Jagdfieber - Swantje Berndt - E-Book

Jagdfieber E-Book

Swantje Berndt

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Beschreibung

Vincent erhält von Nathan die Chance, sich der Gemeinschaft der Nachtjäger anzuschließen. Dazu muss er beweisen, dass es ihm gelingt, das Biest zu beherrschen. Versagt er, droht ihm der Tod. Doch ausgerechnet die Liebe zu Nina provoziert seine Nachtseite weit über die Grenzen jeglicher Kontrolle hinaus. Verzweifelt erkennt er, dass ihm keine Wahl bleibt, und er stellt sich dem Unvermeidlichen. Nathans Widersacher tritt offen in Erscheinung und fordert ihn heraus. Aufgerieben zwischen dem Verrat seiner eigenen Leute und der bitteren Entscheidung, die ihm Vincent abverlangt, versucht er einen Krieg der Gemeinschaften zu verhindern. Sein ehemaliger Lehrer und Anführer bietet seine Hilfe an. Und weckt damit die schlimmsten Erinnerungen in Nathans Leben. "Jagdfieber" ist der zweite Teil der Dilogie "Eine Rose für das Biest" und setzt Band eins "Nachtjäger" fort. Eine erste, wesentliche kürzere und einbändige Fassung des Romans erschien 2012 unter dem Titel "Das Biest in ihm" im Sieben Verlag.

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Eine Rose für das Biest
Prolog
1. Hartes Training
2. Konferenz der Tiere und andere Zwischenfälle
3. Verratene Verräter
4. Weihnachts-Countdown
5. Vorhang auf!
6. Ein heller Tag, eine dunkle Nacht
7. Jagdfieber
8. Sonnenwarm, angstkalt
9. Und darüber ein schwarzer Himmel
10. Türen schließen sich, Türen öffnen sich
11. Epilog
12. Weitere Romane von Swantje Berndt

Eine Rose für das Biest

Jagdfieber

Swantje Berndt

Copyright © 2019 Swantje Berndt

Alle Rechte vorbehalten

https://www.swantje-berndt.de

https://www.sbnachtgeschichten.com

Bildrechte: Shutterstock.com, © Sjstudio6Shutt

Korrektorat: Bernd Frielingsdorf

Covergestaltung: Swantje Berndt

»Jagdfieber« ist der zweite Teil der Dilogie »Eine Rose für das Biest« und setzt Band eins »Nachtjäger« fort.

Eine erste, wesentliche kürzere und einbändige Fassung des Romans erschien 2012 unter dem Titel »Das Biest in ihm« im Sieben Verlag.

Prolog

Nathan

Winzige rote Tupfen, zwei grüne. Ob sie erkannte, dass es Rosenblüten sein sollten? Sie schimmerten durch das Glas, reflektierten das Licht.

»Er ist bezaubernd.« Jakub sah ihm über die Schulter. »Es ist mein Ernst, ich habe nie eine so schöne, filigrane Arbeit gesehen.«

Nathans Herz sprang vor Stolz. Jakub war ein meisterhafter Glasbläser. Ein Lob von ihm war mehr wert als ein voller Magen.

»Für wen ist der Ring?«

»Kann ich dir nicht sagen.« Dass er Lorena liebte, musste ein Geheimnis bleiben. Die anderen würden ihn auslachen. Er mit seinen jämmerlichen sechzehn Jahren wollte Gregor das Mädchen wegnehmen? Gregor war ein Mann, durch und durch. Er sah gut aus, war stark und groß und bot sogar Heinrich die Stirn.

Nein, niemand bot Heinrich die Stirn, aber Gregor versuchte es wenigstens und ertrug die Strafen ohne einen Mucks. Selbst wenn ihm dabei das Blut in die Augen lief.

Nathan steckte den Ring in die Hosentasche. Er wollte niemandem etwas wegnehmen. Schon gar nicht seinem besten Freund, doch Lorena gehörte ihm. Vom ersten Moment an, als er sie gesehen hatte. Es spielte keine Rolle, dass sie älter war als er. Wenn sie ihn ansah, lächelte sie und ihre Augen strahlten heller als der Sommerhimmel. Sie war sein Mädchen. Da konnte sich Gregor ins Zeug legen, wie er wollte.

»Du hast etwas auf dem Herzen.« Jakub lehnte sich mit dem Hintern gegen die Tischkante und verschränkte die Arme vor der Brust. »Hat es mit dem Ring zu tun?« Auf dem hageren Gesicht zeigte sich ein Lächeln. »Los, spuck’s aus.«

»Kann ich nicht.« Jakub kannte Heinrich besser als jeder andere in der Gemeinschaft. Er wusste, was ihm blühte, wenn er von Lorena Wind bekam.

»Verstehe.« Er ließ seinen Blick durch die Glashütte schweifen, doch die anderen waren mit ihrer Arbeit beschäftigt. Niemand achtete auf sie. »Du weißt, dass es Dinge gibt, die dir verboten sind.«

»Ach, echt?« Gab es denn welche, die ihm erlaubt waren?

»Das ist kein Scherz, Kleiner. Ein harmloser Kuss kann es wecken und dann spielst du nicht nur mit dem Leben deiner Süßen, sondern auch mit deinem.«

Er wollte nicht einen Kuss von ihr, er wollte viele und nein, das verdammte Biest würde nicht aufwachen. Es war Mittag, die Sonne brannte vom Himmel und Lorena durfte ohnehin nicht erfahren, was er war. Das durfte niemand außerhalb der Gemeinschaft.

Wolfsrachen. Was für ein cooler, verwegener Name. Absolut passend für eine Horde Biester. Wenn er nicht gerade von Heinrich geprügelt wurde, war er stolz auf das, was er war.

Jakub nicht. Sonst würde er nicht so oft traurig sein, und Adam auch nicht, aber das lag daran, dass seine Arme oft schmerzten. Die Wunden wollten nicht heilen. Heinrich hatte ihm mit einer Viehpeitsche zugesetzt.

»Ich muss los.« Lorena hatte versprochen zur Ruine zu kommen.

»Nathan!«, rief Jakub hinter ihm her, doch da fiel die Tür der Glashütte zu und sperrte Jakubs Sorgen zusammen mit seiner Stimme ein.

Nathan atmete auf.

Maria fegte die Lärchennadeln von der Terrasse, Heinrich schlief im Schaukelstuhl und Gregor war abkommandiert worden, um Holz zu schlagen.

Seine Chance.

Er huschte in den Wald, rannte den Hang hinauf Richtung Ostravice. Die Ruine. Dort hatten sie sich verabredet. Er musste ihr seine Gefühle gestehen. Ernsthaft und erwachsen. Ohne rot zu werden, ohne zu stottern. Sie würde bemerken, dass er reifer war als alle anderen Jungen, die sie kannte. Was bedeuteten schon drei Jahre mehr oder weniger? Es störte ihn nicht, eine ältere Freundin zu haben und es störte ihn auch nicht, sich heimlich mit ihr treffen zu müssen. Bald kontrollierte er das Biest vollkommen. Heinrich bläute ihm oft genug ein, wie er mit seiner Nachtseite umgehen musste.

Der Ring fühlte sich warm an. Warm und glatt. Wenn er ihn weiter ständig in den Fingern hielt, würde er ebenso feucht wie seine Hände.

Himmel, war er nervös.

Und wenn sie nicht kam? Vielleicht hatte sie unterwegs Gregor getroffen und ihre Verabredung vergessen.

Nein, Gregor war in Richtung des Lysá Hora aufgebrochen, Lorena kam aus Ostravice.

Er musste sich beeilen. Über die schmalen Landstraßen waren es zehn Kilometer. Querfeldein um einiges weniger, aber dennoch. Lorena hatte gesagt, sie wollte um drei Uhr nachmittags dort sein. Sie hatte gelächelt, als sie es ihm versprochen hatte. Warum sollte sie sich nicht für ihn entscheiden? Sie fand ihn süß, mochte seine braunen Augen und hatte ihn geküsst. Nur kurz, doch es war ihm wie ein Stromschlag durch den Körper gefahren. Gregors Spotten konnte das nicht aus der Welt wischen. Ein Kuss war ein Kuss und er wollte noch einen.

Die Sonne schien durch die Zweige, ließ das Moos golden glitzern. Die Vögel sangen, der Wind streichelte die Blätter.

Ein wunderschöner Sommertag.

So schön wie Lorena.

~*~

1. Hartes Training

 

 

Jakub

 

Nathan saß am Feuer, sah in die Flammen. Seine Finger ließen den Glasring kreisen, als könnten sie nicht von ihm lassen.

»Denkst du oft an sie?« Adam zündete eine Zigarette an, reichte sie ihm. »Sie war deine erste große Liebe.«

»Sie war auch meine letzte.« Ein Lächeln vertrieb für einen Augenblick den Ernst aus seiner Miene.

»Du hast dein Herz für dich behalten? All die Jahre lang?«

»Ich habe es aufgeteilt.« Nathan inhalierte den Rauch, blies ihn langsam wieder aus. »In meinem Leben gibt es Menschen, die mir viel bedeuten.«

»Menschen?« Adam hob die Brauen. »Mutig.«

»Menschen, Biester.«

Glutfunken segelten durch die Dunkelheit.

»Ich habe mir abgewöhnt zu unterscheiden.«

»Hört, hört. Ein Philosoph.« Adam lachte.

Jakub schlang die Arme um den Körper. Ihm war kalt, aber das war ein kleiner Preis für ein ungestörtes Treffen mit Nathan. Er hatte ihn und Adam darum gebeten. Mitten in der Nacht waren sie losgefahren, um an einem Grillplatz im Nirgendwo ein Feuer zu entfachen und zusammen zu rauchen. Sicherlich ging es längst gegen Morgen. Da sich Gregor immer noch in seinem Bunker verkroch und die Wunden leckte, die ihm sein Sohn zugefügt hatte, würde er ihren Ausflug in Feindesland nicht bemerken. Der Rest der Wolfsrachen schlief wahrscheinlich den Rausch aus. Eines musste man den spanischen Überläufern lassen, sie wussten, wie man feiert.

