Was man so alles tut kurz vor dem Weltuntergang - Arno Wilhelm - E-Book

Was man so alles tut kurz vor dem Weltuntergang E-Book

Arno Wilhelm

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Beschreibung

Was tut man angesichts des drohenden Weltuntergangs? Lässt man sich auf eine neue Liebe ein? Bricht man zu einer letzten Reise auf? Oder begeht man einen Mord? In einer Woche findet das Jüngste Gericht statt. So lautet die Pressemitteilung der Götter an die Weltbevölkerung. Da hilft es auch nichts, die Ankündigung als Fake-News abzutun. Der Verkäufer Thomas will seiner Freundin die desaströse Neuigkeit verheimlichen, scheitert aber und wird vor die Tür gesetzt. Nicht nur er muss versuchen, die nächste (oder letzte?) Woche zu nutzen. Julia gründet kurzerhand ihre eigene Religion. "Star Wars"-Fan Jenny will herausfinden, ob „Meister Yoda“ tatsächlich ein Gott ist. Verwaltungschef Manfred müht sich ab, die Ordnung in seiner Behörde aufrechtzuerhalten. Der Polizist Achim sinnt auf Rache. Jack bereitet sich auf sein letztes Konzert vor: am Brandenburger Tor in Berlin bei der großen Party zum Ende der Welt. All ihre Wege zwischen dem Allgäu, der Ostsee und Berlin kreuzen sich — nicht immer glücklich. Und dann warten ja noch Himmel und Hölle ...

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Die Story

Was tut man angesichts des drohenden Weltuntergangs?

Lässt man sich auf eine neue Liebe ein?

Bricht man zu einer letzten Reise auf?

Oder begeht man einen Mord?

In einer Woche findet das Jüngste Gericht statt. So lautet die Pressemitteilung der Götter an die Weltbevölkerung. Da hilft es auch nichts, die Ankündigung als Fake-News abzutun. Der Verkäufer Thomas will seiner Freundin die desaströse Neuigkeit verheimlichen, scheitert aber und wird vor die Tür gesetzt. Nicht nur er muss versuchen, die nächste (oder letzte?) Woche zu nutzen. Julia gründet kurzerhand ihre eigene Religion. »Star Wars«-Fan Jenny will herausfinden, ol »Meister Yoda« tatsächlich ein Gott ist. Verwaltungschef Manfred müht sich, die Ordnung in seiner Behörde aufrechtzuerhalten. Der Polizist Achim sinnt auf Rache. Jack bereitet sich auf sein letztes Konzert vor: am Brandenburger Tor in Berlin bei der großen Party zum Ende der Welt.

All ihre Wege zwischen dem Allgäu, Frankfurt am Main, Göttingen, Hannover, der Ostsee und Berlin kreuzen sich schicksalhaft. Und dann warten ja noch Himmel und Hölle …

Der Autor

Arno Wilhelm

wurde 1988 in Karl-Marx-Stadt geboren, wuchs im Allgäu auf und lebt heute mit Frau und Kindern als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Technischen Universität in Berlin. Er hat zwar bis heute kein Taufbecken aus der Nähe gesehen, dafür aber im bayerischen Religionsunterricht eine ausführliche katholische Grundausbildung durchlaufen. Arno Wilhelm ist Begründer der Lyrik-Lesebühne »Dichtungsring« in Berlin-Neukölln. Seit 2009 tritt er als Poetry-Slammer auf. Mit seinen Texten war er beim ARTE Webslam und im Literaturautomaten Düsseldorf vertreten. Sein Gedicht »Moderne Kleingärtnervereine« wurde von RTL als Poetryclip verfilmt. Er hat Gedichtbände wie »Ich wär gern ein Pandabär« und den Roman »Jack Rodman — die ganze Wahrheit« veröffentlicht (Jack Rodman lässt es sich übrigens nicht nehmen, auch beim Weltuntergang eine Rolle zu spielen).

Mehr Info: www.arno-wilhelm.de

Inhaltsverzeichnis

1 / RON

2 / THOMAS

3 / MANFRED

4 / JUSTUS

5 / JENNY

6 / THOMAS

7 / JULIA

8 / RON

9 / JUSTUS

10 / MANFRED

11 / THOMAS

12 / JENNY

13 / JULIA

14 / JUSTUS

15 / JENNY

16 / RON

17 / JUSTUS

18 / ACHIM

19 / THOMAS

20 / JENNY

21 / MANFRED

22 / HELGA

23 / JULIA

24 / RON

25 / ACHIM

26 / JUSTUS

27 / THOMAS

28 / JENNY

29 / JULIA

30 / MANFRED

31 / RON

32 / ACHIM

33 / JUSTUS

34 / THOMAS

35 / JENNY

36 / JULIA

37 / MANFRED

38 / RON

39 / ACHIM

40 / JUSTUS

41 / THOMAS

42 / JENNY

43 / JULIA

44 / RON

45 / ACHIM

46 / JUSTUS

47 / MANFRED

48 / JENNY

49 / RON

50 / JULIA

51 / RON

52 / ACHIM

53 / MANFRED

54 / JUSTUS

55 / JENNY

56 / CARMEN

57 / JULIA

58 / RON

59 / ACHIM

60 / RON

61 / ACHIM

62 / GOTT

63 / THOMAS

64 / URSULA

65 / JULIA

66 / JENNY

67 / THOMAS

68 / DANIELA

69 / RON

70 / JUSTUS

71 / RON

72 / JACK

73 / THOMAS

74 / GOTT

75 / MANFRED

76 / JUSTUS

77 / ACHIM

78 / THOMAS

79 / RON

80 / THOMAS

81 / GOTT

82 / JENNY

83 / GOTT

84 / JACK

1 / RON

Ron stand hinter seiner Burger King-Kasse und konnte die Augen kaum noch aufhalten. Er kratzte sich am unrasierten Kinn und sah auf die Uhr. Zehn Minuten bis zum Ende der Schicht. Zehn Minuten, bis er sich zum Schlafen in seinen VW-Bus zurückziehen konnte. Der mit Rost übersäte schwarze T3 stand auf dem Parkplatz neben der Filiale. Die Rückbank war umklappbar, sodass sich darauf ganz passabel schlafen ließ, und Bettzeug hatte Ron zur Sicherheit immer dabei. Zuhause warteten ein warmes und deutlich bequemeres Bett, ein zumindest nicht vollkommen leerer Kühlschrank und eine Dusche auf ihn. Aber in seinem Zustand durfte er nicht mehr Auto fahren. Er rieb sich die Augen und strich die braunen Strähnen nach hinten. Seit beinahe vierzig Stunden war er jetzt wach und spürte jede einzelne von ihnen schwer auf den Lidern liegen. Die Bässe dröhnten jetzt noch in seinen Ohren und vom Tanzen spürte er die Beinmuskulatur nur allzu deutlich. Auf die Party zu gehen hatte sich definitiv gelohnt und war jede Nachwirkung wert, auch wenn er sie mit seinen vierundzwanzig Jahren deutlich mehr spürte, als es mit achtzehn der Fall gewesen war. Sämtliche der sieben Elektro-DJs hatten einfach hammermäßig aufgelegt. Selten rastete eine Menge so komplett aus beim Feiern. Und er mittendrin. Dank einer glücklichen Fügung hatte der Filialen-Chef auch noch einen Auswärtstermin. So begegneten sie sich heute nicht, was Ron bei seiner massiven Wodka-Bull-Fahne vermutlich vor akutem Job-Verlust bewahrte.

Später, wenn er sich ausgeschlafen hatte, konnte er nach Hause fahren, ein Guten-Morgen-Tütchen rauchen und entspannen. Wahrscheinlich würde es eher ein Guten-Abend-Tütchen werden, denn wenn er erstmal im Bus tief und fest pennte … Drei freie Tage lagen vor ihm. Alles, was er für diese Freizeit tun musste, war, sich noch zehn Minuten zusammenzureißen.

Er bemerkte die Menschenmenge erst, als sie anfing, singend und krakeelend durch die Tür hereinzuquellen. Was war denn in die gefahren? Nicht dass er grundsätzlich etwas gegen Aufruhr hatte, aber hier im Industriegebiet sah man kaum je solche Horden auf einem Fleck, schon gar nicht morgens um neun … Meist bestand seine Kundschaft aus Anzugträgern. Banker und Geschäftsleute, die in den umliegenden Gebäuden arbeiteten und jetzt, von dem plötzlichen Lärm irritiert bis empört, den Eingang in Augenschein nahmen. Die Vordersten in der nicht enden wollenden Besucherschar bauten sich vor Ron auf, voll wie die Haubitzen. Bei genauem Hinsehen wirkten sie seltsam ernst.

