Jack Rodman - Die ganze Wahrheit - Arno Wilhelm - E-Book

Jack Rodman - Die ganze Wahrheit E-Book

Arno Wilhelm

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Beschreibung

An einem einzigen Tag verliert Sven seinen Job und seine Freundin, seine Wohnung geht in Flammen auf und er wird von einem schwarzen Pick-up über den Haufen gefahren. Dem Tod von der Schippe gesprungen beschließt Sven seine ganze Energie auf seine Leidenschaft, die Musik, zu richten. Er wird zu Jack Rodman, einem Singer-Songwriter aus Arizona, mit dem er sich dank Web 2.0 eine steile Karriere in Deutschland bastelt. Ein Plattenvertrag, ausverkaufte Konzertsäle, die Frauen liegen ihm zu Füßen – Sven hätte es sich nicht besser erträumen können. Erfolg und Ruhm beflügeln ihn, doch als seine Ex-Freundin hinter das Geheimnis kommt, geraten die Dinge außer Kontrolle.

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Seitenzahl: 349

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Für Chrissi und unser Baby

Arno Wilhelm: Jack Rodman Die ganze Wahrheit

1. Auflage, Juli 2012, Periplaneta Berlin

© 2012 Periplaneta – Verlag und Mediengruppe Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Straße 81a, 10439 Berlin www.periplaneta.com

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung, Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle Verwertung des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

Coverfoto, Jack Rodman-Bilder: Nadine Heßdörfer

Lektorat: Nadine Heßdörfer

Satz, Layout, Konvertierung: Thomas Manegold

E-Book-Version 1.2

Ungekürzte digitale Version der Printausgabe

Print ISBN: 978-3-940767-93-6 ePub ISBN: 978-3-943876-31-4

Arno Wilhelm

Jack  Rodman

Die ganze Wahrheit

periplaneta

Kapitel 1

„Eines Tages wird alles gut sein, das ist unsere Hoffnung. Heute ist alles in Ordnung, das ist unsere Illusion.“ (Voltaire)

Ein nervtötendes Klingeln ließ ihn aufschrecken. Er öffnete die Augen und sah sich schlaftrunken um. Weiße Wände, ein grauer, schwer anmutender Vorhang und ein schwarz lackierter Holzschrank mit zwei durch Schachbrettmuster verzierten Türen waren alles, was er auf den ersten Blick wahrnahm. Es dauerte einen Moment, bis er das Schlafzimmer seiner Wohnung wiedererkannte und realisierte, dass es wohl langsam Zeit wurde aufzustehen. Der Wecker neben ihm klingelte noch immer – er schaltete ihn aus. Zum Glück schlief Lara noch, sie hatte den Wecker wie so oft nicht gehört. Ihr eigener würde erst in einer halben Stunde klingeln.

Sie hatten sich am vergangenen Abend vor dem Schlafengehen sehr heftig gestritten und waren dann genervt und widerwillig nebeneinander eingeschlafen. Keiner der beiden war bereit gewesen, das gemütliche Bett zugunsten der Couch im Wohnzimmer zu räumen.

In letzter Zeit war es eigentlich gut zwischen ihnen gelaufen, dachte er. Allerdings fing sie gestern, wie aus dem Nichts, wieder mit der alten Leier an: Er solle sich endlich mal verändern, sich einen besseren Job suchen und vor allem aus seiner Wohnung ausziehen. Die Wohnung, in der er nun schon seit beinahe 15 Jahren lebte, in der ja auch sie selbst seit immerhin vier Jahren mit ihm zusammenwohnte. Er verstand es einfach nicht. Warum sollte er sein Leben zwanghaft verändern, wenn doch alles gut war, so wie es war?

Sven stand auf, zog seinen hellblauen Schlafanzug aus, faltete ihn wie jeden Tag ordentlich zusammen und legte ihn unter sein Kopfkissen. Das Bett würde Lara später machen. Er ging zum Schrank, öffnete die rechte Tür und griff in das Fach mit dem kleinen Schildchen „Dienstag“. Darin befand sich alles Nötige: Unterhose und Unterhemd, T-Shirt, Hose und Socken. Jeder Tag hatte sein Fach und immer sonntags wurde die Wäsche gewaschen, aufgehängt, die getrocknete Wäsche von der vorigen Woche abgenommen und in die Fächer gefüllt. Genau so, wie es ihm sein Vater in seiner Kindheit beigebracht hatte. Jetzt wurde es Zeit, schleunigst ins Bad zu gehen. Kämmen, Zähne putzen, rasieren und das Gesicht mit einigen Tropfen seines liebsten Aftershaves betupfen – alles im Eiltempo. Im Ganzen hatte er morgens vom ersten Klingeln des Weckers an noch acht Minuten, bis er das Haus verlassen musste. Mehr Zeit benötigte er im Regelfall auch nicht – und er war kein Freund von Ausnahmen, egal welcher Art. Er ging in die Küche und nahm seine silberne Taschenuhr und den Schlüsselbund aus der kleinen grünen Glasschüssel, die Lara ihm damals zu ihrem zweiten Jahrestag geschenkt hatte, und steckte beides in die Taschen seiner Hose. Er mochte diese Schüssel, sie war so schlicht und elegant zugleich.

Sein Psychologe hatte ihm vor ein paar Jahren einmal geraten, sich einen Gegenstand aus seiner täglichen Umgebung zu überlegen, der die Werte widerspiegelte, die er im Leben für wichtig hielt. Als eine Art Projektionsfläche, die ihn jeden Tag daran erinnern würde, was er wollte. Ihm war damals tatsächlich als erstes diese Schüssel eingefallen. So wollte er für sich und für andere auch wirken. Diese kleine Schüssel erinnerte ihn jeden Morgen angenehm daran, wie zufrieden er doch mit seinem Leben sein konnte. Es gab keinen Grund, sich zu beschweren. Diesen kleinen Streit von gestern musste man nicht ernst nehmen. Er schnappte sich die Jacke vom Haken, verließ die Wohnung und zog die Tür hinter sich zu. Einen Abschiedskuss brauchte er Lara nicht geben, das erwartete sie nicht von ihm.

