Jäger der Schatten - Rebecca Andel - E-Book

Jäger der Schatten E-Book

Rebecca Andel

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Beschreibung

Düster-romantische Fantasy in einer viktorianischen Welt – für Leser*innen von Leigh Bardugo und Erin Morgensterns »Der Nachtzirkus« »Manchmal, wenn ich durch die Gitterstäbe in ihre Gesichter blicke, stelle ich mir vor, dass in Wirklichkeit sie diejenigen sind, die in einem Käfig sitzen. Dass ich mich an einem sehr kleinen Ort der Freiheit befinde und die Welt um mich herum ein sehr großer Käfig ist, in dem sie alle gefangen sind.« Schattenmädchen. Dämonin. Scheusal … Louise hat viele Namen. Eingesperrt in einen Käfig wird sie im Zirkus Ora als Monster ausgestellt. Ihr einziger Lichtblick ist Eli, der Trapeztänzer, der ihr mit seinem Windtanz das Herz gestohlen hat. Doch eines Nachts wird Eli von Unbekannten entführt, und als er Tage später zurückkehrt, ist er wie ausgewechselt, streitsüchtig und bösartig. Als Louise nach Antworten sucht, stößt sie auf eine uralte Legende, die nur im Flüsterton erzählt wird. Eine Legende über Wesen, die in den Schatten wohnen und sich an der Menschheit rächen wollen: die Achai … »Ich musste es sofort haben. Das Cover, der Klappentext – genau mein Ding. Düster, viktorianische Welt, ein Zirkus. Und tatsächlich gefiel es mir auch sehr.« ((Leserstimme auf Netgalley)) »Zuerst einmal muss ich sagen, dass die Autorin die düstere und mystische Atmosphäre des bizarren Wanderzirkus und seiner Attraktionen mit ihrem Schreibstil perfekt eingefangen hat. Ich habe mich von dem Buch völlig gefangen nehmen lassen und war richtig verzaubert.« ((Leserstimme auf Netgalley)) »Fazit: Ein spannendes, düster-fesselndes Fantasybuch.« ((Leserstimme auf Netgalley))

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Seitenzahl: 490

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© Piper Verlag GmbH, München 2021

Redaktion: Antje Steinhäuser

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Karte: Ingrid Ellhotka

Covergestaltung: Giessel Design

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

 

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Cover & Impressum

Karte

Danksagung

Teil Eins Zirkus

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Teil Zwei Wächter

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Epilog

 

Danksagung

Ich danke dem Literaturreferat der Stadt Wien, das vorliegendes Werk 2019 mit dem Wiener Arbeitsstipendium für Literatur unterstützt hat. Das Stipendium war für mich eine unschätzbare Hilfe für die Fertigstellung.

 

Von ganzem Herzen danke ich meinen Testleserinnen Susa und Nelly sowie meinen Testlesern Thomas, Michi und Matthias. Ohne euch wäre dieses Buch niemals das geworden, was es heute ist.

Ganz herzlichen Dank auch an Ingrid für die Landkarte.

Teil EinsZirkus

Kapitel 1

Vidunn

Manchmal, wenn ich durch die Gitterstäbe in ihre Gesichter blicke, stelle ich mir vor, dass in Wirklichkeit sie diejenigen sind, die in einem Käfig sitzen. Dass ich mich an einem sehr kleinen Ort der Freiheit befinde und die Welt um mich herum ein sehr großer Käfig ist, in dem sie alle gefangen sind.

Doch natürlich ist mir völlig klar, dass dieses Szenario nur in meiner Vorstellung existiert. Ich weiß, dass ich nur den Wind jage; dass ich versuche, Schatten zu fangen – wie man so schön über Menschen zu sagen pflegt, die zu viel Fantasie besitzen.

Ora zieht das Tuch von meinem Käfig. Das plötzliche Licht lässt mir Tränen in die Augen schießen. Doch ich halte sie krampfhaft offen und ignoriere den Schmerz.

Einige wenige Mutige stehen von ihren Plätzen auf und nähern sich zögerlich, um mich genauer zu mustern. Ein Raunen breitet sich aus, wabert zwischen den Wänden des Zirkuszeltes hin und her und wird schließlich von den Sägespänen in der Manege verschluckt.

Die Karbidlampen sind hell, viel zu hell. Dennoch widerstehe ich dem Drang, die Lider zusammenzukneifen.

Meine Augen sind nämlich die Hauptattraktion. Sie sind das, was die Zuschauer sehen wollen. Mein Haar und meine Haut – beides weiß wie Schnee – das haben vielleicht einige von ihnen schon einmal gesehen. Es ist selten, doch es kommt vor. Manchmal. Eine seltsame Laune der Natur, nicht wahr? Die Natur hat viele seltsame Launen.

Erst in Kombination mit meinen Augen machen meine Haut und mein Haar mich zur Dämonin, zum Schattenmädchen. Zum Scheusal. Zum Monster. Letztere Bezeichnung hasse ich am meisten. Die Zuschauer haben viele Namen für mich. Ora nennt mich immer nur Schattenmädchen, und doch bin ich letztlich schlicht ein Schrecknis. Sonst würde Ora mich wohl kaum in der Monstrositätenschau ausstellen.

»Achtung, meine Damen und Herren. Nicht zu nahe«, sagt Ora mit seiner tiefen, salbungsvollen Stimme. »Sie ist sehr gefährlich, wenn man sie reizt.« Nur ich höre den bestimmten Unterton, der klar macht, dass er diese Worte bereits zum zweiten Mal sagt und ich wieder meinen Einsatz verpasst habe. Hitze schießt in meine Wangen. Dafür wird er mich später schelten. Wie um mich zu mahnen, tritt Ora einen weiteren Schritt auf mich zu und leuchtet mir mit der Lampe ins Gesicht, sodass mich alle noch besser sehen können. Fast hätte ich vor Schmerz aufgejault. Stattdessen lege ich meine Finger um die Gitterstäbe, rüttle daran und lasse halbherzig ein tiefes Grollen aus meiner Kehle ertönen. Die Hälfte des Publikums zuckt zurück. Eine Frau zieht Riechsalz aus ihrer Handtasche, um es sich unter die Nase zu halten.