»Ich habe Vincent zu mir geholt.« Nathan sah ihn durch die Flammen hindurch an. »Er kann sich an keinen Kampf erinnern.«

»Aber er hat stattgefunden.« Die Wunde auf Vincents Rücken sprach für sich. Außerdem war Michal Zeuge der Auseinandersetzung zwischen ihm und Gregor.

»Ich glaube es dir.« Erneut kreiste der Ring durch Nathans Finger. »Das Biest blockiert seine Erinnerungen. Anscheinend häuft es sich in letzter Zeit.«

»Schlecht«, murmelte Adam und nahm sich die Zigarette zurück. »Wer von euch macht es?«

Jakubs Magen zog sich zusammen. Vincent hatte ohne Hilfe seiner Nachtseite die Stirn geboten. Er hatte es geschafft, achtundzwanzig Jahre alt zu werden und nicht nur zu überleben, sondern auch die meiste Zeit ein Mensch zu bleiben. Gregor hatte ihn im Stich gelassen, statt ihm zu helfen, dabei war er Vincents Vater. Es wollte Jakub immer noch nicht in den Sinn, weshalb sich Gregor erst nach zehn Jahren bei seinem Sohn gemeldet hatte. Vincent hätte ihn viel früher gebraucht.

»Niemand macht es«, sagte Nathan leise. »Ich werde ihn nicht töten.«

»Nicht?« Adam blähte die Wangen, was bei seinem eingefallenen Gesicht seltsam aussah.

»Ich kann es nicht.« Nathan wich Adams Blick aus, nur um Jakubs zu finden. »Warst du sanft zu Maria?«

»Ja.« Ein Genickbruch war schnell, sanft und beschissen effizient. »Kein Geheimnisträger außerhalb der Gemeinschaft.«

Jedem von ihnen kam ein anderer Fluch über die Lippen.

»Was hat Heinrich nur aus uns gemacht?« Unglücklich starrte Adam in die Flammen. »Wir gehen mit dem Tod unserer Freunde um wie mit einem lästigen Ärgernis.«

»Wir sind Monster«, sagte Nathan mit einer Resignation in der Stimme, die es in Jakubs Herz ziehen ließ. »Jeder von uns ist ein Mörder.«

Das Schweigen senkte sich bleischwer auf den beginnenden Morgen. Keiner von ihnen brachte den Mut auf, es zu brechen.

Als sich ein grauer Streifen im Osten zeigte, stand Nathan auf. »Ich muss zurück. Vincents Training beginnt bald und ich will dabei sein.«

»Du hängst an ihm«, stellte Adam fest. »Warum? Er ist der Sohn deines Feindes.«

Nathan steckte sich schweigend den Glasring an den kleinen Finger.

»Hattest du ihn nicht Lorena geschenkt?«

»Sie hat ihn Vincent vermacht.«

Adam runzelte die Stirn, sagte jedoch nichts.

»An dem Nachmittag, an dem du dich aus der Glashütte geschlichen hast.« Jakub war ihm gefolgt und gerade noch rechtzeitig gekommen. Alle trafen sich in der Ruine. Für heimliche Küsse, für Sex, der mal mehr, mal weniger gut ausging. Oder um eine Nacht in Angst und Kälte zu verharren, bevor der erste Zug in Ostravice in die Freiheit abfuhr. Manche von den Wolfsrachen hatten ihn erwischt, andere hatte Heinrich erwischt.

Nathan sah zu ihm hinab. Der Lichtschein der Flammen ließ Schatten über sein Gesicht zucken. »Ich habe dir nie gedankt.«

»Das musst du auch nicht.« Für Lorena war es ein Spiel gewesen. Ein erotisches, über die Maßen sinnliches Spiel. Sie hatte es genossen, von den Armen eines Mannes gehalten zu werden, während ein Junge darum kämpfte, ein Mensch zu bleiben. Dass ihr Jakub die Augen mit Nathans Halstuch verbunden hatte, hatte sie zusätzlich erregt.

Nathan hatte sich tapfer geschlagen. Vielleicht wäre sogar Heinrich stolz auf ihn gewesen. Erst als das Gelb aus seinen Iriden verschwunden war und die Fangzähne sich wieder zurückgebildet hatten, wurde Lorena von ihrer Augenbinde erlöst. Sie war so atemlos wie Nathan gewesen, doch ihre Lust hatte keinen Kampf, keinen Schmerz mit sich geführt. Mit einem seligen Lächeln war sie nach Hause gegangen, während Nathan auf dem Rückweg zur Glashütte zusammenbrach. Jakub hatte ihn huckepack tragen müssen.

Zum Glück war Heinrich an diesem Abend zu sehr mit seinen eigenen Bedürfnissen beschäftigt gewesen und damit, sie in Maria auszutoben. Ein paar Wochen später war Gregor geflohen. Zusammen mit dem Mädchen, dem Nathan nicht nur einen Ring, sondern auch sein Herz geschenkt hatte. Lorena hatte beides mitgenommen.

»Er lag auf seinem Schreibtisch.« Nathan betrachtete das Glitzern an seinem Finger. »Ich bemerkte ihn, als ich Vincent heimlich besuchte. Ihn und eine Nachricht von Lorena. Als ich gestern Abend ein paar persönliche Dinge von ihm geholt habe, konnte ich nicht anders und habe ihn eingesteckt.«

»Vincent wird es bemerken.« Spätestens, wenn Nathan ihn nach hoffentlich erfolgreichem Training wieder aus der Fabrik entließ.

»Bis dahin bringe ich ihn zurück.« Das schüchtern verträumte Lächeln verwandelte Nathan in den verliebten Jungen von damals.

»Rechne mit Heinrichs baldigem Erscheinen.« Seufzend erhob sich auch Adam. »Milos hat ihn seit ein paar Tagen auf dem Schirm, wie er um deine Fabrik schleicht und auf einem Schrottplatz haust.«

Nathan schnaubte. »Gregor lässt meine Leute ebenso wie meine Feinde beobachten, ich kollaboriere mit euch und meine Männer springen ab, um sich Gregor anzuschließen. Was ist los mit uns?«

Adam lachte. »Es scheint, wir haben den Halt verloren. Jeder auf seine Weise, und nun bemerken wir es und fürchten uns davor.«

»Ich kann euch Halt bieten.« Nathan fasste ihn am Arm. »Adam, ich weiß, wie sehr du unter Heinrich gelitten hast. Ich verstehe, dass du ihm den Rücken kehren musstest. Das verstehe ich bei jedem von euch. Aber nachdem, was ihr mir von Gregor erzählt habt, ist er die falsche Wahl.«

»Wissen wir.« Unglücklich zuckte er mit der Schulter. »Deshalb verraten wir nach Heinrich auch Gregor. Du bist die einzige Alternative in dem Irrsinn.«

»Ich verfüge über eine Handvoll Männer, die mich niemals hintergehen würden, aber ich weiß nicht, ob das genügt, um uns gegen Gregor und die Überläufer zu stellen.«

»Wird es nicht«, seufzte Adam. »Milos und Bronco sind Meister im Infiltrieren. Sie sagen, sie hätten noch zwei von dir an der Leine, also kannst du niemandem trauen.«

Nathan schloss die Augen.

»Aber du kannst sie erkennen.« Schaudernd stieß Adam einen Stock ins Feuer. »Seit heute Nacht tragen alle ein eindeutiges Zeichen ihrer Mitgliedschaft auf dem Rücken.«

Die Brandmale. Es war so lächerlich, doch Bronco schien es ernst zu meinen, dabei war die Idee im Suff geboren.

»Wer zum erlauchten Klub der Wolfsrachen gehört, trägt ein frisches Brandzeichen.« Adam ignorierte Nathans nach Luft schnappen. »Milos hat einen Draht zu etwas verbogen, das nicht einmal annähernd einem Wolfskopf mit aufgerissenem Maul ähnelt. Er hat das Ding ins Feuer gehalten und jedem auf den Rücken gedrückt.«

Die Jungen hatten gebrüllt wie die Löwen, als der Draht auf ihrer Haut gezischt hatte. Ilja und Miroslav wären beinahe transformiert. Als sich Bronco mit dem Teil Adam genähert hatte, hatte ihn Jakub niedergeschlagen. Dafür hatte sich Milos auf Michal gestürzt, kaum dass der zur Tür hereingekommen war. Bevor der Junge wusste, wie ihm geschah, hatte er ihm die Kleidung vom Oberkörper gerissen und ihn gezeichnet.

»Jakub und ich sind die einzigen Wolfsrachen ohne Brandmal.« Adam zwinkerte ihm zu. »Du hast mich davor gerettet, mein Freund.«

»War mir ein Vergnügen.« Sie waren die Ältesten der Gemeinschaft. Ihnen standen ein paar Extras zu.

»Das ist barbarisch.« In Nathans Miene spiegelte sich Abscheu. »Sie wenden sich von Heinrich ab, bleiben jedoch seinen Methoden treu?«

Heinrich hatte sie alle gezeichnet. Wenn auch nicht mit einem Brandmal.

»Die Brandmale sollen ein Zeichen für eine Gemeinschaft der neuen Generation sein«, erklärte Adam und schüttelte sich erneut. »Frei von Regeln und Zwängen und weiß der Teufel was. Deine Spanier blieben ebenfalls nicht verschont.«

»Sie sind stolz auf ihr freies Leben.« Ein trauriges Lächeln glitt über Nathans Gesicht. »Sie werden in dieser Freiheit untergehen und es erst bemerken, wenn es zu spät ist.«

»Heinrich würde sie in der Luft zerreißen.« Dasselbe würden sie mit ihm tun, sobald sie ihn in die Finger bekämen.