»Was darf’s denn sein?«, begrüßte er sie lächelnd. Ron konnte sie nur schwer einordnen. Vom Typ Metal-Festival-Besucher bis hin zum Technofan war allerhand vertreten. Haare in allen Farben von Tiefblau bis Pink. Lang und fettig, lang und gepflegt, kurz und voller Gel in langen Dornen vom Kopf abstehend. Manche in der Schlange trugen Band-Shirts, andere Unterhemden. Dazwischen gab es auch ein paar, die überraschend seriös aussahen. Der mit dem Schnauzer hinten links arbeitete hier um die Ecke im Baumarkt, da war sich Ron sicher. Was war das nur für ein Völkchen, das da vor ihm stand?

»’n Menü. Mit Pommes«, lallte der Bartträger vor ihm.

»Welchen Burger hätten Sie gerne?«

Ron fühlte sich jetzt wieder wacher. Die machten einen Lärm, da hätte selbst ein Toter nicht den Nerv, ruhig zu liegen, dachte er, während er geduldig auf die Antwort wartete.

Aus dem hinteren Teil der Schlange brüllte es ständig aus vielen Mündern: »Apokalypse« und davon, dass das Ende nahe sei. Solche Spinner! Einige trugen Transparente, auf denen hirnfreie Endzeit-Slogans standen. Wahrscheinlich bediente er hier gerade eine Gruppe Spaßvögel, die eine Demonstration angemeldet hatten. Eine neue Sekte? Hier in der Einöde aus Stahl und Beton bekam man sicher jede Demo genehmigt. Man störte ja kaum jemanden, solange man nicht in die Bürogebäude stürmte. Oder dem Burger King-Personal das wohlverdiente Schichtende versaute. Es konnte auch eine Gruppe Schauspieler sein, die für eine Rolle üben mussten.

»Es tut mir leid«, sagte Ron zu dem verschwitzten, korpulenten Mann vor dem Tresen, der sich immer noch nicht dazu äußerte, welchen Burger er wollte. »Meine Kollegin wird deine Bestellung fertig aufnehmen, ich habe jetzt Feierabend.«

Er drehte sich um und hielt nach dem hübschen Gesicht von Dana Ausschau, doch die war wie vom Erdboden verschluckt. Genauso alle anderen, die zur Ablösung in Frage kamen. Nur Benny stand noch hinter der Durchreiche und legte Burger-Fleisch auf die Brote, der Rest der Mitarbeiter war nicht zu sehen. Die hatten sicher keinen Bock, sich mit den Freaks herumzuschlagen. Trotzdem war es ungewöhnlich. Auch wenn der Chef nicht da war, wurde es nicht gern gesehen, wenn man sich so massiv um die Arbeit drückte.

»Is’ sowieso Feierabend. Für uns alle«, sagte der Vollbart vor Ron und gestikulierte wild. Von hinten brüllte wieder einer, diesmal, dass er Hunger habe und sie sich gefälligst beeilen sollten. Zustimmendes Gemurmel von allen Seiten. Ron resignierte.

»Okay, nochmal: Welcher Burger darf’s denn sein?«

In dem Moment drängten sich ein paar junge, kräftige Männer, die nervös weiter hinten in der Schlange gewartet hatten, an der Theke vorbei. Sie kamen auf ihn zu, schubsten ihn zur Seite und stopften gierig Burger in sich hinein. Für einen Augenblick überlegte Ron, sich ihnen in den Weg zu stellen, doch die Judo-Stunden hatte er damals viel zu schnell abgebrochen. Außerdem lag die Müdigkeit zu schwer auf ihm, um auch nur einen Funken an Autorität auszustrahlen.

Er rief nur kraftlos: »Hey, das dürft ihr nicht!« und dass er die Polizei holen würde. Dann zog er sich zu den Fritteusen zurück, um außer Reichweite zu sein, falls jemand aggressiv wurde. Sein Blick fiel auf die aufgerissene Packung mit Bild-Zeitungen, die Dana vorhin hatte auspacken und einräumen wollen. Da stand auch irgendetwas von Apokalypse. Verwirrt begann er zu lesen.

Egal, ob Weltuntergang oder nicht, so viel war Ron knapp zwei Stunden später klar: Der Job war weg und zwar für immer. Sein Chef hatte seinem Jähzorn freien Lauf gelassen, als sie ihm am Telefon von der Plünderung in der Filiale berichtet hatten. Sie hätten sich gegen die Massen an Menschen eh nicht wehren können, noch dazu, wo sich die anderen Mitarbeiter alle in die hinteren Räume zurückgezogen hatten. Auch Benny hatte sich sofort aus dem Staub gemacht, als es richtig losging. Aber darauf hatte sein Chef keine Rücksicht genommen. Was sollte man denn tun in so einem Moment? Sie konnten ja schlecht die Kundschaft gewaltsam fernhalten. Bei der Polizei war niemand ans Telefon gegangen. Mit Vorwürfen und Anschuldigungen übergossen, hatte Ron sich den Hörer ein Stück weiter vom Ohr weggehalten. Er hatte zu allem Ja und Amen gesagt und danach befunden, dass es doch keine gute Idee war, den Rausch auf dem Parkplatz auszuschlafen. Fehlte heute gerade noch, dass ihn sein Chef weckte und nochmal live zur Schnecke machte. Also hatte er sich über eine Stunde nach dem Ende seiner Schicht noch einen starken Kaffee gemacht und beschlossen wegzufahren. Die Plünderung, der Streit mit seinem Chef und der Kaffee hatten ihn soweit ausgenüchtert, dass er sich für fahrtüchtig erklärte. Es gab viel schönere Dinge, die er mit den paar Tagen, die ihm noch bleiben würden, anfangen konnte. Zwar war er noch nicht offiziell gekündigt, aber er musste vermutlich genau so lange auf das Schreiben warten, wie sein Chef brauchte, um bis zum Büro zu kommen. Nach dem, was er heute gesehen hatte, zweifelte Ron nicht daran, dass die Welt bald untergehen würde. Egal, ob all diese Zeitungsartikel Fälschungen waren oder nicht, die Nachricht und deren Ernsthaftigkeit allein genügten schon, um die Menschheit in der nächsten Woche ins Verderben zu stürzen. Es konnte nicht allzu lange dauern, bis die ersten Atomraketen gezündet wurden, weil irgendwer durchdrehte. Vermutlich tobte bis spätestens Freitag der nächste Weltkrieg.

Also hatte er sich in seinen Bus gesetzt, das neue Album von AC/DC aufgedreht und war losgefahren, Richtung Norden. Er war nicht sicher, wo es hingehen sollte. Der Gedanke, ans Meer zu fahren, war zu klischeehaft in so einer Situation. Er ließ Frankfurt schnell hinter sich und bahnte sich seinen Weg auf die Autobahn. Erstaunlicherweise waren bis jetzt nicht allzu viele Leute unterwegs. Wo trieb es Menschen hin im Angesicht des Endes? Nach Hause? In ihren Heimatort? In die Städte? An die Südsee? Er konnte es sich nicht vorstellen. Die Nachrichten hielten die meisten im Moment vermutlich zuhause vor dem Fernseher, wenn sie sich nicht gerade zu einem unüberschaubaren Mob zusammenrotteten und in einen Burger King im Industriegebiet einfielen. Plünderungen bei Burger King. Hatte es sowas schon mal gegeben? Bei Juwelieren oder großen Elektronikmärkten, klar, aber wer plünderte schon einen Fast Food–Laden? Wir leben in einer komischen Welt, dachte Ron, und zündete sich seine erste Tüte des Tages an. Es war Zeit, ein bisschen vom Gas zu gehen und den Tag zu genießen. Schließlich schien die Sonne. Vielleicht fuhr er erstmal Richtung Hamburg. Von dort aus konnte er immer noch schauen, in welche Richtung es weiterging. Für ein paar Tage hatte er immer ein paar Unterhosen, ein T-Shirt, eine Hose und Dosenfutter im Bus verstaut. Er inhalierte tief und entspannte sich ein wenig. Von seinem Chef so angeschrien zu werden, wenn auch nur durchs Telefon, hatte ihm mehr zugesetzt, als er sich gerne eingestand.

Er überlegte, ob er seine Mutter anrufen sollte. Wenn er sich richtig erinnerte, war sie gerade für elf Wochen zu einem Forschungsaufenthalt in Dänemark. Wie viele davon waren jetzt um? Es spielte genau genommen keine Rolle. Sie hörten sich nur alle paar Monate und sahen sich quasi gar nicht mehr. Sie hatten einander nicht viel zu sagen, was machte es da schon, wenn die Welt unterging. Rons Vater hatte sich aus dem Staub gemacht, da war er noch ein Kleinkind gewesen, und keinen Hinweis hinterlassen, wie man ihn hätte erreichen können. Auch sonst hatte Ron kaum Verwandte, die von Bedeutung waren. Der Einzige aus seiner Familie, mit dem Ron etwas Kontakt hatte, war sein Onkel. Den würde er später anrufen. Es gab nicht viele Leute, die er angesichts des nahenden Endes noch einmal hören wollte, und ihm fiel wenig ein, was es noch zu tun gab. Das war ein bisschen traurig und ein bisschen schön, dachte er bei sich. Ron verlor sich in den Wirrungen seiner Gedankengänge.

