Jack - Marilynne Robinson - E-Book

Jack E-Book

Marilynne Robinson

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Beschreibung

Marilynne Robinson ist eine der großen Stimmen Amerikas. Die mit dem Pulitzer Prize ausgezeichnete Autorin stellt in ihrem neuen Roman »Jack« unnachahmlich die schwierige Balance von Liebe und Vergebung, den Auswirkungen von Rassismus und Verrat vor - ein hochaktuelles Thema in einem leuchtenden Zeitkristall. Jack ist der verlorene Sohn einer weißen Familie. Sein Vater ist Priester, aber er ein obdachloser Herumtreiber und charmanter Vortänzer in schäbigen Dancehalls. Ihn bindet eine zärtlich tragische Beziehung an Della, einer Schwarzen Lehrerin – ein Tabubruch in den USA der fünfziger Jahre, der ihr Leben aus den Angeln hebt. Roman für Roman folgt Marilynne Robinson in ihrer Tetralogie den verzweigten Lebensläufen der Menschen in Gilead, einer kleinen Stadt im Mittleren Westen. Wie in einem Brennglas erfasst sie auf subtile und stille Art die Geschichte Amerikas.  »Alles, was Du verlierst, schreibt Robinson, gibt dir die Sehnsucht wieder, und auf diese eigensinnige, stille Weise gestaltet sie eine schöne und geheimnisvolle Welt.« Judith Hermann, Literaturspiegel, über »Lila« »Die Welt könnte mehr solcher Bücher gebrauchen.« Kathryn Schwille, The Atlanta Journal

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Seitenzahl: 474

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Marilynne Robinson

Jack

Roman

 

Aus dem amerikanischen Englisch von Uda Strätling

 

Über dieses Buch

 

 

Jack ist der verlorene Sohn einer weißen Familie. Sein Vater ist Priester, er selbst ein obdachloser Herumtreiber und charmanter Vortänzer in schäbigen Dancehalls. Eine zärtlich tragische Liebe bindet ihn an Della, eine Schwarzen Lehrerin – ein Tabubruch in den USA der fünfziger Jahre, der ihr Leben aus den Angeln hebt.

 

Marilynne Robinson gelingt in ihren Romanen das Kunststück, auf eine nie gehörte Weise von Anmut, Vergebung und Gnade zu erzählen: »große Literatur« (Lothar Müller, Süddeutsche Zeitung).

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Marilynne Robinson ist eine der großen Stimmen Amerikas. Für ihre Romane hat sie fast jeden Literaturpreis der USA gewonnen für »Gilead«, den Auftakt ihrer berühmten Trilogie, sogar gleichzeitig den Pulitzer Prize und den National Book Critics Circle Award. Es folgten »Zuhause« und »Lila«. Seit Präsident Obama im Wahlkampf durch Iowa kam und ihre Bücher las, stehen sie ständig in Kontakt, und Obama interviewte sie für die »New York Review of Books«. 2016 wurde ihr für ihr Lebenswerk der »Library of Congress Prize for American Fiction« zugesprochen. Robinson ist 1943 geboren und lebt heute in Iowa.

 

Uda Strätling lebt in Hamburg und hat u.a. Emily Dickinson, Henry David Thoreau, Sam Shepard, John Edgar Wideman, Aldous Huxley und Marilynne Robinson übersetzt.

Für Ellen Levine

Freundin und Agentin seit vierzig Jahren

Er ging fast neben oder vielmehr schräg hinter ihr her. Sie sah sich nicht um. Sie sagte: »Mit Ihnen rede ich nicht.«

»Das verstehe ich nur zu gut.«

»Wenn das so wäre, würden Sie mir nicht nachgehen.«

Er sagte: »Wenn einer eine Frau zum Essen ausführt, hat er sie auch nach Hause zu bringen.«

»Nein, hat er nicht. Nicht, wenn sie ihn auffordert, zu verschwinden und sie in Ruhe zu lassen.«

»Für die Umgangsformen, die man mir beigebracht hat, kann ich nichts«, sagte er. Doch er wechselte die Straßenseite und ging drüben auf ihrer Höhe weiter. An der letzten Straßenecke kehrte er auf ihre Seite zurück. Er sagte: »Ich muss mich entschuldigen.«

»Interessiert mich nicht. Und Ihre Erklärungen können Sie sich sparen.«

»Vielen Dank. Ich würde es nämlich nur ungern erklären müssen. Wenn es recht ist.«

»Nichts ist recht. Von recht kann gar nicht die Rede sein.« Und doch war ihr Ton milde.

»Das verstehe ich natürlich. Aber ich kann mich nicht ganz damit abfinden.«

Sie sagte: »Noch nie hat mich jemand in eine derart peinliche Lage gebracht. In meinem ganzen Leben nicht.«

Er sagte: »Nun, Sie kennen mich ja auch noch nicht lange.«

Sie blieb stehen. »Ach, Sie finden das witzig. Sie finden das zum Lachen.«

Er sagte: »Ja, in der Hinsicht bin ich etwas anfällig. Mich reizt oft das Falsche zum Lachen. Ich glaube, das habe ich schon mal erwähnt.«

»Und wo kommen Sie eigentlich so plötzlich her? Ich gehe hier arglos entlang, und da sind Sie wieder.«

»Ja. Tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe.«

»Haben Sie nicht. Ich wusste, dass Sie das sind. Nicht einmal Diebe schleichen so. Sie haben wohl hinter einem Baum gelauert? Sie mit Ihren albernen Spielchen.«

»Nun«, sagte er. »Jedenfalls habe ich Sie sicher heimgeleitet.« Er holte seine Geldbörse hervor und entnahm ihr einen Fünfdollarschein.

»Was soll das jetzt wieder! Sie stecken mir hier vor meiner Haustür Geld zu? Was sollen die Leute denken? Sie wollen mich zugrunde richten!«

Er steckte Geld und Börse schnell wieder weg. »Wie dumm von mir. Ich wollte Ihnen nur zeigen, dass ich nicht vorhatte, die Zeche zu prellen. Denn das glauben Sie doch sicher von mir. Aber ich hatte das Geld, verstehen Sie. Darum ging es mir.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich musste sämtliche Münzen aus meiner Handtasche zusammenkratzen, um die Koteletts bezahlen zu können – die wir nicht einmal gegessen haben. Und bin dem Mann trotzdem zwanzig Cent schuldig.«

»Ich werde Ihnen das Geld zukommen lassen. Diskret. In einem Buch vielleicht. Ich habe ja noch Ihre Bücher.« Er sagte: »Ich finde, es war ein sehr schöner Abend, mal abgesehen vom Ausgang. Von drei Stunden nur eine unerfreulich. Dazu ein bescheidener Privatkredit, zeitnah abbezahlt. Morgen vielleicht schon.«

Sie sagte: »Sie erwarten wohl, dass ich mir das mit Ihnen weiter gefallen lasse!«

»Nicht unbedingt. Das tun die wenigsten. Ich werde es Ihnen nicht verübeln. Ich weiß ja, wie es ist.« Er sagte: »Ihre Stimme bleibt selbst im Zorn milde. Das ist ungewöhnlich.«

»Vermutlich, weil zu den Umgangsformen, die man mir beigebracht hat, nicht gehört, mich auf offener Straße zu streiten.«

»Ich meinte anders ›milde‹.« Er sagte: »Ich habe noch Zeit. Wenn Sie das weniger öffentlich erörtern wollen.«

»Haben Sie sich etwa gerade selbst eingeladen? Es gibt nichts zu erörtern. Gehen Sie heim oder wohin Sie auch gehen. Ich habe genug, was immer das hier ist. Sie bringen nur Ärger.«

Er nickte. »Das habe ich nie bestritten. Oder nur selten.«

»Das stimmt.«

Sie standen eine volle Minute einfach da.

Er sagte: »Ich hatte mich auf diesen Abend sehr gefreut. Ich sehe ihn ungern enden.«

»Obwohl ich auf Sie so wütend bin.«

Er nickte. »Gerade deshalb kann ich mich nicht ganz losreißen. Ich werde Sie nicht wiedersehen. Aber noch sind Sie da –«

Sie sagte: »Ich hätte nie gedacht, dass Sie mich in eine derart peinliche Lage bringen könnten. Undenkbar.«

»Glauben Sie mir, es schien mir in dem Moment das Beste.«

»Ich hielt Sie für einen Gentleman. Weitgehend jedenfalls.«

»Das bin ich auch oft. Meistens. Durch und durch sogar meist.«

»Nun, wir sind da. Sie können jetzt gehen.«

»Das stimmt. Das werde ich. Es fällt mir nur ein bisschen schwer. Gönnen Sie mir noch ein paar Minuten. Wenn Sie reingehen, werde ich wahrscheinlich verschwinden.«

»Sobald hier Weiße auftauchen, sind Sie doch wieder weg wie der Blitz.«

Er wich einen Schritt zurück. »Bitte? Sie glauben, es lag daran?«

»Ich habe sie doch gesehen, Jack. Die Männer. Ich bin nicht blind. Und ich bin nicht blöd.«