»Wie ich sagte, meine Damen und Herren …« beginnt Ora seinen Vortrag erneut. Das Licht flackert. Die Frau mit dem Riechsalz reißt die Augen auf und greift sich an die Brust. Das Licht flackert erneut. Und dann ist es weg.

Endlich, Dunkelheit. Ich seufze erleichtert, ziehe flink eine Haarnadel aus meiner Hochsteckfrisur und öffne damit innerhalb von Sekunden das Schloss an meinem Käfig. In der Dunkelheit zu sehen, hat mir noch nie Mühe bereitet. Genauso wenig wie das Öffnen von Schlössern ohne Schlüssel. Während sie alle verwirrt herumtasten und zögerlich versuchen, sich zu orientieren, mache ich einen Schritt, dann noch einen, bis ich genau neben der ängstlichen Riechsalz-Dame in der ersten Reihe stehe. Sie trägt ein enges Kleid, aus Seide und mit ausgeschnittenen Ärmeln, wie es für feine Damen in Drak gerade Mode ist. Es muss teuer gewesen sein. Ich beuge mich nach vorne, bis ich ihr schweres Parfüm riechen kann. Es bereitet mir diebische Freude, gleich herauszufinden, ob sie nur simuliert.

Genau im richtigen Augenblick glimmt das Licht wieder auf. Genau im richtigen Augenblick breite ich die Arme aus und brülle diesmal lauter, noch tiefer. Die Frau fällt in Ohnmacht, wird aber von ihrem Begleiter aufgefangen, bevor sie von ihrer Bank rutscht. Neugierig betrachte ich sie.

Offensichtlich ist sie doch keine Simulantin. Oder? Sie kommt erstaunlich schnell wieder zu sich, fasst sich erneut an die Brust und starrt mich aus großen Augen an. Ihr Begleiter hält sie zwar galant im Arm, doch auch in seinem Blick kann ich einen Anflug von Angst lesen.

Ora knallt mit seiner Peitsche. »Zurück in deinen Käfig, Schattenmädchen!«, befiehlt er.

Ich baue mich drohend auf und brülle erneut.

»Geh zurück in den eiskalten Abgrund, aus dem du gekrochen bist!«, faucht Ora und kommt näher, lässt drohend die Peitsche wippen. Ich fauche zurück, senke den Kopf und mache langsam ein paar Schritte in Richtung Käfig. Ora hebt effektvoll die Hände, gestikuliert ausdrucksstark. Noch einmal bäume ich mich auf. Ora gestikuliert heftiger. Schließlich setze ich einen Fuß nach hinten, begebe mich zurück in mein Gefängnis.

Ora stürzt auf den Käfig zu und windet schwere Eisenketten um die Gitterstäbe. Er verschließt sie mit einem noch größeren Schloss als jenem, das ich zuvor geöffnet habe. Dann seufzt er gespielt erleichtert auf, wischt sich imaginären Schweiß von der Stirn und macht eine ausschweifende Verbeugung.

Jubel breitet sich aus. Keine faulen Eier. Nicht heute. Vielleicht liegt es an der berühmten Vidunner Zurückhaltung. Oder ich hatte einfach Glück. Unauffällig macht Ora das Zeichen, mich mitsamt meinem Käfig wieder hinter den Vorhang zu karren.

Eduard eilt herbei und tut, wie ihm geheißen. »Großartig, Louise«, flüstert er mir noch zu, dann huscht er wieder in die Manege, um alles für Vincents Pferdedomptur aufzubauen.

Ich lege meinen Kopf in die Hände und atme tief durch. Hier, in dem kleinen Bereich zwischen den beiden Vorhängen, ist es dunkel. Die Dunkelheit tut meinen Augen gut, und ich kann augenblicklich spüren, wie mein Körper sich entkrampft. Als Ora zu reden beginnt, ziehe ich eine weitere Haarnadel aus meiner hochgesteckten Frisur. Eine zu viel, denn mein Haar löst sich und fließt mir weiß glänzend über die Schultern. Doch es stört mich nicht. Ich stecke die Haarnadel in das Schloss an der Eisenkette und suche den Widerstand, der den Mechanismus öffnet. Ein leises Klicken erklingt und das Schloss springt auf. Noch eine Sache, wegen der Ora mich schelten wird. Eigentlich soll ich auf ihn warten, bis er kommt, um aufzuschließen. Er behauptet, dass die Schlösser zu schnell kaputt gehen, wenn ich sie zu oft aufbreche. Das stimmt nicht. Ich weiß, was ich tue. Doch Ora, der immer recht haben muss, beharrt felsenfest darauf.

Dies kümmert mich im Moment nicht. Oras Sermon zwischen meinem Part in der Vorstellung und Vincents Auftritt dauert eine halbe Ewigkeit. Ora füllt die Zeit mit langen Reden darüber, wie er Maku, Dorothea und mich auf seinen langen Reisen gefunden hat. Alles davon ist schamlos erlogen, wie etwa die Geschichte darüber, dass Maku von Wölfen aufgezogen wurde oder ich mit meinem Blick Menschen versteinern kann. Ich kenne jede einzelne von Oras Lügengeschichten seit Ewigkeiten auswendig und will nicht länger warten. Zuvor, als Eduard mich in die Manege karrte, konnte ich Stimmen aus dem kleinen, abgetrennten Bereich für die Artisten hören. Ich glaube, dass Elis Stimme darunter war und dass er wütend klang.

Dieser Sache muss ich unbedingt nachgehen, denn Eli klingt nur selten wütend, eigentlich niemals. Irgendetwas muss ihn furchtbar aufgeregt haben.

