Jack Engles Leben und Abenteuer - Walt Whitman - E-Book

Jack Engles Leben und Abenteuer E-Book

Walt Whitman

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Beschreibung

"Ein unbekannter Roman Walt Whitmans, der ein multikulturelles Amerika preist – eine Weltsensation zur rechten Zeit." Wieland Freund

Humorvoll-lakonisch erzählt Walt Whitman eine klassische Aufstiegsgeschichte in der Tradition des großen Charles Dickens, allerdings in der Neuen Welt, mitten in New York. Er schildert die Schattenseiten der rasant wachsenden Metropole, verschweigt weder das Elend der Notleidenden noch die Korrumpierung derer, die an der Wall Street zu schnellem Geld gekommen sind. Doch vor allem feiert er in seinem "Jack Engle" uramerikanische und urdemokratische Tugenden: den Glauben an den unveräußerbaren Glücksanspruch des Einzelnen, die Zuversicht und den Pioniergeist der kleinen Leute, ihren Mut zur Improvisation und nicht zuletzt die alles überragende Leitidee der Einwanderernation – sich gemeinsam, ohne Ansehen von Herkunft, Stand oder Religion, aufzumachen in eine bessere Zukunft.

1852 als Fortsetzungsroman im "Sunday Dispatch" erschienen und erst 165 Jahre später als Schöpfung Walt Whitmans identifiziert – ein kleines Wunder der Weltliteratur! 2017 ist sie erstmals in deutscher Übersetzung zu entdecken, die Lebensgeschichte eines Waisenjungen, der auf den Straßen New Yorks lernt, sich mit Fäusten, flinker Zunge und viel Köpfchen zu behaupten. Keine ganz gefahrlose Sache in diesem brodelnden Eldorado der Überlebenskünstler aus aller Herren Länder ...

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Seitenzahl: 187

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Der literarische Jahrhundertfund erstmals auf Deutsch!

New York, Mitte des 19. Jahrhunderts: Ein Waisenjunge namens Jack Engle muss sich mutterseelenallein in den Straßen der Großstadt durchschlagen. Ein dunkles Geheimnis überschattet das Leben des kleinen Streuners. Doch dann meint es das Schicksal zur Abwechslung einmal gut mit ihm. Mit Cleverness, Beherztheit und den richtigen Freunden an seiner Seite schafft er es, seinem Glück auf die Sprünge zu helfen.

«Ein unbekannter Roman Walt Whitmans,

der ein multikulturelles Amerika preist –

eine Weltsensation zur rechten Zeit.»

Wieland Freund

Walt Whitman

Jack Engles Leben und Abenteuer

Eine Autobiografie, in der der Leser einige ihm wohlvertraute Figuren wiederfinden wird

Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Renate Orth-Guttmann und Irma Wehrli

Jack Engles Leben und Abenteuer

VORREDE

Geradeheraus, geneigter Leser: Wir werden dir eine wahre Geschichte erzählen. Sie ist in der Ich-Form abgefasst, weil sie ursprünglich von deren Hauptperson zur Unterhaltung eines geschätzten Freundes niedergeschrieben wurde. Besagte Geschichte bleibt, wenn auch ein wenig ausgeschmückt und mit einer unbedeutenden Auslassung hier, einer Ergänzung dort versehen, vom Inhalt her unverändert. Die meisten Begebenheiten haben sich in dieser großartigen Stadt New York tatsächlich zugetragen, und nicht wenige Leser werden sich fragen, wie zum Henker derlei Fakten (die sie durch reinen Zufall erfahren haben) jemals im Druck erscheinen konnten.

Wir werden in unserem Bericht den Darstellern dieses echten Dramas unechte Namen geben und ihnen genug von unseren eigenen Kleidern überwerfen, um zu verhindern, dass Außenstehende sie erkennen können.

Von etlichen Personen, die in dieser Geschichte auftauchen, haben wir aus anderen als den oben erwähnten Quellen Kenntnis erhalten. Diese werden wir je nach Erfordernis von Fall zu Fall aufdecken oder auch für uns behalten.