Er sagte: »Ich weiß nicht, warum Sie überhaupt mit mir reden.«

»Das wüsste ich selbst gern.«

»Die beiden wollten Schulden eintreiben. Und sie gehen dabei nicht eben zimperlich vor. Ich kann solche Händel nicht riskieren, wissen Sie. Das letzte Mal haben sie mir um ein Haar dreißig Tage aufgebrummt. Das wäre Ihnen womöglich noch peinlicher gewesen.«

»Sie sind wirklich unglaublich!«

»Mag sein«, sagte er, »aber ich bin kein … ich bin sehr froh, dass Sie mir das gesagt haben. Sonst hätte ich den Eindruck hinterlassen … ich würde keineswegs wollen, dass Sie –«

»Was tatsächlich los war, ist ja auch nicht besser, wissen Sie. Ehrlich gesagt –«

»Doch, ist es. Natürlich ist es das.«

»Und jetzt soll ich Ihnen wohl vergeben, weil das, was Sie getan haben, nicht das denkbar Schlimmste war, zu dem Sie fähig sind.«

»So könnte man es doch sehen, oder? Mir ist jedenfalls wohler, wo wir das geklärt haben. Stellen Sie sich vor, was gewesen wäre, wenn ich vor zehn Minuten abgezogen wäre. Dann hätte ich Sie tatsächlich nie wiedergesehen.«

»Wer sagt denn, dass Sie das werden?«

Er nickte. »Ich für meinen Teil glaube, dass die Chancen jetzt besser stehen.«

»Sofern ich bereit wäre, Ihnen zu glauben, vielleicht. Vielleicht nicht.«

»Sie sollten mir unbedingt glauben«, sagte er. »Was ist schon dabei? Sie können sich ja weiterhin verleugnen lassen, wenn ich mich melde. Meine Briefe zurückschicken. Es würde sich nichts ändern. Abgesehen davon, dass Sie nicht gar so schlecht von ein paar wenigen der vielen in den letzten Wochen zugebrachten Stunden denken müssten. Dem herrlichen Abend, den wir miteinander verbringen wollten. Den wenigstens könnten Sie mir vergeben.«

»Mir selbst vergeben«, sagte sie. »Dass ich so dumm war.«

»So könnten Sie es natürlich auch betrachten.«

Sie wandte sich ihm ganz zu. »Lachen Sie nicht, über nichts von alledem, jemals«, sagte sie. »Denn das wollen Sie, scheint mir. Und glauben Sie ja nicht, Sie könnten etwas schönreden, daraus wird nichts.«

»Wird nie was. Ich weiß es nur zu gut. Immer kommt es zu einer spontanen chemischen Reaktion. Beim Kontakt von Jack Boughton mit … der Luft. Wie Phosphor, verstehen Sie. Ohne Stichflamme allerdings. Eher wie leuchtendes Holz. Ein Hof rosig erhitzter Beschämung um ganz gewöhnliche Dinge. Unübersehbar. Entropie müsste eigentlich einen Nimbus haben –«

»Ach, seien Sie doch still«, sagte sie.

»Das sind die Nerven.«

»Das weiß ich.«

»Einfach nicht weiter beachten.«

»Sie brechen mir das Herz.«

Er lachte. »Ich will doch nur, dass Sie bleiben und mir noch ein Weilchen zuhören. Ich will Ihnen ganz bestimmt nicht das Herz brechen.«

»Ich glaube, Sie sehen sich wirklich so. Ein Jammer. Mir ist noch nie ein Weißer untergekommen, der so wenig davon hatte, weiß zu sein.«

»Es ist aber doch gelegentlich hilfreich, selbst für mich. Man nimmt an, ich wüsste, wie viele Blasen in einem Stück Seife stecken. Ich kann mich brüsten, aus sehr windigen Burschen Würdenträger gemacht zu haben. Ich –«

»Schluss«, sagte sie. »Schluss damit. Ich muss am Montag über die Unabhängigkeitserklärung sprechen. Daran ist nichts zum Lachen.«

»Stimmt. Nicht das Geringste.« Er sagte: »Ich werde jetzt tatsächlich etwas sagen, was der Wahrheit entspricht, Miss Della. Hören Sie also gut zu. Das gibt es nicht alle Tage.« Dann sagte er: »Es wäre lachhaft, wenn sich die Tochter eines Geistlichen, eine Highschool-Lehrerin, eine junge Frau auf dem besten Wege in eine glänzende Zukunft mit einem chronischen und unverbesserlichen Herumtreiber abgeben wollte, einem Penner. Ich werde Ihnen daher nicht länger zur Last fallen. Sie werden mich nicht wiedersehen.« Er wandte sich zum Gehen.

Sie musterte ihn. »Sie sagen Lebwohl? Ach, Sie dürfen das! Ich schicke Sie fort, und Sie halten mich hier trotzdem mit Ihrem Unsinn so lange fest, dass ich das fast schon wieder vergessen habe.«

»Tut mir leid«, sagte er. »Sie haben ja recht. Aber ich wollte Gentleman sein. Sofern überhaupt ein Gentleman in meiner Lage vorstellbar ist. Ich kann Sie leicht zugrunde richten, Ihnen aber niemals guttun. Das versteht sich. Ich sage Lebwohl, damit Sie den Ernst der Lage begreifen. Ich gebe Ihnen ein Versprechen, und ich werde es halten. Sie werden staunen.«

Sie sagte: »Die Bücher, die Sie geliehen haben.«

»Sie werden morgen auf Ihrer Veranda liegen. Oder jedenfalls bald. Zusammen mit dem Geld, das ich Ihnen schulde.«

»Ich will sie nicht wiederhaben. Oder nein, vielleicht doch. Vermutlich haben Sie hineingekritzelt.«

»Nur mit Bleistift. Ich radiere alles aus.«

»Nein, lassen Sie nur. Ich mach das schon.«

»Ja, das hat bestimmt einen gewissen Reiz.«

»Nun«, sagte sie. »Ich habe Lebwohl gesagt. Sie haben Lebwohl gesagt. Gehen Sie.«

»Und Sie gehen hinein.«

»Sobald Sie fort sind.«

Sie lachten.

Es verstrich eine Minute. Dann sagte er: »Gut, dann passen Sie auf. Ich kriege das hin.« Und er lupfte vor ihr den Hut und schlenderte davon, Hände in den Hosentaschen. Sollte er sich nach ihr umgesehen haben, dann erst, als sie hinter sich die Tür zugezogen hatte.

In der Woche drauf fand sie bei der Heimkehr von der Schule ihren Hamlet auf der Veranda. Zwei Dollar waren zwischen die Seiten gelegt, und auf dem Schmutztitel stand in Bleistift:

Hätte ich einen Segen nur,

ich legte ihn hier vor diese Tür.

Hätte ich Kraft zu einem Gebet,

ihr gäb ich es mit auf den Weg.

Wäre mein Herz kein geringes

 

kling, sing, spring, zwing Ding

 

»O, es gelingt mir schlecht mit dem Silbenmaße!«

Ich schulde einen Dollar. Und ein Buch.

 

Langes Lebwohl!

Peinlich. Ausgerechnet, unter allen lebenden Seelen. Unglaublich. Nach fast einem Jahr. Er drückte seine Zigarette am Grabstein aus. Vorsichtig allerdings, sie war erst halb aufgeraucht. Unnötigerweise zudem. Denn am Zigarettenrauch musste ja gelegen haben, dass sie angehalten und sich umgesehen, zu ihm hochgesehen hatte. Wenn er sich aber wegduckte, davonstahl, würde es sie umso mehr erschrecken, also blieb ihm nichts anderes übrig, als sie anzusprechen. Della. Da war sie, stand auf dem Weg am Rand des Laternenscheins und sah zu ihm hoch. Er entnahm ihrer Reglosigkeit ein Zögern, das verriet, dass sie unschlüssig war, nicht wusste, ob sie ihn kannte oder nur eine flüchtige Ähnlichkeit sah, und überhaupt, ob sie sich entfernen, aber bloß nicht rennen sollte, wenn wer immer er war, und sei es doch er, bedrohlich oder seltsam erschiene. Nun, seltsam war er durchaus, ehrlich gesagt, wie er da im Dunkeln auf einem Friedhof herumlungerte, keine Frage. Denkbar war aber auch, dass sie deshalb zögerte, weil sie im Gegenteil hoffte, ihn tatsächlich erkannt zu haben, und auf eine Art Bestätigung wartete, also lupfte er den Hut und sagte: »Guten Abend. Miss Miles, nicht wahr?« Sie hob eine Hand an die Wange, als müsste sie sich sammeln.

»Ja«, sagte sie. »Guten Abend.« In ihrer Stimme bebten Tränen.

Also sagte er: »Jack Boughton.«

Sie lachte, und auch im Lachen bebten Tränen. »Ja, sicher. Dachte ich mir doch, dass ich Sie erkannt hätte. Aber es ist so dunkel, dass ich mir nicht sicher war. Ins Dunkel zu blicken macht es noch dunkler. Schwerer, die Dinge zu erkennen. Ich wusste nicht, dass sie hier abends die Tore absperren. Ich habe nicht richtig nachgedacht.«

»Ja, wie dunkel es ist, kommt darauf an, wo man steht. Das ist relativ. Meine Augen haben sich bereits gewöhnt. Das heißt dann wohl, dass auch Licht relativ ist, nicht?« Peinlich. Er wollte intelligent klingen, weil er sich am Morgen nicht rasiert hatte und weil seine Krawatte zusammengerollt in seiner Tasche steckte.