Als die Tankanzeige anfing, in den roten Bereich zu geraten, hatte er schon fast zweihundert Kilometer geschafft. Die Autobahnen füllten sich mit jeder Stunde stärker und er hatte sich schon mehr als einmal gefragt, ob er nicht umkehren sollte. Nun trieb es die Leute wohl doch noch aus den Häusern. Zuhause wartete ein viel schöneres Bett auf ihn als das hinten im Bus, dazu gutes Gras und Ruhe. War das schlechter als das Meer? Er hatte das Gefühl, dass jemand mit aller Kraft an seinen Augenlidern zog. Die Müdigkeit steckte in jeder Bewegung. Er musste unbedingt bei der nächsten Raststätte rausfahren. Der Kampf gegen den wiederholten Sekundenschlaf war hart. Ein Kampf, den Ron nach wenigen Runden verlor. Ein lautes Krachen riss ihn sofort wieder zurück in die Realität. Der Gurt drückte sich in seine Schulter.

»Vollidiot! Jetzt schauen Sie mal, was Sie gemacht haben!«

Ron versuchte, sich zu orientieren. Er war jemandem auf die Karre gefahren und hörte den Mann brüllen und fluchen. Und er sah ihn gestikulieren. Wieso brüllte er eigentlich nicht in Rons Richtung? Das Auto vor ihm sah verdammt teuer aus und er hatte keine Vollkasko. Wieso war er nicht in Kassel rausgefahren? Er stieg aus. Der Fahrer des Mercedes vor ihm trug einen dunkelblauen Anzug und eine gelockerte, orange Krawatte. Der Typ war wohl so um die vierzig. Sein Anzug saß so gut, dass er kaum von der Stange sein konnte. Und der Mann brüllte immer noch.

»Mein Wagen ist im Arsch! Wenn man nicht Auto fahren kann, sollte man es besser lassen.«

Er war puterrot im Gesicht und schien jeden Augenblick so weit zu sein, sich zu prügeln. Er wirkte, als hätte er unter dem schicken Anzug durchaus die Muskeln dafür.

»Es tut mir ehrlich leid«, begann Ron, doch der Anzugträger achtete nicht auf ihn. Er schrie einen kleinen, untersetzten Mann an, der vor ihm stand und abwehrend die Hände hob, als hätte er Angst, der Anzug könne ihn schlagen. Ron sah sich die Autos genauer an und erst jetzt kam in seinem müden, benebelten Hirn die Lage der Fakten vollständig an. Der Anzug sah sich den Bus an, der da mit dem Heck seines Wagens Bekanntschaft gemacht hatte, erblickte Ron und deutete auf ihn.

»Der junge Mann hier hat auch einen Schaden an seinem Auto. Wie wollen Sie das alles bezahlen? Sind Sie überhaupt vernünftig versichert?«

Ron wischte sich den Schweiß von der Stirn. Der Anzug gab nicht ihm die Schuld, sondern dem kleinen Dicken. Dessen Ford Fiesta stand auffällig dicht vor dem Mercedes. Genau genommen sah es so aus, als wäre der Motorblock des Mercedes eine innige Verbindung mit dem Heck des Fords eingegangen. Dagegen waren die Dellen, die Rons Bus verursacht hatte, ziemlich lächerlich. Der Bus selbst schien, abgesehen von einer leicht eingedrückten Stoßstange, kaum etwas abbekommen zu haben. Erst jetzt nahm Ron den Stau wahr, den sie gerade verursachten. Ein Hupkonzert ertönte im Hintergrund.

»Können wir das nicht friedlich regeln?«, fragte er die beiden Männer, die ihn angesichts seiner Einmischung erstaunt anblickten.

Der Dicke sah seine Chance.

»Genau, das Ende der Welt naht, Mann. Nehmen Sie’s nicht so schwer mit ihrem Auto. Das letzte Hemd hat keine Taschen, wissen Sie doch.«

Er lachte halbherzig und begutachtete den Anzug einen Moment aufmerksam, als ob er darauf wartete, ob dieser ihn nun doch schlagen oder ihm zustimmen würde.

Der Mann sah frustriert drein und schien nachzudenken, dann zuckte er mit den Schultern.

»Stimmt schon. Aber wie zur Hölle komme ich jetzt nach Hannover?«

»Ich kann Sie mitnehmen«, sagte Ron, der wie immer um Frieden bemüht war. Außerdem wollte er um jeden Preis ein Auftauchen der Polizei vermeiden. Er wäre in seinem Zustand ein gefundenes Fressen für jeden Drogentest gewesen. Der dicke Mann beeilte sich, in seinen Fiesta zu kommen, und fuhr davon. Erstaunlicherweise war der Ford noch fahrtauglich, auch wenn er leicht schlingerte.

Der Anzug erzählte, er sei auf dem Weg nach Hannover zu seiner Frau, um mit ihr die letzten Tage zu verbringen. Er fluchte noch dem dicken Mann hinterher, dafür, dass der sich so schnell aus dem Staub gemacht hatte, der Feigling. Das letzte Wort spuckte er förmlich. Die Autos stauten sich mittlerweile endlos hinter Rons Bus, und auf den anderen beiden Spuren wurde deutlich langsamer gefahren und ohne Pause gehupt. Ein Warndreieck wäre vermutlich eine gute Idee gewesen. Jetzt auch schon egal.

Sie beeilten sich, den Mercedes, der nicht mehr anspringen wollte, auf den Seitenstreifen zu schieben, was ein mühsames Unterfangen war. Dann machten sie sich in Rons Bus auf die Suche nach der nächsten Tankstelle.

2 / THOMAS

»Wie oft muss ich dir eigentlich noch sagen, dass du dich gefälligst hinsetzen sollst dabei?«

Thomas erschrak und blickte zu ihr. Dabei drehte er sich ein Stück.

»Hey, Vorsicht!«, schrie Julia und plötzlich merkte er, wie sich das Pinkel-Geräusch verdächtig änderte. Thomas hatte Mühe, den Strahl wieder ins Porzellan zu steuern. Nun blickte er erneut zu ihr, drehte diesmal aber nur den Kopf. Julia stand in ihrem weiten Schlaf-Shirt und Jogginghose im Türrahmen. Von beidem grinste ihm Garfield entgegen. Julia lachte leider nicht. Dafür funkelten ihre blaugrünen Augen. Sie war wütend.

Jetzt wegen des witzigen Kontrasts zwischen ihrem und Garfields Gesichtsausdruck zu lachen, bedeutete Eskalation. Und das wiederum würde zu hysterischem Schreien ihrerseits führen, also ließ er es. Julias lange blonde Haare waren vom Schlaf noch ganz zerzaust. Sie sah auch frisch aufgestanden jünger aus als ihre zweiunddreißig Jahre. Dafür sah man ihm nur zu deutlich an, dass er bald seinen Vierzigsten würde feiern müssen. Wäre sie doch zwei Minuten später aufgestanden, dann hätten sie sich den Streit ersparen können.

»Es tut mir leid, Hase, ich …«

Julia wurde sofort laut.

»Die ganzen Spritzer machst du weg, wenn du hier fertig bist. Und komm mir jetzt nicht mit Hase. Immer tut dir alles leid, aber zu ändern scheint das nichts.« Und schon betete sie ihm seine zahlreichen Verfehlungen der letzten Monate und Jahre herunter. Übung hatte sie zurzeit darin. Zu faul, zu verfressen, zu unordentlich, zu desinteressiert, vor allem an ihr. Die Liste war lang. Er putzte die wenigen Tropfen vom Toilettenrand, während die tägliche Welle an Vorwürfen über ihm ihren Scheitelpunkt erreichte und brach. Als weitere Antworten seinerseits ausblieben, stapfte Julia, immer noch wütend, aus dem Bad. Thomas zog sich an und ging ins Erdgeschoss. Solange sie sich umzog, wusch und schminkte, blieben ihm ein paar Minuten in Ruhe mit Kaffee und Zeitung. Es war ja nicht böse gemeint, das mit dem Pinkeln im Stehen. Es war nun mal praktisch. Er dachte manchmal einfach nicht daran, sich hinzusetzen. Oder die dreckigen Klamotten wegzuräumen. Immer die gleichen Kleinigkeiten, immer die gleichen Vorwürfe. Genervt vor sich hin murmelnd, füllte er sieben Löffel Pulver und ausreichend Wasser in die Kaffeemaschine. Kaum war der Knopf gedrückt, fing das beruhigende Gluckern und Brodeln an. Er schloss die Haustür auf, griff nach der Zeitung und ihm blieb der Mund offen stehen.

Die Behringstraße, eine kleine und normalerweise völlig unbedeutende Nebenstraße, die zur Frankfurter Fußgängerzone hinführte, war vollgepackt mit Menschen. Schon das war am Montagmorgen mehr als ungewöhnlich. Und was für Menschen da umherliefen! Als er mit der Zeitung in der einen und einer Tasse Kaffee in der anderen Hand kopfschüttelnd zum Esstisch ging, versuchte er nach wie vor, das Bild zu verstehen, das ihn vor der Tür begrüßt hatte. Transparente mit Weltuntergangsbotschaften, Menschenmassen, die vorbeiliefen, Anzugträger wie Hipster und Männer im Blaumann. Als er Platz nahm und die Titelseite aufschlug, spürte er ein unangenehmes Drücken im Magen. Dieser Morgen wurde immer seltsamer.

