Todsicher verschlüsselt - Arno Wilhelm - E-Book

Todsicher verschlüsselt E-Book

Arno Wilhelm

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Beschreibung

Annalena liegt auf der Lauer. Belauscht zwei Verräter. Jetzt ganz ruhig bleiben! Da erreicht sie eine Botschaft: »Ben wurde ermordet.« Annalenas Welt gerät ins Wanken. Sie muss herausfinden, wer hinter dem tödlichen Anschlag auf ihren Bruder steckt. Oder läuft sie in eine Falle, wenn sie ins heimatliche Berchtesgaden eilt? Ihre Wege kreuzen sich mit denen der Berliner Kommissarin Helga Herbertsen, die nach Bayern strafversetzt worden ist. - Ein Duell eigenwilliger Frauen vor dem Hintergrund von Cybercrime inmitten eines scheinbar harmlosen Marktfleckens.

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Seitenzahl: 392

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Arno Wilhelm

ist promovierter Informatiker. Er berät Bundes- und Landesministerien in Fragen rund um Digitalisierung, digitale Bildung und Künstliche Intelligenz. Seine Jugend verbrachte er im Allgäu und in Berchtesgaden. Heute lebt er mit Frau und Kindern am Rand von Berlin. Seine Lesebühne Dichtungsring ist im ALEX Berlin-TV zu sehen. Neben Gedichtbänden hat er Romane voll augenzwinkernder Katastrophenstimmung veröffentlicht: Jack Rodman – Die ganze Wahrheit und Was man so alles tut kurz vor dem Weltuntergang. Seit 2009 tritt er als Poetry-Slammer auf. Mit seinen Texten war er beim ARTE Webslam und im Literaturautomaten Düsseldorf vertreten. Sein Gedicht Moderne Kleingärtnervereine wurde von RTL als Poetryclip verfilmt.

Mehr Info: www.arno-wilhelm.de

Die Handlung und alle handelnden Personen in diesem Kriminalroman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten zu Geschehnissen mit Bezug auf reale Personen oder Unternehmen, Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens oder Institutionen wären rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Cover- und Innengestaltung unter Verwendung folgender Abbildungen:

Berchtesgaden (elxeneize/stock.adobe.com), Binary code Background (Fotomay/stock.adobe.com), Silhouette Annalena (Elena Kharichkina/stock.adobe.com), Silhouette Helga (majivecka/stockadobe.com)

E-Book: ISBN 978-3-944936-67-3

© edition tingeltangel, München 2023

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk ist in all seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags nicht zulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und digitale Verarbeitung.

Inhalt

Dienstag, 3. Juli

Alarm

Aufbruch

Familienbande

Mittwoch, 4. Juli

Kollegen

Löwe

Rathaus

Donnerstag, 5. Juli

Bäcker

Sicherheit

Chaos

Nachbar

Freitag, 6. Juli

Doppelhaushälfte

Frust

Samstag, 7. Juli

Panik

Schule

Sonntag, 8. Juli

Wandern

Montag, 9. Juli

Zoff

Hoffnung

Duell

Teamwork

Dienstag, 10. Juli

Chefs

Amateure

Mittwoch, 11. Juli

Befragung

Erkundung

Donnerstag, 12. Juli

Presse

Post

Dachboden

Freitag, 13. Juli

Angriff

Flucht

Patt

Tattoo

Montag, 16. Juli

Horizont

Aufgaben

Dienstag, 3. Juli

Alarm

Das Äußere des heruntergekommenen Industriegebäudes am Rande von Zeitz konnte Annalena nicht täuschen. Die Klinkersteine waren voller Graffiti, die Glasscheiben zwischen den Sprossen eingeworfen – und doch war die alte Fabrik geschützt. Mit geübtem Auge fand Annalena die Alarmanlage neben der Tür und legte sie ohne Mühe lahm. Um im Erdgeschoss keine Spuren zu hinterlassen, kletterte sie an den erstaunlich üppig angebrachten Zierelementen der Fassade nach oben und im ersten Stock durch ein kaputtes Fenster. Nahezu lautlos suchte sie sich einen stabilen Beobachtungsposten, was durchaus eine Herausforderung war. Der Boden dieser Etage war fast überall nach unten durchgebrochen, so dass jeder Schritt wohlüberlegt sein wollte. Eine dicke Staubschicht lag auf bröselndem Beton und gesplittertem Holz. Den Raum durchqueren konnte Annalena nur, indem sie über die großen, verrosteten Stahlträger balancierte. Hochkonzentriert peilte sie jene Ecke an, von der aus sie fast die ganze Werkhalle würde einsehen können. Denn wo genau sich ihre beiden Zielobjekte in Kürze treffen würden, wusste sie nicht. Der modrige Geruch der abgestandenen Luft widerte sie an. Schweiß stand ihr auf der Stirn. Die verfallene Halle mochte vor kurzem noch eine funktionierende Alarmanlage gehabt haben, eine Klimaanlage wäre Anfang Juli allerdings viel nützlicher gewesen. Angestrengt ließ sich Annalena auf ihrem Beobachtungsposten nieder. Keine Sekunde zu früh.

Unten öffnete sich eine bunt beschmierte Tür und ein dürrer, ernst dreinblickender Mittdreißiger im schwarzen Anzug trat ein. Der Mann sah aus wie der Inbegriff eines Sargträgers. Er blickte sich um, suchte ganz offensichtlich nach einem Platz, um sich zu setzen, doch an einem Ort wie diesem würde er sich unweigerlich den Anzug ruinieren. Schließlich blieb er stehen und wartete.

Rasch machte Annalena ein Foto und zog sich gleich darauf noch ein Stück zurück, um nicht entdeckt zu werden. Alan Gervais sah genau so aus wie auf den Bildern, die sie bekommen hatte. Ihr Auftraggeber Flieser hatte ihr ausführliche Dossiers über die Leute aus seiner Truppe gegeben, versehen mit Verweisen auf diejenigen, die er verdächtigte, auf seine Kosten ihr eigenes Unternehmen aufzuziehen. Annalena verscheuchte lautlos eine Fliege, die ihr brummend um den Kopf herumschwirrte. Der Auftrag war ein großer Glücksgriff nach den mageren letzten Wochen. Gut bezahlt. Und das für eine reine Dokumentation. Die Kohle sollte reichen, um ihren Vermieter fürs Erste zu beruhigen. Sie musste unbedingt wieder sorgsamer mit dem Geld umgehen. Gerade das Auto kostete angesichts der notwendigen Reparaturen und immer neuer Ideen für einen besseren Innenausbau einfach zu viel.

Fliesers Anweisung war klar gewesen. Fotos machen. Notieren, was gesagt wird. Rückzug. Eine saubere Sache. Hier und heute war es nicht ihr Job, sich um die beiden – oder wie viele es auch sein mochten – weitergehend zu kümmern. Nicht undenkbar, dass das noch folgte. Nach Fliesers Angaben war es wahrscheinlich, dass Gervais sich hier mit diesem bulligen Glatzkopf traf. Wie war nochmal sein Name? Wieder verscheuchte Annalena die Fliege.

Hatte Gervais ihre Bewegung aus dem Augenwinkel gesehen? Nein, wohl nicht. Er schaute zwar kurz hoch, wechselte dann aber nervös in kurzer Abfolge mehrmals seine Position, lief auf und ab. Jetzt fiel ihr der Name des Glatzkopfes wieder ein – Heiko Kröting.

Erneut öffnete sich die bunte Tür und Annalena hielt für einen Moment die Luft an, um keinen Laut der Überraschung hören zu lassen.