Achtlos lasse ich Kette und Schloss zu Boden fallen und steige aus meinem verhassten Käfig. Der Schein der Karbidlampen dringt durch den zweiten Vorhang, hinter dem der Bereich für die Artisten liegt. Ich rümpfe die Nase. An den Geruch der Lampen werde ich mich niemals gewöhnen; sie stinken nach Knoblauch. Außerdem sind sie viel zu grell. Doch Ora ist ganz vernarrt in die Lampen. Wenn man ihn auf sie anspricht, schwillt seine Brust vor Stolz, und er verliert sich in langen Vorträgen darüber, dass kein anderer Zirkus der Welt eine so moderne transportable Beleuchtungstechnik besitzt wie der Zirkus Ora; weder in Luzerien noch in Vena. Die anderen Zirkusse können entweder in Gebäuden auftreten, in denen es Gasleitungen gibt, oder mit ihrem Zelt herumreisen und Vorstellungen geben, solange das Licht des Tages von oben ins Zelt scheint. Nur der Zirkus Ora besitzt sowohl ein Zelt als auch die notwendige Beleuchtung, um bei Dunkelheit Aufführungen zu geben. Oras gute Kontakte zu den Chemikern in Leburg haben ihm die Lampen verschafft. So behauptet er es zumindest; aber man darf ihm wahrlich nicht alles glauben, wie an seinen Lügengeschichten über meinen Todesblick unschwer zu erkennen ist. Ich kneife die Augen ein wenig zusammen, wappne mich für das gleißende Licht, das mir gleich entgegenstrahlen wird, und öffne den zweiten Vorhang.

Sofort kann ich spüren, dass etwas in der Luft liegt. Maku und Dorothea sitzen in dem kleinen, abgetrennten Bereich hinter dem Vorhang auf Bänken. Dorothea hat tröstend einen Arm um Maku gelegt. Maku hält ein Tuch gegen seine Wange und starrt Eli aus großen Augen an. Eli hat die Stirn gerunzelt und wandert mit langen Schritten vor ihm auf und ab. Als mein Blick auf ihn fällt, rauft er sich gerade die ohnehin schon wirren Locken, die um einiges länger sind, als es der Mode entspricht.

»Es ist nicht so schlimm, Eli«, sagt Maku soeben kleinlaut.

Eli hält inne und sieht Maku an.

Ich öffne den Mund, um etwas zu sagen, schließe ihn jedoch wieder. Noch weiß ich nicht, um was es geht. Ich habe jedoch eine gewisse Ahnung.

Elis Blick wird traurig. Er kniet sich vor Maku hin und berührt sanft die Wange, die Maku gerade nicht mit seinem Tuch abreibt. »Es tut mir leid«, sagt er erstickt. »Ich wollte nicht … Natürlich rede ich nur mit Ora, wenn du nichts dagegen hast. Aber es ist nicht richtig, dass …«

»Es ist doch nun schon einige Male passiert«, grummelt Maku und reibt weiter mit dem Tuch über seine Wange. »Irgendwann gewöhnt man sich daran. Igitt, ich muss mich waschen gehen. Er hat zuvor auch noch die Nase hochgezogen. Igitt.«

Eli knurrt. »Was hat er zu dir gesagt?«, fragt er heiser.

Maku verzieht das Gesicht. »Ich will das wirklich nicht wiederholen. Sonst muss ich mir auch noch den Mund auswaschen.«

Ein bleischweres Gewicht fällt in meinen Magen, als mir klar wird, was passiert sein muss. Einer der Zuschauer hat Maku beschimpft. Angespuckt. Schon wieder. Als es zum ersten Mal geschehen ist, hat Maku zu weinen begonnen. Beim zweiten Mal konnte er die Tränen gerade noch zurückhalten. Und nun hat er sich bereits daran gewöhnt. So wie ich mich daran gewöhnt habe, angespuckt oder mit faulen Eiern beworfen zu werden.

Am liebsten hätte ich vor Wut aufgeschrien. Stattdessen setze ich mich neben Maku auf die Bank und fahre ihm vorsichtig über das Haar. Besorgt tausche ich einen Blick mit Eli, der noch immer vor mir und Maku kniet. Seine dunklen Augen bohren sich in meine.

Eli macht ein ratloses Gesicht. Dann steht er auf und wandert erneut nervös herum. Erst jetzt wird mir bewusst, wie nahe er mir gerade war.

Maku drückt sich enger an meine Seite und sieht mich blinzelnd von unten an. »Wie war es bei dir, Louise?«, fragt er, als würde er vom Thema ablenken wollen.

Ich zucke mit den Schultern. »Wie jeden Abend«, antworte ich leise.

»Dein Dämonengrollen wird immer besser«, sagt Maku und verzieht den Mund zu dem breiten, spitzzähnigen Grinsen, das mit der richtigen Beleuchtung ebenfalls schon einige Damen in Ohnmacht hat fallen lassen »Du hörst dich wie eine richtige Dämonin an.«

Ich lächele nachdenklich zurück. Es gibt unzählige Fragen, die ich Maku gerne stellen würde. Kannst du nachts schlafen, wenn dich wieder jemand angespuckt hat? Ich kann es nicht. Wenn es passiert, wälze ich mich bis zum Morgengrauen in den Laken. Hat Ora dir die Zähne spitz gefeilt? Hat er dir diese Zeichen in die Haut geritzt? Oder ist es wirklich in Awhen so Mode? Tut das nicht fürchterlich weh? Wie ist dein wahrer Name, der Name, den du von deinen Eltern bekommen hast? Kennst du ihn überhaupt? Kannst du dich an deine Eltern erinnern? Denn natürlich muss Maku Eltern gehabt haben. Er wurde ganz sicher nicht von Wölfen aufgezogen, es sei denn diese Wölfe sprachen fließend Masonisch, Ankorisch, Drak, Teskisch und noch zwei weitere Sprachen, deren Namen ich nicht einmal aussprechen kann. Sprechende Wölfe, das würde Ora gefallen. Sicher würde er ihnen bunte Kostüme anziehen und sie in der Manege Lieder trällern lassen. Maku ist jedenfalls nicht wirklich Makus Name, das weiß ich. Ora hat ihn so benannt, er findet, dass es exotisch klingt.