Die wenigen Stufen vom zweiten Stock hinunter zum Auto nahm er schnell, versuchte aber dabei nicht zu hastig zu wirken. Es roch immer noch nach Farbe. Die Renovierung des Hauses war nun schon ein knappes halbes Jahr her, und trotzdem ging dieser penetrante Geruch einfach nicht weg. Er nahm sich vor, einen Beschwerdebrief an die Hausverwaltung zu schreiben. Die Haustür quietschte, als er sie öffnete. Das wäre ebenfalls ein guter Punkt für den Brief, ging es ihm durch den Kopf. Er trat vor die Tür und blieb kurz stehen. Er mochte die Gegend, in der er lebte. Sie war ruhig und jetzt, wo die Häuser nach und nach renoviert wurden, auch wirklich schön anzusehen. Hier zogen keine aggressiven, bewaffneten Jugendlichen umher, die man nachts fürchten musste, und es waren auch keine militanten Mütter unterwegs, die ihren Nachwuchs auf offener Straße anschnauzten und verzogen. Die Nachbarn ließen einen in Ruhe, und wenn mal die Musik zu laut oder ein Fest zu lang war, musste man nur kurz klingeln oder einfach bei der Polizeiwache ums Eck anrufen und schon war es in kürzester Zeit wieder angenehm ruhig. Er fühlte sich hier sicher und vor allem fühlte er sich hier wohl.

In dieser Gegend hatte er sich immer wohl gefühlt. Er war mit seinen Eltern hergezogen, als er gerade 14 geworden war. Von Anfang an hatte er das Gefühl gehabt, gut in das Bild des Viertels zu passen, auch wenn es im Rest der Stadt einen etwas biederen Ruf hatte. Die meisten Jugendlichen schienen damals ein deutlich stärkeres Bedürfnis nach Rebellion zu spüren als er.

Zwei Tage vor seinem 18. Geburtstag hatten Svens Eltern dann einen schweren Autounfall. Auf einer Reise in ihre Heimatstadt, nach Hamburg. Alles, sein ganzes angenehmes, ruhiges Leben hatte sich von einem Tag auf den anderen verändert. Ein LKW war von der Spur abgekommen und über sie hinweggedonnert, hatte ihm die junge Polizistin, die mitten in der Nacht an seiner Haustür geklingelt hatte, behutsam zu vermitteln versucht. Seine Mutter war sofort tot gewesen und sein Vater war bei einer Operation noch in derselben Nacht seinem immer schon schwachen Herzen erlegen. Er hatte die beiden nicht mehr sehen können. Sein Erbe, das bis heute beinahe unangetastet auf einem seiner Konten ruhte, hatte ihm zwar weitgehende finanzielle Sicherheit beschert, doch sein Leben war von einem Tag auf den anderen komplett umgekrempelt worden. Freunde seiner Eltern hatten sich um die Beerdigung gekümmert und in der folgenden Zeit, soweit es eben ging, ein Auge auf ihn gehabt. Er musste sich eine neue Wohnung suchen und war in dieses Haus gezogen, das Haus Nummer fünf. Die Bilder jener ersten Tage liefen nun vor seinem geistigen Auge ab, sie waren immer noch so präsent, als wären seitdem erst ein paar Tage und nicht knapp 15 Jahre vergangen.

Ihm wurde bewusst, dass er, während er sich an diese bitteren Zeiten erinnert hatte, die ganze Zeit im Hauseingang stehen geblieben war. Jetzt hieß es Tempo, sonst würde er zu spät zur Arbeit kommen. Er stieg schnell in seinen dunkelgrünen Alfa, schob eine seiner CDs ins Autoradio und fuhr los. Der Weg zur Arbeit war nicht weit, aber mit dem Auto deutlich bequemer. Während er fuhr, hörte er seine Stimme aus den Boxen dringen, dazu die vertraute akustische Musik. Schon seit vielen Jahren schrieb er regelmäßig Lieder und vor einiger Zeit hatte er sich mit ein paar Aufnahmegeräten, einem gut ausgestatteten Computer und etwas Schallisolierung ein durchaus brauchbares Amateur-Tonstudio im Keller eingerichtet. Die Musik war sein liebstes Hobby, allerdings auch sein einziges. Er schrieb englische Texte zu der Musik, die er komponierte. Er hatte vor einigen Jahren auch ein paar Auftritte gehabt, aber die Leute waren ihm immer zu unaufmerksam und zu unruhig gewesen. Keiner achtete wirklich auf den Musiker da oben auf der Bühne, dafür war Sven nicht bekannt genug und die Musik wohl alles in allem auch zu ruhig. Die meisten wollten irgendwelche Hits, die sie mitsingen konnten, und er wollte partout keine Coversongs spielen. Plattenfirmen hatten ihm seine CDs immer mit freundlichen Floskeln zurückgesendet.

Wir haben Ihr Material sorgfältig angehört und können es momentan leider nicht in unserem Programm unterbringen. Bitte sehen Sie dies nicht als qualitative Wertung.

Ja, natürlich. Dabei war er sich sicher, dass seine Musik durchaus massentauglich sein könnte. Es waren stimmungsvolle akustische Songs mit eingängigen Melodien. Künstler wie Damien Rice oder Leonard Cohen waren mit solcher Musik sehr erfolgreich, aber ihm schien es nicht vergönnt zu sein. Also hatte er beschlossen die Songs eben nur noch für sich alleine zu spielen. Er nahm sie auf und wenn eine ganze CD voll war, gestaltete er am PC in mühevoller Kleinarbeit ein zu Musik und Texten passendes Design und bestellte sich über das Internet ein Exemplar der CD, immer inklusive Hülle und Booklet. Ein teurer Spaß war es letzten Endes, aber er fand es schön, etwas Fertiges in der Hand zu haben.

Während er so in Gedanken versunken seine Stammstrecke, die Königsallee, hinunterfuhr, fiel ihm der kleine Plattenladen ins Auge, über dem in großen Leuchtbuchstaben„HardAndHeavy“stand. In diesem Laden arbeitete Lara. Sie war ein notorischer Fan von Heavy Metal, Hardcore, Grindcore und solchen Sachen und konnte dementsprechend mit seiner Musik überhaupt nichts anfangen, weswegen sie auch fast nie Musik hörten, wenn sie zeitgleich in der Wohnung waren. Gemeinsam auf Konzerte gingen sie auch nicht. Ihm war das alles zu laut, zu aggressiv. Er fragte sich hin und wieder, wie viel Aggression ein Mensch nur in sich haben musste, um solche Musik hören zu können und auch noch gut zu finden?