»Marion, da bist du ja endlich«, hörte sie Gervais sagen. Der Mann lächelte sichtlich erleichtert.

Marion von Glienicke war Fliesers rechte Hand. Er hatte Annalena selbst gesagt, es sei unmöglich, dass sie zu den Verrätern gehöre. Er vertraue ihr blind. Zu blind, wie es schien. Sie war fast so groß wie ihr Gegenüber. Auf den Fotos in Annalenas Unterlagen trug sie stets sehr elegante Hosenanzüge und Kleider. Die Frisur immer perfekt gestylt. Annalena hatte Marion als Frau eingeschätzt, die Wert darauf legte, elegant zu wirken. Davon war heute nichts zu sehen. Sie trug Jeans, einen ausgewaschenen Pullover und die Haare nach hinten zum Pferdeschwanz gebunden. Hätte Gervais nicht ihren Namen genannt, hätte Annalena mehrmals hinsehen müssen, um die Verbindung zu den Bildern in ihren Unterlagen zu ziehen. Bei dem Gedanken an die Unterlagen zückte Annalena ihr Smartphone und schoss unauffällig einige Fotos.

»Hast du die Papiere?«, fragte Marion ohne Umschweife.

Alan nickte und zog aus der Innentasche seines Jacketts einen dicken Umschlag. »Kannst gerne kontrollieren. Ist alles da. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Flieser hat garantiert nichts bemerkt.«

Marion nahm den Umschlag und holte einige Blätter daraus hervor. Annalena hatte keine Chance zu erkennen, um was es sich genau handelte, machte aber weiter fleißig Fotos. Auf die Entfernung konnte sie nur viel Text und einige technische Zeichnungen auf den Papieren erkennen. Marion von Glienicke bekam sie ein paar Mal sehr klar aufs Bild, wie diese die Papiere durchsah. Die neue Kamera machte gestochen scharfe Bilder, aber auch diese Qualität hatte dummerweise ihren Preis. Die Fotos ließen sich sicher noch anschaulich vergrößern. Nach gründlicher Prüfung nickte Marion und packte alles wieder in den Umschlag. Sie trug einen kleinen Rucksack, den sie jetzt abstreifte. Gründlich darauf bedacht, nichts zu knicken, verstaute sie den Umschlag und zog eine breite Geldbörse hervor, wie Annalena sie eher von Restaurantbedienungen kannte. Der gute alte schwarze Aktenkoffer aus Agentenfilmen hatte wohl ausgedient.

»Die Papiere sehen ausgezeichnet aus«, sagte Marion und Alan atmete tief durch. Sie reichte ihm die Geldbörse. »Hier ist dein Geld.«

»Wie vereinbart?«, fragte Alan, sichtlich hin- und hergerissen, ob er das Geld augenblicklich zählen sollte oder besser nicht.

»Sogar ein bisschen mehr. Unser Kunde ist enorm großzügig«, entgegnete Marion mit einem überlegenen Lächeln. »Es muss nur klar sein, dass niemand irgendetwas von diesem Deal erfährt. Das ist dir hoffentlich bewusst.«

Annalena machte noch ein Foto von der Übergabe der Geldbörse. Was für ein großartiger Tag es doch war. Ein perfekter Tag.

In diesem Moment setzte sich die Fliege ausgerechnet auf Annalenas Nase. Sie spürte den Drang zu niesen in ihrem Körper aufsteigen. Unter keinen Umständen durften die beiden sie jetzt erwischen. Sie verscheuchte ein weiteres Mal die Fliege, schloss die Augen und atmete langsam, tief und konzentriert. Ihre Kiefer knirschten leise aufeinander vor Anspannung. Doch der Niesreiz plagte sie nur noch umso mehr.

In diesem Moment klingelte ihr Smartphone. Eine Melodie von Pieptönen, laut und deutlich, in jedem Winkel der heruntergekommenen Halle zu hören. Eine Melodie, die Annalena schon lang nicht mehr gehört hatte und die nur für den absoluten Notfall bestimmt war. Ihr Handy war sorgsam so eingestellt, dass es nicht ungefragt Geräusche von sich gab und das Display wenig Licht abstrahlte. Es hatte sie noch nie bei einem ihrer vielen Einsätze gestört. Nur vier Personen standen auf ihrer Whitelist. Und diese vier wussten ganz genau, dass ihr Anruf und damit das Klingeln des Handys Annalena in die Bredouille bringen konnte.

Ihr blieben nur Sekunden, um zu reagieren. »Moment«, flüsterte sie eilig ins Telefon und legte es neben sich.

Alan Gervais und Marion von Glienicke hatten beide entsetzt zu ihr hochgesehen. Alan rannte bereits davon. Marion hatte ihm die Geldbörse augenblicklich wieder entrissen und stopfte sie jetzt noch hastig zurück in ihren Rucksack, als Annalena einen Satz zu einem großen Stahlträger machte, sich daran hinabgleiten ließ und nur einen Meter neben der Frau auf dem Boden landete. Marion trat nach ihr, aber Annalena schaffte es, auszuweichen. Ein Schlag traf Annalena an der Schulter. Dabei konnte sie einen der Riemen des Rucksacks packen. Sie zog kräftig daran und brachte Marion so zu Fall. Auch wenn sich die Frau heftig wehrte, gelang es Annalena, ihr einen Arm nach hinten zu drehen. Schnell kniete sie sich auf ihren Rücken.

Marion hatte mehr Kraft, als man ihr ansah. Sie wand sich und schlug voll Wut und Verzweiflung mit dem zweiten Arm nach hinten. Annalena steckte ein paar Hiebe ein, bis sie die zweite Hand zu fassen bekam. Sofort zurrte sie in geübten Bewegungen die Hände ihrer Gegnerin mit einem Kabelbinder zusammen. Davon gehörten immer ein paar zu ihrer Standardausrüstung. Marion bäumte sich energisch auf. Annalena strauchelte und wäre fast abgeworfen worden. Unvermutet traf Annalena eine Faust seitlich am Kopf. Das war nicht von ihrem Gegenüber ausgegangen. Richtig platziert hätte der Hieb sie zweifellos umgeworfen.

Alan Gervais war nach seiner überstürzten Flucht zurückgekehrt. Er wollte offenbar doch nicht auf das Geld verzichten.

Annalena rollte sich instinktiv zur Seite ab und sprang sofort auf die Füße. Ihr Kopf schmerzte. Und immer noch wartete ihre Anruferin oben auf sie in der Leitung. Was konnte nur passiert sein? Sie musste es dringend erfahren. Mit einem großen Schritt nach hinten wich sie einem weiteren Schlag aus und wäre beinahe über die sich am Boden windende Komplizin von Alan gestolpert. Als der Schlag ins Leere ging, blickte der Anzugträger für einen Moment verdutzt drein. Annalena nutzte sein Zögern und traf ihn mit einem harten Tritt am Brustkorb, der ihm die Luft aus den Lungen drückte. Ihr Fußabdruck zierte jetzt das eben noch so schicke Jackett. Sichtlich um seine Atmung bemüht, schien er unsicher, was er tun sollte. Wütend sah er zwischen der gefesselten Marion und Annalena hin und her. Ihr Überraschungsgast stand jetzt selbstbewusst und mit festem Blick vor ihm.

»Zeit aufzugeben, Alan«, stellte sie fest.

»Leni, wie lang dauert das denn noch?«, hörte man eine verärgerte Stimme überraschend laut im ersten Stock aus dem Handy quäken. Annalena sah einen Moment hoch, der Alan offenbar ausreichte, um sich von ihrem Blick zu lösen und eine Entscheidung zu treffen. Er drehte sich um und rannte erneut davon.