Kapitel 1

Ein anerkanntes Exemplar des jungen Amerikas – Der Anwalt in seiner Kanzlei – Niedergang im Alter– Auftritt Telemach und Odysseus1– Ein Geschäft wird unter Dach und Fach gebracht

Pünktlich um halb eins, als die Mittagssonne flach auf dem Pflaster der Wall Street lag, bedeckte ein Jüngling mit dem gottgefälligen Namen Nathaniel seinen kurz geschorenen Kopf mit einem Strohhut, für den er am gleichen Morgen fünfundzwanzig Cent angelegt hatte, und tat seine Absicht kund, zum Essen zu gehen.

COVERT

Rechtsanwalt

so prangte der Name von der Tür, die weit geöffnet und zwecks Kühlung fixiert worden war, hinein in den Raum (eine Anwaltskanzlei in der Innenstadt). In diesem Moment blickte der wirkliche Covert von seinem tuchbespannten Tisch in einem der innen gelegenen Zimmer auf, wo ein Teppich, Bücherschränke, abgestandene Luft, ein wuchtiger Sessel mit Lederpolstern und drei Fenster, von denen nur eines – und auch das nur ein Stück weit – geöffnet war, das Allerheiligste des Herrn und Meisters offenbarten. An seiner Kleidung erkannte man ihn als der Religionsgemeinschaft der Freunde oder Quäker zugehörig.2 Er war ziemlich groß, hatte einen stark gekrümmten Rücken und ein blasses, kantiges, glatt rasiertes Gesicht, und wer auch nur einige Kenntnisse in der Deutung von Physiognomien besaß, für den war ein gewisser frömmlerisch-satanischer Ausdruck in seinen Augen nicht zu übersehen. Da er vermuten mochte, dass dieser Ausdruck seinem Gesicht nicht allzu wohl anstand, lenkte Mr. Covert seine Sehorgane normalerweise nach unten, jetzt aber richtete er sie auf seinen Botenjungen. «Ja, geht zum Essen», sagte er. «Beide. Denn ich wünsche allein zu sein.»

Und Wigglesworth, der Kanzleidiener, ein von Tabakmief umwaberter alter Knabe – er schmauchte und priemte unablässig –, stieg von seinem hohen Stuhl in der Ecke herunter, in der er langsam irgendein Schriftstück kopiert hatte.

Alter Wigglesworth! Dir sei hier ein Wort des Lobes und des Mitgefühls gegönnt, denn der Herr schenkte dir, du komischer alter Kauz, eine schöne Seele.

Ich weiß mir kaum einen traurigeren Anblick als diese trostlosen Alten, die man überall in New York sieht – anscheinend ohne jeden Anhang, bettelarm, die Lippen am zahnlosen Gaumen mümmelnd, in abgerissenen speckigen Sachen; Menschen, die in jenen fragwürdigen Gefilden zwischen ehrenhaftem Verhungern und Armenhaus dem Ende entgegengehen.

Der alte Wigglesworth war früher einmal begütert gewesen. Die Schuld an seinen Verlusten und einem Alter in Elend trug einzig und allein seine Unmäßigkeit. Er betrank sich nie hemmungslos, war aber auch nie völlig nüchtern. Bei Covert stand er jetzt mit einem Gehalt von vier Dollar die Woche in Diensten.

Bei dem vorhin erwähnten Nathaniel handelte es sich um einen kleinen Kerl mit grenzenlos großem Ehrgeiz, dessen höchstes Ziel es war, eines Tages mit einem schnellen Pferd über die Third Avenue zu jagen. Bis dahin rauchte er billige Zigarren, trimmte sein hellbraunes Schläfenhaar liebevoll zu den sogenannten «Schmalzlocken», fegte das Büro und machte Botengänge, bei denen er hin und wieder eine Pause einlegte, um mit scharfer Zunge oder mit der Faust einen Streit zu schlichten. Denn Nathaniel war unerschrocken und besaß eine anlagebedingte Neigung, anderen Menschen seine eigene Meinung notfalls mit Gewalt nahezubringen.

Nachdem er die beiden losgeworden war, widmete sich Mr. Covert abwechselnd dem Denken und dem Schreiben, bis er einen Brief fertiggestellt hatte, der ihm offenbar recht schwergefallen war. Er faltete, kuvertierte und siegelte ihn und verschloss ihn dann in seinem Schreibtisch.

Ein Klopfen an der Türe.