Die Überschrift war so fett gedruckt, dass man sie gar nicht übersehen konnte: »EILMELDUNG! Nahende Apokalypse!«

Er las ein zweites Mal. Er fühlte sich irritiert. Dann glich er das Datum oben am Zeitungsrand mit dem auf seiner Armbanduhr ab. Definitiv nicht der 1. April. Was hatten sich die Zeitungsfritzen denn dabei gedacht? Es war der 7. Juni. Ein Montag. Vielleicht ging es ja darum, die Leute bei ihrem Wochenstart ein bisschen zu unterhalten. Aber wie passte das mit der Menschenauflauf auf der Straße zusammen?

Thomas las den fett gedruckten ersten Absatz.

Am Sonntag erreichte uns kurz vor Redaktionsschluss die untenstehende Pressemeldung. Uns ist die Besonderheit dieser Nachricht bewusst, doch wurde uns glaubhaft versichert, dass es sich keineswegs um einen Scherz handelt. Wir möchten Sie darauf hinweisen, dass der Frankfurter Anzeiger in den nächsten Tagen nur in stark reduziertem Umfang erscheinen wird. Damit wollen wir unseren Angestellten die Möglichkeit geben, angemessen auf diese Meldung und die daraus entstehenden Notwendigkeiten zu reagieren.

Leo Ebersbacher (Chefredakteur)

Thomas hörte, wie oben im Bad die Dusche ausging. In ein paar Minuten würde sich Julia zu ihm gesellen. Die Ankündigung klang aufregend und seltsam zugleich. Er trank noch einen Schluck Kaffee und vertiefte sich in die nächsten Zeilen.

Im Namen aller beteiligten Gottheiten teile ich mit, dass das Projekt Menschheit in sieben Tagen beendet wird. Am Montag, 14. Juni, gegen 9 Uhr morgens mitteleuropäischer Zeit wird das sogenannte Jüngste Gericht weltweit einberufen. Die Gläubigen werden von ihren jeweiligen Gottheiten oder deren Stellvertretern beurteilt. Atheisten und sonstige Nichtgläubige werden nach Bedarf eingeteilt. Sie brauchen sich für den Termin nicht an der Glaubensstätte ihrer Wahl einzufinden, sondern werden zum gegebenen Zeitpunkt abgeholt.

Gezeichnet: Jesus Christus

im Auftrag von Gott, Jahwe, Allah, Buddha, Meister Joda …

Es folgte eine lange Liste an Namen, wohl allesamt von Gottheiten, von denen er viele nicht kannte. Wie gelähmt saß Thomas da, völlig perplex über diesen absonderlichen Zeitungsbeitrag. Sollte er das glauben? Wenn es eine Fälschung war, würden sich die Mitarbeiter des Anzeigers auf eine Menge gefasst machen müssen. Und was, wenn es ernst gemeint war? Dann lief dort etwas gewaltig schief. Oder noch viel schlimmer: Was, wenn es den Tatsachen entsprach? Wenn die Welt in einer Woche untergehen würde? Ob in anderen Zeitungen dasselbe stand? Es gab so viele Dinge, die er nicht gemacht hatte. Dinge, die er unter diesen Umständen auch nicht würde nachholen können. Die Kreuzfahrt, die sie für den August gebucht hatten! Und im Sommer hätte er sein zwanzigjähriges Jubiläum bei Maschinen Geißler gehabt, inklusive besonderer Ehrung und allem. Mit Sicherheit handelte es sich nur um einen blöden Scherz. Er hörte Schritte auf der Treppe. Ihm war klar, dass er handeln musste.

So leise es ging, faltete er die Zeitung zusammen. Er wollte sie gerade in seine Aktentasche stopfen, da hörte er die Schritte schon ganz nah. Er setzte sich hastig auf die Zeitung, um sie aus dem Blickfeld zu bekommen.

»Soll ich dir ein Sandwich für die Arbeit machen?«, hörte er Julia nebenan.

Schweiß stand ihm vor Aufregung auf der Stirn, doch er brachte ein Lächeln zustande, als sie ihren Kopf durch die Tür steckte. Mittlerweile war sie fertig hergerichtet für den Tag, die Haare geglättet und um die Augen herum deutlich geschminkt.

»Das wäre lieb, danke dir.« Seine Stimme klang eigenartig gepresst.

Julia schien es nicht zu merken. Offenbar hatte sie einen Teil ihres Zorns hinuntergeschluckt. Gerade als er die Zeitung hervorholen wollte, erschien sie wieder im Türrahmen.

»Mit Käse oder Schinken?«

Thomas atmete tief durch.

»Überrasch mich.« Das Lächeln nur noch halbherzig. Diesmal wartete er, bis sie weit genug entfernt war, dann stopfte er die Zeitung in den Stapel mit dem Altpapier. Julia durfte diesen Artikel auf keinen Fall sehen. Sie ließ sich von jedem Mist beeinflussen, den sie las oder sah oder den man ihr erzählte. 10 neue Erfolgsdiäten. – 7 Wege, den Schlaf zu verbessern. – Mit diesen Tipps werden Sie ein fröhlicherer Mensch.

Ständig begeisterte sie sich für einen noch ausgefalleneren Unsinn. Da halfen weder gutes Zureden noch ironische Bemerkungen. Kein Zeitschriftencover war zu absurd, als dass sie es nicht inspirierend fand. Dazu ihr streng religiöses Elternhaus. Was konnte da erst dieser seltsame Artikel zum bevorstehenden Weltuntergang anrichten? Wenn man glaubte, was da stand, könnte das ja heißen, dass ihre Eltern recht gehabt hatten. Was für ein absurder Gedanke.

»Thomas?«, hörte er sie aus der Küche rufen. »Weißt du, was heute los ist?«

Er eilte in die Küche.

»Was meinst du?«

»Na ja.« Sie sah nachdenklich drein. »Im Radio kam die Morning-Show mit Harry und Peter und die waren ganz anders als sonst. Als wären sie müde oder so. Keine Witze, nicht mal die nervigen Comedy-Einspieler. Du weißt schon, die mit dem Taxi. Die waren einsilbig und haben nur das Allernötigste gesagt. Und jetzt sind auch noch so viele Leute draußen auf der Straße.«

Thomas schluckte. Klar, da konnte er hundert Mal die Zeitung verstecken, blind war Julia schließlich nicht.

»Ach, das ist nur eine Demo«, versicherte er ihr, »ist schon eine Weile angekündigt. Die wollen verhindern, dass hinten bei der Fußgängerzone ein neuer Hochhauskomplex gebaut wird, so was in der Art.«

Zum Glück waren die Transparente von ihrer Position aus nur schwer zu erkennen. Sollte er es ihr lieber gleich sagen, damit sie nicht auch noch sauer auf ihn sein konnte, weil er gelogen hatte? Da kam ihm eine Idee.

»Was hältst du davon, wenn wir heute einen Betttag machen und ich mal nicht zur Arbeit gehe?«, fragte er. »Nur wir beide, ein oder zwei Filme, leckeres Essen. So wie früher.«

»Hast du denn heute frei?«, fragte Julia.

»Ich habe so viele Überstunden, da ist das kein Problem«, log Thomas.

Genau genommen befand sich sein Zeitkonto zwei Stunden im Minus, und der Chef würde nicht begeistert sein, wenn er heute freimachte. Er wollte aber um jeden Preis vermeiden, dass Julia mit diesem Apokalypse-Quatsch in Berührung kam. Zumindest nicht unvorbereitet. Wenn am Montag in sieben Tagen tatsächlich die Welt unterging, dann spielten Fehlstunden sowieso keine Rolle mehr. Und falls sich diese Sache bis morgen wieder erledigt hatte, würde er dem Chef alles erklären und die Minusstunden in den nächsten Wochen reinarbeiten. So kurz vor seinem Jubiläum konnten sie ihn nicht hinausschmeißen.

Julia zuckte mit den Schultern.

»Ich habe heute keine Termine, ich wollte eigentlich Bürokram machen. Wegen mir gern. Ich sehe dich ja kaum noch in letzter Zeit.«

Thomas lächelte und überhörte den Unterton. Eine gute Idee zur rechten Zeit.

»Geh doch schon mal hoch, ich komme gleich«, sagte er zu ihr.