»Es wird zum Kampf kommen.« Es schien, als spräche Nathan zu sich selbst. »Das ist das Letzte, was ich will.«

»Und ich will nicht, dass einer der Jungen wegen Gregors Irrsinn und meiner Naivität stirbt.« Es wäre entsetzlich. Jiri, Marek, Ilja, Michal und Miroslav. Sie waren wie Söhne für ihn. Bis vor Kurzem waren das Bronco und Milos ebenfalls gewesen, doch beide verrohten unter Gregors nicht vorhandener Führung.

»Du hast mir bisher nicht verraten, wer von euch Nina angegriffen hat.« In Nathans Stimme schlich sich ein harter Ton. »Fürchtest du, ich könnte Vergeltung fordern?«

»Ja.« Das Mädchen stand ebenso wie ihre sieben Brüder unter Nathans Schutz. Fünf davon waren Biester, bei den anderen beiden schwieg die Nachtseite ihres väterlichen Erbes. So, wie Nathan von den Geschwistern erzählte, hing er an ihnen und zweifellos bildete sie den Kern der Nachtjäger.

»Erfahre ich, wer es gewesen ist, bringe ich ihn zur Strecke.«

»Versucht er diese Sauerei ein zweites Mal, übernehme ich das selbst.« Er trug die Verantwortung für die Jungen, also würde er sie auch bestrafen.

»Freunde.« Adam hob beschwichtigend die Hände. »Wir haben gern miteinander geredet, gefroren und geraucht. Wir sollten uns nicht mit Drohungen auf den Lippen verabschieden.«

»Du hast recht.« Nathan zog ihn in seinen Arm. »Du bist zu freundlich für unsere Welt.«

»Ich weiß.« Adam grinste ihn an. »Dennoch bin ich hier.«

Jakub würde alles dafür tun, dass es so blieb.

»Ich muss los.« Nathan umrundete das Feuer, schloss auch ihn in den Arm. »Ich sage euch Bescheid, wenn sich Heinrich erdreistet, bei mir aufzuschlagen.«

»Das wird er garantiert.«

Nathan entwich ein leises Knurren.

»Pass auf deine Leute auf und gib Vincent den Ring zurück, bevor er etwas merkt, sonst musst du ihm ein paar peinliche Dinge erklären.«

»Dass ich seine Mutter nur mit deiner Hilfe lieben konnte?«

Bildete er es sich ein oder färbten sich Nathans Wangen eine Spur dunkler?

»Er kämpft mit denselben Problemen, und wenn er sie nicht löst, wird er ebenso wie ich ein Leben in Enthaltsamkeit führen müssen.«

»Wie hältst du dir in einer Stadt wie Berlin die Frauen vom Hals?«

»Ich lasse sie nicht so nah genug ran, dass sie meinen Hals erreichen.« Noch ein Zwinkern und er ging zu seinem Wagen.

»Heinrich hätte jeden von uns kastrieren sollen und sich gleich mit.« Adam schaufelte Schnee auf die Feuerstelle. »Wenn wir zeugen, sündigen wir, und wird es ein Sohn, laden wir mehr Schuld auf uns, als wir jemals tragen können.«

»Manchmal frage ich mich, wie viele der Jungen mit Heinrich verwandt sind.« Maria war nicht seine erste Frau und zurückgehalten hatte er sich nie.

Steifgefroren stiegen sie in den alten Militärjeep und machten sich auf den Weg zurück zu Gregors Haus. Hoffentlich schliefen die anderen noch, wenn sie ankamen. Jakub riss sich nicht darum, sich Lügen aus den Fingern zu saugen, um zu erklären, wo sie die Nacht über gesteckt hatten. Die Ausrede zu jagen war langsam abgegriffen.

»Frauen sind seltsame Wesen«, stellte Adam nach einer Weile fest. »Ich verstehe ihre Art zu denken nicht.«

»Seltsamere Wesen als wir?« Jakub bremste ab, um ein paar Wildschweine über die schmale Straße traben zu lassen. »Das ist kaum möglich.«

»Wie kommt eine Mutter darauf, ihrem Sohn einen Ring zu vererben, den sie von ihrem Liebhaber geschenkt bekommen hat?« Mit gerunzelter Stirn sah Adam der Rotte nach. »Nathan und Gregor waren Freunde, Lorena wusste das. Für mich fühlt sich das wie ein Verrat an ihrem Mann an.«

»Und für mich wie ein Verrat an Nathan.« Sie hatte ihm schöne Augen gemacht, sich von ihm vögeln lassen und war trotzdem mit Gregor abgehauen. »Vielleicht hat ihr der Ring besonders gut gefallen und sie hoffte, ihr Sohn würde ihn eines Tages …«

»… an seine Braut weitergeben?« Adam lachte trocken. »Damit wären wir wieder beim Thema Kastration.«

»Seit wann bist du scharfzüngig? Steht in der Bibel nicht etwas von Selig sind die Sanftmütigen?«

»Tut es. Aber das ist unsere Spezies nie gewesen.«

»Du schon.« Er nahm Adams kalte Hand, drückte sie. »Hör damit nicht auf.«

»Hätte ich einen Sohn, würde ich ihn lieben«, sagte er leise. »Auch wenn er mich für seine Existenz hasst.«

Gregor hatte Vincent dazu gebracht, sich drei Tage dem Biest zu überlassen und das Risiko in Kauf genommen, dass es Vincent nicht mehr zurückschafft. Kein Vater durfte so etwas seinem Kind antun. Hatten sie deshalb miteinander gekämpft?

»Der Ring ist wunderschön«, durchbrach Adam seine Gedanken. »Nathan muss sein Herz hineingelegt haben, als er ihn schuf.«

Und Lorena hatte es ihm gebrochen.

 

 

Vincent

 

Nina war bei ihm gewesen. Ihr weiches Haar hatte seine Haut, seine Lippen liebkost. Er schmeckte ihre Küsse, fühlte sie an sensiblen Stellen seines immer noch erregten Körpers.

Es musste ein Traum gewesen sein. Ihre Brüder hätten sie nicht mitten in der Nacht zu ihm gelassen. Es war zu gefährlich. Das Biest lauerte auf Ninas Zärtlichkeit, begehrte sie ebenso wie er.

Wenn er sie verletzte, würden ihn Nathan jagen und töten.

Der Gedanke tröstete über eine Trauer hinweg, die niemals einen Grund finden durfte.

Es war still. Nicht einmal der Lärm der Stadt drang zu ihm.

Unmöglich, Berlin schwieg nie.

Vor ihm breitete sich ein Weg aus. Er ging ihn entlang, als würde er ihn kennen, doch er war ihm fremd. Der Kies knirschte bei jedem Schritt und zerbrach das Schweigen um ihn. Gräber. Rechts und links. Buchsbaumhecken, ein Brunnen, grüne Gießkannen. Die Reihe der sinnlosen Steine endete nicht. Inschriften verschwammen vor seinen Augen.

Seine Mutter. Sie wartete auf ihn. Sie sah jünger aus, als er sie in Erinnerung hatte. Ihr Lächeln hatte vergessen, was vor zehn Jahren geschehen war. Es versprach ihm Liebe und Verständnis, lud ihn ein näher zu kommen.

Eine Windböe. Kalt wie Eis. Sie trieb tote Blätter vor sich her, wehte Lorena die Haare ins Gesicht. Sie strich sie zurück, ohne dass ihr Lächeln die Lippen verließ. Der Ring aus Glas glitzerte an ihrer Hand. Winzige Rosenblüten, rot wie Nadelstiche in Fingerspitzen.

Sie hatte ihn nie getragen. Weshalb jetzt?

Ihr Lächeln verschwand. Traurig ließ sie die Hand sinken. Der Ring glitt ihr vom Finger, zerschlug auf dem Kies.

Vincent bückte sich nach den Scherben. Sie waren zu klein. Seine Klauen konnten die glitzernden Splitter nicht fassen. Wann hatte er sich verwandelt? Weshalb hatte er nichts davon bemerkt? Lorena musste furchtbare Angst vor ihm haben.

Ein matter Lichtschein. Er fiel nicht auf den Kies, sondern auf staubiges Linoleum. Ein Schatten betrat ein fremdes Zimmer, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich.

Lorena hob den Blick, schüttelte den Kopf.

»Ich habe es nicht gewusst.«

Kalte Finger strichen ihm durchs Haar.

»Ich war jung und verantwortungslos.«

Seine Mutter verblasste ebenso wie der Schatten an seinem Bett.

»Wir sehen uns in einer Stunde. Ich hoffe, die Nacht war gut zu dir.«

Er kannte die Stimme. Sie war fürsorglich, tröstend, dennoch befremdlich und versteckte etwas, das ihm gehörte.

Eine Melodie. Sie wiederholte sich, verstummte.

Dicke Flocken fielen vom Himmel und begruben die Glassplitter. Vincent folgte dem Weg bis zu seiner Werkstatt. Die Rosensträucher überwucherten die Tür, als hätte sie seit Jahren niemand mehr geöffnet. Dennoch teilten sie sich für ihn, kaum dass er die Schwelle betrat.

Im Dämmerlicht ragte der geköpfte Faun empor. Er zeugte von einer Jagd, an die sich Vincent nicht erinnerte.

Ein Geräusch lockte ihn zurück zu der alten Villa. Noch bevor er es erkannte, erschien Paul auf den Stufen zur Kellertreppe. Sein Hemd war blutbesudelt, in den Händen hielt er den abgerissenen Kopf eines Keilers.

»Du bist ein Monster, Vincent Fabius.« Der Kopf fiel hinab, das Blut schmolz Löcher in den Schnee. »Ein abscheuliches Monster!«

 

»Du traust dich ja was.«

Was zur Hölle!

»Fall nicht vor Schreck aus dem Bett.« Marcel blickte streng auf ihn herab.

Keine Grabsteine, keine Werkstatt, kein wütender Paul. Stattdessen Backsteinwände mit Tapetenresten und ein zugefrorenes Fenster.