In diesem Plattenladen hatten sie sich damals kennengelernt. Er hatte in den LPs gestöbert, dort versteckten sich manchmal auch Raritäten aus anderen Musikbereichen, die das Stammpublikum nicht zu schätzen wusste und die dementsprechend günstig zu haben waren. Sie hatte ihn angesprochen und gefragt, ob er nicht Lust hätte, einen Kaffee mit ihr zu trinken. Ihr Chef sei heute nicht da und ihr sei langweilig. Und dann hatte sie einfach das Licht ausgemacht, den Laden zugesperrt und ihn in das Starbucks um die Ecke eingeladen. Ganz schön dreist ihrem Chef gegenüber, wie er fand, aber es war eine ganze Weile her gewesen, dass er mit einer Frau Kaffee getrunken hatte – vor allem mit einer so attraktiven. Auch beim Rest des Zusammenkommens hatte sie, wenn man ehrlich war, das Heft in die Hand genommen. Es hatte nicht lange gedauert, bis sie so vertraut miteinander waren, als wären sie schon immer ein Paar gewesen. Sie war eine wunderschöne Frau. Brünett, gertenschlank, mit klaren, blauen Augen, einem zarten Gesicht, verlängerten Wimpern und rotem Lippenstift. Ihr Dekolleté war ebenso wie ihr Hintern nahezu perfekt geformt und wenn sie durch die Straßen ging, gab es kaum einen Mann, der sich nicht nach ihr umdrehte. Es machte ihn stolz, mit ihr an seiner Seite durch die Stadt zu laufen, auch wenn sich vermutlich die meisten Menschen, die ihnen begegneten, fragten, was so eine schöne Frau mit so einer Nullnummer wie ihm wollte. Er war realistisch genug um zu wissen, dass er optisch nicht mit ihr mithalten konnte. Sie war von den Fußsohlen bis zum Hals an den unterschiedlichsten Stellen tätowiert, trug aber fast immer brav aussehende Blusen über den tief ausgeschnittenen Oberteilen oder kombinierte sie mit verschiedenen Business-Klamotten. Das bildete einen interessanten Kontrast und löste sie von den Klischees ihres Aussehens und ihres oft sehr direkten Auftretens. Ihm war auch nie richtig klar geworden, warum sie sich ausgerechnet ihn ausgesucht hatte, aber bei einem Sechser im Lotto, fragt man ja auch nicht, warum ausgerechnet diese Zahlen gezogen wurden. Sie waren ein sehr ungleiches Paar. Lara war oft aufbrausend und liebte es, feiern zu gehen und sich die Nächte um die Ohren zu schlagen. Ihn konnte man getrost als den ruhigeren Typ bezeichnen, der ungern Stress hatte und lieber zu Hause blieb. Er vermutete, sie mochte es, dass sie ihre harte Fassade in seiner Gegenwart fallen lassen könnte, wenn sie denn wollte. Er hatte sie immerhin ein einziges Mal in den sechs Jahren Beziehung weinen sehen.

Sven war auf dem Mitarbeiterparkplatz angekommen. Auf einem Schild über dem Eingang stand in großen blauen Lettern auf schwarzem Grund „AWR – ALLES WIRD REPARIERT“. Das Schild war eigentlich furchtbar hässlich und niemand, sein Chef eingeschlossen, wusste, ob der lächerliche Slogan für den Gründer der Ladenkette, der inzwischen Filialen in fünf größeren deutschen Städten unterhielt, noch irgendetwas Tiefsinnigeres bedeutete. Mit schnellen Schritten betrat Sven den Laden, befestigte sein Namensschild am T-Shirt, auf dem in schwarzer Schrift in dicken Buchstaben „SVEN F. HELLER“ stand. Alle anderen waren schon da, selbst Sammy schien wieder gesund zu sein.

Sammy hieß eigentlich Samuel, aber er konnte diesen Namen auf den Tod nicht ausstehen. Sie waren nicht direkt befreundet, das wäre ein bisschen viel gesagt gewesen, aber sie verstanden sich gut und quatschten manchmal ein wenig, wenn genug Zeit dafür blieb. Sie waren auch schon zweimal nach Ladenschluss miteinander auf ein Bier in die Kneipe von Heinz gegangen. Dort konnte man das beste Bier der ganzen Stadt trinken – das behauptete Heinz zumindest gern.

Sammy sah ein bisschen aus wie ein Hippie, der sich im Jahrzehnt geirrt hatte, aber was die sogenannte „Weiße Ware“ anging, kannte Sven niemanden, der ein größeres Technikverständnis an den Tag legte. „Freut mich, dass du wieder da bist!“, sagte er mit einem freundlichen Lächeln, während er an ihm vorüberging.

Sammy blickte zu ihm auf, grüßte, indem er kurz die Augenbrauen hochschob und widmete sich dann wieder dem Innenleben des Geschirrspülers, der vor ihm stand. Vor 12 oder dem zweiten Kaffee bekam man selten auch nur ein Wort aus ihm heraus. Sven setzte sich an seinen Schreibtisch und verschaffte sich einen kurzen Überblick über den bevorstehenden Arbeitstag.

AWR war ein kleiner Laden am Rande der Innenstadt, der auf die Reparatur von Technik aller Art spezialisiert war. Insgesamt waren sie elf Leute – ein Kollege war für Fernseher zuständig, Sammy für Kühlschränke und Gefriertruhen und Sven für Computer. Im Zeitalter des Wegwerfens war es ein Wunder, dass sich Läden wie dieser überhaupt noch halten konnten. In einer kleineren Stadt hätten sie bestimmt schon lange schließen müssen, aber hier gab es genug Kundschaft. Zu Sven kamen die meisten, um ihre Festplatten wiederherstellen zu lassen, oder weil irgendetwas am Rechner nicht mehr funktionierte oder weil sie etwas installiert hatten, was den PC lahmlegte. Wer keine Ahnung von Computern hat, nötigt normalerweise die Technikfans im Bekanntenkreis, wenn irgendwas nicht funktioniert. Doch wenn diese gerade streikten oder man keinen Nerd kannte, konnte man sich jederzeit von Sven helfen lassen. Zum Glück war der nervige Mann, der ihn vor wenigen Tagen mit unangenehm barschem Tonfall damit beauftragt hatte, die Festplatte seiner Freundin wiederherzustellen, eine Ausnahme von der sonst sehr pflegeleichten Kundschaft. Er schien sich sehr sicher zu sein, dass auf der Festplatte Indizien für die Untreue seiner Freundin zu finden seien. Die Festplatte war, nachdem der Mann den Laden verlassen hatte, relativ schnell wiederhergestellt gewesen und Sven hatte auch tatsächlich zwei Fotos gefunden. Diese zeigten besagte Frau – der Kunde hatte ihm zuvor ein Passfoto gezeigt – mit einem anderen Mann in mehr oder weniger verhängnisvollen Positionen. Nach kurzer Bedenkzeit hatte Sven jedoch beschlossen, die Fotos zu löschen. Der Typ war ihm dermaßen unsympathisch gewesen, dass für ihn in diesem Fall die Privatsphäre der Frau definitiv Vorrang hatte. Am nächsten Tag hatte er dem Mann die reparierte Festplatte in die Hand gedrückt und ihm mit einem möglichst professionellen Lächeln viel Glück bei der Suche nach den Beweisfotos gewünscht.