Zum Glück war der Fernseher im Schlafzimmer noch nicht mit der Satellitenschüssel auf dem Dach verbunden. Seine Faulheit hatte manchmal eben auch Vorteile. Einen Film auf DVD anzuschauen schadete heute sicher nicht. Im deutlichen Gegensatz dazu stand der Schaden, den eine Nachrichtensendung zweifellos verursachen könnte. Während er ihrem immer noch recht knackigen Hintern nachsah, dankte er Gott – oder wer auch immer für ihn zuständig sein mochte – dafür, dass er mit der Nummer durchgekommen war. Er hatte keine Lust, seine Freundin stundenlang zu beruhigen, während sie ausrastete, schrie, tobte und weinte. Nicht wegen etwas so Sinnlosem. Wenn er es schaffte, das Ganze von ihr fernzuhalten, würden sie einen entspannten Tag verbringen und sicher bedeutend mehr Spaß haben, als wenn sie beide arbeiteten. Mit etwas Glück hätten sie sogar endlich mal wieder Sex.

In der Firma meldete sich niemand. Ungewöhnlich, aber heute war schließlich auch ein ungewöhnlicher Tag. Dann rief er eben später nochmal an. Bis dahin schaltete er den kleinen Knopf an der Basisstation des Telefons auf ›Off‹. Panische Telefonanrufe von Julias Freundinnen oder seinen Eltern standen auch auf der Liste mit Dingen, die er heute nicht gebrauchen konnte. Er nahm sich das halbfertige Sandwich von der Küchenablage und stieg die Treppe empor. Das Lächeln in seinem Gesicht verschleierte die wirren Gedanken, die ihm im Kopf herumkreisten.

Diese verfluchte Türklingel. An alles hatte er gedacht, sich schier den Kopf zerbrochen und dabei die schauspielerische Leistung seines Lebens abgeliefert. Er hatte mit Julia ausgemacht, dass sie ihre Smartphones heute ausschalteten. Hatte heimlich den Router ausgesteckt, die Jalousien geschlossen, angeblich damit sie den Film besser sehen konnten. Alles, um sie vor dem Schrecken zu schützen, der derzeit an jeder Ecke zu lauern schien. Hatte sich um jedes ihrer Bedürfnisse gekümmert, damit sie sich wohlfühlte und nicht zu viel Gedanken an die seltsame Demonstration verschwendete, auf die sie einen kurzen Blick geworfen hatte. Dank der Jalousien bekam sie auch nichts von den Horden mit, die jetzt, am frühen Nachmittag, das Ende der Welt beklagten. Ebenso wenig diejenigen, die es lautstark bezweifelten. Er hatte zwischendurch kurz aus dem Küchenfenster geschaut, um zu sehen, ob sie noch da waren. Mittlerweile liefen da sogar deutlich mehr Menschen herum. Womit hatte er das nur verdient? Es wäre heute bestimmt ein ruhiger Tag im Geschäft geworden. Auch ein richtiger Bett-Tag mit Julia hätte ihm Spaß gemacht, aber so hatte er jede Sekunde Sorge, dass jemand sie auf den Unsinn aufmerksam machen konnte, der sich in der Welt abspielte. Und jetzt diese verfluchte, verdammte, verfickte Türklingel. Er hatte versucht, sie zu ignorieren, sich auf Julia und das Gespräch mit ihr konzentriert. Sie war einfach nicht davon zu überzeugen, dass Stadtneurotiker Woody Allens bester Film aller Zeiten war. Sie mochte die neueren Filme lieber. Kunstbanausin. Und auch bei dieser Diskussion war er charmant und ruhig geblieben, ohne sarkastisch und herablassend zu werden. Doch es klingelte erneut und Julia machte Anstalten, aufzustehen.

»Lass mich das ruhig machen«, sagte er. Sein Frust wuchs mit jedem Klingeln. An was musste er denn noch alles denken? Die Stimmen von draußen schienen auch immer lauter zu werden.

Julia zog ihre Stirn in Falten.

»Du bist so komisch heute. Ist was Besonderes? Hast du etwas wiedergutzumachen?«

In Windeseile zog Thomas im Kopf eine Liste mit möglichen Ausreden und Erklärungen in Betracht und überlegte, welche davon am cleversten ihre Wirkung tun würde. Du warst nicht umsonst lange bei den Jusos, sagte er sich. Das muss doch machbar sein. Es klingelte schon wieder. Thomas gab Julia einen innigen Kuss.

»Ich möchte dir einfach einen schönen Tag machen. Ich habe mich in letzter Zeit nicht so großartig benommen.«

Dass das nicht gut funktionieren würde, war ihm schon klar, noch bevor der Satz den Mund verließ. Vielleicht waren seine Fähigkeiten im Debattieren in den letzten zehn Jahren etwas eingerostet. Julia sah ihm irritiert hinterher, als er nach unten ging.

Vor der Tür stand Elsa. Sie trug ein olivgrünes Top und ein quietschbuntes Halstuch zu einem langen ausgefransten Rock und lächelte Thomas mit leicht glasigen Augen an.

»Das Ende der Welt, Thomas. Das Ende der Welt«, sagte sie.

Sie schwankte in alle Himmelsrichtungen. Ihre Schminke war verlaufen. Ob das gezielt aufgetragen war oder ob sie geweint hatte, konnte Thomas nicht sagen. Elsa war in solchen Dingen mehr als seltsam.

»Wo ist denn Julia?«, fragte sie mit leiser Stimme.

Thomas brachte keinen Ton heraus. Elsa stand betrunken oder bekifft oder sonst wie berauscht nachmittags vor ihrer Haustür. Was war das nur für ein Tag. Er verspürte den Wunsch, sich zu zwicken, um endlich aufzuwachen.

»Julia ist ...« Er überlegte eine Sekunde. »Also, sie fühlt sich nicht so gut und möchte gerne ihre Ruhe.«

Das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte, war noch mehr Drama-Potential.

Elsa rief halblaut in die Wohnung: »Julchen. Komm mal runter!«

Thomas unterdrückte das Bedürfnis, ihr den Mund zuzuhalten, und legte sich dafür mit gewichtiger Miene den Zeigefinger an den Mund.

»Wir müssen leise sein, sie schläft jetzt.«

»Ach, schlafen kann sie auch, wenn sie tot ist«, sagte Elsa und lachte laut auf, schriller, als es für sie üblich war. »Das kann ja nicht mehr lange dauern.«

»Sie hat jetzt wirklich keine Zeit, Elsa. Komm morgen wieder, oder übermorgen. Oder ruf vorher an«, sagte Thomas.

Mit einem Selbstbewusstsein, das er sich nicht zugetraut hätte, drückte er Elsa langsam, aber bestimmt und ohne sich zu verabschieden die Tür vor der Nase zu. Sie würde ihm nicht seinen Plan kaputt machen. Er würde es von Julia fernhalten. Es ihr selbst sagen und das behutsam. Vielleicht heute noch, oder eben auch morgen. Je nachdem, wie lange er diesem nervlichen Druck standhielt.

Thomas ging zum Sicherungskasten und schaltete die Klingel ebenfalls aus. Jetzt waren sie so weit isoliert, wie es möglich war, mitten in der Stadt. Lange würde er diese Scharade nicht aufrechterhalten können.

Julia lag noch auf dem Bett. Sie schien nicht misstrauisch geworden zu sein.

»Es waren nur die Zeugen Jehovas«, erklärte er auf ihre Nachfrage, dann legte er sich wieder neben sie. Die nächsten zwei Stunden verbrachten sie in angenehmer Ruhe. Sie sahen den Film fertig, spielten ein paar Runden Kniffel, Thomas machte seiner Freundin einen kleinen Snack zum Mittag. Er merkte, wie sehr Julia seine alleinige Aufmerksamkeit genoss. Sie wurden nicht mehr gestört und seine Nerven entspannten sich langsam wieder. Heute waren zu seinen grauen Strähnen sicher schon einige hinzugekommen. Julia schlug vor, gemeinsam zu baden, und Thomas freute sich über die Idee. Auch das hatten sie viel zu lange nicht gemacht. Er musste sich wieder mehr um sie bemühen. Zumindest solange jetzt noch Zeit blieb. Er wischte den Gedanken aus seinen grauen Zellen. So ein Unsinn. Das mit dem Ende der Menschheit war bestimmt nur ein Marketing-Trick, auf den alle Welt hereinfiel. Seine Meinung dazu schwankte im Halbstundentakt. Als er sich umdrehte, um wieder ins Schlafzimmer zu gehen, stand plötzlich Julia direkt vor ihm.

»Wie lange willst du diesen Müll eigentlich noch durchziehen?«, fragte sie.

Ihre Stimme klang verletzt und traurig. Er sah, dass sie Tränen in den Augen hatte.

3 / MANFRED

Manfred hob die kleine Tasse mit dem Goldrand zum Mund und trank einen Schluck. Auch wenn es kein echtes Gold war, diese fein verzierten Tassen machten einfach einen guten Eindruck. Sie saßen auf ihrer überdachten Terrasse mit Blick Richtung Meer. Auch wenn man es von hier aus nicht sah, dafür waren sie einen Tick zu weit weg und die Dünen versperrten die Sicht. Hier frühstückten sie, so oft es das Wetter zuließ. Der starke Kaffee schmeckte, wie er es immer tat, und das war gut. Dieser Morgen war auch so schon bei weitem zu ungewöhnlich für Manfreds Geschmack. Er strich die Tischdecke glatt.