Sie nickte und sah den Weg hinab, immer noch unschlüssig.

Wie hatte er sie erkannt? Er hatte ganze Monate damit zugebracht, auf Frauen zu achten, die ihr auch nur im Geringsten ähnelten, bis er glaubte, die Erinnerung an sie in der vielen scheinbaren Ähnlichkeit verloren zu haben. Einem Mantel wie dem ihren, einem Hut. Gelegentlich hatte der Klang einer Stimme ihn glauben lassen, er werde ihr, wenn er sich umdrehte, gegenüberstehen. Dumm von ihm. Ein Lachen konnte ja nur bedeuten, dass sie mit jemandem zusammen war. Sie würde sich nicht anmerken lassen wollen, dass sie ihn kannte. Und so ging er dann weiter, etwas langsamer als der Strom der Passanten, weil er dachte, wenn sie ihn einholte, würde sie ihn ansprechen oder andernfalls ignorieren können, wenn sie das wollte. Ein- oder zweimal war er vor einem Schaufenster stehen geblieben, um ihr Spiegelbild vorbeiziehen zu lassen, aber es gab jedes Mal nur die üblichen Fremden, den endlosen Strom. Und sosehr er auch achtgab, manchmal fassten Frauen seine Aufmerksamkeit als zudringlich auf. Eine hilfreiche Warnung. Denn ein entsprechender Blick von ihr würde schmerzen, begriff er. Und doch half ihm das endlose Warten – wenn es denn eines war –, nüchtern zu bleiben und meist auch ans Rasieren zu denken. Irgendwann wäre es vielleicht wirklich sie, und wenn er dann den Hut lupfen könnte, glattrasiert und nüchtern, wäre ein Lächeln immerhin wahrscheinlicher.

Und nun stand sie da, ausgerechnet hier auf dem Friedhof, dazu noch im Dunkeln, und fast ein wenig geneigt, über die Begegnung froh zu sein. »Ja«, sagte er, »das ist mir aufgefallen. Das mit der Dunkelheit.« Komm doch zur Abwechslung mal zu mir ins Dunkel. Ich bin der Fürst der Finsternis. Aber das durfte er keinesfalls sagen. Das war ein privater Scherz. Er sollte sich vielmehr zu ihr in den Lichtkegel begeben. Oder nein. Eine zufällige Polizeistreife würde allzu schnell auf die Idee »Prostitution« verfallen, weil er zwielichtig war und sie schwarz. Weil sie im Dunkeln zusammen auf einem Friedhof standen. Lieber etwas weiter weg bleiben. Außerdem sah er von weitem besser aus, gentlemanlike gar. Er trug sein Jackett. Er hatte die Krawatte dabei. Er sagte: »Sie dürften nicht hier sein«, eine alberne Aussage, weil sie fraglos da war. Dann, wie zur Erklärung: »Hier sind abends ziemliche dubiose Gestalten unterwegs.« Wo er doch selbst hier zwischen den Grabsteinen stand, sich aber mit der Tatsache tröstete, dass sie ihn nicht richtig sehen konnte, nicht deutlich genug, um den Unterschied zu bemerken zwischen dem, wie sie ihn in ihrer Erleichterung womöglich sah, und dem, wie er wirklich war. Nicht was er wirklich war, so sein erster Gedanke. Auf einem Friedhof zu übernachten, sofern das Wetter mitspielte, war kein Vergehen, nichts, woraus man auf ihn insgesamt schließen durfte. Es war zwar verboten, aber es war nichts dabei. Im Prinzip. Gelegentlich vermietete er, wenn das Geld knapp wurde, sein Zimmer im Logierhaus eben ein paar Tage weiter.

Er sagte: »Wenn Sie wollen, kümmere ich mich um Sie. Passe auf, meine ich. Bis sie die Tore aufschließen.« Er würde natürlich auf jeden Fall über sie wachen, egal, was sie sagte. Doch wenn er es nicht anbot, würde er zu lauern scheinen. Dann würde sie sich entfernen, er würde ihr nachgehen, und sie würde es wahrscheinlich merken und versuchen, wegzulaufen oder sich zwischen den Grabsteinen zu verstecken oder stehen bleiben und mit ihm verhandeln, ihm womöglich ihre Handtasche überlassen wollen. Alles sehr peinlich. Katastrophal, wenn zufällig eine Streife kam.

»So dumm von mir, mir nicht klarzumachen, dass sie absperren würden. So dumm.« Sie setzte sich mit dem Rücken zu ihm unter der Laterne auf eine Bank, was ihm, eventuell, vertrauensvoll erschien. »Ich wäre froh um die Gesellschaft, Mr. Boughton«, sagte sie sanft.

Das klang doch so weit ganz gut. »Gern zu Diensten.« Er stieg ein Stück den Hang hinab, hielt Abstand, aber so, dass sie ihn jederzeit, wenn sie nur leicht den Kopf wandte, sehen konnte, und hockte sich in ihrem Blickfeld auf einen Grabhügel. »Ich bin normalerweise nicht hier«, sagte er. »Zu dieser späten Stunde.«

»Ich bin nur gekommen, um mich mal umzusehen. Mir haben so viele Leute vorgeschwärmt, wie schön es hier ist.«

»Ja, mehr als passabel, würde ich sagen. Für einen Friedhof.«

Er würde mit ihr zu sprechen versuchen. Aber was sollte er sagen? Sie hatte einen Blumenstrauß in der Hand gehabt. Jetzt lag der neben ihr auf der Bank. »Für wen sind denn die Blumen?«

»Ach, die waren für Mrs. Clark. Jetzt sind sie ganz welk.«

»Hier sind fünfzig Prozent der Leute Mrs. Clark. Oder Mr. Clark. Die meisten in dieser Stadt. William Clark, Indianerdiplomat.«

»Ja, ich weiß. Damit würde ich auch erklären, warum ich hier herumirre, wenn jemand fragt. Ich sei auf der Suche nach der richtigen Mrs. Clark. Ich würde behaupten, meine Mutter hätte einst für sie gearbeitet. Sie sei eine so gütige Frau gewesen. Sie fehle uns immer noch.«

»Clever. Nur liegen die ganzen Clarks ziemlich alle auf einem Fleck. Hat man einen gefunden, hat man sie alle gefunden. Ich kann es Ihnen zeigen. Für den Fall der Fälle.« Blanker Unsinn.

»Nicht nötig. Das habe ich mir gerade ausgedacht.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich werde meine Familie in eine peinliche Lage bringen. Mein Vater nennt das ›sehenden Auges ins Verderben rennen‹. Und hat immer gewarnt. Aber da bin ich.«

»Ins Verderben?«

Sie zuckte mit den Achseln. »Hingehen, wo man nicht sein sollte.«

Er hätte nicht fragen dürfen. Sie führte eher Selbstgespräche, als dass sie mit ihm sprach, das war ihm klar. Murmelte fast nur. Selbst die Grillen waren lauter. Sie erinnerte ihn in ihrem braven Mantel an seine Schwestern, die Schultern so schmächtig gestrafft, der Rücken so schmal. Er meinte, er hätte eine seiner Schwestern auf die gleiche Weise den Kopf hängen lassen sehen. Sie alle. Nein, er war zu der Zeit ja woanders gewesen. Aber er sah sie förmlich vor sich, Schulter an Schulter, schweigend. Einvernehmlich. Ohne ihn namentlich zu erwähnen.

»Nun«, sagte er. »Sie können froh sein, dass Sie gerade mir begegnen. Auch ein wohlberufener Mann würde sich schwertun, den Beschützer zu geben. Schwerer gar, weil er sich hier längst nicht so gut auskennen würde. Zwar wäre Ihnen in seiner Gesellschaft vielleicht wohler. Aber ich kann Sie hier rausschleusen, heimlich, still und leise. Wir müssen nur bis zum Morgen warten. Ein wohlberufener Mann wäre hier zu dieser späten Stunde gar nicht anzutreffen, das ist mir klar. Ich spreche sozusagen hypothetisch. Ich will damit sagen, ich sehe Ihr Dilemma, und ich stehe Ihnen gern zu Diensten. Sehr gern.« Das waren die Nerven.

Er fürchtete schon, sie verschreckt zu haben, denn allmählich dämmerte ihm, dass sie leibhaftig da war, der Vorstellung gar nicht so unähnlich, die er von ihr genährt hatte, und vielleicht lauschte sie seiner Stimme einen vertraulichen Unterton ab, der sie unter den Umständen beunruhigte.

Sie sagte: »Ich bin froh um die Gesellschaft, Mr. Boughton. Wirklich.« Dann herrschte wieder, bis auf den Wind in den Bäumen, Stille.