«Herein.» Es erscheinen ein aufgeweckter Mann mittleren Alters aus der sogenannten Arbeiterklasse sowie euer ergebener Diener, der sich hier der Mühe unterzieht, euch mit seinen Abenteuern zu unterhalten. Er ist zum Zeitpunkt seines Auftretens ungebärdige zwanzig Jahre alt, in Strümpfen fünf Fuß zehn Zoll groß, hat zwei braune Augen und passend dazu rote Backen und macht den Mädchen, die von der Arbeit aus der Stadt durch die Nassau Street kommen, mächtig schöne Augen.

«Mr. Covert, vermute ich?», sagte mein Begleiter.

«Der Nämliche, Sir. Nehmen Sie doch Platz.»

«Mein Name ist Foster.» Er rückte sich auf einem Stuhl zurecht und legte den Hut auf den Tisch. «Sie haben letzthin eine Mitteilung von mir erhalten?»

«Ja, ganz recht», erwiderte der Anwalt bedächtig. Dann, mit einem Blick auf mich: «Und das ist also der junge Mann?»

«Das ist der junge Mann, Sir, und wir sind hier, um die Sache klarzumachen, wenn’s recht ist. Ich möchte nämlich, dass er Anwalt wird, eine Profession, für die er keine große Neigung zeigt und die er von sich aus nicht gewählt hätte. Mir aber ist es gewissermaßen ein Herzenswunsch, und weil er auf mich hört, ist er bereit, ein Jahr lang brav das Geschäft zu studieren, und danach, das habe ich ihm versprochen, kann er machen, was er will.»

«Er ist nicht Ihr Sohn, verstehe ich das recht?», sagte Covert.

«Nicht ganz», gab der andere zurück. «Aber fast. Jetzt kennen Sie meine Meinung, und weil ich ein Mann weniger Worte bin, würde ich nun gern die ihre erfahren.»

«Wir werden es auf jeden Fall mit ihm versuchen, Mr. Foster.»

Dann wandte er sich an mich. «Wenn du morgen Vormittag zwischen neun und zehn herkommst, junger Mann, habe ich mehr Muße für eine Unterhaltung, und wir können schon einmal anfangen. Vorab aber ein Wort der Warnung: Es wird ganz und gar von dir abhängen, wie du zurechtkommst. Was mich anbelangt, kann ich dir nur den besten Weg weisen.» Womit das erste Kapitel endet.

Kapitel 2

Der ehrbare Milchmann und sein Vertrauen in die Menschheit – Und sein großes Glück, eines Morgens einen kostbaren Schatz zu finden

Dieses Kapitel ist notwendigerweise ein rückblickendes. Unter den ersten Kunden von Ephraim Foster war eines Morgens ein kleiner Junge, flachshaarig und weder hübsch noch hässlich. Ephraim betrieb seinen Laden in einer der Durchgangsstraßen, die die Grand Street östlich der Bowery kreuzen; er verkaufte Milch, Eier und sonst noch dies und das – im Winter erweiterte er sein Geschäftsfeld durch den Handel mit Schweinefleisch und Wurstbrät, ein Geschäft, das hierorts bei kaltem Wetter floriert.

Unser schönes Amerika kann es bei der Liebe zum Schweinefleisch mit dem antiken Griechenland aufnehmen. In der entsprechenden Jahreszeit steht auf allen Straßen Laden an Laden, wo diese beliebte Winterkost angeboten wird: prachtvolle rote und weiße Tranchen, gewaltige Schinken, frisch oder geräuchert, ganze Hälften und Vorderviertel – und hier und da ein grinsender Kopf mit dicken Backen und aufgestellten Ohren. Noch mehr schätzen manche Leute das kräftig gewürzte Brät oder die wabbelig-geleeartige Sülze.

Bei der Verfertigung Letzterer vollbrachte der brave Ephraim stets wahre Wunder, denn die Leute hatten Vertrauen zu ihm, was einem Verkäufer von Wurstwaren gegenüber keine Selbstverständlichkeit ist. Aber er verdiente es auch, so wie er alles verdient hätte. Ephraim war einer der besten Menschen, die sich denken lassen. Manche Leute sagten zwar manchmal, er würde wohl nie den North River anzünden, aber Foster kam sogar in Geldangelegenheiten schneller und stetiger voran als andere, die im Ruf standen, die Allergewieftesten zu sein. Er war, ohne groß darüber nachzudenken, von Natur aus gütig, tolerant und selbstlos, freilich auf seine eigene bescheidene Art, die aber deswegen nicht weniger bewundernswert war. Sein Dreh bestand darin, sich da und dort zu seinen Ungunsten zu irren – dem Kunden einen Penny zu erlassen und bei Maß und Gewicht niemals zu schummeln.