»Bestimmt kommen Meier und dieser Neue heute gar nicht zur Arbeit«, sagte er, »ich kann es mir schon vorstellen. Aber hanebüchene Zeitungsartikel sind kein Grund, der Arbeit fernzubleiben. Da können die was erleben. Die Abmahnungen schicke ich heute noch raus.«

Helga nickte mit ernstem Blick. Die Form der Falten an Mund und Stirn ließ erahnen, dass sie in ihrem Leben häufig ernst geblickt hatte. Die Dauerwelle hingegen war so makellos, wie es Dauerwellen nur sein können.

»Denk an deinen Blutdruck«, ermahnte sie ihren Mann, »warte erstmal ab, ob sie wirklich nicht kommen.«

Manfred sah auf seine Armbanduhr. Noch sieben Minuten, dann wurde es Zeit.

»Und überhaupt, warum sollten ›die‹ das ankündigen?«, echauffierte sich Manfred weiter. »Was hätte Gott davon, vorher Bescheid zu sagen? Oder gleich mehrere Götter, das wäre ja noch schöner. Es gibt keine höheren Mächte oder solchen Firlefanz. Habe ich schon immer gesagt. Und nach dem Tod kommt auch nichts als Verwesung. Kein Gericht. Wie soll das auch funktionieren? Und nach welchen Gesetzen sollen die entscheiden? Nein, die Gerichte sind hier auf Erden zuständig. Was für ein Unfug. Du wirst schon sehen, das wird für Unruhe sorgen.«

Er fuchtelte mit dem Zeigefinger, um seine Worte zusätzlich zu unterstreichen. »Und dabei müssen wir heute das neue Formblatt fertigstellen und haben einen Haufen Anträge zu bearbeiten. Ich sage es dir, Helga. Das wird Probleme geben. Meier ist eh schon im Rückstand und ich weiß jetzt schon, wer das dann wieder ausgleichen muss.«

Er strich sich die wenigen verbliebenen grauen Haare über die Glatze und schob seine Brille wieder auf die Nase. Die Brille hatte große Gläser und ein an einigen Stellen aufgeplatztes Gestell, das vor langer Zeit einmal hellbraun gewesen war. Seine Lesebrille war eine von diesen modernen, mit kleinen randlosen Gläsern, wie sie jetzt viele trugen. Doch die normale Brille hatte er nun schon seit beinahe achtzehn Jahren Tag für Tag auf, die war ihm lieber. Die würde er nicht ersetzen. Weltuntergang. Er schüttelte den Kopf. Noch acht Monate bis zu seiner Pensionierung, er hatte jetzt kein Interesse an solchem Unfug, der Unruhe in seine Abteilung brachte.

»Das ist das Gleiche wie zur Jahrtausendwende mit diesen ganzen Irren«, erklärte Manfred, »oder vor ein paar Jahren mit dem Maya-Kalender, erinnerst du dich noch daran? Ein bisschen Panik, ein paar Leute drehen durch, aber am Ende geht alles seinen gewohnten Gang. Das habe ich damals gesagt und das sage ich heute. Du wirst sehen.« Er stand auf, gab seiner Frau wie jeden Tag einen Kuss auf die Wange und verließ ihr kleines Häuschen. Vielleicht konnten sie am späten Nachmittag, wenn er von der Arbeit kam, ein wenig in der Ostsee baden, das wäre mal wieder schön, dachte er. Manfred stieg in seinen äußerst gut gepflegten grauen Opel Kadett, Baujahr 1983, und machte sich wie jeden Arbeitstag seit sechsundvierzig Jahren strikt im Rahmen des Tempolimits auf den Weg ins Amt.

Als er davonfuhr, blickte Helga ihm nach. Sie ließ es sich nicht anmerken, dass sie der Artikel beunruhigt hatte.

4 / JUSTUS

Seit die morgendlichen Zeitungen bei den wenigen Patienten eingetroffen waren, die sich ihre Abonnements hierher liefern ließen, hatte sich die Stimmung auf der onkologischen Station im Klinikum Frankfurt-Westend massiv verändert. Die sonst oft bedrückende vormittägliche Stille unter den Patienten, das geschäftige Treiben der Schwestern, die Patienten, die mit ernstem Gesichtsausdruck von Termin A zu Termin B schlichen oder geschoben wurden – von all dem war nichts mehr zu sehen und zu hören. Wie ein Lauffeuer hatte sich die Nachricht verbreitet. Seltsamerweise, dachte Justus, schien hier, im Gegensatz zu dem, was er heute Morgen im Netz gelesen hatte, keiner anzuzweifeln, dass das Ende der Welt bevorstand. Die meisten der Krebspatienten hatten beim Lesen und Weiterreichen des Artikels lauthals gelacht. Manche, wie der alte Herr Röhrich und sein Zimmernachbar Krenz, so laut und fröhlich, wie sie Justus noch nie gehört hatte. Jetzt saßen beide auf Röhrichs Bett, lasen wieder und wieder den Artikel, quatschten munter miteinander und amüsierten sich köstlich, als Justus eintrat.

»Das freut mich, dass es Ihnen beiden heute so gut geht«, sagte er, um die Aufmerksamkeit auf sich und die Visite zu lenken. Doch Krenz winkte nur ab.

»Ist schon okay, Doc, ich glaube, wir brauchen jetzt keine Visite. Die letzten Tage kann man besser verbringen.«

Dann hatten sie wieder gelacht und ihn in deutlichen Worten gebeten, sich vom Acker zu machen. Ein seltsamer Tag war das. Auch bei Frau Siepenknecht im Dreierzimmer war er, wenngleich deutlich höflicher, hinauskomplimentiert worden. Jetzt saß Justus auf einem Stuhl vor dem verwaisten Schwesternzimmer und sah den Gang auf und ab. Seit den elf Kilometern Morgenlauf hatte er ein unangenehmes Ziehen in der Wade. Er massierte das Bein und dachte nach. Vielleicht versuchte er es später nochmal mit Visite, aber sicher war er nicht. Wenn in der Tat das Ende der Welt nahte, was machte er dann noch hier? Wieso ging er zur Arbeit? Er wusste die Antwort, aber sie war nicht allzu befriedigend. Ihm war schlicht und ergreifend langweilig zuhause.

Sein Haus am Rande von Frankfurt war schön anzusehen und gut gepflegt. Vorzüglich eingerichtet, mit Teak-Holz-Böden und modernen Designer-Möbeln. Voll mit jeder Menge Schnick-Schnack. Sein Weinkeller war mit erlesenen Tropfen bestückt, auch wenn er selten etwas davon trank. Das Wohnzimmer zierte ein Beamer samt Leinwand mit einer gemütlichen Couch davor. Eine gut ausgestattete offene Küche hatte er auch. Das ganze Haus hatte alles, was er sich je für sein Eigenheim gewünscht hatte. Aber wenn er dort war, überkam ihn Langeweile. Wahrscheinlich hatte er sich eingebildet, dass das Haus seiner Träume auch automatisch zum Leben seiner Träume führen würde. Und jetzt? Keine Frau, keine Freundin, keine Kinder, keine Freunde, die ihm nicht mit ihren Erzählungen schon nach kurzer Zeit zu viel wurden. Keine Nachbarn, die ihm sympathisch waren. Seine Eltern lebten nicht mehr. Kurzum: Niemand kam und sah dieses Prachtstück von einem Haus, das er sich da mit seinem Erbe und einem großen Kredit hingestellt hatte. Und noch schlimmer: Er hatte niemanden, mit dem er dort gerne Zeit verbrachte. Die Einsamkeit schlug ihm zuhause oft aufs Gemüt. Abseits der Arbeit hatte er Schwierigkeiten, die Tage herumzubringen. Dank seiner Schlafstörungen zogen sich die Tage ins Endlose. Also konzentrierte er sich auf Sport, wenn er gerade nicht arbeitete. Kein sehr erfüllendes Privatleben. Umso mehr Grund, arbeiten zu gehen. Und entsprechend war er einer der geschäftigsten Ärzte in der Klinik, mit guten Chancen, einmal Oberarzt und später sogar Chefarzt zu werden. Das munkelte man zumindest. Wer wusste schon genau, nach welchen Kriterien da im Einzelfall entschieden wurde. Es hätte in jedem Fall einen guten Klang – Oberarzt, vielleicht schon mit vierunddreißig.

Aber was sollte er mit diesem Tag machen, der eigentlich so gut angefangen hatte. Justus war kurz vor dem Klingeln des Weckers aufgewacht, erholt wie lange nicht mehr. Von Schlafstörungen keine Spur. Er war in sein Sportoutfit geschlüpft und hatte die kühle Brise genossen. Um zwanzig Sekunden an einer neuen Bestzeit vorbei. Das mit der Wade war zu verschmerzen. Wieder zuhause hatte er sich in aller Ruhe rasiert und geduscht, dann sein morgendliches Müsli hergerichtet und sich damit vor die Leinwand gesetzt, um das Frühstücksfernsehen zu gucken. Manchmal waren die Gäste dort ganz interessant. Stattdessen lief ein Beitrag über diese eigenartige Pressemitteilung, die mit Jesus Christus unterzeichnet war und das Ende aller Zeiten verkündete.