Da sagte er: »Das Dilemma werde ich sein, sofern es eines geben sollte. Aber wenn Sie bei Ihrer Geschichte bleiben, wird es gehen. Der Wärter ist ganz in Ordnung. Sie dürfen hier nur nicht, na ja, mit einem Mann erwischt werden. Denn so würde es aussehen. Ich sage es ungern.«

»Schon gut.«

»Ich werde ein Stück den Hang hochgehen. Von dort habe ich Sie im Blick. Die Dauergäste werden inzwischen ihrem Rausch erlegen sein, oder so gut wie. Aber für alle Fälle.«

»Nein«, sagte sie. »Mir wäre lieber, Sie setzten sich hier zu mir auf die Bank. Das kann nicht sehr bequem sein, wo Sie sitzen. Das Gras ist feucht.« Vielleicht wollte sie lieber ihn im Blick haben – und behalten.

»Das macht nichts.«

»Aber ja doch.«

»Nun, dann auf ein paar Minuten. Ich weiß gar nicht, wie spät es ist. Manchmal dreht hier gegen Mitternacht ein Wärter die Runden.«

»Es muss doch schon später sein.«

»Ich schätze halb elf.«

»Ach! Ich laufe hier schon seit Stunden herum. Mein halbes Leben, so kommt es mir vor. Ich bin erst an das eine Tor gegangen, dann das nächste, dann immer weiter am Zaun entlang.« Er sagte nicht, Zeit sei relativ. Die paar Collegekurse, die er tatsächlich besucht hatte, waren durchaus interessant gewesen, aber er durfte nicht vergessen, wie wenige es de facto gewesen waren.

Sie sagte: »Das Gelände ist so weitläufig, dass man sich fragt, wen sie noch alles erwarten.«

Er lachte. »Alle, über kurz oder lang. Gut hundertzwanzig Hektar sind es angeblich.«

»Aber darunter ist niemand, den ich kenne. Und mich würden keine zehn Sargträger herbringen. Ich würde ihnen aus der Kiste springen.«

Sie hatte ihre Aufforderung, sich zu ihr zu setzen, zum Glück offenbar wieder vergessen.

Sie sagte: »Und ist es nicht frevelhaft, sich selbst solche Riesendenkmale zu setzen? Lauter reiche alte Männer, die mit ihrem letzten Atemzug sagen: ›Ach, mir reicht schon ein Obelisk. Was Schlichtes. Wie das Washington Monument, nur ein bisschen kleiner.‹«

»Zweifellos.«

»Dutzendweise Obelisken, ganze Wälder. Es ist lächerlich.«

»Da stimme ich Ihnen zu.« Er meinte das Wort irgendwo mal im Druck gelesen zu haben.

»Wenn man sich vorstellt, was man mit dem Geld alles hätte machen können. Ach, was rede ich da! Ich bin so müde, dass ich mit Toten streite.«

»Trotzdem eine Schande. Sie haben vollkommen recht.« Dann sagte er: »Mein Grab liegt in Iowa. Sie würden es billigen. Es ist höchstens so breit wie ein Feldbett. Es wird ein kleines Steinkissen mit meinem Namen drauf haben. In Iowa haben es die Leute nicht so mit der Zurschaustellung.« Und er sagte: »Vielleicht gehört einem ein Grab gar nicht, bis man drin liegt. Und wo man am Ende landet, lässt sich nicht immer sagen. Aber ich bin entschlossen, dafür zu sorgen. Ich trage die Adresse bei mir. Das ist das mindeste, finde ich. Schließlich rechnet man mit mir.« Er hätte die halbe Zigarette aufheben sollen.

Sie warf ihm einen Blick zu. Dann stand sie auf. Sie raffte ihre Blumen zu einem hastigen Strauß zusammen, welk oder nicht. »Ich danke Ihnen für die Freundlichkeit, Mr. Boughton. Ich fühle mich nach der kleinen Rast gleich viel besser.«

Das soll es also gewesen sein, dachte er. Nach einem fünfminütigen Gespräch, auf das er nie zu hoffen gewagt hätte. Nach Jahren durchlittener und vergessener Tage, von ebenso wenig Belang wie ein Stein im Schuh, brach über ihn hier, mitten in der Nacht auf einem Friedhof, eine wahrhaftige Wendung herein, ein Moment, an dem ihm lag, eine Begegnung, die seine kostbarsten Gedanken womöglich ihrer Freude berauben würde. Wunschdenken war ihm über lange Strecken süße Nahrung gewesen, besonders, gerade weil es nicht vermittelbar, für andere von keinerlei Interesse und auf keinen Fall der bitteren Luft der Konsequenzen auszusetzen war. Doch nun richtete sich Della auf genau die energische Weise auf, die stolzen Frauen zu eigen ist, wenn sie sich dem entziehen, was sie zu einem kategorischen Nein bewegt. Auf immer würde nun jeder Gedanke an sie, eben noch so süß, schmerzlich sein. Wie seltsam.

Am äußersten Rand des Lichtkegels hielt sie inne und spähte ins Dunkel dahinter. Da sagte er: »Es wäre sicherer, wenn Sie mich auf Sie achtgeben lassen würden.«

Sie sagte: »Dann wünschte ich, Sie würden sich von dem Grab dort erheben, damit ich Sie sehen kann. Es ist seltsam, mit jemandem zu reden, der unsichtbar bleibt.«

Na gut. Er zog seinen Hut und fuhr sich mit der anderen Hand durchs Haar. »Einen Augenblick nur«, sagte er, »ich binde mir nur eben die Krawatte.«

Sie lachte und sah sich nach ihm um. »Das tun Sie jetzt wirklich, nicht?«

»Allerdings!« Er war froh, plötzlich, weil sie gelacht hatte. Gefühle sollten Fäden in einem Gewebe sein. Ein Gefühl sollte nicht einzeln daherkommen wie ein K.-o.-Schlag. Es sollte im Leben Freuden geben, die einem erlaubten, das große Ganze im Auge, den Überblick zu behalten. Dinge, auf die man sich freuen konnte, damit nicht eine zufällige Begegnung auf einem Friedhof sich anfühlte wie der Jüngste Tag. Er hatte sich wenige Gefühle gestattet und hatte entsprechend wenig Stoff. Doch da war er nun, so plötzlich froh, dass er sich schwertun würde, es zu verhehlen. Er stieg seitlich den Hang hinab, weil das Gras feucht und rutschig war, aber auch ein bisschen nach Art einer komischen Einlage. Ich ahme Jugend nach, dachte er bei sich. Oder nein, es fühlt sich jugendlich an, wie beflügelt von einer neuen Wendigkeit. Peinlich. Er musste aufpassen. Wenn er sich zum Narren machte, würde er bald wieder trinken.

»Das kommt ziemlich überraschend«, sagte er, als er auf dem Weg im Licht stand. »Für uns beide, vermute ich.«

Sie sagte nichts, sah ihm nur auf eine Weise prüfend ins Gesicht, die ihr andere Umstände, solche, auf die ihre Wohlerzogenheit sie vorbereitet hatte, nie erlaubt hätten. Es ließ sie gewähren, schlug nicht einmal die Augen nieder. Er wollte wissen, was sie, wie man so schön sagte, von ihm hielt. Und dann würde er sein, was sie von ihm hielt. Er würde sich vielleicht sogar tatsächlich neben ihr niederlassen, die Beine übereinanderschlagen, die Arme verschränken und umgänglich sein. Schlimmstenfalls würde er die halbe Zigarette suchen gehen, die er ins Gras hatte fallen lassen, das feucht war, aber nicht nass. Sobald sie außer Sicht wäre. Er war sich ziemlich sicher, dass im Streichholzbriefchen in seiner Tasche noch drei Stäbchen steckten. Wenn sie sich dazu entschloss, würde sie eben gehen. Ihre Entscheidung. Das Dunkel ihrer Augen ließ den Blick still erscheinen, unergründlich, gütig vielleicht gar. Er wusste, was sie sah, die Narbe unter dem Auge, die noch rot war, die Bartstoppeln, das über den Kragen hängende Haar. Und dann sein Alter, die erschlaffende Haut, ähnlich dem nachgebenden Anzugstoff, der seine Ärmel an den Ellbogen ausbeulte und seine Taschen ausleiern ließ. Alter und schlechte Gewohnheiten. Wenn sie jetzt seinem Gesicht ablas, wer er wirklich war, würde sie sich an das andere Mal erinnern, da sie ein, zwei Stunden lang noch mehr von ihm hielt.

Sie sagte: »Setzen wir uns doch.«

Und er sagte: »Warum nicht?« Als er sich niederließ, zupfte er an dem Hosenstoff über seinen Knien, als schlüge der Falten, musste lachen und sagte: »Das hat mein Vater immer getan.«

»Meiner auch.«

»Vermutlich gehört sich das so.«

»Sie wollen sich von Ihrer besten Seite zeigen.«

»Ich will nicht nur, ich werde.«

»Ich weiß.«

»Es gibt nämlich auch schlechte.«

»Das weiß ich auch, nur zu gut.«

Er sagte: »Ich möchte mich gern entschuldigen.«

»Bitte nicht.«

»Man sagt mir, das sei gut für die Seele.«

»Zweifellos. Aber Ihre Seele, Mr. Boughton, ist allein Ihre Angelegenheit. Reden wir über etwas anderes.«

Also war sie ihm doch noch böse. Mehr sogar vielleicht als damals. Das war womöglich ein gutes Zeichen. Es hieß immerhin, dass sie an ihn gedacht hatte.