Immer wieder sprachen ihn Kunden auch darauf an, dass unter den wiederherzustellenden Daten womöglich Filme und Musik wären, die sie, naja, also, ähm… nicht ganz so, also nicht so richtig hundertprozentig, legal erworben hätten. Er ließ sie dann eine Weile herumdrucksen, bis er ihnen erklärte, wie vollkommen egal ihm die rechtliche Lage in solchen Fällen war.

Die Arbeit war interessant und es machte ihm viel Spaß, Daten wiederherzustellen und angeschlagene Festplatten wieder zum Laufen zu bringen. Es war jedes Mal ein schöner Moment, wenn man es geschafft hatte, und die meisten Kunden waren unglaublich glücklich darüber, ihre Urlaubsbilder, ihre Musiksammlung, ihre E-Mails und ihren ganzen anderen Kram wiederzuhaben.

Der Tag begann wie jeder andere. Sven arbeitete nach und nach die anstehenden Aufträge ab und kam auch gut voran. Auf einem großen Fernseher im hinteren Teil des Ladens lief in Endlosschleife die „Live at Knebworth“-DVD von Robbie Williams, die Stimmung unter den Mitarbeitern war ausgesprochen gut und auch wenn nicht viele Kunden kamen, hatte jeder im Laden genug zu tun.

Sven führte gerade im Auftrag einer attraktiven jungen Blondine, die ihn letzte Woche aufgesucht hatte, einen technischen Kleinkrieg mit einer uralten 1-Gigabyte-Festplatte, die trotz all seiner sanften Überzeugungsarbeit, überhaupt keine Lust zu haben schien, ihm ihr Innerstes preiszugeben, als sein Chef zu ihm kam. Jürgen wollte mit ihm zum Chinesen gehen. Es wunderte Sven, dass Jürgen ausgerechnet Lust auf Chinesisch hatte. In nächster Nähe um den Laden gab es sehr viele Möglichkeiten, sich mittags den Bauch vollzuschlagen: ein McDonald’s, ein KFC, ein ganz passabler Italiener und unterschiedlichste Imbissstände, von Döner bis hin zur Currywurst; der Chinese war allerdings einen Fußweg von gut 20 Minuten entfernt. Aber er sagte nichts weiter dazu, schließlich bedeutete es, dass er heute länger Pause haben würde.

„Eigentlich wollte ich schon seit Anfang der Woche mal mit dir reden, Sven, aber irgendwie hat in den letzten Tagen nie so richtig der Zeitpunkt gepasst“, sagte Jürgen mit ernster Miene, gleich nachdem sie im Restaurant Platz genommen und beide das Gericht des Tages – gebratene Ente süß-sauer – bestellt hatten „Ich fliege morgen nach Griechenland. Meine Mutter ist sehr krank und ich habe ihr versprochen, mich eine Weile um sie zu kümmern, bis sie wieder auf dem Damm ist.“ Seine Stimme war ruhig, er sprach langsam und gedrückt. Sein Lispeln war wieder schlimmer geworden.

Sven war nicht ganz klar, warum Jürgen ausgerechnet ihm das erzählte. „Wie geht es denn dann mit dem Laden weiter?“, sprach er die Frage aus, die ihm durch den Kopf ging. Er hoffte, dabei nicht allzu taktlos zu wirken.

„Ich möchte, dass du mich vertrittst, während ich weg bin. Du kennst ja die Abläufe, und einen Schlüssel hast du auch. Du musst dich nur um die Post kümmern und darauf achten, dass die Rechnungen bezahlt und die benötigten Teile nachbestellt werden. Der Rest sollte von alleine laufen. Dein Gehalt wäre natürlich ein wenig höher während dieser Zeit, du musst dich ja schließlich auch mehr kümmern. Ich denke 300 Euro mehr pro Monat sind angemessen. Ist das in Ordnung für dich? Falls irgendetwas Dringendes anfällt, kannst du mich natürlich jederzeit übers Handy anrufen, ich werde schauen, dass ich es immer in meiner Nähe habe. Ich hab’s mit dem Chef abgesprochen und der wäre einverstanden, das übergangsweise so zu machen.“

Sven hatte schon lange nicht mehr daran gedacht, dass auch Jürgen selbst noch einen Chef hatte. Er selbst hatte ihn nie kennengelernt und wusste noch nicht mal seinen Namen. Er war der Gründer der AWR-Filialen und hatte Jürgen vor etlichen Jahren als Filialleiter hier in der Stadt eingestellt. Er wohnte in Hamburg und führte dort eine Filiale, soviel konnte Sven noch aus den hinteren Winkeln seines Gedächtnisses hervorkramen. Er musste zugeben, dass er sich von Jürgens Angebot sehr geschmeichelt fühlte.

Natürlich nahm er das Angebot an, er konnte Jürgen ja schlecht in solch einer Situation im Stich lassen, sie kannten sich schon lange und er mochte ihn. Man sah Jürgen deutlich an, wie erleichtert er war. Auf einen Notizzettel schrieb er eine Adresse, unter der er per Post erreichbar sein würde, falls seine Unterschrift von Nöten war. Seine Mutter wohnte in Thiva – Sven hatte diesen Namen noch nie gehört.