»Weißt du wieder, wo du bist?«

»In eurer Fabrik.« Sie hatten ihn ohnmächtig in der Werkstatt gefunden, ihm erzählt, er wäre drei Tage bei seinem Vater gewesen.

Vincent erinnerte sich nur an Bruchstücke.

»Vor einer Stunde hat dein Wecker geklingelt und du schläfst einfach weiter?«

»Ich habe keinen Wecker.«

»Dein Handy schon.« Marcel wischte über das Display und eine Melodie erklang. »Kleine Wellen.« Er schnaubte. »Nathan hätte meinen Klingelton verwenden sollen. Jeans Wutbrüllen hätte dich effizienter aus dem Bett gekickt.« Er legte es auf den Tisch. »Du siehst besser aus als das leidende Etwas von gestern. Was macht dein Rücken?«

»Keine Ahnung.« Er hatte auf der Wunde geschlafen, also konnte es nicht schlimm sein.

»Hoch mit dir, ich sehe es mir an.«

Es fiel schwer, sich aus der Wärme herauszuwagen und noch schwerer, sich von dem warmen Pullover zu trennen.

»Wir hätten dich ausziehen sollen, Prinzessin.« Marcel schob ihm das Shirt bis zum Nacken hinauf. »Aber wir waren froh, als wir dich endlich im Bett hatten.«

»Ich habe nichts davon mitbekommen.«

»Kein Wunder nach dem, was du hinter dir hast.« Vorsichtig löste er die Pflasterstreifen. »Sieht gut aus.«

»Bei mir heilt alles schnell.«

»So wie bei jedem von uns. Trotzdem entzünden sich manchmal tiefe Wunden. Muss ja nicht sein, dass dir Eiter aus dem Rücken suppt.« Ein leises Schnalzen und er riss den Rest ab.

»Au!« Nina hatte ihn sanfter verarztet.

»Stell dich nicht so an«, murmelte Marcel und klatschte ihm eine frische Kompresse auf die Wunde. »Du erinnerst dich, dass du gestern während hitziger Diskussionen dein Überleben betreffend eingeschlafen bist?«

»Nicht wirklich.«

»Du kannst froh sein, dass Egmont nicht dabei war.« Ein leises Knurren begleitete seine Worte. »Der hätte alles getan, um dich bei Nathan zu verunglimpfen.«

»Kein Veto-Recht.« Nathan kannte seine Leute.

»Dein Glück.«

Egmont mit dem lächerlichen Schnauzbart und den grellgrünen Augen. Marcel konnte ihn nicht ausstehen, weil er Nina nachstellte und auch sonst zu der Sorte Mann gehörte, der man entweder aus dem Weg ging oder ihn für den finalen Kampf herausforderte.

Vincent würde sich im Zweifelsfall für Letzteres entscheiden. Es musste ein Vergnügen sein, den Smartboy quer durch den Berliner Forst zu hetzen.

»Zieh dich um.« Marcel schnappte sich eine Reisetasche, die Vincent vage bekannt vorkam, und warf sie aufs Bett. »Paul hat dir das Nötigste zusammengepackt. Auch was zum Trainieren, also wähle die Jogginghose und die Turnschuhe.«

Daher kannte er das Ding.

»Als Nathan von ihm zurückkam, haben ihm die Ohren geglüht. Paul hat ihn mit Bedingungen und Drohungen geflutet, was alles passieren würde, wenn er dir auch nur einen Fellfussel krümmt. Dem Kerl fehlt jeglicher Respekt vor unserer Spezies.«

»Dazu weiß er zu viel von mir.« Schlimmer als das Unglück vor drei Jahren konnte nichts für Paul werden.

»Ja, scheint so.« Marcel warf ihm ein T-Shirt entgegen. »Beeil dich und kein blöder Spruch zu Nathan, von wegen die Weckerfunktion deines Handys wäre dir fremd. Nur demütiges Zu-Kreuze-Kriechen, klar?«

Er hätte den Sicherheitscode aktivieren sollen.

»So wie er aussieht, hatte er eine kurze Nacht, wenn er überhaupt geschlafen hat. Jede Wette, es ist deine Schuld.«

»Alles ist meine Schuld.« Das war schon immer so gewesen und würde sich nie ändern. »Frag Paul. Der wird es dir bestätigen.«

Marcel lachte, was die Strenge aus seiner Miene vertrieb. »Komm mit, ich zeige dir, wo die Toiletten und die Duschen sind.«

Vincent schaffte es gerade noch, seine Schuhe anzuziehen und Pauls Ersatz-Kulturtasche zu schnappen, schon wurde er von Marcel aus dem Zimmer gescheucht. Er folgte ihm an mit Graffitis überzogenen Wänden entlang hinab bis zum Erdgeschoss. Die Lobby war verwaist, doch offenbar auch nicht ihr Ziel, denn Marcel lotste ihn nach links in einen Gang statt nach rechts zu den verlockend gemütlichen Sofas.

Vor einer Tür mit aufgemalten Edding-Strichmännchen blieb Marcel stehen. Das eine war eindeutig eine Frau, wie der Rock und zwei rechts und links abstehende Brüste inklusive Nippel verrieten, das andere war ein Monster mit spitzen Ohren und ebenso spitzen Fangzähnen, das die Klauen nach der Frau ausstreckte und ihr hinterherzurennen schien.

»Sehr originell.«

»Wie man’s nimmt.« Marcel stieß die Tür auf. »Du hast fünf Minuten. Handtücher liegen im Regal.«

»Dieser Fünf-Minuten-Scheiß geht mir auf den Sack! Das ist zu kurz!«

»Dann spar dir die Dusche. Das freut deinen Kratzer auf dem Rücken und du hast mehr Zeit zum Pissen.« Mit vor der Brust verschränkten Armen lehnte er sich gegen die Tür. »Na los!«

Vincent hechtete durch die Morgenroutine, die sich an diesem Ort komplett fremd anfühlte. Er wollte zum Rasierer greifen, doch Marcel schüttelte den Kopf.

Gut, dann eben nicht.

Erneut eilten sie durch die Korridore. Dieses Mal bis zu einem alten Lagerraum. Im Neonlicht standen ein Laufband, eine Hantelbank und ein Gestell mit Strippen und Griffen.

»Kreiseltraining?« Das konnte unmöglich sein Ernst sein.

»Du bist zu spät.« Nathan schlenderte aus dem Schatten hervor. »Ich warte seit über einer Stunde auf dich.« In der Hand hielt er einen Becher, aus dem es verlockend nach Kaffee duftete. Der Blässe seines Gesichtes nach hatte er ihn nötig.

»Tut mir leid, ich wusste nicht, dass mein Handy eine …«

Marcel trat ihm auf den Fuß. »Kommt nicht mehr vor, Nathan. Ich hab ihm die Leviten schon gelesen.«

Auf Nathans Stirn bildeten sich Gewitterwolken. »Jean sagte ja bereits, dass es unserem Neuzugang an Disziplin mangelt.«

»Was musstest du auch kleine Wellen wählen?« Niemand wurde davon wach.

Marcel rollte mit den Augen. »Ich geh dann mal.« Noch ein derber Schulterschlag und er trollte sich.

In der Tür rannte ihm Rene in die Arme.

Ninas jüngster Bruder spähte zu Nathan. »Darf ich dabei sein?«

»Meinetwegen.« Nathan winkte ihn näher.

Schön, dass er nicht gefragt wurde.

»Cool, ich habe den Test nie machen müssen, aber was Vladimir davon erzählt, macht mich neugierig.«

»Und wenn ich keine Zuschauer will?« Mit Rene hatte er noch ein Hühnchen zu rupfen. Die grauenvolle Autofahrt während ihres ersten Treffens würde er ihm nie verzeihen. Seine angebliche Disziplinlosigkeit an diesem Tag ging eindeutig auf Renes Kappe. Sich erneut vor ihm eine Blöße zu geben war das Letzte, was er wollte.

Nathan folgte Vincents Blick zu dem Laufband. »Keine Angst, zuerst werden deine Instinkte getestet. Herbert freut sich seit gestern darauf, dir seine Diasammlung zu präsentieren.«

»Ich dachte, er sammelt Briefmarken?«

»Die Dias dienen rein wissenschaftlichen Zwecken.« Er führte ihn in eine Ecke, in der ein seltsames Gerät aufgebaut war. An der Wand gegenüber hing eine vergilbte und an den Rändern eingerissene Leinwand. »Setz dich.« Er zog einen Stuhl heran und wartete, bis Vincent Platz genommen hatte. »Herbert kommt jeden Moment.«

Der Duft seines Aftershaves mischte sich mit dem des Kaffees. Das eine war angenehm, das andere eine Notwendigkeit.

Kommentarlos hielt ihm Nathan die Tasse hin.

Vincent versuchte erst gar nicht, das dankbare Seufzen zu unterdrücken.

In Nathans Mundwinkeln zuckte es.

»Schon bereit, wie ich sehe.« Herbert eilte in ausholenden Schritten zu ihnen. Ein Klemmbrett unter dem einen, eine Kiste unter dem anderen Arm. »Das ist gut, denn ich habe es eilig. Meine Vorlesung beginnt in Bälde.«

»In was?«, fragte Rene und löste damit eine Diskussion über die Lebendigkeit von Sprache an sich und das Einsetzen diverser Stilmittel im Besonderen aus.

»Ich hasse Morgenmenschen«, murmelte Nathan und nahm sich die Tasse zurück, um sie in wenigen Schlucken zu leeren. »Vor allem nach Nächten wie der letzten.«

»Was war los?« Selbst wenn die Fabrik explodiert wäre, hätte Vincent nichts davon mitbekommen.