Ich reiße mich aus meinen wirren Gedanken. Jedenfalls darf ich Maku meine unzähligen Fragen nicht stellen, das wäre unangebracht.

Elis Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. »Soll ich wirklich nicht noch mal mit Ora reden, Maku?«, fragt er.

»Eli«, sagt Dorothea entschlossen und steht auf. Sie stützt die Hände in die Hüften, eine Geste, die mahnend wirkt, auch oder sogar, weil sie Eli nur etwa bis zum Bauchnabel geht. »Lass es auf sich beruhen. Du siehst doch, dass er nicht darüber sprechen will.« Sie setzt sich wieder und klopft Maku sanft auf den Rücken.

Maku schüttelt den Kopf. »Mit Ora zu sprechen hat nach der Sache mit Louise und den faulen Eiern doch auch nicht geholfen«, meint er. »Ich muss mich wohl einfach noch weiter daran gewöhnen.« Er zögert kurz und drückt sich schließlich noch enger an mich. »Wenn, dann soll Louise mit ihm reden«, flüstert er. »Sie weiß, wie das ist.«

Eli schüttelt wieder den Kopf. »Das ist nicht richtig«, murmelt er erneut vor sich hin. »Du bist doch noch ein Kind. Und ich muss sowieso ein ernstes Wort mit Ora sprechen. Ich kann ebenfalls nicht mehr so weitermachen. Es muss sich hier etwas ändern. Auch das mit Louise und Dorothea. Auch diese Sache mit den Ein-«

Ich hüstele leise. Mir ist völlig klar, was Eli sagen will. Unsere Blicke treffen sich, und ich deute mit dem Kopf warnend auf Maku. Dorotheas Stirn hat sich ebenfalls verdüstert. »Eli«, sagt sie leise und bestimmt.

Eli schließt sofort den Mund. Fast hätte er es verraten. Das Geheimnis, von dem Maku nichts erfahren soll. Er ist noch zu klein; zehn oder elf vielleicht, obwohl wir es nicht genau wissen. Es ist nicht gut, wenn schon jetzt Recht und Unrecht in seiner Vorstellung verschwimmen. Darauf haben Eli, Vincent, Eduard, Marie, Dorothea und ich uns geeinigt. Ora ist es völlig egal, ob Maku davon erfährt oder nicht, doch zumindest hat er zugestimmt, ihm nicht zu erzählen, warum wir in manchen Nächten aus dem Zirkus verschwinden.

Manchmal frage ich mich, woher Maku sein wahres Alter kennt. Ich kenne meines nicht; ich bin ein Findelkind. In meinen dunkelsten Nächten kann ich es meinen Eltern nicht einmal übel nehmen, dass sie mich ausgesetzt haben. In meinen dunkelsten Nächten, in denen ich mich zwischen den Laken wälze, stimme ich ihnen zu; ich bin tatsächlich ein Monster. Ora hat mich aus dem Waisenhaus mitgenommen, als ich ein kleines Mädchen war. Weil mich sonst niemand wollte. Jeder fürchtete sich vor mir. Zumindest erzählt er diese Geschichte gerne. Ich kann mich nicht an ein Waisenhaus erinnern, nur an den Zirkus. Vielleicht ist auch das mit dem Waisenhaus nur eine von Oras Lügen. Es ist, als wäre da immer nur der Zirkus gewesen. Der Geruch von kandierten Kastanien, die fröhliche Musik aus Leierkästen, die Gesichter, die Tag für Tag an mir vorüberziehen. Dorotheas Fürsorge. Sie hat mich aufgezogen wie eine Mutter, genauso wie sie jetzt Maku aufzieht. Der Knoblauchgeruch der Lampen. Mein Wagen, in dem ich meine wenigen Habseligkeiten aufbewahre, meine Bücher, meine Kleidung. Kaltes Wasser aus dem Brunnen, das ich erst mühsam auf meinem kleinen Öfchen erhitzen muss, um mich in einem winzigen Zuber zu waschen Alle paar Wochen eine neue Stadt, neue Gesichter.

Vor einer Weile habe ich Eli gefragt, wie alt er ist. Entweder er weiß es ebenfalls nicht, oder er will es mir nicht verraten. Bei Eli kann man sich da nie so sicher sein. Er muss ungefähr Anfang zwanzig sein, einige Jahre älter als ich. Ich schätze, dass ich siebzehn oder achtzehn bin, genau weiß ich es nicht.

Würde ich in einem der Bücher leben, die ich so gerne lese, hätte ich jetzt sicherlich schon Heldentaten begangen oder meine wahre Liebe gefunden. Wahlweise beides. Das kommt ganz auf das Buch an. Doch ich bin sicherlich keine Heldin, und ich bezweifle auch stark, dass sich jemand in mich verlieben könnte.

Maku seufzt und unterbricht so erneut meine Gedanken. Er sieht Eli treuherzig an. »Soll ich euch meinen neuen Zaubertrick zeigen?«, fragt er.

Eli lächelt. Er spürt wohl, dass Maku nicht weiter über den Vorfall sprechen will. »Aber natürlich. Es wäre mir eine Ehre.«

Dorothea klatscht begeistert in die Hände. »Was hast du dir wieder ausgedacht, mein Schatz?«, fragt sie strahlend.

