhhhmmm, naja, sollte sie doch eher fragen – wo bleibt der Bus? „Bin auf dem Weg.“ antwortete ich. Mein Blick streifte die Anzeige der Uhrzeit. Diese präsentierte mir: 10:12h. Wie 10:12h? Ich schüttelte verwundert zuerst den Kopf und dann das Handy. Wieso zeigte mein Handy 10:12 an? Ich bin doch keine Stunde von daheim zur Bushaltestelle gelaufen. Haha, das sind ja nur 100 Meter. Ich runzelte meine Stirn und schaute mich um. Es waren nur wenige Leute unterwegs. Ein Paar mit einem Hund spazierte schwatzend auf der anderen Strassenseite. „Hallo, Entschuldigung!“ rief ich, winkte und hüpfte, damit sie mich auch wirklich sahen. Und...tarraaa, sie sahen mich und bleiben stehen. Ich rief: „Können Sie mir sagen wie spät es ist?“ Der Mann schaute auf seine Uhr am Arm. 10:14h rief er zu mir hinüber. Die Frau schaute auch auf ihre Uhr und nickte zustimmend. Dann wünschten sie mir einen schönen Sonntag und liefen weiter. Wieso sollte es nach 10 sein? Ich hatte eine ganze Stunde irgendwo verloren. Ich war verwirrt. Oder bekloppt? War ich echt bekloppt?

War es jetzt schon soweit? Der Fahrplan hatte sich nicht verändert. So oft ich auch drauf schaute, er blieb dabei. Sonntag, Abfahrt 8:55, 10:55, 12:55, 14:55, 16:55, 18:55 und 20:55. Okay, verstanden. Nicht verstanden aber hatte ich nicht, wieso es plötzlich später war als vorher. Ich schaute nochmals in den Himmel. Wo war ich denn eine Stunde lang? „ Moin“ murmelte es neben mir. Ein junger Mann stellte sich neben mich und stierte in sein Handy. „Wie spät ist es?“ fragte ich ihn. Er reagierte nicht. „Entschuldigung.“ sagte ich etwas lauter und tippte ihn am Arm. Der junge Mann nahm etwas Weisses aus dem Ohr, schaute mich fragend an. „Ja, was ist?“ Er schien überrascht, dass ich ihn bei seinem Irgendwas störte. „Ich wollte nur wissen, wie spät es ist.“ Über die Frage war er ebenso erstaunt. „Na 10:35.“ Ja, die Zeitangabe konnte ich auf seinem Handy erkennen, so dicht stand ich neben ihm. „Wars das?“ Jaja, das wars. Das wars auch für mich. Ich nickte. Der junge Mann steckte sich sein weisses Teil ins Ohr und schenkte wieder seinem Handy seine ganze Aufmerksamkeit. Hatte auch er eine Stunde verloren? Aber wunderte sich darüber gar nicht? Ich suchte nach Antworten. Bis der Bus kam, fiel mir auch keine Antwort ein. Ich setzte mich neben eine ältere Frau. „Darf ich fragen, wie spät es bei Ihnen ist?“ „Bei mir?“ die Frau lachte. „Naja, es ist bei uns allen gleich spät. Hätte ich eine eigene Uhrzeit, wäre es bei mir noch nicht spät.“ Was redete sie denn da? Ich wollte doch nur wissen, wie spät es war! Sie schaute auf ihre Uhr.

„Es ist genau 10:56.“ Dann schaute sie wieder aus dem Fenster. „Ich dachte, es wäre erst um 10.“ murmelte ich. „Na, dann leben Sie noch in der falschen Zeit.“ Ja, das Gefühl hatte ich schon seit Jahren. „Wir hatten doch diese Nacht Zeitumstellung.“ Tatsächlich?! Ach...!

Gilbärchen

Nach einer reichlichen halben Stunde stieg ich aus und eilte auf Mutters Haus zu. Ich hämmerte mit dem Löwennasenring an der Türe und verdrehte die Augen. Ich wusste genau, dass Mutter sich wieder einmal über mein Zuspätkommen auslassen würde. Aber, ich konnte ja auch heute nichts dafür!