Und noch eins: Obwohl das übliche Schild «Kein Kredit» über dem Ladentisch hing, ging Ephraim sehr großzügig damit um, besonders wenn es sich um eine arme Familie handelte, die um Stundung bat oder in der Vater oder Mutter krank war. Auch wenn es dadurch mehrmals zu uneinbringlichen Außenständen kam, was für einen Mann in seinem Geschäft keine Kleinigkeit ist, erlitt er erstaunlicherweise auf lange Sicht nie wirklich einen Verlust.

Einmal hatte Ephraim eine hohe Forderung endgültig abgeschrieben, und der Schuldner, ein armer Schreinergeselle, war in ein anderes Viertel gezogen. Doch dann brachen für den Schreiner bessere Zeiten an, und er kam eines schönen Abends vorbei, zahlte wie ein Mann und machte Ephraims Frau ein hübsches Nähkästchen zum Geschenk. Ein andermal, als der Schuldzettel einer armen Mutter kleiner Kinder fast den ganzen Winter über lang und immer länger wurde – denn andernfalls wären sie verhungert –, starb ihr Mann, ein trunksüchtiger, antriebsloser Mensch, und Freunde nahmen die Frau auf. Wer aber wurde nach einer Weile als Köchin im Haus einer drei Blocks entfernten wohlhabenden Familie eingestellt? Eben diese Mutter – die in ihrer guten Stellung rund und rosig wurde und nicht nur die alte Schuld beglich (auch wenn Ephraim ihr sagte, es sei nicht mehr wichtig, sie solle die Sache vergessen, woraufhin die brave Köchin in Zorn geriet), sondern ihrem alten Freund so manche lukrative Kundschaft vermittelte. Die Geschichte von seinen guten Taten kam ihrer Dienstherrin zu Ohren und von dort anderen Leuten, und man darf wohl davon ausgehen, dass ihm dies nicht zum Schaden gereichte. So lässt sich sagen, dass er ungeachtet seines weichen Herzens so viel Gewinn machte, dass er die schlimmsten Forderungen beinahe ausgleichen konnte, denn diese unglückseligen Außenstände wurden eben nicht immer getilgt, nachdem er sie abgeschrieben hatte.

Das also war der Mann, an den der kleine flachshaarige Junge das Glück hatte zu geraten. Der Kleine sah nicht aus, als habe er eine Morgentoilette gemacht, er war barhäuptig und barfuß und im Übrigen zehn Jahre alt.

«Und wer bist du, kleiner Mann?», fragte Ephraim, denn er meinte, jeder Mutter Kind im Umkreis von zwölf Blocks zu kennen.

Der Flachskopf sah dem Ladenbesitzer ins Gesicht und antwortete, er werde für gewöhnlich Jack genannt.

«Und wo kommst du her?», fuhr Ephraim fort.

Wieder sah Master Jack hoch, blieb aber die Antwort schuldig. Er holte tief Luft und stieß sie wieder aus, wie Kinder es bei einem halben Seufzer tun, und blickte Ephraim unverwandt an. «Ich will was zum Frühstück», kam endlich die kühne Erwiderung.

Ephraim hielt einen Augenblick in seiner Beschäftigung inne, Gestelle und Milchkannen vor die Tür zu schleppen, aber der Überraschung folgte etwas, das sich anfühlte wie geschmeichelte Eitelkeit. Nicht an jeden Mann oder jede Frau hätte sich so ein kleines Unglückswurm in Jacks lakonischem Ton gewandt. Der verriet weder Unverschämtheit noch die Dickfelligkeit eines geübten Bettlers, sondern klang eher wie: «Ich sehe, Sir, dass Sie ein gutes Herz haben und dass es Ihnen immer Freude bereitet, ein gutes Werk zu tun.»