„Mir war gar nicht klar, dass du Grieche bist“, sagte er zu Jürgen. „Ich hatte immer gedacht, du bist hier in der Gegend aufgewachsen.“

Jürgen kaute immer noch an den letzten Resten seiner gebratenen Ente herum. „Bin ich ja auch. Ich habe immer hier in der Stadt gelebt, mein ganzes Leben lang. Aber nachdem meine Eltern sich getrennt hatten, lernte meine Mutter einen Griechen kennen und ging dann nach ein paar Jahren mit ihm zurück in seine Heimatstadt. Ich habe sie seitdem kaum gesehen. Jetzt, wo mein Stiefvater tot ist, kümmert sich niemand mehr um sie und nun spielt ihre Gesundheit verrückt. Da habe ich ihr angeboten, sie zu pflegen. Familie ist halt Familie.“

Sven nickte. Jürgen bestand darauf, die Rechnung zu begleichen, und sie liefen langsamen Schrittes zurück zum Laden. Die Sommersonne schien Sven ins Genick und er konnte sich die meiste Zeit ein Lächeln nicht verkneifen. Dass Jürgen ihm seinen Laden für mehrere Wochen, vielleicht sogar für ein paar Monate anvertraute, empfand er als eine große Bestätigung.

Die Mittagspause der anderen war natürlich längst vorbei, als sie wieder ankamen. Sven machte sich wieder an die Arbeit und dachte an Lara und daran, wie wohl ihr Tag war. Sein Handy hatte er zuhause liegen lassen, also konnte er sie auch schlecht per SMS fragen. Hoffentlich war der kleine Streit von gestern Nacht wieder vergessen.

Der restliche Tag war ruhig und er hatte jede Menge Zeit zum Grübeln. Es wunderte ihn ein wenig, dass es keine Ansprache gab oder sonst wie verkündet wurde, dass es hier für die nächste Zeit eine Veränderung geben würde. Aber dann, eine halbe Stunde vor Feierabend, kam Jürgen zu ihm und bat ihn leise, er solle doch heute früher Schluss machen. Er hatte vor, es den Kollegen zu erzählen, und wolle Sven lieber nicht dabei haben, damit er mögliche Reaktionen des Neides oder Kritik an der Entscheidung nicht mitbekäme. So würde Sven seinen Kollegen vorbehaltlos gegenübertreten können. Er fand die Situation recht befremdlich, aber es war schließlich Jürgens Entscheidung. Also packte er seine Sachen zusammen und verabschiedete sich.

Die digitale Tankanzeige des Alfa verriet ihm, dass ein kleiner Zwischenstopp in der Leibnitzstraße wohl eine gute Idee wäre. Nach Hause würde der Sprit zwar knapp reichen, aber er wollte es auch nicht herausfordern. Als er auf den Hof der Tankstelle fuhr, schaute er auf die großen Anzeigetafeln mit den aktuellen Preisen. Er hatte Glück, selbst die Benzinpreise waren heute nett zu ihm. Als der Wagen wieder vollgetankt und der Reifendruck überprüft war, ging er rein zum Bezahlen. Links neben dem Eingang entdeckte er ein Regal mit Pralinen, unter ihnen auch Laras Lieblingsmarke. Der Streit mochte inzwischen verflogen sein, aber kleine Geschenke erhielten ja bekanntlich die Freundschaft, da konnten sie in der Liebe nicht fehl am Platz sein. Er nahm eine Packung mit zehn Pralinen aus dem Regal, zahlte und fuhr bester Dinge nach Hause, die Musik laut aufgedreht und aus vollem Halse mitsingend.

Lara erwartete ihn bereits, sie hatte sogar schon das Abendbrot hergerichtet. Als er in die Küche trat, lächelte sie ihn an, nahm ihn in den Arm und küsste ihn liebevoll.

„Entschuldige, Großer, dass ich mich gestern so aufgeführt habe“, waren ihre ersten Worte, als ihre Zungen sich voneinander lösten. Er war froh. Das klang, als ob es heute keinen Streit mehr geben würde, und entgegnete mit einem schiefen Grinsen: „Kein Problem, alles vergeben und vergessen, mein Spätzchen.“

Sie streckte ihm lächelnd die Zunge heraus, denn sie mochte solche Kosenamen überhaupt nicht. Er zog sie zu sich und gab ihr noch einen langen Kuss, dann zog er die Schachtel Pralinen aus der Tasche und überreichte sie ihr. Ob es ihre Freude darüber oder ihr schlechtes Gewissen wegen des Streits war, sie schien sich für den Moment erst mal genug in Worten ausgedrückt zu haben – sie nahm ihn an der Hand und zog ihn hinter sich her in Richtung Wohnzimmer, wo sie sich nur kurze Zeit später deutlich ärmer an Klamotten, deutlich schwerer atmend und deutlich enger ineinander verschlungen auf der Couch wiederfanden.

Als sie sich danach zum Abendessen in der Küche niederließen, lächelten sie beide zufrieden und wirkten erschöpft. Sie hatten sich nicht wieder angezogen, und sein Blick glitt immer wieder über Laras schlanken Körper. Es bedurfte einiger Anstrengung, um seine Konzentration weg davon und hin zu seinem Gespräch mit Jürgen und den anstehenden Veränderungen auf der Arbeit zu lenken. Er hatte das Gefühl, dass sie sich ehrlich für ihn freute. Zumindest ein Punkt, den sie gestern bei dem Streit äußerte, würde sich damit verändern, wenn auch etwas anders, als sie es sich vermutlich vorgestellt hatte.

Als er später nach dem Duschen im Bett lag, betrachtete er Lara ein paar Minuten beim Schlafen. Sie sah so friedlich und glücklich aus. Er drehte sich auf den Rücken, schloss die Augen und dachte an seinen neuen Job. Er lächelte in sich hinein und fiel in einen zufriedenen und traumlosen Schlaf.

Kapitel 2

„Die Wahrheit ist immer grausam.“ (Thomas Klatt)

Am nächsten Morgen trommelte Sven auf der Fahrt zur Arbeit gemächlich mit beiden Zeigefingern auf dem Lenkrad den Rhythmus zur Musik, die ihm aus den Lautsprechern entgegenschallte. Es war eine seiner ersten CDs, die er schon sehr lange nicht mehr angehört hatte. Die Sonne schien zur Windschutzscheibe herein, er hatte erholsam geschlafen und es war sein erster Arbeitstag als Jürgens Stellvertreter. Es würde ein guter Tag werden. Ein Tag, an den er sich noch lange erinnern würde.