»Unsere tschechischen Freunde halten mich auf Trab. Im Guten wie im Bösen.« Er ließ sich auf eine Holzbank sinken. »Ich erwarte Besuch von jemandem, den ich lieber töten als willkommen heißen will. Ein gemeinsamer Feind von Gregor und mir.« Müde fuhr er sich über die Augen. »Gregor hat ihm die Leute ausgespannt, hält sie aber nicht in Schach. Der Kerl, der Nina angefallen hat, gehört dazu. Allerdings auch der Mann, der dir bei Gregor zu Hilfe kam.«

»Sie kannten mich schon, bevor ich zu ihnen gekommen bin.« Die Typen mit den Lederjacken, die ihn in der U-Bahnstation beobachtet hatten.

»Gregor hat sie auf dich angesetzt. Er will dich zurückhaben.«

»Wozu?« Als er ihn gebraucht hatte, hatte er ihn im Stich gelassen und dann, zehn Jahre später, bat ihn Gregor um ein Treffen, nur um sich vor ihm auszuziehen und in ein Biest zu verwandeln.

»Er und ich waren früher enge Freunde. Er hat mein Leben gerettet, als es mir mein Stiefvater nehmen wollte. Während der Zeit bei Heinrich war er der Grund für mich durchzuhalten.«

»Was hat euch zu Feinden werden lassen?«

Er sah von seiner Tasse auf, lächelte traurig.

»Lasst uns starten.« Herbert wischte sich über die Glatze. »Vincent, setz dich vor dieses Ding und leg dein Kinn auf die Halterung.«

Nathan machte ihm ein Zeichen, dass er gehorchen sollte.

»Sieh durch die Linse und versuche, nicht bewusst zu denken.« Herberts Zungenspitze lugte zwischen den schmalen Lippen hervor, während er an der Apparatur hantierte. »Dieses hübsche Gerät misst die Ausdehnung deiner Pupillen.«

»Kann man auch unbewusst denken?« Rene sah ihm neugierig zu, wie er Vincents Kinn auf die Halterung drückte.

»Keine Ahnung«, murmelte Herbert. »Aber der Kerl, der mir das Ding damals verkauft hat, meinte, es würde funktionieren und bisher hat es das auch.« Er fuchtelte in Nathans Richtung. »Licht aus!«

Der Raum versank in Dunkelheit. Keine Sekunde später leuchtete die Leinwand auf.

»Mit dem rechten Auge siehst du durch die Linse, mit dem linken betrachtest du die Motive.«

»Warum so antiquiert? Niemand arbeitet mehr mit Dias.« Mit der Halterung am Kinn konnte er kaum sprechen.

»Nicht antiquiert«, dozierte Herbert. »Sondern oldschool. Ebenso wie ich.«

Aus der Dunkelheit drang Nathans leises Lachen.

»Außerdem haben sich die Bildchen bewährt und ich hatte bisher keine Zeit, sie zu digitalisieren.«

Rene fischte ein paar der Dias aus der Kiste, hielt sie zur einzigen Lichtquelle. »Gott, ist das ekelhaft!« Eines rutschte ihm aus den Händen.

»Obacht!« Herbert verpasste ihm einen sanften Schlag auf den Hinterkopf. »So behandelt man kein wertvolles, geradezu historisches Material.« Behutsam hob er es auf, blies den Staub von ihm und hielt es ebenfalls ins Licht. »Ganz und gar beeindruckend, zu welchen Grausamkeiten der menschliche Geist fähig ist. Selbst in Schwarz-Weiß.«

»Widerlich!« Rene schüttelte sich. »Wenn du Vincent so was zeigst, kannst du seine Pupillen messen, während sie zu aufrechten Schlitzen werden.«

»Das mag sein, aber diese antiquarische Kostbarkeit aus den vierziger Jahren muss sich unser Frischling erst verdienen.«

»Herbert.« In Nathans Stimme lag etwas Drohendes.

»Schon gut. Ich weiß, was du davon hältst, doch Fakt ist nun einmal, dass es klug ist, die Methoden des Feindes zu kennen.«

»Die Menschen sind nicht unsere Feinde«, sagte Nathan streng.

Herbert lachte trocken. »Solange sie keine Ahnung von uns haben nicht, aber gnade uns Gott, wenn sich das ändert.«

Eine Diaschublade rastete ein. Bilder diverser Raubtiere reihten sich aneinander. Die meisten mit gefletschten Zähnen oder inmitten eines Kampfes.

»Was du liebst, wissen wir«, drang Herberts Stimme durch das Summen des Projektors. »Ausgiebige Jagdsessions mit deinem alten Herrn zum Beispiel.«

Nathan räusperte sich.

»Und Trophäen.«

Er konnte nicht ernsthaft den Wildschweinkopf meinen.

»Und Rosen.«

»Nur die an meiner Werkstatt.« Sie waren ihm heilig.

»Du hast meine Schwester vergessen«, sagte Rene gelangweilt. »Sie ist der Grund, weshalb wir uns mit ihm abplagen.«

»Kannst du nicht woanders spielen?« Er hatte gewusst, dass er und Rene zusammen im selben Raum keine gute Idee war.

»Hör auf, mich anzuknurren!«

»Ich habe nicht geknurrt!«

»Doch, hast du«, sagte Nathan kalt. »Trau dich das kein zweites Mal.«

Mr. Rudelführer hatte gesprochen. Vincent verbiss sich einen Kommentar.

»Wer von euch geht zu Gabriels Silvesterauftritt?«, fragte Herbert munter. »Don Juan. Wird sicherlich gut.«

Rene stöhnte genervt und Nathan murmelte etwas von Menschenscheue.

»Gabriel spielt in einem Laientheater«, erklärte Herbert nebenbei. »Er ist sehr talentiert.«

Gabriel war der einzige von Ninas sieben Brüdern, dem er bisher noch nicht begegnet war.

Herbert pickte ein Dia aus einer der Schubladen, betrachtete es eine Weile. »Du fragst dich sicherlich, weshalb ich …« Er atmete tief ein, räusperte sich. »Warum ich …« Sein leises Fluchen klang eher nach einem Stöhnen.

»Herbert?«

»Ist schon in Ordnung, Nathan.« Er lachte angestrengt. »Ich habe schlecht geschlafen.« Er legte das Dia ein, räusperte sich erneut. »Mithilfe dieser Motive finden wir heraus, wo deine Grenzen liegen. Angst, Gier, Lust zu töten, zu jagen, deine Bereitschaft, Menschen anzugreifen, Beute in ihnen zu sehen, so was halt.«

Die Bilder in seinem Kopf waren grausamer, als es Dias je sein konnten. Vor ihnen konnte er niemals die Augen verschließen.

»Fürchten wir etwas, verengen sich unsere Pupillen, um die Gefahr besser erkennen zu können.« Herberts Worte holten ihn zurück in die Gegenwart. »Finden wir etwas begehrenswert, weiten sie sich. Durch den Weichzeichner der daraus resultierenden Wahrnehmung wird es für uns noch verlockender.«

»Wissen wir«, sagte Rene gelangweilt. »Vielleicht hätte ich Gabriel besser vom Lernen abhalten sollen. Das wäre spannender gewesen.«

»Er studiert Neogräzistik«, erklärte Herbert nebenbei. »Ist ein Schlaufuchs, der Junge.«

»Neogräzistik?« Vincent wollte lachen. Die Halterung ließ es nicht zu. »Klingt nach unheilbarer Krankheit.«

Rene schnaubte. »Das sagt einer, der im Sprung zum Monster mutiert.«

»Du hast mich noch nicht springen sehen, aber wir können das gern nachholen.« Der Kampf mit dem Grauen. Er war ein Genuss gewesen.

»Schweigen ist eine Tugend«, dozierte Herbert, während ein Motiv nach dem anderen Vincents Pupillen herausforderte. »Das gilt auch für dich, Rene.«

Die Tür klappte. Tristans Geruch stieg Vincent in die Nase.

»Nathan, kann ich dich kurz sprechen?« Er klang nervös.

»Sicher.« Während er an ihm vorbeiging, legte ihm Nathan die Hand auf die Schulter. »Wir sehen uns später.« Er verließ mit Tristan zusammen den Raum.

»Nun denn. Kommen wir zu Stufe zwei.« Herbert tauschte die Diaschubladen. »Viel Spaß.«

Die Fotos waren eine Zumutung.

»Hast du Filmarchive geplündert?«

»Ja. Lass die Augen offen.«

»Verdirbt es sonst das Testergebnis?« Langsam brauchte er eine Pause.

»Scherzkeks.«

Die nächste Schublade rastete ein.

»Ich kotz dir gleich auf deine Apparatur.« Aus was für kranken Streifen stammte das Material?

»Sei kein Opfer.« Renes Stimme zitterte verdächtig. »Ist doch halb so schlimm.«

Aus den Augenwinkeln bemerkte er, wie sich der Junge von der Leinwand abwandte und die Hand vor den Mund presste.

»Vergiss es.« Vincent nahm das Kinn von dem Halter. »Ich seh mir das nicht länger an.«

»Okay, ist vielleicht zu heftig«, murmelte Herbert und neigte sich über eine Anzeige, deren Licht die Gläser seiner Brille aufblitzen ließ. »Aber aussagekräftig.« Ohne den Blick abzuwenden, kritzelte er etwas auf das Klemmbrett. »Für ein Biest deines Alters sind deine Werte erfrischend normal.«

»Sagte der Sechzigjährige zum Achtundzwanzigjährigen.«

»Du weißt, was ich meine.« Er gab Rene ein Zeichen, dass er das Licht anschalten sollte. »Du hast nie mit Profis trainiert. Dein Hang zu töten müsste sehr viel ausgeprägter sein.«

»Paul war bisher mein Dompteur.« Vincent wischte sich über die Augen, sah jedoch trotzdem die furchtbaren Szenen der Dias vor sich. »Frag ihn, ob er das lustig findet.«

»Er wird die Frage verneinen und damit lügen.« Er lächelte ihn an wie ein Arzt seinen Patienten. »Menschen reagieren auf Gefährliches oft paradox.«

»So wie Nina?« Sie wusste genau, was er war, und wollte ihn dennoch. Der Gedanke lockte Hitze in seinen Körper.