Dazu kam noch etwas anderes. Ephraim hatte vor zehn Monaten einen kleinen Weißschopf sein eigen genannt, der Jack nicht unähnlich, allerdings sehr viel jünger gewesen war. Zu seinem Unglück war er an einem traurigen Abend Gegenstand einer Konsultation von drei Doctores der Medizin geworden, die fünf Tage fortdauerte. Danach war der kleine Weißschopf weißer denn je, denn er war tot. Und seither war der gute Ephraim Kindern noch inniger zugetan als zuvor.

Ohne viel Getue oder Gerede schlossen der Milchmann und das Kind einen stillschweigenden Vertrag. Der neue Gehilfe trat sogleich seinen Dienst an, und die beiden halfen einander beim Vorbereiten und Ordnungschaffen. Flachskopf besprengte die Gehsteigplatten vor dem Geschäft und fegte sie und hätte es mit dem Boden im Laden genauso gemacht, doch der Besitzer hatte das schon selber erledigt.

Während Ephraim herumsauste und schrubbte, hielt er mehrmals nachdenklich-zerstreut inne. Vermutlich überlegte er bei sich, wie es um die Ehrlichkeit des Neuankömmlings bestellt sein mochte, denn er besah ihn sich von Zeit zu Zeit genau. Was für Gedanken Flachskopf unterdessen hegte, habe ich vergessen.

Dabei hätte ich von Rechts wegen etwas darüber wissen müssen, denn ich selbst war ja der verlassene kleine Streuner, der in dieser Seele von einem Milchmann einen Freund gefunden hatte. Der Geist Christi hat dich geleitet, Ephraim, ob du dir dessen bewusst warst oder nicht. Wäre ich mit einer mürrischen Antwort abgewiesen worden, wäre ein Leib verloren gegangen oder vielleicht eine Seele, denn es stand schlimm um mich. Ohne Eltern, ohne Zuhause, an jenem Wendepunkt stehend, der von einer bloßen Bekanntschaft mit dem Verbrechen zu Schlimmerem führt – so einer war ich, als ich bei dir Aufnahme und Fürsorge fand.

Kapitel 3

Etwas zur besonderen Beachtung für diejenigen, die jährlich zweihundert Dollar Kirchenbankmiete zahlen und sich das Sakrament aus silbernen und güldenen Gefäßen spenden lassen – Billjiggs, sein Leben und Tod – Wunden sowie Balsam für dieselben

Heutzutage habe ich nur noch eine wirre, immerhin gelegentlich klarer werdende Erinnerung an mein Leben vor jenem Morgen beim Milchmann.

Ihr habt, wenn ihr in New York lebt oder je da gewesen seid, mit Sicherheit so manchen kleinen Streuner in schmutzigen Lumpen und ohne Hemd gesehen. Meist laufen sie in Männerstiefeln herum, die sie irgendwo aufgelesen haben und die ihnen so groß sind, dass sie sich schlurfend vorwärtsbewegen müssen, ohne dabei die Füße vom Boden zu heben. Der so erworbene schleifende Gang bleibt ihnen manchmal ein Leben lang erhalten.

Anscheinend kümmert sich niemand um diese jugendlichen Vagabunden. Manche sind Kinder der Schande und werden verstoßen, weil sie für ihre Erzeuger eine ständige Erinnerung an die eigene Schmach darstellen. Andere fliehen vor elterlicher Gewalt, von der es bei Arm und Reich übergenug gibt. Wieder andere suchen sich ihren Lebensunterhalt auf der Straße, weil jene, die natürlicherweise ihre Beschützer sein müssten, trunken in den Tag hinein leben.

Was die Berichte des Polizeichefs in nackten Fakten über diese weitverbreitete Erscheinung bei der sogenannten kommenden Generation enthüllen, ist erschütternd und übersteigt die Fantasie der Schriftsteller bei Weitem.

Das, woran ich mich aus meinem Leben vor meiner Einführung im zweiten Kapitel erinnere, spielte sich vor allem in dieser Gesellschaftsschicht ab. Wir waren in der Tat Wanderer auf dem Antlitz der Erde, auch wenn unsere Wanderungen nicht über die Grenzen der Stadt und weniger Meilen entfernter Orte hinausgingen. Uns leitete nur der animalische Überlebenstrieb, der Impuls zu essen (sofern wir etwas abbekamen), wenn wir Hunger hatten, und der, uns hinzulegen und zu schlafen, wo immer die Erschöpfung uns überkam.