Er sagte: »Verzeihung, Sie haben recht. Wozu Sie mit dem belasten, was ich bedaure.«

Sie holte tief Luft. »Lassen wir das, Mr. Boughton.«

Warum ließ er nicht ab? Sie überlegte es sich bereits anders, zog ihre Handtasche und den Blumenstrauß auf ihren Schoß. Legte er es eben darauf an? Damit schnitte er sich ja nicht direkt ins eigene Fleisch, denn es gäbe ohnehin bestenfalls diese paar Stunden, angespannt und auf Probe, und darüber hinaus höchstens das, was er sich als erinnerungswürdig bewahrte. Das andere Mal, als die Schmach noch frisch war, schien sie es fast ebenso um seinet- wie um ihretwegen zu bedauern. Zwar sah er Wohlwollen nicht zum ersten Mal verschleißen. Es konnte ihn aber immer noch, etwas, überraschen.

Er nickte und erhob sich. »Ich soll Sie in Ruhe lassen. Das werde ich. Ich bin in Rufweite. Falls Sie mich brauchen.«

»Nein«, sagte sie. »Lassen Sie uns doch ein bisschen reden.«

»Wie zwei höfliche Fremde, die zufällig eine Nacht auf dem Friedhof verbringen.«

»Genau so.«

»Gut.« Er setzte sich wieder. »Nun«, sagte er, »was führt Sie heute Abend her, Miss Miles?«

»Eine Dummheit. Mehr nicht.« Und sie schüttelte den Kopf. Sie sagte nichts weiter, und er sagte auch nichts, und die Grillen schnarrten, oder waren es Laubfrösche. Manchmal war ihm, als nähme an belaubten Orten noch die tiefste Finsternis einen Schimmer, einen Hauch Grün an. Aber weil die Luft ohnehin grün roch, mochte der Anflug, den er im Dunkel zu sehen glaubte, sich schlicht der Sehnsucht verdanken, die eine Brise weckte, Erde, die kurz nicht nur Erde war. Alles Fleisch war Gras. QED. Wie des Grases Blume. Der Lichtkegel der Laterne hielt das Dunkel auf Abstand. Verfemt und grämlich, dachte er. Verletzt. Er sah sie nicht an, denn dann müsste sie ihn ansehen. Ihm war aufgefallen, dass Männer seines Nicht-Metiers, zu dem die Flucht in den Alkohol gehörte, über kurz oder lang durch eine Stirnfalte gezeichnet waren, doch er griff sich nicht an die Brauen. Es waren die Nerven, die seine Stirn umwölkt scheinen ließ. Wenn sie nur bis zum Morgengrauen hier still nebeneinandersitzen könnten, wäre das einigermaßen angenehm.

Sie sagte: »Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen. Ich war unhöflich.«

»Da ist etwas dran«, sagte er. »Also.«

»Also?«

»Raus damit.«

Sie lachte. »Ich bitte aufrichtig um Entschuldigung.«

»Entschuldigung angenommen. Und jetzt nehmen Sie meine an«, sagte er.

Sie zuckte mit den Achseln. »Das möchte ich eigentlich nicht.«

»Das wäre nur fair, oder?«

»Nein, nicht unbedingt. Außerdem habe ich mir geschworen, es nicht zu tun.«

»Geschworen? Das zählt kaum. Ich breche meine Schwüre andauernd, und trotzdem rede ich noch mit mir. Jedenfalls wenn es sonst keiner hört.«

»Glauben Sie im Ernst, ich würde irgendwem erzählen, was Sie getan haben? Ich glaube ja selbst kaum, dass ich hier mit Ihnen sitze und rede, wenn ich’s mir recht überlege.«

»Aha«, sagte er, »dann sind Sie davon ausgegangen, dass Sie mich wiedersehen würden, und wollten sichergehen, dass Sie sich keinesfalls erweichen und mich es gutmachen lassen. Sie haben sich dagegen gewappnet. Und nun sitzen Sie hier, froh, mich zu sehen, ob es Ihnen gefällt oder nicht. Wir werden noch Stunden hier zubringen. Ich werde charmant sein und –«

»Sie sind gar nicht so charmant. Das sollten Sie inzwischen wissen. Sie können es also ruhig lassen.«

Er holte tief Luft. »Ich versuche doch nur, ein wenig Konversation zu treiben. Das wollten Sie doch. Meine Unzulänglichkeit räume ich gern ein. Seien Sie nicht gleich so streng.«

Sie schüttelte den Kopf. »Tut mir leid. Wirklich. Vergessen Sie, was ich gesagt habe. Es liegt daran, dass ich auf Sie so lange schon so böse bin.«

Er sprach aus, was er dachte. »Ich fühle mich geehrt.«

Sie sah ihn an, und er ließ sie. Die dunkle Stille ihres Gesichts tat ihm unverändert wohl, wie eine Berührung. Sie sagte: »Ich kann mich an die Narbe nicht erinnern.«

Er nickte. »Die gab es noch nicht.« Und dann sagte er: »Danke.«

Sie sah weg. »Lassen Sie uns eine Zeitlang nicht reden. Einfach schweigen.«

»Wie Sie wollen.«

Und sie schwiegen, und dann flüsterte sie: »Haben Sie das gehört? Stimmen gehört? Kommt da jemand?«

»Nein, ich höre nichts. Aber wir könnten uns zur Sicherheit auf den Hügel zurückziehen, aus dem Licht.«

»Vielleicht sollten wir das. Von dort oben überblickt man sicher mehr von dem Weg.«

Sie flüsterten. Schuhe mit hohen Absätzen, natürlich. Der Boden war weich und uneben. Sie hatten es eilig. Er erwog, sie unterzuhaken, und beschloss, es lieber nicht zu tun. Sie stiegen bis ganz außerhalb der Reichweite des Lichts hinauf, standen dann da und sahen einen Mann in Arbeitskluft mit einer Mütze auf dem Kopf leise singend vorüberziehen. Smoke smoke smoke that cigarette. »Vielleicht kann ich ihn ansprechen«, sagte sie, und er hörte, wie sie Anstalten machte, wie sie ansetzte zu einem Entschluss. Als der Mann weg war, sagte sie: »Warum sind Sie eigentlich hier?«

»Ich weiß nicht. Warum nicht?«

»Da könnte Ihnen wohl wirklich jeder unzählige gute Gründe nennen.«

»Sie wollen eine bessere Antwort. Na gut. Ich habe Geburtstag.«

»Das würde ich sogar glauben können. Aber es erklärt nichts.«

»Das heißt, es ist nicht direkt mein Geburtstag. Aber einer, den ich begehe, wenn ich dran denke. Ich muss dazu in der richtigen Gemütsverfassung sein. Nüchtern, zum einen.«

»Wenn das so ist, ist es ziemlich traurig.«

»Ja. Aber genau den Jammer daran möchte ich spüren. Das kann ich nicht immer. Also komme ich hierher. Und manchmal komme ich einfach so. Um der Ruhe willen.«

Sie nickte. Nachdenklich, fand er. Sogar etwas betrübt. Seinen kuriosen Jammer bedenkend. Also sagte er: »Ich hatte wirklich die Absicht, Ihnen das Geld zu erstatten«, und bereute es gleich wieder.

Sie sah ihn an. »Sie wollen jetzt ernsthaft mit mir über das Geld reden? Glauben Sie, das Geld interessiert mich?«

»Ich meine ja bloß, weil Sie das, was passiert ist, als eine Art Diebstahl auffassen könnten, wenn Sie nicht wüssten, dass ich es Ihnen zurückgeben wollte. Das wollte ich nur gesagt haben. Das will ich schon sehr lange. Und das hier ist die Gelegenheit. Die einzige, denke ich.«

»Ach, Jack!«, sagte sie. Jack.

Nach einer Pause sagte sie: »Und jetzt können Sie gern lachen: Ich schreibe an einem Gedicht. Ich bin deshalb hier.«

Er lachte nicht, wollte es aber.