Annalena ließ ihn laufen, auch wenn das sicher noch Ärger mit ihrem Auftraggeber nach sich ziehen würde. Marion war nach wie vor sicher verschnürt. Annalena kletterte zurück ins Obergeschoss.

»Tante Hilde?«

»Ja, was waren das denn für komische Geräusche?«, antwortete diese. Ihre Stimme klang jetzt nicht mehr verärgert.

Annalena war noch schwer außer Puste von ihrem kurzen Kampf mit den beiden.

»Ich bin noch bei der Arbeit. Warum rufst du an und schreibst nicht wie sonst? Du hast diese Nummer doch noch nie benutzt. Gibt es ein Problem?«

»Oh, natürlich«, sagte Hilde und zögerte einen Moment, als müsste sie sich erst sammeln. »Leni, dein Bruder ist tot. Du musst schnell nach Hause kommen.«

Ein beklemmendes Gefühl drückte Annalena auf die Brust.

»Du musst dich irren, ich habe die Tage erst mit ihm gesprochen. Vorgestern. Es ging ihm doch gut.«

»Es war nichts Gesundheitliches«, erwiderte ihre Tante. »Er wurde ermordet.«

Annalena musste sich setzten. Unter ihr knackte der Boden, doch sie nahm es kaum wahr.

»Insgesamt macht das Ganze, ehrlich gesagt, einen ziemlich brutalen Eindruck. Ich erzähl dir alles, was ich weiß, wenn du hier bist.«

Annalena versprach, so schnell wie möglich zu kommen, bevor sie das Gespräch beendete. Zwei Minuten lang blieb sie völlig regungslos sitzen. Unfähig, irgendetwas zu tun, starrte sie ins Leere. Warum sollte jemand ihrem kleinen Bruder etwas antun? Er war kein unbeschriebenes Blatt, aber auch niemand, der die Gefahr suchte. Im Gegenteil. Er agierte vorsichtig, immer im Hintergrund.

Und wenn es gar nicht um ihn gegangen war? Sondern um jemand anderen? Eine böse Vermutung stieg in Annalena auf. Ging es um sie selbst? Um Rache? Oder um einen Versuch, sie zurückzulocken in die alte Heimat? Eine Träne bahnte sich den Weg über ihre Wange hinab.

Nach einer Weile raffte sie sich auf und überlegte, was noch geregelt werden musste. Alan schien kein weiteres Mal zurückzukommen. Was das wohl für ihr Honorar bedeutete?

»Da scheint etwas Schlimmes passiert zu sein. Sollen wir uns nicht das Geld teilen und du lässt mich laufen?«, fragte Marion in scheinbar mitfühlendem Ton, als Annalena wieder neben ihr stand.

Annalena trat ihr hart in die Seite.

»Sei lieber still. Ich bin gerade wirklich nicht aufgelegt dazu, Verhandlungen zu führen«, zischte Annalena.

Sie unterdrückte das Bedürfnis, ihre Wut an der Frau auszulassen. Stattdessen versteckte sie das Geld und die Papiere gründlich im Obergeschoss in einem leicht zu tarnenden Mauerloch außerhalb der Sichtweite der Gefesselten. Sie entschied sich, die ehrenwerte Marion von Glienicke einfach auf dem Boden liegen zu lassen, wo sie war. Dann machte sie sich auf den Weg zu ihrem Auto, das nur wenige Minuten entfernt parkte. Sie rief Flieser an und brachte ihn auf den neuesten Stand. Danach machte sie sich mit einem schweren, dumpfen Schmerz im Magen auf den Weg zur Autobahn. Sie musste, so schnell ihr VW-Bus konnte, nach Berchtesgaden.

Aufbruch

Der Polizeipräsident ihr gegenüber sah Helga Herbertsen mit eisigem Blick an.

»Ich weiß schon, dass Sie beim Innenminister wegen der Sache mit seiner Tochter einen Stein im Brett haben. Doch diesmal sind Sie zu weit gegangen. Ihr Verhalten ist schlicht inakzeptabel.«

Alois Brandt-Schmitt strich sich durch den Vollbart. Helga hatte erwartet, dass er laut werden und sie wieder anschreien würde, aber trotz seiner merklichen Wut kontrollierte er seine Stimme und sprach mit Bedacht.

»Bei jedem Ihrer drei Fälle hier in Kempten und Umgebung haben Sie explizite Dienstanweisungen ignoriert und damit sich und Ihr Team in Gefahr gebracht. Das ist nicht akzeptabel, auch wenn Sie die Fälle gelöst haben. Ihre Methoden sind nicht zu tolerieren. Ich weiß, dass auch derartiges Verhalten einer der Gründe war, weshalb Sie sich aus Berlin hierher versetzen lassen mussten. Sie schreiben Ihre Berichte nicht im Ansatz pünktlich und detailliert genug und zeigen keinerlei Fehlerbewusstsein. Möchten Sie dazu Stellung nehmen?« Er sah Helga direkt an. Seine Augen hatten einen dunklen Braunton. Menschen in fortgeschrittenem Alter ohne Lachfalten machten sie immer skeptisch.

Die Kriminalhauptkommissarin selbst war mit einer großen Zahl an Lachfalten ausgestattet, die zusammen mit ihrem Übergewicht und der grauen Lockenpracht dazu führten, dass sie auf die meisten Leute einen gutmütigen Eindruck machte, der schnell mit Schwäche verwechselt wurde. Nach dieser Standpauke würde sie dringend ihr Team zusammenrufen müssen. Und frischen Kaffee brauchte sie auch.

»Stellung nehmen? Eigentlich nicht. Aber ich tue es trotzdem mal: Wir haben den jungen Mann gerettet, auch wenn ich dabei möglicherweise Ihre Anweisung missachtet habe. Und vielleicht lag die Rettungsaktion außerhalb meiner Zuständigkeit.« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich teile ihre Ansicht nicht, dass die Methode so wichtig ist, wenn die Ergebnisse stimmen. Ich ...«

Ihr Vorgesetzter fiel ihr ins Wort.

»Das ist keine Ansichtssache. Es geht hier um geltendes Recht, verflucht nochmal! Und noch viel wichtiger: um das Ansehen der Kriminalpolizei hier in der Region«, zischte er. Mittlerweile hatte er sichtlich Schwierigkeiten, sich zu kontrollieren. Beide fuhren zusammen, als plötzlich das schwarze Telefon auf seinem Tisch klingelte. Ohne hinzusehen, hob Alois Brandt-Schmitt den abgegriffenen Hörer an und knallte ihn direkt wieder aufs Telefon. Ein paar Sekunden saßen beide einfach nur da.

»Bei den Berichten werde ich mich bemühen, pünktlicher zu werden«, bot Helga mürrisch an. »Dieser ganze Papierkram ist einfach nicht mein Ding, aber das kriege ich schon hin.«

Sie überlegte, welche Zugeständnisse sie noch machen konnte, um ihn zu beschwichtigen. Wieder klingelte das Telefon. Diesmal blickte der Polizeipräsident auf die Anzeige, erkannte aber ganz offensichtlich die anrufende Nummer nicht und drückte einen Knopf. Das Klingeln verstummte augenblicklich.

»Und wegen der Regelverstöße ...«, setzte Helga an, doch ihr Vorgesetzter unterbrach sie.