Sehr genau erinnere ich mich an einen engen Freund, mit dem ich durch dick und dünn ging. Er war ein wenig älter als ich und behauptete, William oder Bill Jiggs zu heißen, aber wir nannten ihn alle der Einfachheit halber nur Billjiggs.

Billjiggs war ein Prachtkerl. In einem Begeisterungstaumel oder auch, wenn er nur sehr gut gelaunt war, stellte er sich gern als eine der Figuren dar, von denen man in der Bibel liest, hat aber nie genau gesagt, welchen von diesen zahlreichen Helden er nun meinte. Er hatte rotes Haar. Sehr rotes Haar. Gekämmt wurde es nie, aber alle paar Tage geschnitten – von einem Freund, der gerade bei der Hand war, manchmal mit einer Schere, manchmal mit einem geschliffenen Klappmesser und einmal, wenn ich mich recht erinnere, mit einer Breitaxt. Ich hatte seinerzeit selbst die Ehre, das Werkzeug zu schwingen. Zimmerleute, die an einem Neubau arbeiteten, waren in der Nachbarschaft zum Essen gegangen und hatten ihre Gerätschaften herumliegen lassen.

Armer Billjiggs! Um ein Haar hätte ich ihm den Schädel gespalten.

Mein Freund sorgte dafür, dass Stärkere mich nicht schikanierten oder hereinlegten. Und ich meinerseits konnte, auch wenn ich zu klein war, um bei seinen Händeln den Ausschlag zu geben, doch hin und wieder zu seinen Gunsten das Zünglein an der Waage spielen – in Fällen, wo die Gewinnchancen in etwa gleich waren. Denn Billjiggs war ein Raufbold, beim geringsten Anlass ließ er sich auf Streitereien und Schlägereien ein und bekam manchmal ganz fürchterlich eins auf die Mütze.

Ich erinnere mich, dass er einmal über einen wesentlich größeren Jungen herfiel, weil der auf Billjiggs spitze Bemerkung über die gepunktete Kappe auf dem Kopf des anderen unwirsch geantwortet hatte. Als der Besitzer besagter Kappe in dem immer heftiger werdenden Kampf den Kürzeren zu ziehen drohte, griff er nach einem handlichen Pflasterstein, der da zufällig auf der Straße herumlag, und versetzte Billjiggs damit einen so kräftigen Schlag auf die Schläfe, dass der bewusstlos zu Boden ging und das Blut nur so strömte, indes der Sieger die Flucht ergriff, wie sich das für einen guten Jungen gehörte.

Ich erwähne diesen Vorfall, weil ich bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal eine Person zu Gesicht bekam, die Jahre später (wie der Leser im Lauf der Geschichte erfahren wird) eine wichtige Rolle in meinem Leben spielen sollte.

Billjiggs wurde in den nächstbesten Keller getragen, wo man ihm Stärkungsmittel verabreichte.

Eine alte Quäkerlady und ein kleines Mädchen in meinem Alter schienen allein im Haus zu sein. Die alte Dame war die Hilfsbereitschaft selbst, und nachdem sie Billjiggs schmutzigen und blutenden Kopf abgewaschen und Pflaster aus der benachbarten Apotheke aufgelegt hatte, verband sie ihn mit ihrem eigenen sauberen weißen Leinentaschentuch. Die Kleine musste das Tuch verknoten, denn die Finger der alten Dame waren dafür nicht gelenkig genug. Sie tat das sehr liebevoll und mit großer Sorgfalt, und wie ich sie so ansah, kam sie mir vor wie ein kleiner himmlischer Engel mit rosigen Wangen. Billjiggs behielt das Taschentuch und hat sich nie dazu bewegen lassen, es herzugeben. Er nahm es einige Jahre später mit nach Mexiko, wo der Ärmste eine Wunde davontrug, die schwerer war als die von dem Pflasterstein – und da gab es keine Quäkerlady, die sich um ihn gekümmert hätte! – und ihn unter stachligen Kakteen sein Leben aushauchen ließ.

So endete Billjiggs, und es gibt viele junge Männer, die ihm nicht das Wasser reichen können, auch wenn sie saubere Hemden mit hohen steifen Kragen tragen und sonntags zur Kirche gehen.