»Nina ist Kummer gewohnt.« Herberts Zwinkern passte nicht zu seinem ernsten Blick. »Sie ist mit Biestern aufgewachsen.«

»Wo ist sie?« Als seine Hüterin sollte sie bei seinem Training dabei sein, auch wenn es sich um eine bluttriefende Dia-Show handelte. Nach diesem Martyrium sehnte er sich nach ihrem Anblick, ihrem Duft, dem Vibrato ihrer wundervollen Stimme. Nach allem von ihr.

»Sie kommt später, wenn es für dich relevant wird.« Dieses Mal fiel das Zwinkern fröhlicher aus. »Junge, was haben wir für tolle Überraschungen für dich vorbereitet!«

»Hör mit dem Jungen auf.« Aus dem Alter war er raus.

»Der Mensch besteht aus Gewohnheiten, Sehnsüchten und Ängsten.« Herbert stieß ihm an die Schulter und machte ihm ein Zeichen aufzustehen. »Deine Sehnsüchte und Ängste sind mir seit diesem kleinen Test vertraut.« Zuerst drang nur ein bedauerndes Seufzen über die schmalen Lippen, bis es schließlich von einem ebenso bedauernden Kopfschütteln begleitet wurde.

»Du bluffst.« Ein paar Fotos konnten niemals das preisgeben, was er seit Jahren in sich versteckte.

»Aufs Laufband, Junge.«

Hatte er ihm nicht zugehört?

»Deine Sportkleidung hat einen Sinn.« Herbert schlenderte zu dem Gerät und schaltete es auf die höchste Stufe.

»Soll das ein Witz sein?«

»Hier gibt’s kein Warming-up. Spring rauf, renn und denk dir, es ginge um dein Leben, was es im Übrigen trifft.«

»Wie lange?«

»Bis ich Stopp sage oder bis du die rettenden Worte von meiner Wachablösung hörst.« Ein flüchtiger Blick auf die Armbanduhr. »Marcel, Tristan und eventuell triffst du nachher sogar noch auf Vladimir.« Dieses Mal wurde das Kopfschütteln von einem Schnalzen begleitet. »Aber nur, wenn die Dinge schlecht für dich laufen, also hoffen wir das Beste.« Sein Lächeln glich einer Fratze.

 

 

Nathan

 

War es heute in dem alten Gemäuer kälter als sonst oder lag es an seiner Müdigkeit? Nathan schlang beim Gehen die Arme um den Oberkörper.

»Hast du schon etwas gegessen?« Tristan sah ihn mit seinem väterlich besorgten Seitenblick an, dabei war er wesentlich jünger als er. »Du wirkst übernächtigt, hungrig, schwermütig und um dem die Krone aufzusetzen, werde ich dir gleich eine besorgniserregende Nachricht überbringen.« Mit finsterem Blick schritt er weiter aus, bis er Nathans Zimmer erreicht hatte. »Nach dir.« Er hielt ihm die Tür auf, grinste, doch es konnte seine Anspannung nicht verbergen.

Nathan wählte das Sofa statt des Schreibtischstuhls.

Wohn- und Schlafzimmer und Büro. Alles in einem und auf engstem Raum. Verständlich, dass es Marcel und Nina vorzogen, in einer eigenen Wohnung zu leben.

»Wie viele Stunden hast du gestern geschlafen?« Marcels Blick glitt über das unberührte Bett. »Eine? Zwei? Und wenn, wo?«

»Keine, aber darum geht es jetzt nicht.«

»Warst du auf der Jagd?«

»Allein?« Sein Lachen klang bitter genug, um Tristans Sorgenfalten zu vertiefen. »Sicherlich nicht.« Die Gefahr, dem Biest zu erliegen, war zu groß. Jedes Mal fühlte er es mächtiger in sich emporsteigen. Jedes Mal fiel es ihm schwerer, es nach der Jagd wieder hinabzudrängen.

»Hätte ja sein können, dass du mit Jean unterwegs bist.« Tristan schlenderte zu der winzigen Küchenzeile und füllte Wasser in den Teekocher. »Ich habe deinen Wagen gehört, als du heute Morgen zurückgekommen bist.« Er sah kurz über die Schulter zu ihm. »Hast du dich mit den beiden Tschechen getroffen?«

»Warum kann ich nichts vor dir geheim halten?« Es tat gut, sich auszustrecken. Er durfte nur nicht die Augen schließen, dann würde ihn der Schlaf schneller packen, als er ihn abschütteln konnte.

»Ich wittere so was.« Er füllte Kaffeepulver in zwei Becher und goss es mit kochendem Wasser auf. »Zu irgendetwas muss mein hervorragender Zinken ja gut sein.«

»Hervorragend. Wortwörtlich.« Nur ein Schmeichler würde dazu scharf geschnittenes Profil sagen.

»Hier.« Tristan reichte ihm eine der Tassen und setzte sich zu ihm. »Als Marcel gegen Morgen aus dem Jekylls & Hide gekommen ist, hat er einen alten Kauz vor dem Fabrikzaun herumlungern sehen.«

»Das ist Berlin. Hier gibt es jede Menge seltsame Leute. Sieh uns an.«

»Er sagt, er hätte gegen das Tor gepisst.«

Auch das geschah.

»Marcel ist sich sicher, dass der Mann zu unserer Spezies gehörte, und auf seine Nase ist ebenfalls Verlass.«

»Er hat ein fremdes Revier markiert?« Der Kerl litt offenbar an Größenwahn.

»Ich sage dir, dass jemand an unseren Zaun pisst und du redest von Markieren?« Tristan stellte die Tasse beiseite. »Wir sind keine Hunde, oder hast du dich jemals dazu hinreißen lassen?«

Nein, das hatte er nicht. »Heinrich.« Nur er war zu so etwas im Stande. »Jeder andere würde anrufen oder eine Nachricht schicken, wenn er mich treffen will, aber Heinrich packt seinen alten Schwanz aus und pisst mir ans Bein!« Ihm war danach, die Tasse an die Wand zu pfeffern. »Das ist mein Revier und diese Fabrik ist meine Burg! Wie kann er es wagen?«

»Unser Revier, unserer Burg und nicht dein Bein, sondern das Tor.« Er nahm ihm die Tasse ab. »Hast du dich gefangen oder soll ich deinen Kaffee noch ein bisschen für dich verwahren?«

»Dieser alte Drecksack!«

»Dein Lehrer aus Tschechien?«

»Lehrer?« Wenn es nur das wäre! »Er ist ein Mörder und Sadist und ich wünschte …« Er biss die Zähne zusammen.

»Wir haben unseresgleichen auch hin und wieder in irgendwelchen Seen versenkt, wenn der Zug für sie abgefahren war.«

»Sprich nicht von abfahrenden Zügen.« Der eiskalte Morgen am Bahnhof von Ostravice. Die Angst vor Heinrich hatte ihn würgen lassen.

Er würde hier aufkreuzen, jeden der Nachtjäger mustern und ihm die Namen derjenigen aufzählen, die seiner Meinung nach getötet gehörten. Vincent wäre der Erste in der Reihe.

Ihm wurde schlecht vor Wut.

»Wenn dem Kerl die Leute abgesprungen sind, steht er allein da.« In Tristans Blick schlich sich reine Hinterlist. »Damit ist er ein Einzelgänger, noch dazu in einem extrem fortgeschrittenen Alter.«

»Deine Idee ist gut, greift bei ihm jedoch nicht.« Heinrich war nicht wie der Graue. Er hatte sich ebenso gut im Griff wie Herbert. »Sollte er zu mir kommen, werde ich mir anhören, was er zu sagen hat, und ihn dann zum Teufel schicken.«

»Mach das, bevor er’s Maul aufreißt.« Er nippte an Nathans Kaffee statt an seinem. »Wenn dieser Gregor einen Revierkrieg vom Zaun bricht, hilft uns ein altes Biest ohnehin nicht.«

»Doch.« Heinrich musste nicht transformieren, um effizient zu töten. »Ich hasse es, aber sollte er uns seine Hilfe anbieten, werde ich ernsthaft überlegen, sie anzunehmen.« Verdammt! Am liebsten wäre es ihm, die Sache allein mit Gregor auf einer einsamen Lichtung auszutragen.

»Eventuell ist Vincent bald einsatzbereit.« Seinem Seufzen nach zweifelte Tristan an seinen eigenen Worten. »Mal sehen, was der Tag an Ergebnissen einfährt. Die Dame, die ich für ihn engagiert habe, kommt in zwei Stunden. Bis dahin sorge ich dafür, dass er außer Puste ist.«

»Du startest am ersten Tag einen Angriff auf seine Libido?« Das war zu riskant. »Mit oder ohne Nina?«

»Sowohl als auch, aber ich beginne ohne sie.« Sein Blick schweifte zu einer Spinne, die sich langsam von einem Regalbrett zum nächsten abseilte. »Laut ihres Internetauftrittes ist die Dame schräge Sachen gewohnt, doch sollte er wider Erwarten transformieren, haben wir ein Problem. Ein plötzlicher Wechsel der Augenfarbe ins leuchtend Gelbe wird sie misstrauisch machen.«

»Verbinde ihr die Augen und erkläre ihr, dass das Bestandteil der Session ist.«

Er schürzte die Lippen, nickte nach einer Weile. »Eine gute Idee.«

Sie hatte schon einmal funktioniert.

 

 

Heinrich

 

Seltsam, wie einen die Motivation verließ, wenn lauter Scheiße im Leben passierte. Nicht einmal ein Plastikbecherkaffee tröstete darüber hinweg.

Sein Sitzplatz wurde langsam ungemütlich. So ein Mauervorsprung war eben keine Bank, aber er lag gegenüber von Nathans Schlupfwinkel. Beste Aussicht auf den Feind.