Sie sagte: »Ich weiß, was Sie denken.«

»Der Gedanke liegt mir fern.«

»Welcher?«

»Dass es uns an Gräberpoesie eigentlich nicht mangelt. Was allerdings die Sterblichkeit angeht«, sagte er, »da sieht es schon anders aus.«

»Es handelt sich um eine andere Art Gedicht. Ein Prosagedicht, eher. Und es dreht sich nicht um den Tod.«

»Vielleicht darf ich einen Blick darauf werfen, wenn es fertig ist.«

Sie schüttelte den Kopf. »Im Leben nicht.«

»Ich weiß. Ich frage rein aus Höflichkeit.«

»Ich weiß gar nicht, warum ich Ihnen davon erzähle. War ja klar, dass Sie mich auslachen.«

»Das habe ich nicht.« Sie musterte ihn. »Na gut. Versucht war ich schon. Das kann mir passieren, selbst in Momenten großen Ernsts. Die es zum Glück selten gibt.«

Sie sagte: »Vielleicht. Mag sein.«

»Solche Momente kommen uns wie ein gewappneter Mann. Das hat mein Vater immer gesagt, wenn eines seiner Schäfchen vom Scheunendach fiel, in den Brunnen oder dergleichen mehr. Im Nu, unversehens. Ein armer Kerl wird auf die kosmische Bühne gezerrt, hat keine Chance mehr, seinen Text zu lernen. Gut, dass ich nie den geistlichen Beruf erwogen habe. Nicht einen Augenblick, ehrlich gesagt. Mir geht ohnehin zu viel im Kopf herum.« Sie schwieg, und dann musterte sie ihn erneut kurz, als wäre sie drauf und dran, eine dieser Fragen zu stellen, die dem Mitgefühl entspringen, Fragen, wie sie vor allem Frauen stellen. Also sagte er: »Dichterin. Hoffentlich klinge ich nicht allzu überrascht. Man rechnet eben nicht damit. Bei niemandem. Nicht einmal einer Englischlehrerin.«

»Nein, nicht Dichterin. Nur eine, die sich ab und zu an dem einen oder anderen Vers versucht.«

Er nickte. »Einen Versuch habe ich gelegentlich auch gewagt.«

»Ja, mir hat das kleine Gedicht gefallen, dass Sie der Hamlet-Ausgabe meiner Schwester eingeschrieben haben. Die paar Zeilen.«

»Hm. Der Band gehört also Ihrer Schwester. Nun, ihr dürfte es auch gefallen. Es hat sich bei Frauen als ganz erfolgreich erwiesen. Die zweieinhalb Paarreime! Ich würde es ja abschließen, wenn das ginge, aber es scheint unnötig.« Das müsste das Mitleid erst einmal in Schach halten. Aber ihr Stillbleiben weitete sich zum Schweigen, was er nur bedauern konnte. Und Bedauern fürchtete er zutiefst. Also sagte er: »Das Lob einer so gebildeten Frau hat mehr Gewicht.«

Schweigen.

»Das war eine lachhafte Bemerkung, oder zumindest klang sie so. Aber es ist etwas dran. Versteht sich.«

Schweigen.

Also sagte er: »Sie haben wohl gedacht, die Zeilen gälten Ihnen.«

»Nicht im Traum. Und was spielt es für eine Rolle?«

»Für Sie wohl keine. Für mich schon. Ich habe die Zeilen nämlich doch für Sie geschrieben. Wobei ich fürchtete, Ihnen zu nahe zu treten. Mit Abstand betrachtet. Weil Sie mich ja nicht kennen. Und nicht die Absicht haben, mich kennenzulernen.«

»Mir haben sie gefallen«, sagte sie. »Und meiner Schwester werden sie sicher auch gefallen. Lassen wir es dabei.«

»Danke.«

Sie lachte. »Sie verstehen es wirklich, sich in die Nesseln zu setzen.«

»Eine meiner leichtesten Übungen. Aber reden doch Sie. Für mich lauern da zu viele Gefahren.«

»Gut. Mal sehen.«

»Nichts Tiefschürfendes.«

»Keine Sorge.«

»Ich bin ein schlichter Kerl, der von einem komplizierten großgezogen wurden. Also gibt es da gewisse Manierismen. Wendungen. Das kann täuschen.«

»Mich nicht.«

Er lachte. »Nicht mal ein bisschen? Wie entmutigend.«

»Sie denken zu viel über sich nach. Sich eine Krawatte umzubinden! Kein Wunder, dass Ihr Nervenkostüm leidet.«

»Sie nehmen kein Blatt vor den Mund, Miss Miles.«

»Ich sitze mitten in der Nacht auf einem Friedhof und vertreibe mir die Zeit mit einem, den ich nicht wiedersehen werde. Dessen Meinung mir vollkommen gleichgültig ist. Wenn ich jetzt nicht frank und frei reden kann, wann um Himmels willen dann? Ich kann nicht einmal Ihr Gesicht sehen.«

»Ja, der Mond muss untergegangen sein. Ein Halbmond. Sehr schön. Wenn man an dergleichen Gefallen hat. Und ich bin froh, dass ich in dieser mondlosen Finsternis hier bin, um Ihnen auf diesem sehr unsicheren Gelände mein Geleit anzubieten. Sie müssen sich meinen Arm nicht als den eines konkreten Herrn vorstellen. Einfach körperlose Zuvorkommenheit. Anstand in abstrakter Form.« Ihre Hand dann tatsächlich in seiner Armbeuge zu spüren, überraschte ihn.

Sie sagte: »Danke.« Und nach einer kurzen Pause: »Ist Ihnen schon mal aufgefallen, dass ein angerissenes Streichholz in einem dunklen Zimmer erstaunlich viel Licht spendet? Während es in einem bereits hellen Zimmer kaum einen Unterschied macht?«

»O je. Eine Predigtillustration.«

Sie zog ihre Hand zurück.

Er sagte: »Kleiner Scherz. Nein, ist mir nie aufgefallen. Ich werde in Zukunft darauf achten. Sie haben sicher recht.«

Schweigen.

Er sagte: »Wenn ich’s recht bedenke, lässt sich durchaus eine Moral daraus ableiten. Im Himmel jubilieren sie mehr über den reuigen Sünder – als über die armen rechtschaffenen Seelen und so weiter und so fort. Lieblingsthema meines Vaters. Also war mein Fehlschluss wohl unvermeidlich. Sie wissen doch, wie das ist. Sie sind schließlich Pfarrerstochter.«

Sie sagte: »Meine Frage zielte auf etwas anderes. Ich finde es einfach interessant. Fügt man Licht mehr Licht bei, sollte es mehr geben. Genauso viel, wie wenn man Licht ins Dunkel bringt. Aber das ist offenbar nicht der Fall.«

»Ein Mysterium.«

Sie zogen weiter durchs hohe Gras, Schulter an Schulter im Dunkeln zusammen atmend. Menschen mit ihren kleinen, beliebigen Geräuschen, Atemzügen und wispernden Schritten, während rings um sie her Kreaturen aller Art lautstark schrillten und sägten. Er sagte: »Ist Ihnen kalt?«

»Nicht besonders.«

»Wir irren nicht ziellos umher. Ich weiß, wo wir sind. Ich möchte Ihnen etwas zeigen.«

»Zeigen? Ich sehe kaum etwas.«

»Haben Sie Streichhölzer dabei? Nein, warum sollten Sie. Dumme Frage. Nun, ich habe noch ein paar.«

Sie gingen ein Stück weiter, dann sagte er: »Kommen Sie mal her«, und fasste sie am Ellbogen, um sie beim Absteigen am Hang zu stützen. »Ein bisschen näher. Schauen Sie.« Er riss ein Streichholz an, und im Schein tauchte ein kalkweißes Gesicht auf, verschwamm und verschwand wieder.

»Wer ist das?«

»Keine Ahnung.« Er riss ein nächstes Streichholz an, und wieder stieg das Gesicht aus dem Dunkel auf, die Augenhöhlen im Schatten der runden Wangen dunkler. Üblicherweise berührte er eine der molligen Steinschultern gerade lange genug, um sich einbilden zu können, dass die Wärme seiner Hand der Kälte der Figur gleichkam. Aber jetzt war Della bei ihm. Seine kleinen Rituale würden ihr merkwürdig erscheinen. Nicht, dass sie ihm etwa Trost spendeten.

Sie sagte: »Ein Cherubim.«

»Soll es wohl darstellen. Es wimmelt hier von ihnen. Dieser gefällt mir am besten. Würde es Ihnen etwas ausmachen, noch mal umzukehren? Zur Stelle, wo Sie auf mich gestoßen sind? Ich gebe es ungern zu, etwas peinlich, aber ich habe dort eine Deckenrolle liegen. Für den Fall, dass ich über Nacht bleibe. Das kommt vor. Sie könnten sich die Decke umlegen. Obwohl das vielleicht … unangenehm … wäre. Feucht. Hier ist es immer feucht. Sie wissen schon. Oder auch nicht. Ich warne Sie also. Oder ich nehme die Decke, und Sie bekommen mein Jackett, das wird vielleicht besser sein. Wenn auch weniger warm. Oder wir gehen einfach weiter.«

Sie sagte: »Ja, gehen wir weiter.«

»Ja. Ihnen ist unbehaglich.«

»Selbst schuld.«

»Nein, es ist meine Schuld. Ich wollte Ihnen die Figur zeigen, wissen, was Sie von ihr halten. Und dazu habe ich Sie zu dem weiten Weg genötigt.«

»Ich weiß nicht, was ich von ihr halten soll. Ich habe wahrlich hübschere Babys gesehen.«

Er nickte. »Schon in Ordnung. Bei Tage sieht sie etwas besser aus. Aber der Regen ist ihr nicht bekommen. Ein Ohr ist so gut wie weg. Sie steht hier schon sehr lange. Knapp achtzig Jahre, der Inschrift zufolge. Für ihren Blick gibt es kein wirklich passendes Wort, nicht? ›Horror‹ trifft es nicht ganz.«

»Vielleicht nicht ganz. Eher ›Schrecken‹.«

»Vor ein paar Wochen hatte sie Moos an der Lippe. Das verstärkte die metaphorische Ausstrahlung, wirkte aber … störend. Ich habe eine Zahnbürste mitgebracht und sie ein wenig herausgeputzt.« Die sanfte Hand hob sich von seinem Arm und senkte sich, absichtsvoll.