Das kleine Mädchen – die alte Dame nannte sie Martha – sprach ebenfalls sehr liebreich mit mir, und als wir gingen, sagte die alte Dame, ich solle nur hin und wieder vorbeikommen und mir holen, was sie an Essen oder Kleidung zu geben hatte.

Ich weiß nicht, weshalb – aber weder ich noch mein Freund hat je wieder einen Fuß in jenen Keller gesetzt, und wenn wir auch noch so hungrig waren. Beinahe zum ersten Mal in unserem Leben hatte man uns behandelt, als wären wir richtige Menschen. In mir regte sich ein nie gekanntes Gefühl. Ich hätte für die alte Dame oder das Kind mein Leben gegeben, aber in mir erwachte auch etwas wie Stolz und das Verlangen nach ihrer Wertschätzung.

Mein Eindruck ist bis heute, dass mir das eben geschilderte Bild – das sanfte alte Gesicht, umrahmt von dem schlichten Spitzenbesatz der Haube und dem säuberlich geflochtenen Silberhaar, und jenes andere, Sinnbild von Reinheit und kindlicher Güte – die Ahnung von einem glücklichen, friedvollen, ehrbaren, geordneten Leben vermittelte und später wie ein guter Geist auf mich wirkte. Auch wenn ich nur ein Kind war (und wie viel tiefsinniger, als man meint, sind doch die Gedanken von Kindern!), erfasste ich etwas von dem sittlichen Unterschied zwischen der Schäbigkeit und Armut und Entwürdigung meiner Klasse und dem Feinsinn, der Rechtschaffenheit und Geborgenheit in jener Quäkerfamilie. Ich wusste, dass ich vom gleichen Fleisch und Blut und der gleichen Art war wie sie. Das machte mir Mut, und ihre taktvolle Herzensgüte hat mich mehr bereichert, als sie ahnten.

Was mich zu einer Überlegung bringt, auf der ein mit den Missständen unserer Gesellschaft befasster Theoretiker ein mächtiges Konstrukt errichten würde. Da ich aber hier nur eine wahre Geschichte aufschreibe, überlasse ich es dem Leser dieser Zeilen, diesen Gedankengang selbst weiterzuführen.

Kapitel 4

Ein Ratschlag für erfolglose Schulmeister und Eltern – Die erste Frau, in die ich mich verliebte – Meine Jugendjahre und wie sie verliefen – Ich fange beim großen Meister an, was ein Dinner zu dritt nach sich zieht

Was immer an Bösem und Schmachvollem während meines Lebens auf der Straße in meinen Charakter einging, ehe ich ein Heim bei Ephraim Foster fand, es erhielt dort keine Gelegenheit mehr, sich weiter auszubreiten. Seine Frau und er behandelten mich wie einen Sohn und besser als viele Menschen die eigenen Söhne. Ihre Herzensgüte erstickte alle dummen Gedanken in mir im Keim; die Überlegungen, die mir im Keller der Quäkerlady nur flüchtig durch den Sinn gegangen waren, nahmen jetzt konkretere Formen an, und ich liebte diesen Mann mit der rauen Schale mit einer Liebe, die nur noch von der zu meiner teuren Mutter (wie ich sie stets nannte) übertroffen wurde, seiner Ehefrau Violet.

Violet! So hieß sie, die Frau, deren Name auf alle Zeit in meinem Herzen wohnen wird, bis ich selbst das Zeitliche gesegnet habe.

Ich will sie euch beschreiben.

Benannt nach einer zarten, schlichten Blume, war sie selbst groß und breit wie ein ausgewachsener Mann. Sie war ein Mädchen vom Lande, als Ephraim sie zur Frau nahm, und liebte die Arbeit in der freien Natur. Die Gesichtszüge waren grob, nur der Teint war frisch und gesund, und ihre Augen strahlten unerschütterliche Heiterkeit und herzliches Einvernehmen aus. Sie besaß nur in geringem Maße Bildung oder das, was der überfeinerte Geschmack unserer Tage Intellekt nennt. Mit dem, was man heutzutage unter Frauenrechten versteht, konnte sie ebenso wenig anfangen wie mit den erhabensten Wundern der Geologie. Doch sie hatte eine schöne Seele, und ihre breiten derben Züge leuchteten mir lieblicher als jede Madonna der italienischen Meister.