»Sie haben da etwas falsch verstanden. Wir führen hier kein klärendes Gespräch und schon gar kein Geschacher um Zugeständnisse. Das mit den Berichten können Sie sich schenken. Die Entscheidung ist schon gefallen.« Sie sind mit sofortiger Wirkung vom Dienst suspendiert und werden hier im Präsidium keinen Fuß mehr auf den Boden kriegen. Laufende Fälle haben Sie meines Wissens keine. Wegen der weiteren Schritte meldet sich dann meine Sekretärin bei Ihnen. Ich will Sie hier so schnell nicht wieder sehen. Gerne auch nie wieder. Sie können jetzt gehen.«

Die Worte trafen Helga wie ein Hammerschlag in den Magen. Sie erhob sich und musste sich an ihrem Stuhl abstützen. Dann straffte sie ihre Haltung, so gut es ihr möglich war, nickte Herrn Brandt-Schmitt nur kommentarlos zu und wollte gerade aus der Tür, als diese sich mit Schwung öffnete.

»Herr Brandt-Schmitt, Sie werden dringend am Telefon verlangt«, sagte Frau Rösle, die Sekretärin. Sie wirkte wie immer etwas zu hektisch und blickte angespannt durch ihre schmalen, kreisrunden Brillengläser.

Helga ging nach draußen und blieb vor der Tür des Polizeipräsidiums einen Moment in der Sonne stehen. Das warme Sonnenlicht fühlte sich ganz unpassend an angesichts ihrer düsteren Stimmung. Es war also erneut soweit. Sie hatte versagt. Nach ihrem erzwungenen Abschied aus Berlin hatte sie sich eigentlich geschworen, dass ihr das nie wieder passieren würde. Auf dem Parkplatz der Kriminalpolizei stand ihr hellblauer, rostiger Volvo, daneben ihr Kollege Meizi, der wie so oft in letzter Zeit eine schwarze Lederjacke trug. Rasiert hatte er sich heute Morgen offenbar auch nicht. In letzter Zeit machte er insgesamt einen erschöpften Eindruck und trug tiefblaue Augenringe mit sich herum.

Offenbar wartete er schon eine Weile auf sie und warf wohl vor Langeweile gerade einen Blick in ihr Auto. Als er sie kommen hörte, wurden beide rot. Die Kommissarin, weil der Innenraum ihres Volvos wie immer übersät war mit leeren Colaflaschen, benutzten Taschentüchern, Kekskrümeln und vielen Dingen im Fußraum, die sie schon gar nicht mehr identifizieren konnte – und Meizi, weil er sich ertappt fühlte.

»Wie ist es gelaufen?«, ging Meizi mit gespielt natürlichem Tonfall gleich in die Offensive. »Haben wir einen dicken neuen Fall, oder warum musstest du beim Alten vorstellig werden?«

Helga strich sich die grauen Locken zurück und zögerte einen Augenblick. Es auszusprechen, machte das, was nun bevorstand, umso realer.

»Ich bin raus. Bis auf Weiteres suspendiert. Herr Brandt-Schmitt will mich loswerden.«

Meizi sah sie entsetzt an.

»Im Ernst? Damit hätte ich nie gerechnet. Du bist sicher nicht die Beliebteste hier bei der Kripo, aber sowas ...« Seine Verärgerung war offensichtlich. »Und was kommt jetzt? Arbeitsgericht? Das wird man doch aushebeln können.«

Doch Helga schüttelte den Kopf.

»Wenn das jetzt schon wieder so losgeht …« Sie seufzte. »Das habe ich in Berlin alles schon mal erlebt. Ohne Unterstützung hast du verloren, egal, was das Gesetz sagt. Vielleicht sollte ich mir was anderes suchen.«

»Und was willst du machen? Autos putzen?«, fragte Meizi und grinste urplötzlich.

Helga sah ihn einen Augenblick lang ernst an und merkte, wie seine Ohren sich in einem dunkleren Rotton färbten. Offenbar überlegte er, ob er sich gerade im Ton vergriffen hatte. Doch dann grinste auch die Kriminalhauptkommissarin.

»Ich fürchte, das ist alles andere als mein Spezialgebiet.«

Beide mussten lachen.

»Sollen wir zum Mittagessen gehen?«, fragte Meizi. »Dann können wir nochmal in Ruhe überlegen, was wohl ein geeigneter Job für dich wäre.«

Helga wollte gerade zustimmen, da hörte sie hinter sich eilige Schritte. Zweifellos hohe Schuhe. Petra Rösle, die Sekretärin des Alten, kam eilig auf sie zu. Sie begann erst zu sprechen, als sie ganz nah war.

»Frau Herbertsen, der Herr Brandt-Schmitt möchte gerne noch einmal kurz mit Ihnen sprechen.«

Helga stöhnte.

»Der soll mich in ein paar Tagen anrufen. Ich glaube, für heute habe ich genug mit ihm geredet.«

Frau Rösle schüttelte energisch den Kopf und schob sich dann ihre Brille zurecht.

»Sie kommen jetzt bitte gleich mit, Frau Herbertsen«, erklärte sie entschieden.

Helga wechselte einen kurzen, überraschten Blick mit Meizi, dann schlurfte sie hinter der Sekretärin her – wie damals in ihrer Schulzeit hinter dem einen oder anderen Lehrer, wenn es zum Direktor ging. Am Ende ihrer Schulzeit hatte sicher nicht mehr viel gefehlt, dass Helga im Büro des Direktors Anspruch auf einen eigenen Platz gehabt hätte.

Der Polizeipräsident saß wie vorhin auf seinem Stuhl, hatte den Kopf in die Hände gestützt und blickte erst auf, als Helga Platz genommen hatte und die Sekretärin die Tür von außen zuzog. Seinen Blick als mordlustig zu beschreiben, wäre vielleicht zu viel gewesen, aber auf jeden Fall nah dran. Helga überlegte erst hektisch, wie sie das Gespräch eröffnen konnte, entschied sich dann aber aus Mangel an Ideen, das ihrem Gegenüber zu überlassen.

Einen Moment blieb es still. Brandt-Schmitt blickte sie nur finster an.

»Ich hatte gerade ein Telefonat mit dem Innenministerium«, sagte er dann kraftlos. »Sie haben wirklich gute Freunde dort, wie mir scheint.«

Nur einen, dachte Helga. Was passierte hier?

»Ich habe keine Ahnung, wie die im Ministerium Wind von der ... Situation mit Ihnen bekommen haben.« Es klang, als würde er das mehr zu sich sagen. Dann richtete er seine Augen wieder auf die Kriminalkommissarin. »Sie werden nicht suspendiert. Es wurde eine Lösung ... Also es gibt eine Lösung, wie Sie weiterarbeiten.«

Helga setzte sich unbewusst aufrechter hin und wappnete sich. Was konnte jetzt kommen? Ein staubiger Bürojob, weit weg von den echten Fällen?

»Eine Art Pilotversuch«, fuhr Brandt-Schmitt fort. »Sie kriegen ein kleines Team und werden damit als mobile Ermittlungsgruppe dort in Bayern eingesetzt, wo die Ressourcen der Kripo gerade nicht ausreichen.« Er faltete die Hände und blickte aus dem Fenster. »Sie können mir glauben, dass das nicht in meinem Sinn ist. Aber mir stehen keine weiteren Möglichkeiten offen. Sie begeben sich noch heute nach Berchtesgaden. Dort ist ein schweres Tötungsdelikt aufzuklären, es wurden mehrere Leichen in einer Wohnung gefunden. Die oberbayerischen Kollegen sind derzeit aber stark ausgelastet und von gesundheitlichen Ausfällen geplagt. Sie haben angefragt, ob sie Unterstützung bekommen können.«

»Und diese mobile Ermittlungsgruppe – aus welchen Leuten setzt die sich zusammen?«

Helgas schwirrte der Kopf vor lauter Fragen. Aber diese war die drängendste. Zugleich spürte sie die Ungeduld ihres Vorgesetzten und seine Unzufriedenheit mit der Entwicklung der Situation. Lange würde die Audienz nicht mehr dauern.