Zeitumstellung, so ein Unsinn. Und ausserdem, wer denkt schon an so etwas? Nach dem 2. Hämmern öffnete meine Mutter die Tür. Sie begrüsste mich liebevoll mit einer Umarmung. Nein, das wäre dann nicht meine Mutter gewesen. Meine Mutter begrüsste mich mit einem Satz: „Du kommst nicht nur ein paar Minuten zu spät, nein, Du kommst einen halben Tag zu spät!“ Sie liess mich an der Tür stehen und eilte davon. „Ich hatte Dich zum Frühstück eingeladen und nicht zum Mittagessen.“ Ich seufzte. „Heute war Zeitumstellung.“ startete ich einen Versuch einer Erklärung. „Natürlich, wie jedes Jahr um die Zeit!“ rief Mutter aus der Küche. Dann wurde ihre Stimme sanft. „Gilbärchen!“ flötete sie über den Flur. Ähm Entschuldigung? Bitte was? Gilbärchen?

Ich wollte lachen, traute mich aber nicht. Mutter zischte: „Wasch Dir die Hände, wir trinken noch einen Tee.“ Mechanisch lief ich ins Badezimmer und hielt die Hände und der warme Nass. Ich schaute in den Spiegel und schüttelte den Kopf. Gilbärchen! Hah! Wie lächerlich. Auf der Ablage über dem Waschbecken standen Utensilien für Männer, eine zweite Zahnbürste steckte im Becher und ein Rasierer lag ausgepackt neben der Handcreme. Nun, der Rasierer könnte auch Mutter gehören, dachte ich noch, als sie bereits nach mir rief. „Ja was ist denn jetzt?!“ Schleunigst trocknete ich die Hände ab und lief ins Wohnzimmer. Mutter empfing mich: „Bis Du Hände gewaschen hast, ist der Tee kalt.“

Sie präsentierte einen freien Stuhl an der Stirnseite.

„Setz Dich.“ Artig setzte ich mich. Der Tee stand bereits vor mir in einer edlen blau gemusterten Tasse. Das Untertellerchen war passend und der kleine Löffel schien silbern zu sein. Neben der Tasse stand ein Schälchen. Für den Teebeutel. Diesen durfte ich nicht einfach auf den Unterteller legen, nein, er wird sanft ausgedrückt und in dem Glasschälchen platziert. Ich verschluckte mich beim ersten Schluck. Wahrscheinlich lag es auch daran, dass Gilbärchen das Wohnzimmer betrat. Ich musste zugeben, auf den ersten Blick hätte ich ihn nicht als Mutters Liebhaber erkannt, aber als er sich mir gegenüber an den Tisch setzte, stellte Mutter ihn vor. „Gilbert, das ist meine Tochter Isolde, das ist Gilbert.“ Gilbert nickte mir zu und verzog keine Miene. „Gilbert wohnt seit ein paar Wochen bei mir, aber ich bin Dir ja keine Rechenschaft schuldig.“ Dann nahm Mutter einen Schluck Tee und tatschelte des Jünglings zarte Hand. Es war Haarsträubend. Gilbert war, vorsichtig geschätzt so alt wie ich. Er hatte eine Hornbrille auf der Nase und ein Haarband in den Haaren. Seine Hände waren schmal und sahen gepflegt aus. Mutter schob ihm einen Tee zu und er bedanke sich mit einem Luftkuss. Echt? Mit einem Luftkuss? Ich schob die rechte Augenbraue nach oben und überlegte, ob das Ganze hier wirklich ernst war. Es lief mir frisch den Rücken hinunter. Es fröstelte mich schon und ich musste mich schütteln. Gilbärchen nippte am Tee und tupfte seine Mundwinkel mit der hellblauen Stoffserviette ab. Erstaunlich, mir reichte da immer der Ärmel meines Pullovers. „Es freut mich Dich kennenzulernen, Isolde.“ Ohhh das Gummibärchen konnte sprechen. „Du hast einen wunderbaren Namen.“ Dies hörte Mutter gern und tätschelte Gummibärchens Hand zum Dank. „Er ist wirklich selten und bedeutet Kämpferin.“ verkündete der Jüngling sein Wissen. Mutter verzog ihr Gesicht. „Ja, an dieser Eigenschaft muss meine Tochter noch arbeiten, ebenso an ihrer Pünktlichkeit. Aber ja, sie kam bereits zu spät auf die Welt.“ Sie schenkte ihrem Gummibärchen Tee nach. Als Dank bekam sie einen weiteren Luftkuss. Sehr merkwürdig. Wer war diese Person? Was genau fand meine Mutter an ihm. Er war halb so alt wie sie. Auch seine Kleiderkombination war aussergewöhnlich. Er trug ein grün gestreiftes Hemd und eine weite dunkle Stoffhose.