Weltweit war sie heute zeitgleich um halb acht mitteleuropäischer Zeit erschienen. Bei Twitter, Instagram, Facebook und diesen neumodischen Diensten genauso wie in allen Morgen- und Abendzeitungen rund um den Globus. Das Internet war voll von Meldungen und Meinungen zu dem Thema. In vielen Großstädten war sie an Hauswände und Litfaßsäulen plakatiert worden, immer in den jeweiligen Sprachen. Das präzise Timing und die Ausmaße der Verbreitung dieser Nachricht innerhalb weniger Minuten, ohne dass vorher etwas darüber bekannt geworden war, genügten vielen schon. Sie glaubten daran, dass es sich dabei keineswegs um eine Ente handelte. Vielmehr hielten es die Leute für eine faire Warnung seitens der Götter, zumindest hatte sich der Nachrichtensprecher so ausgedrückt. Eine Warnung, die sehr unterschiedlich ausgelegt wurde. Die einen animierte sie dazu, schnell noch Gutes zu tun oder fromm zu werden. Für die anderen war sie ein Weckruf, die letzten Tage auf Erden zu genießen, schlicht alles zu tun, was man schon immer hatte tun wollen. Viele schienen es richtig krachen zu lassen.

Je nach Glaubensrichtung wurde die Nachricht mal mehr, mal weniger begeistert aufgenommen. Viele strenggläubige Christen klammerten sich trotz ihrer guten Chancen auf Himmel und ewiges Leben an ihr irdisches Dasein. Die Kirchen aller Länder füllten sich mit verzweifelten Menschen. Die Sendung zeigte Bilder vom Kölner Dom und interviewte einige verängstigte ältere Leute aus der Warteschlange am Eingang.

»Es darf doch noch nicht vorbei sein«, sagte eine grau-gelockte Frau mit krauser Stirn. Zwei ältere Herren hinter ihr nickten eifrig in die Kamera.

Im Gegensatz dazu hatten sich einige Krawallmacher laut Informationen der Deutschen Presseagentur augenblicklich zur Aufgabe gemacht, Zerstörung und Chaos über die Menschheit zu bringen. Im Beitrag sah man vermummte Menschen ein Schaufenster einwerfen. Die Bilder kamen Justus eigenartig vertraut vor. War das Archiv-Material? Nach Angaben des Sprechers war es besonders in Hamburg zu Vandalismus gekommen, doch noch bevor die Polizei eingetroffen war, hatte sich das Problem schon erledigt. Zahlreiche junge Leute hätten »das Tun eigenmächtig gestoppt«, wie es der Sprecher formulierte. Hier wurde ein kurzes Video von einer wilden Schlägerei gezeigt, bei dem Justus sich intuitiv sicher war, dass es wirklich heute aufgenommen worden war.

Auch in vielen Ländern mit überwiegend muslimischer Bevölkerung trieb die Angst vor dem Ende der Welt die Menschen zu den Moscheen und gleichzeitig wurde vielerorts davon berichtet, wie Menschen blind vor Zerstörungswut waren. In Kabul war ein ganzer Supermarkt leergeräumt worden.

Nun wurden Bilder von einer Militärparade abgespielt. In Russland gab es aufgrund von enormer Polizei- und Militärpräsenz nur vereinzelte Demonstrationen.

Die Sendung hatte viel und gleichzeitig kaum etwas zu berichten. Immer wieder wurde die Situation hier und dort erklärt, aber die ausgewählten Länder jenseits von Deutschland kamen Justus willkürlich vor. Allerhand sogenannte Experten wurden befragt und alle hatten natürlich etwas zu sagen, leider keiner etwas von Interesse. Darunter waren Religionsführer, Verschwörungstheoretiker und Wissenschaftler, aber allen fehlte es an ordentlichen Erklärungen für das, woher die Pressemitteilung stammen mochte und ob sie wirklich ernst zu nehmen war.

Während Justus an diesem Morgen seinen verunsicherten Gedanken nachhing, huschten hin und wieder vor ihm Patienten über den Gang. Herr Sachs war die paar Meter zum Nachbarzimmer von Herrn Edgar sogar ohne Rollator gegangen, nur an die Wand gestützt. Ihn hatte Justus vorhin als Ersten gefragt, was ihn und seine Mitpatienten an der Nachricht der nahenden Apokalypse denn bitte so heiter stimmen würde.

»Die mitleidigen Blicke ...«, hatte er geantwortet und gelacht. Auf Justus’ fragenden Blick zierte ein Grinsen sein Gesicht und er versuchte, seine Worte etwas verständlicher zu wählen.

»Wissen Sie, Doc, ich kann Sie gut leiden. Sie behandeln mich mit allem, was nötig ist, stellen ein paar Fragen und gehen wieder. Wenn ich etwas wissen will, kriege ich eine ehrliche, direkte Antwort. Sie schauen nicht weg, wenn sie meine abgewrackte Erscheinung sehen, oder sind davon großartig betroffen. Ich bin für sie einfach ein Patient. Sie hoffen, solange es möglich ist, mich am Leben zu erhalten, und werden mir vermutlich keine Träne nachweinen, wenn ich mit den Füßen zuerst Richtung Untergeschoss gefahren werde.«

Justus wollte protestieren, doch der alte Mann mit dem grauen Drei-Tage-Bart ließ ihn nicht zu Wort kommen.

»Meine Kinder, die Enkel und die alten Freunde, die mir noch geblieben sind, besuchen mich nur selten. Wenn ich zuhause bin, etwas öfter, im Krankenhaus mittlerweile so gut wie nie mehr. Schuld daran ist das Mitleid. Sie sehen, dass mein Körper unter der Chemo leidet, sehen die Schmerzen, die sich in mein Gesicht graben, und haben Mitleid. Ganz schreckliches Mitleid. Weil ich nicht mehr so lange zu leben habe wie sie, weil ich so alt und gebrechlich bin, weil es mir damit bestimmt furchtbar gehen muss. Oft geht es mir damit ja auch furchtbar.«

Er pausierte einen Augenblick, trank mit zitternder Hand einen Schluck aus dem Wasserglas am Nachttisch und setzte seinen Monolog dann fort. Justus hatte sich mittlerweile zu ihm und Herrn Edgar aufs Bett gesetzt.

»Aber ich kann dieses widerliche Mitleid nicht mehr ertragen. Sie erzählen mir nicht aus ihrem Leben, weil sie denken, dass das doch gegenüber meinen Problemen total lächerlich ist. Dass mich das bestimmt nicht interessiert und ich wahrscheinlich sowieso nicht mehr ganz richtig im Oberstübchen bin. Manchmal sitzen sie sogar bei mir am Bett und unterhalten sich. Doc, können Sie sich das vorstellen? Besuchen mich und quatschen dann miteinander statt mit mir. Und jetzt bleibt ihnen von ihrem Leben plötzlich auch nicht mehr als mir. Vielleicht haben sie keine Schmerzen, wenn es zu Ende geht, aber sie hatten auch bei Weitem nicht so viel Zeit, sich darauf vorzubereiten, wie ich es schon hatte. Und dieser Gedanke amüsiert mich köstlich, auch wenn es gemein klingen mag. Aber ich bin ja schließlich nicht schuld an ihrem Ende, genauso wenig, wie sie es an meinem gewesen wären. Nur Mitleid habe ich keins.«

Bisher hatte er Herrn Sachs nie so viel am Stück reden hören. Nicht mehr als das Nötigste. Stimmte das? Interessierte er sich nicht für seine Patienten? Sachs schien darüber froh zu sein, aber was war mit den anderen, mit denen, für deren letzte Wochen und Monate das wichtig gewesen wäre? Jetzt würden es sowieso nur noch ein paar Tage sein. Seine innere Stimme bezweifelte die Sache mit dem Ende der Welt nicht. Nur das mit den Gottheiten hatte ihn irritiert. Wieso wurden Atheisten denn bitte einfach irgendwelchen Göttern zugeordnet? War das nicht unfair? Gegen die Regeln? Widersprach das nicht jeden Glaubensgrundsätzen?

Jetzt mischte sich Herr Edgar ins Gespräch ein. »Bei mir sind die Gründe für die gute Laune andere. Ich denke einfach nur, dass jetzt alles egal ist, und das macht mir Mut.« Er musste ein paar Mal Luft holen. Seine Lungen waren schwer angeschlagen. »Es ist schön zu wissen, dass die Schmerzen bald aufhören und alles vorbei ist.«

Justus bedankte sich bei den beiden für ihre Offenheit und ging. Er lief in Gedanken den Flur entlang. Aus einer Tür drangen seltsame Geräusche, die er nicht einordnen konnte. Ein eigenartiges Murmeln. Was ging hier vor?