»Wenn Ihr bisheriges Team einverstanden ist, können Sie kurzfristig mit denen arbeiten. Wie das auf lange Sicht geregelt werden kann, wird sich zeigen – falls das Projekt überhaupt funktionieren sollte, was ich mir beim besten Willen nicht vorstellen kann. Ich habe jetzt zu tun und denke, damit sollte alles Wesentliche geklärt sein. Alle weiteren Informationen erhalten Sie dann von den Kollegen der Kripo Traunstein. Die sind für Berchtesgaden zuständig. Ansonsten wenden Sie sich an meine Sekretärin.«

Er nickte ihr kurz zum Abschied zu und deutete mit einer Hand Richtung Tür. Nicht mal ein Händedruck. Aber das war kein Problem für Helga. Der Polizeipräsident war nie wahnsinnig professionell im Umgang mit anderen. Sie musste dringend an die frische Luft. Also imitierte sie nur kurz das Nicken und machte sich aus dem Staub. Im Vorzimmer blickte Frau Rösle kurz von ihrem Computer auf und zwinkerte ihr lächelnd zu.

Kopfschüttelnd trat Helga raus auf den Parkplatz. Meizi kam ihr schon entgegen.

»Noch mehr Ärger?«, fragte er und legte ihr die Hand auf die Schulter. Die Geste war zweifelsohne lieb gemeint, fühlte sich aber ungewohnt und falsch an. Ihm schien es damit ebenso zu gehen und er zog den Arm schnell wieder zurück.

»Nicht wirklich. Das Innenministerium hat sich eingeschaltet und offenbar in Windeseile einen neuen Plan entwickelt, wie es mit mir weitergeht. Mit uns, falls du dabei bist.«

Meizi zog die Augenbrauen hoch, dann erzählte Helga in Kurzfassung, was sich gerade im Büro des Chefs abgespielt hatte.

»Ich bin gerne dabei«, erklärte er. »Ich wüsste nicht, dass es so eine mobile Einheit schon mal gab. Bin gespannt darauf. Was denkst du, wer hat das mit deiner Suspendierung dem Ministerium gesteckt?«

Helga fuhr sich nachdenklich durch ihre Locken.

»Wenn ich mich nicht sehr irre, dann Frau Rösle, die Sekretärin vom Chef«, grübelte Helga laut. »Aber eigentlich hatte ich bisher die Vermutung, dass sie mich nicht leiden kann.«

»Vielleicht ist es auch an anderer Stelle durchgesickert. Na, egal. Wir schauen nach vorne. Was sind unsere nächsten Schritte?«

»Ruf du bitte bei der Kripo Traunstein an und erkundige dich, ob die Bescheid wissen. Ich versuche in der Zwischenzeit, die Frau Doktor und Haugg zu überreden, dass sie mitkommen.«

Helgas Handy klingelte. Der Name Brandt-Schmitt erschien auf dem Display. »Was will der denn jetzt schon wieder?«, fluchte sie, ging aber ran.

»Hier ist Rösle«, kam eine gedämpfte Stimme aus dem Lautsprecher. »Der Herr Brandt-Schmitt ist jetzt in einer Besprechung, deswegen können wir kurz sprechen. Ich weiß ja, dass Sie nicht der größte Computerfan sind, deshalb habe ich Ihrem Kollegen Messleitner die wichtigsten Informationen zum Fall, soweit sie mir vorliegen, gemailt. Darin sind auch zwei Empfehlungen für Pensionen, in denen Sie unterkommen können. Rufen Sie hier möglichst nicht an, wenn es sich vermeiden lässt, aber wenn etwas ist, schreiben Sie mir. Ich kann Sie fürs Erste ein wenig unterstützen.«

Helga war einen Moment sprachlos.

»Warum tun Sie das für mich?«, fragte Sie nach ein paar stillen Sekunden.

»Ich mag es einfach nicht, wenn Menschen ungerecht behandelt werden.«

»Sie haben auch das Ministerium informiert, oder?«, bohrte Helga nach.

»Das wäre gegen eine explizite Anweisung des Herrn Brandt-Schmitt gewesen. Dazu kann ich nichts sagen«, antwortete Frau Rösle, und Helga meinte den Hauch eines Lächelns in ihrer Stimme zu vernehmen. Sie bedankte sich herzlich bei der bisher eher spröden Sekretärin und verabschiedete sich.

Helga brachte ihren Kollegen Meizi, der nur von den wenigsten mit seinem vollen Namen Messleitner gerufen wurde, auf den neuen Stand, dann bestimmte sie: »Abfahrt ist in zwei Stunden hier.« Meizi reckte den Daumen nach oben und machte sich auf den Weg, um zu packen.

Frau Dr. Sulzbach war überraschend schnell davon zu überzeugen, sich Helgas mobiler Ermittlungsgruppe anzuschließen. Helga stand im kleinen Kemptener Eckbüro der Rechtsmedizinerin. Hier verbrachte diese ihre Zeit, wenn sie Papierkram abarbeiten musste. Sie hörte sich in Ruhe an, was passiert war.

»Ich kann gerne unterstützen«, sagte sie. »Ein bisschen mehr Abwechslung schadet nicht. Wenn wir umherreisen, sind wir natürlich auf die Räumlichkeiten der Kollegen angewiesen, aber das wird sich schon machen lassen. Oh, da fällt mir ein ...« Sie verzog das Gesicht.

Helga ließ sie einen Moment überlegen. Als Dr. Sulzbach nicht weitersprach, fragte sie nach, was ihr eingefallen sei.

»Morgen soll eine neue Assistentin bei mir anfangen, das hat sich kurzfristig so ergeben. Sie ist noch recht jung. Ich gehe nicht davon aus, dass sie so flexibel ist, mal eben in einem anderen Teil Bayerns zu arbeiten.«

»Möchten Sie dann erst einmal die Assistentin einarbeiten und später nachkommen? Meizi und ich brechen heute noch auf Richtung Berchtesgaden.«

Dr. Sulzbach schüttelte den Kopf. »Ich werde versuchen, das mit ihr persönlich zu klären. Im Zweifel freuen sich auch meine Kollegen hier bei der Kripo über Unterstützung. Die junge Dame hat vielversprechend gewirkt.«

Helga machte sich auf den Weg zu dem noch fehlenden Kollegen auf ihrer kurzen Liste. Er hatte heute frei, da störte sie nicht gern, aber das ließ sich jetzt nicht ändern. Sie klingelte an seiner Haustür. Haugg öffnete fast augenblicklich die Tür. Er trug eine kurze Hose und ein weißes, ausgewaschenes Unterhemd mit sichtbaren Flecken. In der Arbeit achtete er immer sehr auf sein Äußeres. Helga bemühte sich, nicht überrascht zu wirken. Haugg seinerseits schien durchaus überrascht zu sein.

»Was machst du denn hier?« Er wirkte fast etwas feindselig. In den ersten Wochen ihrer Zusammenarbeit hatte sie sich permanent konzentrieren müssen, um seinen Allgäuer Dialekt zu verstehen. Mittlerweile fiel es ihr so leicht, dass sie ihn nicht mal mehr wahrnahm.