Er war ein bisschen früher losgefahren, um den Laden auch rechtzeitig aufsperren zu können. Ab heute war das schließlich sein Job für die nächsten… – ja, für wie lange denn eigentlich? Tage? Wochen? Monate? Wie lange hatte Jürgen vor, in Griechenland zu bleiben? Sven konnte es überhaupt nicht einschätzen. Es ärgerte ihn ein bisschen, dass er vergessen hatte, ihn gestern danach zu fragen. Falls er seine Aufgabe gut erledigte, bestand vielleicht sogar die Möglichkeit, in ein paar Jahren Jürgens Nachfolge anzutreten, überlegte er. Schließlich hatte er Jürgen vor ein paar Monaten einmal sagen hören, dass er diesen Job nicht mehr ewig machen wolle. Er nahm sich vor, Sammy zu fragen, ob Jürgen bei der gestrigen Besprechung gesagt hatte, wie lange er bei seiner Mutter bleiben würde.

Als er am Laden angekommen war, stellte er demonstrativ und nicht ohne ein wenig Selbstgefälligkeit sein Auto auf den Parkplatz, den sonst stets Jürgen innegehabt hatte. Erst jetzt fielen ihm die zwei Polizisten auf, die unter dem AWR-Schild standen. Sie waren beide zwischen 30 und 40, wobei der eine an den Schläfen schon leicht grau meliert war, was ihn älter wirken ließ. Beide hatten kurze Haare und trugen Polizeiuniform. Dunkle Hosen, dazu diese furchtbaren senffarbenen Hemden und am Gürtel jede Menge Dinge, die groß und schwer aussahen und vermutlich weh taten, wenn sie nur passend eingesetzt wurden. Sven konnte auf die Entfernung eine Pistole und einen Schlagstock erkennen. Er spürte, wie sich ein mulmiges Gefühl in seinem Magen ausbreitete. Seit der Sache mit seinen Eltern war für ihn der Anblick von Polizisten fest mit dem Überbringen von schlechten Nachrichten verbunden. Er atmete tief durch, um sein schnell schlagendes Herz zu beruhigen. Es war vermutlich am sinnvollsten einfach auszusteigen und herauszufinden, was die beiden hergeführt hatte. Schließlich war er hier jetzt zuständig.

„Schneider mein Name“, begrüßte ihn der grau melierte Herr mit tiefer Stimme. Er zeigte auf den Mann neben sich. „Das ist mein Kollege Brinck.“

Sven musste bei ihren finsteren Blicken unwillkürlich an die schlechten Polizeisendungen im Fernsehen denken, bei denen immer irgendwelche abgehalfterten Schauspieler verhört wurden.

„Sven Heller“, stellte er sich vor. „Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?“

„Das wäre gut möglich. Wissen Sie eventuell, wie wir den Filialleiter dieses Ladens erreichen können? Der Mann heißt Schulte, Jürgen Schulte“, sagte Schneider. Er schien von den beiden fürs Reden verantwortlich zu sein, sein Kollege stand bewegungslos im Hintergrund und beobachtete Sven, wie ein Raubtier seine Beute.

Was konnte passiert sein, dass hier zwei Polizisten vor dem Laden standen und nach Jürgen fragten? Es wird schon nichts Schlimmes sein, sicher hat er nur irgendein Auto beim Ausparken gestreift oder sowas, beruhigte sich Sven im Stillen.

„Ja, ich kann Ihnen seine Nummer geben. Ich vertrete Herrn Schulte während er im Ausland ist, aber dort können Sie ihn natürlich erreichen. Ich führe die Filiale, bis er zurück ist.“

Sven bemerkte, dass sich die beiden Männer einen raschen Blick zuwarfen.

„Wo genau ist Herr Schulte denn momentan?“, hakte Schneider nach. Obwohl es kaum möglich schien, war seine Miene sogar noch finsterer geworden.

Sven überlegte einen kurzen Moment, ob er darauf überhaupt antworten sollte, befand dann aber, dass er keinen Grund hatte, den Polizisten gegenüber misstrauisch zu sein.

„Er ist in Griechenland. Seiner Mutter geht es wohl zurzeit nicht so gut, und er will ihr ein wenig unter die Arme greifen.“

Die beiden Polizisten sahen ihn skeptisch an.

„Das hat er ihnen erzählt?“ Nun hatte sich Brinck doch noch zu Wort gemeldet. Er näselte, Sven empfand seine Stimme als sehr unangenehm. „Gegen ihn wurde heute Morgen Anzeige erstattet. Er hat wohl in den letzten Jahren eine Menge Geld veruntreut und ist jetzt erst...“

„Brinck, das ist nicht seine Angelegenheit!“, fiel Schneider seinem Kollegen barsch ins Wort. „Solche Dinge sind vertraulich. Solange wir nichts Genaueres wissen, braucht er nicht mehr zu erfahren als nötig!“

Es klang, als würde ein Lehrmeister mit seinem Schüler sprechen. Brinck sah nicht so aus, als ob er mit dieser Ansage besonders glücklich gewesen wäre, sagte aber nichts weiter dazu.

Zu Sven gewandt, fügte Schneider hinzu: „Mein Kollege hat schon Recht, es geht um Veruntreuung. Wir versuchen im Moment nur Herrn Schulte zu finden, um alles Weitere kümmern sich dann die Kollegen von der Kriminalpolizei.“

Sven fühlte sich, als hätte man ihm gerade ein Brett über den Schädel gezogen. Für einen Moment überlegte er, ob er gerade nicht vielleicht in einer Fernsehsendung durch den Kakao gezogen wurde und ihm gleich jemand die versteckte Kamera zeigen würde, aber die Situation schien nicht wirklich dazu zu passen. Jürgen hatte Geld unterschlagen? Wie passte dann die Geschichte mit seiner Mutter ins Bild? Hatte Jürgen ihn angelogen?

Er sperrte die Tür auf und bat die Polizisten mit ihm in den Laden zu kommen. Nachdem er sich und den beiden einen starken Kaffee gemacht hatte, musste er ihnen in allen Einzelheiten von dem gestrigen Gespräch erzählen. Brinck notierte jedes Detail. Auch die Adresse und Telefonnummer, die Jürgen ihm dagelassen hatte, schrieben sie sich auf. Die ganze Zeit fühlte sich Sven, als würde alles, was passierte und gesagt wurde, durch dicken Nebel zu ihm dringen. Er konnte es sich einfach nicht vorstellen, dass Jürgen so etwas getan hatte. Und wenn doch, warum war er nicht einfach abgehauen, sondern hatte sich noch die Mühe gemacht, ihm die Leitung zu übertragen? Nach einer guten Viertelstunde schienen den Polizisten langsam die Fragen auszugehen. Sie nahmen noch Svens Personalien auf und ließen sich seine Handynummer geben, um ihn für etwaige Nachfragen erreichen zu können, dann verabschiedeten sie sich und ließen ihn mit einem mulmigen Gefühl im Bauch allein im Laden zurück. Es war viertel vor Neun, bald würden die Kollegen kommen. Was sollte er ihnen sagen? Er versuchte mit seinem Handy die Nummer in Griechenland zu erreichen, die Jürgen ihm gegeben hatte, aber da ging nur die Mailbox ran. Während er noch versuchte, Ordnung in seine Gedanken zu bringen, realisierte er plötzlich, dass das Telefon neben ihm klingelte.