Maku richtet sich mit stolzgeschwellter Brust auf. Er verbeugt sich flüchtig und hebt dann die Hände. Die gleißende Karbidlampe flackert genau in diesem Moment ein wenig. Sein Gesicht wird ernst. »Eli, Louise, darf ich um eure Hände bitten?«, fragt er.

Das reißt mich vollends aus meiner düsteren Stimmung. Ich lasse mich von Makus Begeisterung anstecken, ziehe die Augenbrauen hoch und muss mich bemühen, nicht zu kichern. Er klingt so sehr wie Ora, dass es schon unheimlich ist. Ob es Absicht ist? Dennoch reiche ich ihm meine Hand. Eli grinst ihn breit an und kommt dann näher, um es mir gleichzutun. Die Grübchen in seinen Wangen lassen mein Herz auf merkwürdige Weise flattern. Er reicht Maku seine rechte Hand.

Maku hebt sie und betrachtet neugierig Elis Handfläche, auf der die seltsame Brandnarbe prangt. Mit etwas Fantasie – und davon habe ich wahrlich genug – erinnert sie an zwei große, geschwungene »W«, von denen eines auf dem Kopf steht und mit dem anderen durch schnörkelige Verzierungen verbunden ist.

»Woher hast du das eigentlich?«, fragt Maku.

Ich habe Eli einmal dasselbe gefragt, vor etwa einem Jahr, als er noch ganz neu im Zirkus Ora war. Damals habe ich nur eine ausweichende Antwort erhalten.

Eli hebt den Kopf und unsere Blicke treffen sich flüchtig, nur für einen Herzschlag. Dann sieht er wieder nach unten.

»Gut, ich verrate es euch«, sagt er leise. »Ausnahmsweise. Ihr dürft es aber nicht weitererzählen, ja? Das ist mir ziemlich peinlich.«

Sowohl Maku als auch ich nicken gespannt.

»Also schön«, sagt Eli gedehnt mit seiner warmen, weichen Stimme, die einen kaum wahrnehmbaren Akzent besitzt. Ich habe schon so oft versucht, ihn einzuordnen, doch ich komme einfach nicht darauf. Norn? Esnisch?

»Dort, wo ich früher gewohnt habe, besaß ich einen Ofen. Einen sehr schön geschmiedeten, gusseisernen Ofen …« Neugierig richte ich mich auf. Eli spricht nie über seine Vergangenheit. Ich habe keine Ahnung, wo er gewohnt hat, bevor er zum Zirkus Ora gekommen ist.

»Nun, ich hatte Hunger und wollte mir Eier kochen. Also feuerte ich den Ofen an, und um zu prüfen, ob er schon warm war, legte ich kurzerhand meine Hand dagegen …«

Maku prustet los.

»… er war warm«, endet Eli. »Sehr warm sogar. Zu meiner Verteidigung, ich hatte noch nie zuvor gekocht. Beim Zusehen hat es so furchtbar einfach ausgesehen.«

Nun muss auch ich lachen. »Das muss aber ein seltsamer Ofen gewesen sein, um so eine Narbe zu hinterlassen«, sage ich leicht spöttisch. Irgendwie kann ich mich des Gefühls nicht erwehren, dass Eli die Geschichte nur erfunden hat, um Maku zum Lachen zu bringen.

Eli zwinkert mir zu. »Ja, tatsächlich«, sagt er leichthin. »Überaus seltsam.«

»Die andere Hand«, sagt Maku. Ernsthaft reicht Eli ihm seine Linke. Maku hebt meine Hand, die er immer noch umklammert hält. Dann tut er dasselbe mit Elis Hand. »In die Hände klatschen«, befiehlt er.

Nun muss ich wirklich lachen. »Was wird das werden?«, frage ich neugierig.

Maku grinst nur geheimnisvoll. »Klatschen«, wiederholt er.

Eli macht den Anfang und klatscht mit seiner Hand gegen meine. Wieder treffen sich unsere Blicke. Elis Lider flattern. Dann sieht er weg. Ein warmes, angenehmes Brennen breitet sich von meiner Handfläche, wo unsere Haut sich berührt, in meinem gesamten Körper aus. Es wird immer stärker.

Ich runzele die Stirn. Eli und ich berühren uns normalerweise nicht. Fast scheint es mir, als würde er es absichtlich vermeiden. Vielleicht ekelt er sich vor mir. Doch wenn es doch manchmal unabsichtlich passiert, ganz zufällig, während wir miteinander sprechen, dann … Ich kenne dieses warme, angenehme Kribbeln, das sich in diesen Momenten in mir ausbreitet. Das Gefühl, als würde mein Herzschlag kurz aussetzen. Doch das hier ist etwas anderes. Ohne Zweifel.

Wieder flackert die Lampe. Nun keucht auch Eli überrascht auf. Ob er es ebenfalls spürt?

»Tadaa«, sagt Maku und lässt unsere Hände los. Verwirrt versuche ich, meine Hand von Elis zu lösen. Das Gefühl ist überwältigend. Doch es funktioniert nicht. Es ist, als wären wir aneinandergeklebt.

Auch Eli runzelt jetzt die Stirn und will seine Hand wegziehen. Als er bemerkt, dass es nicht geht, überzieht leichtes Entsetzen seine Miene. »Was zur …«, beginnt er.

Maku beginnt zu lachen. »Nun müsst ihr den Rest eures Lebens aneinandergeklebt verbringen«, kichert er. »Ich fürchte, ihr müsst heiraten. Dann könnt ihr als das zusammengeklebte Ehepaar auftreten.« Sein Lachen ist so ansteckend, dass ich gegen meinen Willen ebenfalls grinsen muss. Auch Eli prustet los, sichtlich verwirrt, aber erheitert. Maku juchzt, und wir schaukeln uns immer weiter hoch, bis mir Tränen in die Augen treten.