»Entschuldige, dass ich dich so überfalle. Ich hatte versucht, dich übers Handy zu erreichen, aber das war aus.«

Haugg verschränkte die Arme. »Wenn ich frei habe, ist das immer aus. Weil ich nämlich freihabe.«

Helga ließ sich nicht abschrecken. Sie erzählte ihm, wie ihr Termin mit Herrn Brandt-Schmitt gelaufen war und welche Lösung jetzt im Raum stand.

Danach war es einen Moment still.

»Weiter als bis Füssen wollte ich eigentlich nicht weg von hier«, sagte er grummelig.

»Meizi und die Oberärztin sind dabei.«

Wieder war es einen Moment still. Bei der Erwähnung des Spitznamens der Rechtsmedizinerin hatte sie geglaubt, den Anflug eines Lächelns zu erkennen, doch der war augenblicklich wieder verschwunden.

»Das kann ich niemals meiner Frau erklären, wenn ich so viel weg bin. Nein, Helga, ich kann da nicht mit ins Team. So gern ich mit euch arbeite.«

»Habe ich schon befürchtet«, sagte Helga in freundlichem Ton, während sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Damit hatte sie überhaupt nicht gerechnet. Haugg zu verlieren, war für ihr Team ein schwerer Schlag. Meizi und er ergänzten einander bei Ermittlungen hervorragend.

»Du wirst schon Ersatz finden«, brummte Haugg und Helga merkte, dass das ihr Stichwort war, zu verschwinden.

»Ja, das wird kein Problem«, versicherte sie ihm etwas zu zickig, auch wenn sie eigentlich wenig Hoffnung hatte.

Die beiden verabschiedeten sich kühler als gewöhnlich und Helga machte sich auf den Weg in ihre kleine Wohnung, um zu packen.

Auf der Fahrt nach Berchtesgaden pochte der Motor des Volvos zwar immer wieder unangenehm laut, tat aber abgesehen davon brav seinen Dienst. Helga hing ihren Gedanken nach. Wen konnte sie fragen, um ihre mobile Einheit zu ergänzen? Außerhalb ihres Teams hatte sie sich mit kaum jemandem in Kempten gut verstanden. Gerhard war immer nett, den könnte sie anfragen, aber der stand kurz vor der Pension und hatte sicher kein Interesse, durch den ganzen Freistaat zu tingeln. Sonst fielen ihr keine Kollegen ein, die in Frage kamen. Sie hatte in Kempten auf die Schnelle noch alles erledigt, was es zu erledigen gab. Nichts hielt sie von ihrer neuen Aufgabe ab. Die Kommissarin dachte für einen schmerzhaften Moment an ihren Sohn, bei dem sie sich dringend mal wieder melden musste. Während sie auf der Autobahn dahinfuhr und die Zeit nur schleppend verging, hatte sie Mühe, nicht schwermütig zu werden. Der Gedanke, in Kempten dauerhaft angekommen zu sein, hatte ihr gefallen.

Sie aß ihre drei mitgebrachten mit Salami belegten Semmeln und war froh, als sie in der heraufziehenden Dämmerung auf dem Parkplatz der kleinen Pension Zum Löwen ankam – fast zeitgleich mit Meizis neuem BMW. In dem war sie sogar schon mal mitgefahren. Das Auto bot, bezogen auf Sauberkeit und Komfort, alles, was ihr Volvo nicht hatte. Aber auf den dunklen Lederbezügen hätte sich zweifellos auch niemand getraut, eine Semmel zu essen.

»Willkommen in der Pampa«, begrüßte Meizi die Kommissarin.

»Auch nicht mehr Pampa als die andere«, entgegnete Helga.

Dann sagte Meizi: »Ich habe auf der Fahrt mit Haugg telefoniert. Er bleibt dabei, dass er das seiner Frau gerade nicht antun kann. Obwohl er Lust hätte, dabei zu sein. Ich habe auch schon mit den Kollegen geredet, die hier mit den Ermittlungen begonnen haben. Sie haben mir gleich den Schlüssel zur Wohnung gegeben, in der die Tötungsdelikte verübt wurden. Die sind offenbar wirklich überlastet und verdammt froh, dass wir übernehmen. Wir bekommen noch Fotos vom Tatort und einen Bericht dazu.«

»Danke für die ersten Schritte. Wir gehen heute noch in diese Wohnung und verschaffen uns einen ersten Eindruck, sobald Dr. Sulzbach da ist. Sie hat mir geschrieben, dass sie unterwegs ist. Dann müssen wir auch noch kurzfristig Büros auftreiben, um uns zu besprechen und Hinweise zu sichten. Und wir müssen einen Ort für Befragungen finden.«

»Ich frage mal bei der Polizeiinspektion hier im Ort an. Mit den Leuten bei der PI sollten wir uns eh möglichst gut stellen.«

Helga betrachtete Meizi mit einem ernsten Gesichtsausdruck und versuchte, empathisch zu wirken, als sie sagte: »Ich verstehe ja, dass Haugg sich nicht wohl damit fühlt, seine Frau allein zu lassen. Noch dazu so plötzlich. Wenn du mir die Frage verzeihst: Ist das denn für deine Freundin ok?«

Meizi lachte kurz auf. »Ja, die Frage verzeihe ich dir schon. Hast du es noch nicht mitbekommen? Das mit Michaela ist schon seit ein paar Wochen rum. Verlobung gelöst und sie ist auch schon ausgezogen. Da brauche ich niemanden zu fragen.« Er zuckte mit den Schultern und drehte sich weg.

Helga entschied sich erst einmal, nichts weiter dazu zu sagen. Sie nahmen ihr Gepäck und betraten das Haus.

Frau Rösle hatte ihnen zwei Pensionen vorgeschlagen und bei Helgas Favorit netterweise schon drei Zimmer reserviert. Das zweistöckige alte Bauernhaus war mit dunklem Holz verziert. An jedem Fenster hing ein üppig bepflanzter Blumenkasten. Drinnen war der Geruch muffig. Aber Frau Zimmerer, eine freundliche Wirtin in geblümtem Kleid, hieß sie so herzlich willkommen, dass sie sich direkt wohl fühlten. Die Zimmer waren rustikal eingerichtet, jeweils mit einem kleinen Schreibtisch und einem Bett. Das Beige der Bäder war klar aus dem letzten Jahrhundert. Auf Kosten der Steuerzahler waren eben keine teuren Unterkünfte drin. Nachdem sie zwei nebeneinanderliegende Zimmer im ersten Stock bezogen hatten, machten sie gemeinsam in der Gaststube der Pension Brotzeit, während sie auf die Ankunft der Rechtsmedizinerin warteten.

»Dass wir als mobile Ermittler Kollegen unterstützen, die gerade unterbesetzt sind, klingt ja nach einer guten Idee«, erklärte Meizi in eine längere Stille hinein, »aber denkst du, sie lassen uns das länger machen? Oder war das jetzt nur eine kurzfristige politische Intervention, um dem Brandt-Schmitt in die Parade zu fahren?«

»Darüber habe ich auch schon nachgedacht. Es wird sicher davon abhängen, wie wir uns bewähren. Die Ermittlungen in diesem Fall werden in der Kripo und durch das Ministerium von allen Seiten genau beobachtet, da müssen wir uns nichts vormachen. Wir dürfen uns keine Fehler erlauben.«

»Wir machen doch nie Fehler«, erwiderte Meizi grinsend.