»Vielleicht sollten Sie um der Wirkung willen das Moos wieder anbringen. Sie sind derjenige, der dichten sollte.«

Er schüttelte den Kopf. »Mit Horror reimt sich nicht viel. Was halten Sie von ›Das Kind und der gewappnete Mann‹?«

»›Horror‹ ist für mein Gefühl tatsächlich das falsche Wort. Das fanden Sie ja auch.«

»Ja. Seltsam. ›Horror‹ führt in die Irre. Und macht man daraus ›Horror vacui‹, landet man ganz woanders.« Sie schwieg, also sagte er: »Tut mir leid, die Zeit wird mir oft lang. Ich grübele viel, oft über sehr banale Dinge. Um sie mir zu vertreiben.«

Sie nickte. »Geht mir auch so. Wenn ich nicht schlafen kann.«

»Ach, auch eine von Schlaflosigkeit Geplagte!«

»Nicht unbedingt. Wäre ich aber wahrscheinlich, wenn ich mich nachts im Mondschein herumtreiben würde, wo alles so still ist. Ich sitze bloß manchmal in Dunkeln auf der Veranda.«

»Nun, ich könnte eines Abends bei Ihnen vorbeischlendern, Sie dort abholen und Sie durch die nächtige Stadt führen.« Er sagte: »›Nächtig‹ ist ein schönes Wort. Es klingt nach der mächtigen Veränderung, wenn die Straßen leer sind und die Häuser dunkel, und meint mehr als nur das Fehlen von Licht. Ich könnte Sie einführen. Man hört die eigenen Schritte, als zählten sie wirklich. Ich würde versprechen, Sie vor dem ersten Vogelsang wieder vor Ihrer Tür abzuliefern. Eulen würden allerdings nicht zählen.«

Sie nickte. »Dazu wird es nie kommen.«

Er sagte: »Schade, nicht?«

Sie gingen weiter. Dann sagte sie: »Im Hamlet singt ›die ganze Nacht durch‹ der ›frühe Vogel‹ der Dämmerung. Hübsch, nicht?«

»›So gnadevoll und heilig ist die Zeit.‹« Er sagte: »Mag sein. Ich kenne den Vogel. Ich betrachte ihn nicht als Freund. Mir sagt er: Zurück ins Fegefeuer, Boughton.«

Sie blieb wie angewurzelt stehen, stumm zunächst. Dann sagte sie sanft: »Mich wird er morgen wecken. Und da ich früh in die Schule muss, kann ich ebenso gut gleich die ganze Nacht aufbleiben. Ach, was sage ich da? Es wird mir kaum Zeit bleiben, zu Hause noch vorbeizugehen! Ich werde die Arbeiten nicht holen können, die ich benotet habe. Ich werde bei Tagesanbruch unfrisiert nach Hause laufen müssen. Mit verdreckten Schuhen. Und es wird sicher regnen.«

»Bei Tagesanbruch schließen sie die Tore noch nicht auf. Eher so um halb acht. Wenn die Gärtner kommen.«

»Frühmorgens im falschen Teil der Stadt so abgerissen auf den Straßen unterwegs. Was sollen die Leute denken.«

»Ich begleite Sie heim oder wohin Sie wollen. Ganz diskret. Auf der anderen Straßenseite.«

»Na großartig. Sie glauben, Sie könnten mich beschützen?«

»Ich bin hart im Nehmen.«

»Zweifellos. Das ist fast jeder.«

Er lachte.

Sie sagte: »Das hätte ich nicht sagen dürfen. Ich weiß, Sie meinen es gut. Ich bin froh, hier nicht allein zu sein, wirklich, das bin ich.«

»Danke.«

»Das war gemein von mir.«

»Aber auch ein bisschen komisch.«

»Ich habe mir das alles selbst eingebrockt. Das sollte ich nicht an Ihnen ablassen.«

»Das ist wohl wahr.«

Aber sie ging nicht weiter, stand da, die Hände in den Manteltaschen vergraben, den Kopf gesenkt. Also sagte er: »Wir sollten uns unterhalten. Um uns die Zeit zu vertreiben.«

»Als ich eingestellt wurde, glaubte ich, am Ziel meiner Träume zu sein. Sumner High School.«

»Ein prächtiges Bauwerk. Ich bin dort verschiedentlich vorbeigekommen.«

»Ich habe früher Fotos der Schule aus Zeitschriften ausgeschnitten. Ich habe davon geträumt, dort unterrichten zu dürfen. Als ich die Zusage erhielt, dachte ich, jetzt sei mein Lebensweg klar. Und nun habe ich mir alles verscherzt.«

»Vielleicht ja nicht.«

»Wenn sie mich an den Pranger stellen, bin ich erledigt.«

»Nun«, sagte er, »lassen Sie uns erst einmal die Nacht überstehen. Sie könnten Ihre Schuhe ausziehen, sie etwas schonen, trockenhalten. Von derart leichtem Schuhwerk haben Sie ohnehin nicht viel. Den paar Riemchen.« Sie sah ihn an, also sagte er: »Wenn das gegen die guten Sitten verstößt, entschuldige ich mich in aller Form. Die Umstände sind selbst für mich etwas ungewöhnlich.« Und er lachte.

»Nein, Sie könnten recht haben. Besser, als morgen barfuß nach Hause laufen zu müssen.«

»Das war die Idee. Zwischen den Gräbern gibt es Fußwege. Und die Eicheln sind noch nicht gefallen. Die Hickorynüsse.«

Sie stützte sich an einem Grabstein ab und hebelte sich die Schuhe von den Füßen. »Ja, so wird es gehen. Es ist lächerlich. Einfach lächerlich.«

Du sinkst deshalb keineswegs in meinem Ansehen, wollte er sagen. Verkniff es sich aber rechtzeitig.

Er lachte. »Verzeihung. Aber ich kann Sie ja kaum sehen. Ablegen könnten Sie auch –«

»Also bitte, ja?«

»Ihren Hut. Und sich meinen borgen. Mehr wollte ich doch gar nicht sagen! Weil Ihrer kaum den Regen abhalten wird.«

Schweigen. Na also.

Schließlich sagte sie: »Haben Sie sich je gefragt, weshalb außer Hamlet niemand den Tod des alten Königs zu beklagen scheint? Obwohl er kaum im Grab liegt?«

»Ich kann nicht behaupten, dass ich das Bühnenwerk sonderlich gut kenne, Miss Miles. Mein Vater hat es zerstückelt und die einzelnen Passagen in ein Ringbuch geklebt, damit wir die Szenen nachspielen könnten. Vielmehr meine Geschwister. Was übrig blieb, ergab nicht mehr viel Sinn. Hätte es wohl ohnehin nicht. Unsere Ophelia, meine Schwester Glory, war sechs oder sieben. Sie gab ihre Blumen immer dem Geist – platzte ständig in Szenen, in denen sie nichts zu suchen hatte, selbst als sie hätte tot sein müssen. Verteilte Popcorn. Mein Vater sagte dazu kein Wort. Er empfand das als Bereicherung. Sie sang in ihrer Wahnsinns-Szene ›Jesus liebt mich‹, weil das eigentliche Lied der Schere zum Opfer gefallen war. Meine Auffassung des Ganzen dürfte demnach ziemlich irrig sein. Ich wollte das Ganze gerne mal in einem Stück lesen. Deshalb hatte ich mir von Ihnen das Buch geborgt.«

Dann sagte er: »Vermutlich entspricht das eher der Art Konversation, die Ihnen vorschwebte? Häusliche Szenen?«

Sie sagte: »Es ist doch seltsam, dass niemand Hamlet als König sehen will. Es ist, als hätte vieles im Stück eine Vorgeschichte, die wir nur angedeutet bekommen. Allerdings wird auch nichts verhehlt an den Lücken, die zurückbleiben.«

»Ja, jetzt, wo Sie es sagen. Einmal stieg unsere Ophelia voll bekleidet in die Badewanne, um ihre Todesszene zu proben. Mein Bruder Teddy ertappte sie dabei, und er redete ihr ins Gewissen, betonte, wie gefährlich es sei, auch nur so zu tun, als ertrinke sie in der Badewanne. Er sagte, das brauchte sie nicht zu probieren, weil es ja niemand sehen werde. Sonst hätte irgendjemand Ophelia doch aus dem Wasser gezogen, wahrscheinlich ihr Bruder. Sie aber meinte: Es hat aber jemand gesehen! Es hat jemand einfach tatenlos dagestanden und hat zugesehen, wie ich ertrinke! ›Sirenengleich in den schlamm’gen Tod‹, Sie wissen schon … wobei sie ja nicht ganz unrecht hatte, es dürfte ja etwas gedauert haben. Sie kam also badewassertriefend die Treppe hinabgeschwebt und rief lauthals: Wer hat mich ertrinken lassen! Man einigte sich auf Gertrude, weil sie ja Bescheid zu wissen schien. Und da sowieso nichts Sinn ergab, schadete es nicht.«