»Das ist nicht lustig, Maku«, beschwere ich mich zwischen zwei Lachanfällen, die meine Worte Lügen strafen. »Mach uns wieder los.«

Innerhalb eines Moments wird sein Gesicht wieder ernst. »Verzeiht mir. Wartet kurz …« Er richtet sich auf und runzelt die Stirn, als müsste er sich daran erinnern, wie er uns wieder voneinander befreien soll.

»Soll ich kaltes Wasser holen?«, fragt Dorothea und beginnt ebenfalls zu kichern. »Bei Hunden hilft das, wenn …« Plötzlich scheint ihr einzufallen, dass Maku noch zu klein ist, um allzu genaue Details über derlei Vorgänge zu erfahren. Mein Blick trifft Dorotheas verschmitztes Zwinkern und wir brechen erneut in schallendes Gelächter aus. »Psst«, macht Dorothea hilflos mit Tränen in den Augen. »Wir stören die Vorstellung. Gleich kommt Ora rein und sagt …« Sie steht auf, streckt die Brust heraus und klemmt sich eine Strähne dunkles Haar über die Oberlippe. Tatsächlich sieht sie Ora mit seinem Schnurrbart zum Fürchten ähnlich. »Was soll das?«, keift sie und ahmt Oras uskarischen Akzent nach. »Der Zuschauer ist König! Wir haben den Zuschauern die beste Vorstellung zu liefern, die sie je gesehen haben! Wir haben den Zuschauern die Füße zu küssen und ihnen so viel kandierte Kastanien in den Rachen zu schieben, bis sie ersticken! Wir haben den Zuschauern das Hinterteil …«

Ich höre nicht mehr, was Dorothea sagt. Vor Lachen komme ich auf der Bank ins Rutschen und reiße Eli, der immer noch mit seiner Hand an meiner klebt, fast mit zu Boden. »Das ist die beste Vorstellung, die sie je gesehen haben«, ächze ich. »Dorothea, du bist unschlagbar. Maku, du auch. Aber mach uns wieder los. Bitte.« Ich kriege kaum Luft.

Maku ringt um Fassung und hebt konzentriert die Hand. Das Brennen lässt nach. Endlich löst sich Elis Hand von meiner. Gleichzeitig heben wir unsere Hände und betrachten sie staunend. Meine Hand sieht so aus wie zuvor: blass und durchscheinend wie die eines toten Olmes, der viele Tage im Wasser gelegen hat. Nur ein leichtes Prickeln ist zurückgeblieben.

»Wie hast du das gemacht, Maku?«, frage ich verwirrt.

Er zuckt mit den Schultern. »Weiß nicht«, antwortet er achselzuckend.

»Pst«, macht Eli. »Ein Magier verrät niemals seine Tricks.« Seine Augen funkeln. Er umfasst seine linke Hand mit seiner rechten und reibt abwesend daran, als müsste er das Prickeln stoppen.

Vincent schiebt den Vorhang beiseite. Er bringt den vertrauten Geruch von Pferden mit sich. Ächzend wischt er sich den Schweiß von der Stirn, schiebt sich das blonde Haar aus den Augen und lässt sich auf die Bank gegenüber sinken. »Vorsicht«, warnt er. »Ora ist wütend.«

Doch es bleibt keine Zeit, sich zu wappnen. Ora kommt herein und baut sich auf, wischt sich über den Schnurrbart. »Was soll das, Louise?«, bellt er in meine Richtung.

»Was?«, frage ich mit Unschuldsmiene.

»Du hast schon wieder deinen Einsatz verpasst. Wo bist du in letzter Zeit mit deinen Gedanken, Mädchen? Und das Schloss hast du auch wieder geöffnet. Du solltest doch warten.«

Gespielt schuldbewusst senke ich den Kopf. »Tut mir leid, Onkel Umberto«, sage ich leise. Ich hasse es, dass er von mir und Maku verlangt, ihn so zu nennen. Er ist nicht unser Onkel. Und selbst wenn er es wäre – ich würde es trotzdem verabscheuen, ihn so zu nennen.

Eli stößt ein missbilligendes Schnauben aus. Ora dreht sich auf dem Absatz um und starrt ihn finster an. »Ich habe mit euch allen ein ernstes Wort zu reden«, ereifert er sich. »Man konnte euer Gelächter noch meilenweit hören. Die Zuschauer wurden von der Vorstellung abgelenkt!«

Dorothea stößt mich in die Seite und schenkt mir einen Blick, der Oras so unnachahmlich ähnlich sieht, dass ich erneut ein Lachen zurückhalten muss. Als Oras Blick wieder auf mich trifft, werde ich sofort ernst. Er ist wirklich in Rage.

»Also? Was sollte das?«, fragt er erneut wutentbrannt. Ich tausche einen Blick mit Maku. Maku nickt kaum merkbar.

»Ein Zuschauer hat Maku angespuckt«, sage ich fest. »Und ihn beschimpft. Du hast doch gesagt, dass das nicht mehr passieren wird, Onkel Umberto.«

Ora gerät aus dem Gleichgewicht. Er zögert und sieht Maku an. Fast wirkt es, als würde er sich gleich entschuldigen. Doch er tut es nicht. »Ich kann nicht wissen, ob ein Zuschauer das tun wird oder nicht«, stößt er verbissen hervor. »Ich kann sie wohl kaum am Eingang fragen, ob sie es vorhaben. Das ist ein Berufsrisiko. Doch wirst du nicht großzügig dafür entschädigt? Habe ich dir nicht gerade erst neues Spielzeug gekauft, Maku? Bekommst du nicht jeden Tag mehr Süßigkeiten, als du essen kannst?«

Maku sieht ihn an und nickt kleinlaut.

Nun wendet Ora sich an mich. »Hast du nicht einen neuen, besseren Ofen für deinen Wagen bekommen, Louise? Hast du nicht mehr Kleider, als du brauchst? Ihr bekommt alle genug zu essen, habt es nachts warm und gemütlich, sitzt nicht auf der Straße, nicht wahr?«

Ich beiße mir auf die Unterlippe. Natürlich, es stimmt. Dennoch hat Eli recht. Es ist falsch, dass Maku, Dorothea und ich angespuckt oder mit verfaulten Eiern beworfen werden.