»Ohne Fehler hätte ich gar nicht erst aus Berlin wegmüssen«, widersprach Helga mit einem etwas wehmütigen Lächeln. Sie sprachen dieses Thema so gut wie nie an und sie sah, dass es Meizi auf der Zunge lag, zu fragen, was damals passiert war. Aber genau in diesem Moment betrat Frau Dr. Sulzbach mit einer breiten Tasche die Wirtsstube und ließ sich auf einen der abgenutzten Holzstühle sinken.

»Was für ein Tag«, murmelte sie halblaut. »Ich will jetzt nur noch etwas essen und dann schnellstmöglich in mein Bett. Der Verkehr auf den letzten Kilometern war eine Katastrophe und ich musste auf die Schnelle vorher noch viel abarbeiten, um die nächsten Tage Luft zu haben für den neuen Fall.«

Sie winkte die Wirtin zu sich, bestellte nach einem kurzen Blick in die Karte eine Ramsauer Käseplatte und stützte dann erschöpft den Kopf auf die Hände.

Helga und Meizi warfen sich einen Blick zu, dann erklärte die Kommissarin: »Um ganz ehrlich zu sein, war unser Plan, heute noch kurz in die Wohnung zu gehen, um uns einen ersten Eindruck zu verschaffen.«

Die Ärztin blickte auf und verdrehte die Augen. Dann nickte sie.

»Verständlich, aber lassen Sie mich wenigstens noch in Ruhe etwas essen. Und ich bestelle mir wohl besser noch einen Kaffee dazu.«

Familienbande

Die beiden Doppelhaushälften wirkten gut in Schuss und waren sogar frisch weiß gestrichen. Blumenkästen zierten die schmalen Fenster auf beiden Seiten. Von den nahezu perfekt gemähten Rasenflächen vor und hinter den Häusern in dieser Straße bis hin zu den ordentlich aufgeräumten Gartenhäuschen – hier strahlte alles wie eh und je Normalität aus, mit deutlicher Schlagseite zur Spießigkeit. Durch gekippte Fenster wehten die Geräusche verschiedener Fernseher, das Klappern von Geschirr und die Gespräche trauter Familien beim Abendessen heraus zu ihr. Ansonsten schien alles still zu sein.

Annalena stand den Doppelhaushälften gegenüber im dunklen Schatten einer großen Eiche und beobachtete die linke Haushälfte, in der ihre Tante wohnte. Die liebe Hilde schien langsam in die Jahre zu kommen. Vom Auto aus war es Annalena mit Hilfe ihres Laptops ein Leichtes gewesen, in das Smart-Home-System einzudringen. Damit konnte man durch die kleine Kamera an der Tür beobachten, wer sich dem Haus näherte, die Beleuchtung in allen Zimmern einstellen und problemlos die Alarmanlage aktivieren – oder deaktivieren. Laut des Systems brannte nur unten im Wohnzimmer Licht, dem Zimmer auf der anderen Seite des Hauses. Da es draußen bereits dämmerte, saß Tante Hilde sicher vor dem Fernseher und trank ein Glas von ihrem lieblichen Rotwein, der Annalena früher bei jedem Versuch beeindruckende Kopfschmerzen beschert hatte. Soweit Annalena es bisher beurteilen konnte, wurde das Haus von niemandem ausgespäht. Ausgenommen von ihr selbst natürlich. Wenn es den Mördern ihres Bruders darum ging, sie zurück in den Ort zu locken, warum lauerten sie ihr hier nicht auf? Wussten sie vielleicht gar nichts von Annalenas Tante? Dann hätten sie echt schlecht recherchiert. Warteten sie stattdessen bei ihrem Elternhaus? Oder hatten sie Annalena schon seit ihrer Ankunft im Visier und sie merkte es nur nicht? Waren die Typen besser als sie? Ein ungemütlicher Schauer wollte sich über ihren Rücken ausbreiten, doch schnell schüttelte sie ihn ab. Zweimal hatte sie es in der Vergangenheit bei Jobs schon erlebt, dass frühere Auftraggeber ihr eine Falle stellen wollten, und beide Male war sie nur durch ihre Vorsicht mit dem Leben davongekommen. Erst letztes Jahr hatte ein Mitglied der Mafia ihre Wohnung aufgespürt und angezündet. Aber wer hatte hier ihre Familie angegriffen?

Annalena löste sich aus dem Schatten des Baumes, um in betont gemütlichem Tempo die Straße entlangzugehen. Sie fiel in Jeans und dunklem Top in der Dämmerung sicher niemandem auf. In ihrer Kindheit waren sie und Ben hier oft umhergeschlichen, hatten zum Spaß die Nachbarn ausspioniert und Möglichkeiten gesucht, sich ohne Spuren zu bewegen, und sich dabei gegenseitig angespornt, noch leiser, noch unauffälliger zu sein. Als hätten sie schon damals mit Annalenas Ausbildung begonnen und unbewusst die ersten, recht tapsigen Trainingseinheiten absolviert.

Annalena nutzte jetzt eine Lücke zwischen zwei Häusern, deren Fenster dunkel waren, um rasch über einen Zaun zu springen. Von hier aus kam sie erfahrungsgemäß ungesehen und in weniger als zwei Minuten an die Rückseite des Hauses ihrer Tante heran. Noch schnell durch den Garten der alten Frau Brembeck. Seit wann lag denn hier Kinderspielzeug herum? Entweder hatte Frau Brembeck mittlerweile Enkel bekommen oder hier wohnte inzwischen jemand anderer. Annalena wäre im Dunkel der Dämmerung beinahe über einen kleinen Bagger gestolpert. Sie stoppte gerade noch rechtzeitig ihren Fuß, um keinen Lärm zu verursachen.

Eine schnelle Bewegung vor ihr ließ sie aufschrecken. Sie rollte sich instinktiv zur Seite ab, um einem möglichen Schlag auszuweichen. Vor sich sah sie nun aber nur eine schwarze, dicke Katze, die durch die Nacht pirschte. Der Tod ihres Bruders zerrte an Annalenas sonst so entspanntem Nervenkostüm. Ihre Ruhe und Gelassenheit waren fort. Warum nur hatte er sterben müssen? Ihr kam der grauenhafte Gedanke, dass sie der Grund dafür sein konnte. Sie, die sich seit Jahren tief in den unterschiedlichsten menschlichen Abgründen herumgetrieben hatte. Konnte das sein? Und wer würde dann dahinterstecken? Ihr fielen ein paar Namen ein, die in Frage kamen. Aber waren diese Leute überhaupt noch aktiv?

Sie erhob sich wieder, kletterte über einen kleinen, intensiv nach Lack riechenden Lattenzaun und über die niedrige Hecke ihrer Tante, ging für einen Moment in die Hocke und betrachtete das Haus. Die orangefarbenen Vorhänge waren alle zugezogen. Im Wohnzimmer sah man die wechselnden Schemen einer Fernsehsendung durch den Vorhang. Auch von dieser Seite beobachtete niemand das Haus.

Eine kleine Mauer half ihr, an den unteren Rand des Balkons im ersten Stock zu gelangen. Nun zog sie sich am Metallgeflecht des Balkongitters nach oben. Ihre Arme schmerzten noch von der Kletterpartie ihres letzten Auftrags in Zeitz. Seitdem waren nur ein paar Stunden vergangen und dennoch fühlten sich die Erinnerungen schon an, als stammten sie aus einem ganz anderen Leben. Die Balkontür war gekippt und ließ sich problemlos aufhebeln. Annalena betrat das dunkle Gästezimmer und schloss die Tür leise hinter sich. Am besten durchsuchte sie das Haus erst einmal auf Wanzen und unerwünschte Gäste, dann musste sie dringend in Ruhe mit ihrer Tante reden.