Nein, nein. Wer dachte denn so etwas? Nathan würde sein Verbündeter werden. Der Haufen faulendes Fleisch auf der Ladefläche des Jeeps überzeugte ihn. Das erledigte bereits der Gestank, der immer penetranter hervorquoll.

Maria war tot.

Gestern Nacht war Michal zu ihm gekommen. Die Wolfsrachen hätten sich geschlossen von ihm abgewandt, um bei Gregor unterzukriechen.

Nach fast dreißig Jahren schärfte sich Gregor die Krallen, um sie seinem alten Lehrer ins Fleisch zu schlagen? Undankbarer Bastard! Er hätte den Jungen nicht entkommen lassen dürfen. Nicht mit und nicht ohne dieses Mädchen. Sicherlich war sie tot und begraben, stückchenweise und seit Längerem. Es gehörte eine Menge dazu, das Biest unter der Knute zu halten, wenn tagein, tagaus eine verführerische Frau um einen schlich und ständig gevögelt werden wollte.

Sein altes Mädchen hatte nie genug von ihm kriegen können.

Nie, wirklich nie hatte er sich in, unter oder über Maria in das Monster verwandelt. Heinrich hatte es im Griff, und der war eisern und beständig. Das letzte Mal hatte das Biest kurz nach seinem zwanzigsten Geburtstag Freigang bekommen.

Es hatte gemordet und gemetzelt. Danach: Aus die Maus! Er hatte es so tief in sich hineingestopft, dass er nicht einmal wusste, wie es aussah. Bei Bedarf die Hand zu einer Klaue werden lassen, kein Problem. Oder die Fangzähne dulden, wenn sie gebraucht wurden. Alles andere war tabu. Der Lohn war ein Fest in zahllosen Frauenschößen. Diese Mischung aus Schmerz und explodierender Lust. Er liebte es.

Was die Jungen hart erarbeiten mussten und manche von ihnen niemals schafften, war ihm gelungen.

Disziplin. Daran mangelte es den meisten.

Und Einsicht, dass nicht jede Frau besprungen gehörte.

Maria. In ihr war nie ein Kind gewachsen. Ein Grund mehr, sich für sie zu entscheiden. Es war eine elende Sauerei, diese Drecksgene dem eigenen Sohn aufzuhalsen. Heinrich hatte es viel zu oft riskiert, aber nur bei einem war er sich sicher.

Milenas wunderschöne Augen hatten ihn aus dem dreckverschmierten Jungengesicht angesehen. Er hätte nicht nach dem Namen der Mutter fragen müssen, um es zu wissen.

Jetzt war der Junge ein Mann und hasste ihn ebenso wie alle anderen. Zum Teufel mit Gottes Launen. Es gab Dinge, die hätte er sich sparen können.

Ein Glatzkopf wankte über den Fabrikhof. Er fing sich am Tor, lehnte sich erschöpft dagegen. Es dauerte, bis er sich aufrappelte und auf die Straße schleppte.

Gehörte er ebenfalls zu Nathans Gemeinschaft? Wenn, durfte er vor der Verwandlung nicht vergessen, die Brille von der Nase zu nehmen. Du liebe Güte, war der Kerl alt.

Nun ja, nicht älter als er. Der Aktentasche nach, die unter dem Arm klemmte, war er wohl auf dem Weg zur Arbeit.

Die Glashütte in dem schmalen Tal am Fuße des Lysá Hora. Sie war nun verwaist. Traurig, so etwas. Wenn er das Scharmützel mit Gregor und den Verrätern überleben sollte, kehrte er dorthin zurück.

Um allein zu leben?

Sein Lachen packte die Welt für einen Moment in Wolken.

Das Biest würde hervorbrechen und sich nie wieder einfangen lassen. Ob es eine Woche oder einen Monat dauerte, spielte keine Rolle. Ein Einzelgänger in seinem Alter besaß nicht die geringste Chance.

Ein Geländewagen hielt vor ihm. Langsam senkte sich Seitenfenster und Michals breites Gesicht kam zum Vorschein.

»Steig ein, wir müssen reden.«

»Haben wir schon.« Es hatte ihn nur unglücklich gemacht.

»Eben nicht!« Der Junge schlug aufs Lenkrad. »Du bist abgehauen, bevor ich zum Wichtigen kommen konnte und jetzt gibt es immer mehr und es entwickelt sich immer schneller!«

Marias Tod war wichtig.

»Steig ein, verdammt!«

Wenn es sein musste. »Wo fahren wir hin?«

»Nur um die Ecke.« Fluchend fuhr er los. »Zuerst bringen sie dich um, dann stehlen sie Nathan jeden einzelnen Mann und wer nicht überwechseln will, wird ermordet.«

»Das ist ihr Plan?« Er war logisch. »Gregor bleibt nichts anderes übrig. Er weiß, dass ich mich mit Nathan zusammenschließen werde.«

»Typisch«, murmelte Michal. »Du willst etwas und meinst, jeder müsste damit einverstanden sein. Aber was ist, wenn Nathan lieber mit seinem früheren Freund gegen seinen sadistischen und durch und durch grausamen Lehrer ins Feld zu ziehen gedenkt?«

Gütiger, bog er scharf um die Kurve. Ein Wunder, dass der Wagen nicht aus den Latschen kippte.

»Heinrich, du kannst niemandem mehr trauen, auch Nathan nicht.« Er fuhr in eine Einfahrt, die im Nirgendwo zu enden schien.

Müllcontainer, Flaschen, die zur Hälfte aus dem Schnee ragten, zerbeulte Getränkedosen, jede Menge leere Plastiktüten.

»Vielleicht gehört er längst zu den Wolfsrachen, was weiß ich? Bronco und Milos reden ständig davon, dass sie in den innersten Kreis der Nachtjäger vorgedrungen sind, aber wenn ich sie frage, was genau sie damit meinen, schweigen sie.«

»Die beiden vertrauen dir nicht.« Das lag auf der Hand. »Vielleicht ahnen sie, dass du mich gewarnt hast.«

»Doch, doch. Sie vertrauen mir.« Er zog sich die Jacke aus, zerrte den Pullover nach oben. »Sonst hätten sie mir gestern Nacht nicht das hier verpasst.« Er drehte sich mit dem Rücken zu ihm.

Jede Menge geschwollene, rote Haut und eine verschnörkelte, verbrannte Linie.

»Was soll das sein?«

»Ein Wolfskopf mit offenem Maul natürlich.« Michal zog sich wieder an. »Bronco will jedem Neuen so ein Brandzeichen verpassen.«

»Ihr seid Biester, keine Kühe.«

»Ach!«

Irgendetwas lief komplett falsch in Gregors Haufen. »Hat er auch so ein Ding?«

»Wer?«

»Gregor.« Wer sonst?

»Keine Ahnung. Er steckt immer noch in dem verfluchten Bunker. Der Besuch seines Sohnes ist ihm nicht bekommen.«

»Seines Sohnes?« Holla! »Er und dieses Mädchen haben ein Kind?«

»Wegen dem läuft der ganze Scheiß, vor allem, weil der Kerl in Nathans Gefolge herumhängt und offenbar kein Interesse daran hat, die Seiten zu wechseln.«

»Kluger Junge.« Bei Nathan war er besser aufgehoben.

»Ich weiß nicht, weshalb ich für dich meinen Hals riskiere«, knurrte Michal. »Aber tu mir einen Gefallen und stell sicher, dass jeder, dem du meinst vertrauen zu wollen, kein Brandzeichen trägt!«

»Wenn das so ist.« Der Junge hatte es nicht anders gewollt.

Ein Schlag gegen die Schläfe und Michal sank zur Seite.

Heinrich zerrte ihm die Jacke aus, stopfte ein Stück des Ärmels in Michals Mund und band den anderen um die Handgelenke des Jungen.

Vier saubere Schnitte mit dem Messer, ein kleiner Ruck, und das Problem war aus der Welt.

Michal schrie in den Knebel, bis ihm die Augen aus den Höhlen traten.

»Tut mir leid.« Er befreite erst den Mund, dann die Arme. »Ich will dir vertrauen und das werde ich auch.«

Keuchend sank Michal auf das Lenkrad. »Du bist ein Schwein, Heinrich.«

Irgendwo hatte er das schon einmal gehört.

»Ich kann Jakub verstehen.« Fuchsteufelswild starrte er ihn an. »Du hast den Tod verdient!«

»Vorsicht mit deinen Worten.« Noch eines mehr und das Messer würde ihm in der Kehle stecken. »Ich finde den Weg allein zurück.« Besser, er klopfte ihm nicht auf den Rücken. »Pass auf, dass du nicht den Sitz vollblutest. Bronco und Milos könnten misstrauisch werden.« Er stieg aus, wischte die Klinge an der Hose sauber.

Noch ein Souvenir für Nathan.

Heinrich steckte den Hautlappen in die Jackentasche, während Michal mit quietschenden Reifen davonfuhr.

 

 

Vincent

 

Keinen Atem, keine Beine. Nur sein Herz war übrig und pochte sich um den Verstand. Dass Herbert gegangen und Marcel gekommen war, hatte er nur durch flimmernden Nebel mitbekommen.

»Du machst das sehr gut«, drang Marcels Stimme durch das Dröhnen in seinem Kopf. »Achtung, ich schalte jetzt runter.«

Vincent rutschte vom Laufband wie ein nasser Lappen. Sein Hals brannte vor Trockenheit, dafür lief ihm der Schweiß in die Augen. Das rostige Waschbecken an der Wand. Seit gefühlten Ewigkeiten hatte er es im Visier. Auf wackligen Beinen schwankte er hinüber, trank das nach Metall schmeckende Wasser.