Es war ein Krankenzimmer, das eigentlich zurzeit leer sein sollte. Nicht mal Betten standen darin. Vorsichtig öffnete er die Tür und stieß auf eine kleine Runde aus Ärzten und Schwestern. Ob es eine Feier war? Zumindest wurde getrunken. Getrunken und über Belanglosigkeiten geredet. Einer der beiden Fernseher für die Patienten lief. Eine Seifenoper, auf deren belanglose Handlung niemand achtete, bis sie jäh unterbrochen wurde…

»Ich darf Sie begrüßen zu einem weiteren exklusiven Beitrag zum drohenden Weltuntergang. Mein Name ist Carmen Wegener und ich befinde mich hier in den Straßen Berlins, genauer gesagt auf dem Alexanderplatz.«

Die Frau machte eine dramatische Pause. Zwar war der Fernsehturm nicht direkt zu sehen, aber hinter der Frau mit ihrem Mikrofon drängten sich Menschenmassen entlang, viele schienen bunte Kostüme zu tragen. Die großen Transparente waren leider im Fernsehen nicht zu lesen.

»International hat die Meldung vom nahenden Ende der Welt zahlreiche emotionale Reaktionen ausgelöst. Politiker aller Nationen gaben seit Bekanntwerden der Meldung Kommentare ab. Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach von einer bestürzenden Nachricht für die Welt und warnte davor, nun vorschnell zu urteilen. Sie könne noch keine genauere Einschätzung abgeben, warnte jedoch vor den wirtschaftlichen Krisen, die durch diese Nachricht ausgelöst werden könnten. Der russische Präsident Wladimir Putin erklärte, die Mitteilung sei nicht ernst zu nehmen. Er sei davon überzeugt, dass es sich um eine Verschwörung handeln müsse.«

Ein eingeblendetes Video zeigte Putin bei einer Pressekonferenz mit ernstem Gesichtsausdruck. Er gestikulierte ungewohnt aufgebracht in Richtung der wartenden Pressevertreter. »Er würde die entsprechenden Konsequenzen ziehen. Die Ernsthaftigkeit, mit der die Vereinten Nationen dieses Thema behandelten, sei würdelos. Zahlreiche Politiker aller Nationen und Glaubensrichtungen wandten sich in ihren Ansprachen direkt an Gott und baten um Gnade.«

In schnellen Schnitten zeigte die Sendung Männer in verschiedensten Roben, mit Kippa, Gebetskappe und einen mit einem roten Käppchen von der Art, wie es der Papst immer in weiß trug. Wie hießen die Dinger noch? Justus konnte sich beim besten Willen nicht erinnern. Eine Gruppe Frauen mit Kopftüchern wurde eingeblendet, wohl als Ausgleich für den Männerüberschuss. Nun zeigte das Bild wieder die berühmte Carmen Wegener.

»Viele sprachen ihre Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod aus.

Die Reaktionen in der Bevölkerung fallen sehr unterschiedlich aus. Weltweit sind viele Millionen Menschen auf die Straße gegangen, um ihren Gefühlen und Gedanken zu der von der Meldung prophezeiten Apokalypse freien Lauf zu lassen. In zahlreichen Großstädten kam es zu spontanen Kundgebungen, Protestmärschen und Feierlichkeiten.« Sie deutete vielsagend hinter sich. »Zu Tausenden strömen die Menschen überall in die Kirchen und Glaubensstätten. Vielerorts sind erste Versorgungsprobleme in Lebensmittelmärkten und Tankstellen abzusehen, da heute nur wenige Menschen ihrer Arbeit nachgehen. Hier in Berlin ist der Autoverkehr vollkommen zum Erliegen gekommen, auch der öffentliche Nahverkehr ist drastisch reduziert. Vertreter der Polizei sprechen bisher von ungefähr einer Million Menschen auf der Straße, es werden immer mehr. In mehreren Fällen wurde von Plünderungen und gewaltsamen Übergriffen berichtet, doch noch hält die Polizei die Lage ruhig. Wie lange das so bleiben wird? Wir wissen es nicht. Insgesamt verhält sich entgegen vielfach geäußerter Erwartungen die Öffentlichkeit bisher relativ friedlich angesichts dieser Nachricht von der drohenden Apokalypse. Die Börse hat mit einer Talfahrt auf die Nachricht reagiert. Sowohl DAX als auch Dow Jones brachen in den Morgenstunden deutlich ein, es ist zu befürchten, dass sich dieser Trend über den Tag weiter fortsetzen wird. Wir halten Sie selbstverständlich weiter auf dem Laufenden. Gegen 16 Uhr wollen die Vereinten Nationen eine große Pressekonferenz zur Lage der Welt abhalten, wir werden live berichten. Das war Carmen Wegener aus Berlin. Ich gebe zurück ins Studio.«

Der Bildschirm wurde kurz schwarz. Dann sprang die Seifenoper wieder an. Für einen Moment war es vollkommen still im Raum. Alle hatten gebannt auf den Fernseher geschaut, während die Sondersendung gelaufen war. Dr. Justus Dona saß inmitten der Runde, die eben noch recht unterhaltsam gewesen war. Bis zum plötzlichen Beginn der Sondersendung war die Stimmung ernst, aber nicht ohne Hoffnung gewesen. Nicht so fern vom Normalbetrieb der Krebsstation. Jetzt herrschte Totenstille. Schwester Mandy, die neben ihm auf dem Boden saß, weinte. Eigentlich hieß sie anders, aber mit ihrem Ossi-Akzent und ihrer ganzen Art, war sie für ihn die Verkörperung einer Mandy, wie sie im Buche stand. Er musste nur darauf achten, sie nie so anzusprechen. Sonst hatte er sie immer belächelt, jetzt tat sie ihm leid. Verzweiflung sprach aus ihrem Blick. Ein Schatten lag auf den Gemütern. »Was machen wir hier?«, fragte jemand hinter ihm, wahrscheinlich Dr. Toba. »Sollten wir nicht den Leuten helfen?«

Gemurmelte Zustimmung. Schuldbewusstsein schwebte im Raum.

»Wir müssen uns vergewissern, ob hier auf der Station jemand unsere Hilfe braucht«, sagte Justus nachdenklich, »und wenn nicht, dann auf den anderen Stationen sehen, ob wir helfen können.«

Er schämte sich dafür, dass er während der Arbeitszeit getrunken und seine Pflichten vernachlässigt hatte. Jetzt stand er auf und ging mit hängenden Schultern und ohne sich noch einmal umzusehen aus dem Raum.

Die Station wirkte wie ausgestorben. Er lief ruhig von Zimmer zu Zimmer, doch überall waren die Betten entweder verschwunden oder sie standen verlassen da. Die Bettdecken waren aufgeschlagen, doch auch die Bäder und der Aufenthaltsraum waren leer. Er konnte es sich nicht erklären. So lange waren sie doch nicht außer Reichweite gewesen, wie konnte es dazu kommen, dass die ganze Station wie geräumt aussah? Er machte sich auf den Weg zur Lungenstation, um dort nachzusehen. Justus verfluchte sich. Vielleicht war das Krankenhaus evakuiert worden, und sie hatten davon nichts mitbekommen. Und wenn nicht, konnte er auf einer der anderen Stationen seine Hilfe anbieten. Etwas musste er doch tun können. Als er durch die Stahltür trat, die in den weiträumigen Mittelteil des Gebäudes führte, von wo aus die anderen Stationen zu erreichen waren, blieb er mit offenem Mund stehen. Hier waren massenweise Patienten versammelt. Manche lagen in ihren Betten, andere hatten ihren rollbaren Tropf mitgenommen und sich bei Mitpatienten ans Fußende gesetzt oder standen sogar und wippten zu der lauten Musik. Wieso lief hier überhaupt Bryan Adams? Normalerweise erklang in diesem breiten Flur ausschließlich beruhigende Meditationsmusik – und das auch nur ganz leise im Hintergrund. Jetzt dröhnte lautstark Summer of 69, und die alten Damen und Herren schienen spontan eine Party abzuhalten. Er war sich sicher, wenn er jetzt zur Loge des Pförtners ginge, würde er dort Herrn Röhrich oder Herrn Sachs antreffen, die die Musikauswahl übernommen hatten.

Leise hörte er zwischen der Musik und den Stimmen das Klingeln seines Handys. Es war Dirk, mit dem er jeden Dienstag und Donnerstag Squash spielte. Er hatte heute in der Notaufnahme Schicht. Justus nahm den Anruf entgegen, hörte kurz zu, dann bahnte er sich, so schnell er konnte, seinen Weg durch die Massen an Kranken, die hier fröhlich feierten. Manche hatten Bierflaschen in den Händen. Justus rannte förmlich Richtung Notaufnahme. Er hatte lange genug herumgestanden.

5 / JENNY

»Du wirst hierbleiben!« Der Ton ihrer Mutter ließ keinen Zweifel daran, dass mit ihr nicht zu verhandeln war. Das rote Gesicht und die angespannte Kiefermuskulatur bestätigten den Eindruck. Doch so leicht ließ sich Jenny nicht abspeisen.

»Ich bin alt genug, du hast mir nicht mehr zu sagen, was ich tue.« Sie verkniff sich die Tränen.