„Sven Heller, AWR. Was kann ich für Sie tun?“

„Hier ist Bernd Marenberg. Wir haben uns noch nicht kennengelernt. Ich bin der Inhaber von AWR. Ist Schulte inzwischen aufgetaucht?“

Marenberg hatte eine raue Stimme und sprach schnell und abgehackt. Alles an seiner Art zu Sprechen klang nach jemandem, der es gewohnt war, Befehle zu geben. Sven stellte ihn sich als einen kleinen, kahlköpfigen, untersetzten Mann an einem riesigen Schreibtisch vor, bestimmt hatte er gerade eine Zigarre im Mundwinkel.

In wenigen Worten versuchte Sven die Situation zu beschreiben. Am anderen Ende der Leitung konnte er Marenberg tief atmen hören, als müsse dieser sich zusammenreißen, um nicht gleich loszubrüllen.

„Okay“, sagte Marenberg dann mit gepresster Stimme. „Ich will, dass die Filiale ab sofort erst mal geschlossen bleibt, bis ich weiß, wo er abgeblieben ist und wieviel Geld wirklich abhanden gekommen ist. Können Sie ’nen Zettel an die Tür hängen, dass der Laden aus privaten Gründen vorübergehend geschlossen ist und den Schlüssel ins Postfach werfen? Ich hole ihn dann ab. Mein Flieger geht heute Nachmittag. Ich melde mich, sobald ich weiß, wie’s mit dem Laden weitergeht.“

Dann war es also wahr. Jürgen hatte sich mit Geld seines Chefs auf und davon gemacht. So eine Scheiße. Sven versprach, den Schlüssel abzuliefern, und Marenberg legte auf ohne sich auch nur zu bedanken.

Sven klebte das Schild an die Tür, sperrte den Laden zu und fuhr mit dem Auto zur Post. Sie war nicht weit entfernt und er hätte den Weg auch laufen können, doch er wollte nicht auf Kundschaft oder seine Kollegen treffen. Er hatte keine Lust, irgendetwas zu erklären. Die Tatsache, dass Jürgen ihn dermaßen verarscht hatte, lag ihm schwer auf den Schultern und seine Laune, die auf dem Weg zur Arbeit noch so ausgelassen gewesen war, schwankte zwischen Wut auf sich selbst und unbändigem Zorn auf Jürgen. Was war er für ein Idiot gewesen, dass er seine „Beförderung“ für bare Münze genommen hatte. Er betrat die Filiale und legte den Schlüssel in das Firmen-Postfach, aus dem er sonst immer die Pakete mit den gelieferten Teilen holte. Erst jetzt wurde ihm das ganze Ausmaß bewusst. Fürs Erste war er arbeitslos, bis sich das mit Jürgen geklärt hatte. Und wer wusste schon, ob die Filiale je wieder geöffnet werden würde? Vielleicht würde er auch noch eine Aussage bei der Kriminalpolizei machen müssen. Er biss sich auf die Unterlippe. Wie würde es nur weitergehen? Noch vier oder fünf Stunden, bis Lara heimkommen würde. Sie wird aus allen Wolken fallen. Sie würde sich aufregen, über ihn und über seine Naivität und mit Sicherheit wäre das Gespräch in kürzester Zeit wieder beim Streit von vorgestern. Warum er sein Leben nicht auf die Reihe kriegen könne und wieso er sich nicht schon längst einen vernünftigen Job bei einer großen Firma gesucht habe. Er musste eine Möglichkeit finden, sie bei Laune zu halten, wenn sie heimkam.

Als er wieder auf der Straße stand, schaute er sich um auf der Suche nach einer Inspiration. Ein Ärztehaus, ein Blumenladen, eine Eisdiele, ein Edeka und daneben noch eine Apotheke und eine kleine Bäckerei. Pralinen hatte er ihr gestern schon geschenkt, die fielen also weg. Blumen waren vielleicht eine Idee. Was für Blumen Lara wohl mochte? Er konnte sich nicht erinnern, mit ihr in den ganzen Jahren jemals darüber geredet zu haben. Er wusste nur, dass er ihr keine Rosen mehr zum Valentinstag schenken solle. Sie fand sie zu klischeehaft und außerdem nicht schön. Blumen waren ihm zu unsicher. Die Gefahr war viel zu groß, Laras Geschmack zu verfehlen. Sein Blick fiel wieder auf den Supermarkt. Er konnte ja etwas kochen, vielleicht würde sie das milde stimmen.

Allerdings war es immer nicht so sicher, wann Lara bei der Arbeit gehen konnte, je nachdem ob zum Feierabend noch Kunden durch die Platten stöberten oder nicht. Es war natürlich möglich, schon vorzukochen und dann das Essen einfach aufzuwärmen, wenn sie kam. Er konnte ihr ja später eine SMS schreiben, dass sie ihm kurz Bescheid geben sollte, wenn sie von der Arbeit losfuhr. Das war eine gute Idee, dachte er. Jetzt stellte sich nur noch die Frage, was er kochen würde. Er beschloss, es mit seinem Carbonara-Auflauf zu versuchen. Den hatte sie immer für sehr lecker befunden, damit konnte er nicht viel falsch machen. Alles was er kaufen musste, waren ein bisschen Schinken und süße Sahne, den Rest hatten sie noch daheim.

Auf dem Heimweg überragte die Angst vor einem Streit seine eigentlichen Sorgen so sehr, dass er sich nur noch fragte, warum Lara nur so versessen darauf war, dass er einen besseren Job annahm und sie am besten noch in eine bessere Gegend zogen? War das nicht auch seine Entscheidung? Svens Gedanken überschlugen sich. Doch daheim angekommen suchte er gleich die restlichen Zutaten fürs Kochen zusammen. Er nahm eins von Laras Zippos aus der Schublade, machte es an und als die Flammen des Gasherds hervorschossen, stand er einige Minuten lang einfach da und starrte gedankenverloren in das zischende Blau.