Ora beginnt, vor uns auf und ab zu schreiten, wie Eli zuvor. »Ihr habt hier ein Zuhause«, sagt er. »Niemand sonst würde euch diese Gelegenheit bieten. Niemand würde sich um euch kümmern. Ihr habt keinen anderen Platz auf der Welt. Seht euch doch einmal an«, er deutet auf mich und Dorothea, dann auf Maku. Er muss nicht einmal sagen, was wir in den Augen der anderen sind. Seltsame Launen der Natur. Eine Zwergin. Eine Dämonin. Ein awhenischer Wilder mit spitzgefeilten Zähnen. Es spielt für die Zuschauer keine Rolle, dass Maku klüger ist als wir alle zusammen. Er kann sechs Sprachen fließend sprechen, vier mehr als ich. Ich beherrsche nur Masonisch und Ankorisch. Es spielt für sie keine Rolle, dass ich gut Seiltanzen kann und Dorothea schreiend komische Witze erzählt. Für sie ist nur unser Äußeres wichtig. Maku ist der wilde Junge, der von Wölfen aufgezogen wurde, ich bin das Schattenmädchen und Dorothea die kleinste Frau der Welt.

Ein festgezurrter Knoten scheint plötzlich in meiner Kehle zu stecken. Ich senke den Kopf und schlucke. Viel schlimmer als Oras Worte ist die Tatsache, dass er recht hat.

Denn natürlich habe ich versucht, den Zirkus zu verlassen. Es muss nun etwa drei Jahre her sein. Nach einer Woche bin ich zurückgekehrt, völlig ausgehungert und frierend. Und seitdem habe ich sie, die Gewissheit: Es gibt auf der Welt tatsächlich keinen Platz für jemanden wie mich.

»Du solltest mir dankbar sein, dass ich dich wieder aufnehme«, hat Ora nur gezischt. »Nimm dich in Acht, Mädchen. Eine weitere Chance wirst du nicht bekommen.«

Eli stellt sich vor Ora und schiebt sein Kinn nach vorne. »Ich werde nicht mehr auftreten, wenn du dem nicht einen Riegel vorschiebst«, sagt er schlicht.

Ora beginnt zu lachen. »Mach dich nicht lächerlich, Eli«, gluckst er. »Du kannst ebenso wenig woanders hin. Du bist genauso eine verlorene Seele wie alle anderen hier. Sonst wärst du niemals hier gelandet. Und wenn du tatsächlich einen anderen Platz auf der Welt hättest, wärst du längst dort.«

Eli schweigt und zieht die Brauen zusammen. Ich mustere ihn unauffällig. Ob Ora mehr über ihn weiß als ich? Über seine Vergangenheit? Er hat ganz sicherlich etwas zu verbergen, doch andererseits habe ich ebenso etwas zu verbergen. Wir alle. Ob es etwas Schreckliches ist, etwas weitaus Schlimmeres, als ein Dieb zu sein? Nein. Das kann ich mir unmöglich vorstellen. Eli hat ein gutes Herz. Das weiß ich ganz genau.

»Na also«, sagt Ora nach Elis langem Schweigen. »Solltest du nicht längst dein Trikot tragen, Eli? Und wo ist überhaupt Marie? Ihr seid gleich dran. Eduards Vorstellung ist fast vorbei.« Verärgert rauscht er nach draußen, wohl um Marie zu holen.

Eli dreht sich um und beginnt, nach seinem Trikot zu suchen. Schließlich findet er es und zieht sich kurzweg das Hemd über den Kopf, um sich umzukleiden. Meine Wangen beginnen zu brennen. Eigentlich will ich wegsehen, und dennoch sehe ich wie jedes Mal verstohlen hin. Die Muskeln auf Elis Rücken tanzen, als er in das Trikot schlüpft. Sein Körper ist durch und durch der eines Artisten, schlank, sehnig und ohne ein Gramm Fett. Mich erstaunt jedes Mal, wie viel Kraft er besitzt, weil man es ihm nicht anmerkt. Dass alle anderen ihm ebenfalls beim Umziehen zusehen können, scheint ihm rein gar nichts auszumachen. Andererseits sieht außer mir auch niemand hin. Rasch wende ich den Blick ab.

Mir ist schon öfter aufgefallen, dass Eli keinerlei Scham zu kennen scheint. Im Sommer wäscht er sich oft völlig unbefangen und halb nackt vor seinem Wagen mit frischem, eiskaltem Wasser aus dem Brunnen.

In diesem Moment tritt Ora zurück ins Zelt, Marie im Schlepptau. Marie schiebt sich ihr langes, rotes Haar hinters Ohr und stürzt sofort zum Spiegel, um ihre Schminke zu überprüfen. Sie trägt bereits ihr Trikot. Schließlich lächelt sie sich selbst im Spiegel an, legt noch einen Hauch Rouge auf und dreht sich um. Sie schenkt mir ein Zwinkern mit langen Wimpern und strahlt mich an.

Ich senke den Kopf. Maries Anblick ruft wie jedes Mal zwiegespaltene Gefühle in mir hervor. Sie ist so freundlich und warmherzig, dass man sie einfach lieben muss; und doch habe ich zu oft geträumt, ich wäre wie sie. Furchtlos, kühn und wunderschön. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Eli sich in sie verlieben wird und sie sich in ihn. In einem meiner Bücher wären sie längst ein Liebespaar. Sicher geht es nur so langsam voran, weil Eli im Gegensatz zu Marie ein wenig schüchtern ist. Mit dem Gedanken, dass es eines Tages so kommen wird, habe ich mich längst abgefunden. Auch damit, dass niemand eine seltsame Laune der Natur lieben kann, das Schattenmädchen, die Dämonin. Das Scheusal. Und dennoch nagt diese Gewissheit an mir; in meinen schlimmsten Nächten.