»Tu das nicht.« Mit gerümpfter Nase ließ Marcel den Blick über das mit öligen Flecken übersäte Emaillebecken und den mit Patina überzogenen Wasserhahn gleiten. »Zu der Zeit, als sie hier Farben gerührt haben, gab es weder Umweltengel-Siegel noch ernst zu nehmende Wasserschutzmaßnahmen.« Er hielt ihm eine Wasserflasche hin. »Nur ein paar Schlucke. Sonst kotzt du weißen Schaum.«

Vincent rutschte an der Wand hinab. »Sagt doch einfach, wenn ihr mich loswerden wollt.« Ein sauberer Kehlbiss wäre ihm lieber als diese Tortur.

»Wir müssen dich ein bisschen auspowern, damit du die nächste Hürde möglichst problemlos nimmst.« Er hielt ihm die Flasche immer noch hin.

Vincent wollte sie ergreifen, aber sie glitt ihm aus den Fingern.

Marcel lachte leise, hob sie auf, schnippte den Verschluss in die Ecke und setzte sie an Vincents Lippen an. »Kleine Schlucke, okay?«

Er war noch nie so durstig gewesen.

»Siehst du die Hantelbank?« Mit dem Daumen wies er zu einem Gerät, das Vincent nur verschwommen wahrnahm. »Sie ist deine nächste Station.«

»Keine Chance.« Nicht einmal die paar Meter dorthin würde er schaffen.

Irgendwo fiel eine Tür ins Schloss.

»Habe ich was verpasst?« Tristans Silhouette tauchte in Vincents Sichtfeld auf.

»Einen Fast-Herzinfarkt.«

Marcel schlug ihm tröstend auf die Schulter. »Ach was. Deine Leistung war den Umständen entsprechend ausgesprochen gut.«

»Fein.« Tristan beugte sich zu ihm, zog ihm ein Augenlid hinab und schürzte für einen Moment zweifelnd die Lippen. »So, wie er aussieht, ist er bereit für eine gewisse Dame, die übrigens jetzt schon Geld kostet.«

»Er ist noch nicht fertig.«

»Sieht aber fertig aus.« Mit Schwung zog ihn Tristan auf die Beine.

»Bin ich auch.« Vincent taumelte gegen ihn. »Bring mich hier weg, sonst bezahlt ihr die Frau umsonst.«

Tristan lächelte eine Spur zu hämisch, um es gut mit ihm zu meinen. »Du denkst, das hier sei grausam?« Er wechselte mit Marcel einen Blick. »Na, dann warte es ab.«

»Woher kennst du sie?« Auf Marcels Stirn bildete sich eine tiefe Falte. »Können wir ihr trauen?«

»Egmont hat mir ihre Nummer gegeben. Sie wäre in vielen Dingen geübt und ausgesprochen diskret.«

»Egmont«, zischte Marcel. »Ausgerechnet.«

»Sie oder eine von deinen. Such dir was aus.«

Einen Augenblick schien Marcel über die Frage zu brüten, doch schließlich wedelte er genervt mit der Hand und Vincent war entlassen.

Tristan scheuchte ihn den viel zu langen Weg zu den Duschen. »Hüpf kurz unters kalte Wasser und dann geht’s weiter.«

Vincent gehorchte wie im Halbschlaf, schleppte sich danach hinter Tristan her in den ersten Stock.

»Unser Verhörraum.« Tristan stieß eine Tür auf. »Wie in den Cop-Serien.«

Ein Tisch, zwei Stühle, eine funzelige Glühbirne darüber und ein riesiger Spiegel an der Wand.

»Nathan fand ihn anfangs moralisch fragwürdig, doch nach den ersten noch wesentlich fragwürdigeren Anwärtern konnte er sich damit aussöhnen.«

»Lass mich raten, ihr seht mich, ich euch aber nicht.«

»Exakt.« Lässig rückte er ihm einen der Stühle zurecht. »Nimm Platz und genieße.« Mit einer knappen Geste zur Glasfläche winkte er wen auch immer heran.

Keine Minute später betrat eine Frau den Raum, deren Lächeln subtilere Qualen als die Laufband-Tortur versprach. Ihre hellbraunen Haare waren zu einem Knoten geschlungen, ihr kurvenreicher Körper steckte in einem eng geschnittenen schwarzen Zweireiher, aus dessen tiefem Ausschnitt ein Hauch roter Spitze hervorlugte.

»Yvonne, das ist Vincent. Vincent, deine heutige Herausforderung.« Tristan fasste ihm hart ins Genick. »Lass sie machen, was immer sie will«, flüsterte er. »Wir haben alles im Blick, sie jedoch nicht.« Sein Lächeln zu ihr strotzte vor Charme, während er ein dunkles Tuch aus der Gesäßtasche seiner Jeans zog. »Darf ich?«

»Wenn es sein muss.«

Sie hatte Angst. Nicht genug, um danach zu riechen, aber das Gefühl zitterte dennoch in ihrer Stimme.

»Ich sagte ja, dass wir es mit einem Problemfall zu tun haben.« Sein Zwinkern galt Vincent. »Nicht von seltsamen Lauten oder sonstigen befremdlichen Wahrnehmungen irritieren lassen. Wir beobachten euch jede Sekunde und wenn es aus dem Ruder läuft, greifen wir ein.« Er zeigte zu ein paar korkengroßen Mikrofonen an der Decke und in den Zimmerecken, was sinnlos war, da es Yvonne nicht bemerken konnte. »Wir hören jedes Wispern, jedes Schnaufen, jedes noch so leise Knurren.«

»Knurren?« Ihre Brauen schoben sich über die Kante des Tuches. »Das kommt mir bekannt vor.«

»Denke ich mir.« Tristan führte sie zu ihm, legte ihre Hand auf Vincents Schulter. »Leg sacht los und steigere dich ganz nach Gutdünken.«

Geschmeidig nahm sie auf Vincents Schoß platz, fuhr ihm durch die noch feuchten Haare. »Genieße mich.« Ihr Flüstern klang rau und dunkel genug, um es in ihm pulsieren zu lassen.

 

 

Nina

 

Sagt mal, habt ihr den Schuss nicht gehört? Weihnachten steht vor der Tür und ihr lasst mich allein? Was habe ich mir mit euch bloß ins Haus geholt? Und komm mir nicht mit, Manu wäre wieder gesund. Sie schleppt sich durch die Gegend und das seit drei! Wochen. Hättest du nicht warten können, bis ich Ersatz für Annika gefunden habe? Nein, anscheinend nicht. Nimmst dir einfach Urlaub in der Urlaubssperre. Rate mal, warum das so heißt!

Mädchen, ich weiß nicht, ob ich dich noch einmal hier sehen will. Ich sag’s dir, wie’s ist. Ihr habt alle keinen Mumm mehr in den Knochen.

Keine Grüße,

Bo

 

Als würde er neben ihr stehen und auf sie einpoltern. Nina fühlte sich wie eine Verräterin, was sie in Bos Augen auch war. Dennoch blieb ihr nichts anderes übrig. Vincents Training hatte Vorrang. Schmiss sie Bo raus, musste sie sich eben einen neuen Job suchen. Ohne Annika war es in der Heckenrose ohnehin nicht mehr dasselbe. Nachdem Annika am Teufelssee etwas gesehen hatte, was es in ihrer Welt nicht geben durfte, war sie wieder zu ihren Eltern nach Süddeutschland gezogen. Nina hatte versucht, mit ihr darüber zu sprechen, doch Annika hatte sie weggedrückt. Auch ihre Nachrichten beantwortete sie nicht. Vielleicht war es besser so. Die Wahrheit hätte sie ihr ohnehin nicht verraten dürfen.

Nina zog die Mütze weiter über die Ohren, ging ein paar Schritte am Spreeufer entlang. Hin und her, immer im Schatten der Fabrik, in der Vincent unter Nathans Fuchtel seine Disziplin beweisen musste. Tristan wollte ihr Bescheid geben, wenn sie dazukommen sollte.

Ob die Frau in dem Ledermantel schon bei ihm war? Tristan war ihr auf dem Fabrikhof entgegengeschwebt, um ihr die Autotür aufzuhalten. Mit ihren glänzenden, hochhackigen Stiefeln war sie neben ihm durch den Schneematsch gestöckelt. Ob sie ahnte, was ihr blühte? Sicherlich nicht, sonst hätte sie nicht auf diese dominant-überhebliche Weise gelächelt.

Warum hatte es Tristan mit dieser Art Training so eilig?

Ein Stich in ihrem Magen. Oder war es in der Brust?

Dieser Frau lagen garantiert Dutzende Männer zu Füßen, und jedem von ihnen befahl sie ihre Stiefel zu lecken. Mit oder ohne Streusalzrändern.

Das bohrende Gefühl in ihr wurde immer stärker. Hätte sich Nathan bloß darauf eingelassen, dass sie solche Dinge mit Vincent trainierte, aber davon hatten weder er noch ihre Brüder etwas wissen wollen. Wir lassen lieber eine fremde Leiche verschwinden als deine. Jean hatte ihr zugezwinkert und anschließend hart genug auf den Rücken geklopft, dass ihre Lunge geflattert hatte. Sollte diese Art Training zur Regel werden, würde sie Vincent persönlich durch die Lektionen peitschen. Je schneller er seine Triebe beherrschte, umso besser für alle Beteiligten.

In ihrer Jackentasche vibrierte es.

Wäre gut, wenn du dich langsam hier blicken lässt. Unser Tier braucht seine Hüterin.

Na endlich!

Nina rannte in die Fabrik, sprintete die Treppe hinauf in den ersten Stock.

Tristan wartete vor dem Beobachtungsraum und lächelte ihr angespannt entgegen. »Noch sind alle Beteiligten lebendig, aber es kriselt etwas.« Er schob sie in den verdunkelten Raum. »Yvonne versteht ihr Fach zu gut. Jeder andere hätte vor Begeisterung das gemacht, was von ihm erwartet wird, und zwar hintereinanderweg. Aber Vincent blockiert, und zwar den Mann in sich.« Nebenbei zupfte er an einer ihrer Haarsträhnen. »Ich schätze, das macht er für dich, leider bringt uns das nicht weiter.«