Hosenträger spannten über seinem Oberkörper. Entsetzt fiel mir auch ein silberner Ring an seinem kleinen Finger auf. Meine Augen wurden schmal und meine „Nachdenkfalten“ zeigten sich auf der Stirn. Wusste Mutter denn eigentlich wen sie sich da aufgehalst hatte? Und wo zum Kuckuck hatte sie diesen Typen aufgegabelt? Vielleicht lag es jetzt an mir, meine Mutter zu befreien, sie zu beschützen. Es lag an mir, herauszufinden, wer er wirklich war. Schon der Name allein...Gilbert...so nennt doch keine Mutter ihr Baby. „Du bist also Musiker.“ begann ich vorsichtig mein Verhör. „Durchaus, ich studiere Instrumental- und Vokalpädagogik.“ „Aha.“ Kein Plan was das heissen mochte. Gummibärchen sah mir meine Unwissenheit an. „Musikpädagogik.“ klärte mich Gummibärchen auf. „Theoretische und praktische Pädagogik werden mit der Ausprägung hoher künstlerischer Kompetenz verbunden, somit sind wir Studenten optimal auf unseren späteren vielfältigen Berufsalltag vorbereitet.“ Ich nahm einen grossen Schluck Tee. Einen sehr grossen. „Interessierst Du Dich für eine Richtung?“ Mutter lachte heiser auf. „Ich glaube, Isolde ist da nicht die richtige Gesprächspartnerin. Isolde arbeitet in einer Küche, als Hilfsköchin.“ erklärte meine Mutter. Oh wieso fragte ich überhaupt. Ich musste unbedingt an meiner Verhörtechnik feilen. Schliesslich wollte ich meine Mutter retten. Wollte sie überhaupt gerettet werden? „Isolde, welches sind denn Deine Ziele im Leben, wenn ich fragen darf?“ Entschuldigung? Also, ich bin doch die, die hier das Verhör führte und nicht umgedreht.

„Ziele?“ Oh welch eine Frage, noch nie hatte ich über irgendwelche Ziele nachgedacht. Brauchte ich Ziele? Ich war völlig zufrieden. „Nun, jeder Mensch hat doch ein Ziel, um voran zu kommen, um sich zu entfalten, seine Talente zu entdecken, zu reifen. Nur durch ein Ziel entwickelt der Mensch sich. Sonst bleibt er stehen.“ Mutter tätschelte Gummibärchen den Arm. Ich zuckte mit den Achseln. Ich hatte kein Ziel. Ich wollte auch kein Ziel haben. Mein Ziel war es Mutter zu retten, doch das hatte ich soeben wieder verworfen. Sie wollte gar nicht gerettet werden. „Also, ich habe keine Ziele. Ich bin sozusagen Ziellos. Ziellos gereift.“ Haha das klang lustig. Gereift wie ein Pfirsich. Prall, rund, süss und saftig. Ich musste nur noch gepflückt werden. Ich wurde nachdenklich. Natürlich hatte ich ein Ziel. Ich wollte einen Mann und eine Familie – aber das konnte ich hier ja wohl nicht auf den Tisch werfen.

Mutter würde sich darüber nur lustig machen. Es musste eigentlich nur noch einer kommen, der mich vom Baum pflückte, die reife Isolde erntete. Ja, ich war so was von bereit geerntet zu werden. Das war mein Ziel. Ein tolles Ziel! Aber irgendwie hatte das kleine Gummibärchen Recht. Ich nickte. Innerlich. Gar nicht mal so verkehrt, diese Gedanken. Und so beschloss ich ein Ziel: „Die Ernte.“ Denn auch ich wollte gepflückt werden.

Katzenbraten