Sie sagte: »Mein Vater war nie viel zu Hause. Er ist in der Gemeinde ein wichtiger Mann, ohne Frage. Dauernd sucht man seinen Rat. Er verwendet auf die vielen Anliegen viel Zeit, er hilft, wo er kann. Das gehört dazu, wenn man in einer größeren Stadt einer großen Gemeinde dient. Besonders einer schwarzen, denke ich. Er hat sich immer unsere Hausaufgaben und Zeugnisse vorlegen lassen, aber er sagt, er habe tausend Kinder, und das ist wohl so. Das verstehen wir. Und dann sind ja ständig Leute im Haus, Onkel, Vettern und Kusinen, Fremde aller Art. Nicht unbedingt ein ruhiges Leben.«

»Einmal kam mein Vater zu spät zu einer Beerdigung, weil Teddy und ich ein Baseballspiel hatten, das um ein paar Innings verlängert wurde. Die Witwe hat ihm ordentlich die Leviten gelesen, glaube ich. Aber ihr und allen, die je darauf zu sprechen kamen, erklärte er, es sei eben ein Ausnahmespiel gewesen. Wir hätten fast gewonnen.«

Sie hielt an und senkte den Kopf. »Ach.«

»Lassen Sie mich raten. Die Lieblingstochter Ihres Vaters wandelt mit einem verruchten weißen Mann durch die Nacht. Barfuß. Auf einem Friedhof. Sollte sie erwischt werden, wird der Skandal in alle Ewigkeit nachhallen, bis in die letzten Winkel von Tennessee, wird bis ins Kleinste seziert werden. Für alle Zeiten. Und dabei war er doch so stolz auf Sie.«

»Das ist nicht witzig.«

»Ich witzele ja auch nicht.«

»Ich würde mich gerne setzen.«

»Wir suchen uns eine Bank.«

»Nein, gleich hier. Nur einen Augenblick.« Und sie sank ins Gras. »Ich muss überlegen.«

»Da gibt es nichts zu überlegen, höchstens, wie viel schlimmer Ihre Kleider aussehen werden, wenn Sie darauf bestehen, dort im feuchten Gras sitzen zu bleiben. Ich will Ihnen unnötigen Grund zum Bedauern ersparen. Wir verlorenen Seelen werden bis zum Hahnenschrei weiterwandeln müssen, da ist nichts zu machen. Und uns möglichst etwas vorzeigbar halten.« Er hielt ihr die Hand hin, sie ergriff sie und ließ sich hochziehen. Er hielt ihre Hand keine Sekunde länger als angebracht.

Sie sagte: »So dürfen Sie sich nicht nennen. ›Verrucht.‹«

»Ich betrachte die Situation lediglich aus der Warte Ihres Vaters. Nachts in einem Friedhof herumlungern. Schon das lässt vernichtend tief blicken. Mal abgesehen von allem anderen. Langen Jahren alles anderen, fürchte ich. Bis zum heutigen Tag.«

»Tja, und Ihr Vater, was würde der sagen, wenn er Sie hier mitten in der Nacht Arm in Arm mit einer Schwarzen sähe?«

»Er würde sagen: Gott sei Dank, er ist nicht allein. Er würde dem Herrn auf Knien danken. Er ist kein Mann von Welt, mein Vater, und ihm würden die näheren Umstände wohl durchaus Sorge bereiten. Aber der erste Gedanke wäre der eben genannte. Und wir gehen ja nicht Arm in Arm. Nicht, dass es darauf noch ankäme.«

»Nein, sicher nicht.« Sie schob ihre Hand in seine Armbeuge. »Oh!«

»Was ist?«

»Ich habe meine Schuhe liegenlassen! Vorhin, wo immer wir da waren! Die finde ich nie wieder. Schlimmer kann es gar nicht mehr kommen.«

»Theoretisch, aber ich habe sie hier, Ihre Schuhe. Ich habe sie an mich genommen.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich wandele barfuß im Dunkeln, und Sie tragen meine Schuhe. Dabei kenne ich Sie gar nicht. Das ist die seltsamste Lage, in die ich je in meinem Leben geraten bin. Geben Sie sie lieber mir.«

Das tat er, und er sagte: »Ich werde ebenfalls meine Schuhe ausziehen. Womöglich macht das die Lage weniger misslich.«

»Warum sollte es?«

»Probieren wir es doch einfach. Mal sehen. Könnte doch sein. So.« Er schlüpfte aus den Schuhen, steckte seine Socken ein. Seine Füße waren, wo sie unter den Hosenaufschlägen vorschauten, im Dunkeln von mondgleicher Blässe. Sie wirkten sehr nackt, nicht ganz sein und doch erschreckend sein. Manchmal dachte er an den ›bloßen Mann in seinen Kleidern‹, das nackte Zwieselwesen. Tausendmal hatte er sich im Traum notdürftig bekleidet in der Öffentlichkeit wiedergefunden. Das hier war das gleiche Gefühl. Absolute Schutzlosigkeit. Andererseits war die Kühle des Grases ein wohltuender Schock, wie Flusswasser.

Sie sagte: »Sie hatten recht. Viel besser.« Und lachte, was ihn freute. Und so gingen sie weiter, sie bei ihm untergehakt, den Kopf an seiner Schulter, still. Sie empfanden beide dieselbe kuriose Kühle, hörten dieselben Nachtgeräusche, für sie fremder als für ihn, nahm er an. Im Grunde machte er sie mit ihnen bekannt. Denn sie von einer Veranda oder durchs Fliegengitter eines Fensters zu hören war etwas anderes als hinauszutreten ins wahre Dunkel, wo sie heimisch und ungestört waren, wo sie das Dunkel durch das punktuelle Schnarren und Sägen weiteten. Wenn sich ein Wind regte, tätschelten Blätter einander zart. Vielleicht hatte er sie sich einst, umnachtet, an seine Seite gezaubert, mehr geahnt als gesehen, in Gedanken versunken. Vielleicht könnte er, indem er sich ihr zuwandte, die Illusion vertreiben, sie wäre in der nun unbekümmerten Vertraulichkeit ihrer lautlosen Schritte ein Traum, ein Seelenspuk, seine ureigene Seele womöglich. Die Luft roch wie frisch von einem ganz neuen Ort herangetragen, sofern es einen solchen gab.

Sie sagte: »Womöglich ist einfach alles andere seltsam.«

Das wiederum hatte seine Seele ihm unzählige Male eingegeben, wortlos zwar, aber mit ähnlicher Intonation, wie ein Echo, wie der Schatten eines Klangs. Es war, als habe die leibhaftige Della gar nicht gesprochen, so vertraut war der Gedanke. Deshalb sah er nun doch zu ihr hin, dem nachdenklich gesenkten Kopf, und fragte nach, was sie gesagt habe. »Sie haben so leise gesprochen.«

»Ach, nichts.«

Sie mochte es offenbar nicht wiederholen, was immer es nun gewesen war. »Nichts« war ein an die Lippen gelegter Finger, eine rasch wieder verworfene Traulichkeit. Etwas ihm Anvertrautes. Und gleich hatte sie sich darauf besonnen, sich bei ihm nicht zu wohl fühlen zu dürfen. Und beschlossen, Gedanken für sich zu behalten, die sie sich selten erlaubte und gerade beinahe ausgesprochen hätte. Wenn sie es aber tatsächlich gesagt hatte, gefiel ihr die Nacht recht gut, und die Vorstellung erfüllte ihn mit leisem Stolz. Die Nacht und dieser Ort waren sein, mehr oder weniger, und sie, jetzt wo sie sich wohler zu fühlen begann, bei ihm zu Besuch.

Sie sagte: »Ich denke nur manchmal, wenn wir die letzten Überlebenden wären … nach dem Weltenende … und wir die Regeln aufstellten, dass sie vielleicht ebenso gut funktionieren würden …«

Er lachte. »Na, das wäre doch mal was. Jack Boughton bestimmt die Regeln! Schade nur, dass sonst niemand da wäre, um sie zu spüren zu kriegen. Nicht, dass ich nachtragend wäre. Aber trotzdem. Die erste Regel wäre, dass alle auf mich hören müssen. Die zweite, dass niemand Kummer verhehlen dürfte.«

Schweigen.

Sie wollte ernst genommen werden. Das wusste er doch, und trotzdem machte er schon wieder Witze. Also sagte er: »Auf jeden Fall ein interessanter Gedanke.« Sie waren Fremde und vertrieben sich die Zeit. Nicht vergessen. Irgendwie hatte er sich etwas anderes zurechtphantasiert, einen fast sprachlosen Friedensschluss, die Nacht als Dritter im Bunde und Zeuge dieser so unwahrscheinlichen Begegnung, Stille und weitere Stille, bis sie fort wäre und ihm viele Tage der Erinnerung blieben und kein Grund zu Bedauern. Aber sie meinte es ernst, sehr wahrscheinlich, um die abgeklärte Stimmung nicht in anderes übergehen zu lassen, in Misstrauen oder alten Zorn. Warum nicht das Beste daraus machen.

Sie sagte: »Ich sprach nicht von Ihnen und mir. Einfach zwei Fremden.«