Es fiel Sven partout nicht mehr ein, wie viele Eier in seinen Carbonara-Auflauf gehörten. Als er gerade in sein Arbeitszimmer wollte, um seinen PC hochzufahren und das Rezept rauszusuchen, bemerkte er Laras Laptop neben ihm auf der Anrichte. Nach dem Blinken der Lämpchen zu urteilen war er im Standby. Sie würde es ihm schon nicht übel nehmen, wenn er ihn kurz benutzte. Sven öffnete Google und suchte nach dem Rezept, das er die letzten Male benutzt hatte. Rechts unten auf dem Bildschirm gingen immer wieder kleine Fenster auf, während Laras Mailprogramm im Hintergrund die aufgestauten E-Mails herunterlud. Sven konnte es sich nicht verkneifen hin und wieder einen flüchtigen Blick auf die Fenster zu werfen. Mit einem Mal hielt er inne. Gerade war von einem Dennis eine Mail angekommen, die mit den Worten „Hey meine Süße“ anfing. In dem Bewusstsein, dass das, was er gerade tat, unter Umständen nicht besonders klug sein würde, klickte er auf das kleine Fenster und die Mail öffnete sich.

Von einer Sekunde zur anderen entgleisten seine Gesichtszüge vollkommen. Er starrte entgeistert auf den Bildschirm. Nicht wegen des Textes in der Mail – den hatte er noch gar nicht gelesen – sondern wegen des Bildes darunter. Seine Freundin war in Unterwäsche auf einem Bett zu sehen, wie sie einen anderen Typen umarmte und küsste, der sie dabei mit einer Hand fotografierte. Svens Eingeweide krampften sich zusammen, als hätte er gerade einen halben Liter kochendes Wasser seine Kehle hinabgestürzt. Es wurde nicht besser, als er nun den Text der Mail überflog. Da stand, dass es letzte Woche sehr schön gewesen sei und dass sie das unbedingt mal wieder machen müssten. Er hatte das Gefühl, sich gleich übergeben zu müssen. Jede Faser in seinem Körper war angespannt und er sah, wie seine Fingerknöchel weiß wurden, als seine Hände sich zu Fäusten ballten. Er schlug auf den Tisch und fluchte laut. Wunderbar, jetzt hatte er auch noch Schmerzen in der Hand. Was war das denn für ein beschissener Tag? Einige Minuten lang stand er einfach nur da und starrte auf den Boden, unfähig auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. So ein verfluchtes Miststück. Er musste hier raus, raus aus der Wohnung, die so verdammt voll war mit ihren Sachen und mit Fotos von ihr. Auf dem Weg zur Tür hielt er kurz inne und nahm einen der kleinen Rahmen von der Wand. Das Foto zeigte ihn mit Lara am Strand. Das Bild war erst wenige Monate alt. Er zielte und warf es aus dem Handgelenk in Richtung Mülleimer. Das Bild verfehlte ihn nur knapp und das Glas zersprang, als der Rahmen an der Wand aufschlug. Er kam sich ein bisschen lächerlich vor für diese Geste, aber das war jetzt auch egal.

Mit vor Wut zusammengebissenen Zähnen verließ er die Wohnung und lief hinüber zum Park, bis er an den spielenden Kindern und auch sonst an allen, die dort gerade ihre Zeit totschlugen, vorbei war. Er wollte alleine sein. Kurz überlegte er zu Lara in ihren miefigen Plattenladen zu fahren, um sie zur Rede zu stellen, aber er war sich weder sicher, ob er gerade Auto fahren konnte, noch, was er tun würde, wenn er sie jetzt zu Gesicht bekäme. Er hatte noch nie eine Frau geschlagen und wollte es auch dabei belassen. Sollte er sie anrufen? Nein, eigentlich hatte sie nicht mal das verdient. Er ließ sich ins Gras sinken und versuchte, sich ein bisschen zu beruhigen. Seine Hände zitterten, während er begann, Lara eine SMS zu schreiben. Aber was konnte er schon schreiben? Ihm kam jedes Schimpfwort in den Sinn, das er im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte gehört hatte, vor allem „Schlampe“ war ein Wort, an dem seine Gehirnwindungen öfter vorbeikamen, aber er empfand keine Beleidigung als auch nur halbwegs angemessen für das, was sie getan hatte. Während er versuchte sich zu konzentrieren, spürte er, wie der Zorn in seinem Inneren mit jeder Minute mehr einem eisigen Gefühl wich. Immer wieder begann er aufs neue SMS und löschte den Text wieder. Dann entschied er sich für die kürzeste Variante die ihm einfiel:

Ich will dich hier nicht mehr sehen. Pack deinen Kram und dann verschwinde aus meiner Wohnung, ich komme erst am Abend wieder. Dennis lässt schön grüßen. Sven

Er drückte auf Senden. Nicht, dass er sich nun besser fühlte, aber er wollte Lara wirklich nicht mehr wiedersehen. Vielleicht hätte er doch ein paar Beleidigungen unterbringen sollen, aber jetzt war es zu spät. Er spürte das Bedürfnis, mit jemandem über diesen Scheißtag zu reden, aber er wusste nicht, wen er anrufen sollte. Sein Freundeskreis war auch Laras Freundeskreis und er hatte jetzt keinen Nerv, sich irgendwelche Erklärungen und halbgaren Entschuldigungsphrasen für ihr Fremdgehen anhören zu müssen. Dann kam ihm mit einem Mal die Erleuchtung und er wählte Sammys Nummer. Nach ein paar Sekunden hörte er dessen Stimme.

„Ja?“

„Hey, hier ist Sven. Was machst du gerade?“

„Nix Besonderes. Was war denn das für ’n Schild, das du an den Laden gehängt hast? War doch deine Schrift, oder?“

Nach der Satzlänge zu urteilen, hatte er seinen morgendlichen Kaffee schon getrunken.

„Jup, das is ’ne längere Geschichte. Kommst du auf’n Bier mit zu Heinz?“

„Sven, es ist kurz nach elf. Selbst wenn die Kneipe schon offen is, warum sollte ich jetzt mit dir einen trinken gehen? Was willst’n du da um die Zeit?“

„Das is’ ebenfalls ’ne lange Geschichte. Ich lad’ dich auch ein. Also, kommst du mit?“

„Hm, okay, wie du meinst. Gib mir ’ne Viertelstunde.“