Vor ihr räusperte sich jemand und Annalena fuhr zusammen. Wie eine blutige Anfängerin stand sie da. Als läge ein Nebel auf ihrer ganzen Wahrnehmung und ihren sonst so trainierten Reflexen. Sie war nicht mal in Deckung gegangen und rechnete mit einem Schlag, einem Schuss, doch nichts geschah.

»Setz dich ruhig aufs Bett«, schlug eine leise Frauenstimme vor.

»Tante Hilde?«, fragte Annalena. »Warum erschreckst du mich so? Ich hatte einen halben Herzinfarkt!«

Das Licht ging an und ihre Tante stand in der Tür. Die Haare mittlerweile fast vollständig grau, die Falten tiefer, aber der Blick ihrer grünen Augen hatte nichts an Klarheit verloren.

»Leni, normalerweise klingelt man auch und steigt nicht über den Balkon ein. Und wenn man schon einsteigt, dann bitteschön etwas unauffälliger und nicht wie ein Trampeltier. Bist du nachlässig geworden oder nimmt dich Bens Tod so mit?«

»Ich wollte sichergehen, dass du nicht beobachtet wirst. Wer auch immer meinen Bruder umgebracht hat, will sicher auch mir eine Falle stellen. Da halte ich es für wahrscheinlich, dass die Täter ihre Augen hier oder bei unserem alten Haus haben«, erklärte Annalena.

»Mich beobachtet niemand, ohne dass ich das merke. Ich wusste schon in dem Moment, als du meine Alarmanlage abgeschaltet hast, was passiert. Schadet gar nicht, wenn man mehr als eine Alarmanlage hat. Nach dem Ausknipsen der ersten sucht niemand nach einer zweiten.« Sie lächelte für einen Augenblick. Dann verdüsterte sich ihr Gesichtsausdruck wieder. »Du hast dich hier lange nicht mehr blicken lassen, nicht mal zur Beerdigung deines Vaters hast du dich bei mir gemeldet.« Sie sah Annalena vorwurfsvoll an.

Die hielt ihrem Blick stand, fand aber keine angemessenen Worte.

»Dieser Mord ist eine seltsame Angelegenheit, ganz ehrlich«, fuhr Hilde fort. »Etwas in dieser Größenordnung gab es hier lange nicht. Und schon gar nicht so, dass die Bullen etwas davon mitbekommen hätten.«

»Weißt du schon Details?«

»Nicht viel, es muss letzte Nacht passiert sein. Bens Putzfrau wollte heute Morgen saubermachen und hat die fünf Leichen gefunden.«

»Fünf?« Annalena blieb der Mund offenstehen. Sie brauchte einen Moment, um das zu verarbeiten. »Vielleicht sind sie doch nicht hinter mir her? Sondern es geht um etwas ganz anders?«, grübelte sie dann.

Ihre Tante strich ihr über die Wange.

»Entweder das oder jemand hat eine Menge Kollateralschäden in Kauf genommen. Nimm dich in Acht, Leni! Auf jeden Fall muss das Ganze barbarisch ausgesehen haben. Gut, dass dein Vater das nicht mehr erleben musste. Aber mehr als die Tatsache, dass es mit Ben und seiner Freundin fünf waren, die in der Wohnung deines Bruders gefunden wurden, weiß ich nicht. Die Zeiten, in denen ich hier gute Kontakte zur Polizei hatte, sind leider vorbei, seit Erwin in Pension ist.«

»Wie geht es ihm?«, fragte Annalena und dachte daran, wie der damals schon alte Mann sie einmal zum Spaß mit Blaulicht von der Schule abgeholt hatte. An ihrem Geburtstag.

»Trinkt zu viel, aber sonst ganz gut. Ein großer Angler mittlerweile. Wollen wir runtergehen und einen Happen essen, Leni?«

Annalena schüttelte den Kopf.

»Ich will möglichst schnell in die Wohnung, bevor die Polizei alles durcheinanderbringt. Ich kriege jetzt eh keinen Bissen runter.«

»Kann ich verstehen«, sagte ihre Tante. »Du kannst hier im Gästezimmer schlafen, wenn du möchtest.«

»Danke für das Angebot, aber ich schlafe in unserem alten Haus. Ben meinte am Telefon, er habe es in Schuss gehalten. Wir wollten eigentlich bald ein Ferienhaus daraus machen.«

Sie stockte und spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Sie wandte sich ab. Hilde klopfte ihr auf den Rücken. Die Tante hatte immer geholfen, wenn es einem von ihnen nicht gut ging oder jemand aus der Familie Unterstützung brauchte, und hatte sie früher mehr als einmal vor größeren Problemen bewahrt, aber im Umgang mit Gefühlen wirkte sie schon seit Annalenas Kindertagen unbeholfen. Weder kleine Schürfwunden am Knie damals noch die Krise, die jetzt im Raum stand, ließen sie wirklich mitfühlend wirken. In diesem Moment wurde Annalena bewusst, dass außer ihnen beiden jetzt niemand mehr von der Familie übrig war. Sie schluckte schwer.

»Dann ist ja alles geklärt«, erklärte Tante Hilde, während Annalena ihre Tränen wegwischte. »Wenn du etwas brauchst, melde dich. Die Nachbarn hier sind Schnarchnasen, ich denke, du kannst getrost zur Tür rausgehen, ohne aufzufallen. Kennst du Bens Adresse?«

Die kannte Annalena. Der Name Watzmanngasse war nicht schwer zu merken und sie hatte Ben dort kurz nach dem Einzug sogar besucht.

Annalena fuhr Richtung Bahnhof und bog dann in langsamem Tempo in die Watzmanngasse ein. Vor dem Haus war niemand zu sehen. Die Polizei hielt es offenbar nicht für nötig, die Wohnung zu bewachen. Eigentlich hatte sie vorgehabt weiterzufahren und in einer Nebenstraße zu parken, aber ihre Ungeduld gewann die Oberhand. Sie wollte so schnell wie möglich in Bens Wohnung. Wie konnte sie sich unauffällig im Haus bewegen?? Sie hatte noch ihre Lieferantenuniformen im Bus, aber kamen hier im Ort um diese Zeit noch Pakete oder Essenslieferungen? Sie wusste es einfach nicht mehr. Annalenas Zeit in Berchtesgaden fühlte sich unglaublich weit weg an.

In dem dreistöckigen weißen Flachbau brannte nur oben in der Wohnung von Bens Nachbarn Licht. Wer da wohnte, wusste sie nicht. Unter Ben wohnte eine Familie mit mehreren Kindern, das hatte ihr Bruder am Telefon erzählt. Bei dem Gedanken daran, dass sie nie wieder seine tiefe Stimme und sein Lachen hören würde, stiegen ihr erneut Tränen in die Augen. Annalena stieg aus, atmete tief durch und ging zum Haus mit der metallenen Nummer 17. Die Tür war nicht richtig eingerastet. Nachdem sie sich versichert hatte, dass niemand sie von der Straße aus beobachtete, untersuchte Annalena das Schloss mit ihrer kleinen Taschenlampe. Das Blech war so verbogen, dass weder Falle noch Riegel zuschnappen konnten. Das war kein Zufall, dafür war der Schaden zu deutlich. Vermutlich hatten es die Täter beschädigt, um ihrem Bruder drinnen, direkt vor der Wohnungstür auflauern zu können. Annalena schlüpfte ins Haus und schlich langsam im Dunkeln die Stufen hinauf. Die abgestandene Luft roch leicht nach Zitrone. Hier wurde häufiger geputzt als gelüftet.