»Los, los«, faucht Ora und gestikuliert wild. »Ihr solltet längst bereitstehen.«

Eli lächelt Marie an und hält ihr den Arm hin. Sie laufen immer Hand in Hand in die Manege.

Ich beiße mir auf die Lippen und sehe weg. Als ich wieder hinsehe, sind Eli, Marie und Ora weg. Applaus erklingt. Ora beginnt wieder mit seiner Rede. Ich greife in die verborgene Tasche meines Kleides und ziehe meine Taschenuhr hervor. Ein Geschenk von Ora, wie fast alles, was ich besitze. Nur nicht meine Bücher. Meine Bücher hat Eli mir geschenkt. Alle paar Wochen ein neues, wenn wir auf unseren Reisen sind. Nun habe ich noch zehn Minuten, um rechtzeitig zu sein, wenn Eli nach dem Auftritt mit Marie seine Solovorstellung gibt.

Eduard stolpert hinein. Müde sieht er sich um und greift nach einem Tuch, um sich die weiße Schminke vom Gesicht zu wischen. Er setzt sich neben mich und greift in einer routinierten Geste unter die Bank, um seine Flasche Schnaps hervorzufischen.

»Wie war es?«, frage ich leise.

»Wie jeden Abend«, sagt Eduard und trinkt. Sein Adamsapfel hebt und senkt sich. Ein Schluck, zwei, drei. Ich betrachte ihn nachdenklich, sein dunkles, kurzes Haar, von Grau durchzogen, und die traurigen Augen, um die sich viele Falten ziehen. In einigen von ihnen ist noch etwas von der weißen Schminke zurückgeblieben. Eduard spricht nie besonders viel. Er ist von uns allen schon am längsten im Zirkus Ora. Die Zuschauer lieben seine Pantomime, doch oft habe ich das Gefühl, dass er das Auftreten genauso sehr hasst wie ich.

Ich mag Eduard, sehr sogar. Er ist im Gegensatz zu Ora tatsächlich so etwas Ähnliches wie ein Onkel für mich. Vieles, was ich weiß, weiß ich von ihm. Nur über ihn weiß ich kaum etwas. Nichts darüber, warum er so traurig ist.

Eduard trinkt noch einen Schluck. »Wir sehen uns später«, sagt er kurz und verzieht sich.

Maku lacht leise auf. Wahrscheinlich hat Dorothea ihm einen Witz erzählt. Ich habe nicht zugehört. Müde blicke ich auf. Dann fasse ich einen Entschluss. Ich stupse Maku an und wispere ihm ins Ohr. »Was hat er gesagt? Der Mann, der dich angespuckt hat?«

Maku schüttelt den Kopf. »Es war eine Beleidigung«, entgegnet er trocken. »Für Menschen wie mich. Menschen aus Awhen. Tieranbeter.«

Ein seltsames Gefühl kriecht meine Kehle empor. Plötzlich will ich es nicht mehr so genau wissen.

»Es ist Zeit fürs Bett«, sagt Dorothea liebevoll und schiebt Maku von der Bank.

»Aber …«, beginnt Maku zu protestieren.

»Kein aber, mein Schatz. Du siehst aus, als würdest du gleich einschlafen.«

Maku grummelt. »Ich bin kein kleines Kind mehr«, beschwert er sich.

Ich muss lächeln. Vor einigen Jahren habe ich auf ganz ähnliche Art protestiert. Doch Dorothea ist unerbittlich. »Du kannst ja noch etwas lesen«, beschwichtigt sie ihn.

Murrend gibt Maku sich zufrieden und lässt sich fortziehen. Er winkt mir noch zu. »Bis bald, Louise.«

Ich schicke ihm eine Kusshand. »Schlaf gut, Maku.«

Ich bin ebenfalls müde. Doch ich muss wach bleiben. Für mich wird es noch eine lange, lange Nacht.

Endlich bin ich allein. Die Aufregung beginnt, sich in meinem Bauch zu winden. Ich sehe auf die Taschenuhr. Noch drei Minuten.

Unruhig gehe ich zum Spiegel, an dem Marie sich zuvor geschminkt hat. Zuerst halte ich die Augen gesenkt. Dann sehe ich langsam nach oben. Ich weiß, welcher Anblick mich erwartet. Warum muss ich mich immer selbst quälen und mich erneut vergewissern, dass ich noch immer ein Monster bin?

Dennoch tue ich es wieder. Müde starre ich mir selbst entgegen.

Louise. Das Schattenmädchen. Weißes Haar und weiße Haut; so bleich, dass jede einzelne rote Ader wirkt wie die erhabene Narbe einer schrecklichen Verletzung. Die einzige Stelle an meinem Körper, die ich mag, ist mein linker Knöchel. Dort habe ich ein kleines Feuermal, das mit viel Fantasie an einen kleinen, roten Stern erinnert.

Dort, wo normale Menschen Pupillen haben und eine Iris in jedem Auge, habe ich nichts davon.

Meine Augen sind einfach nur pechschwarz. Durch und durch.

Kapitel 2

Marie läuft strahlend aus der Manege. Sie bemerkt gar nicht, dass ich zwischen den zwei Vorhängen in der Dunkelheit stehe, mit den Schatten verschmolzen. Ich höre am Rande meines Bewusstseins, wie sie summt und wohl beginnt, sich abzuschminken. Maries Parfüm bleibt noch eine Weile in der Luft hängen, übertüncht den Gestank der Lampen. Ich atme tief ein. Der Staub von Sägespänen. Knoblauch. Gebrannte Kastanien. Maries Parfüm.

Die Karbidlampen werden verdunkelt. Es ist soweit. Ich schiebe den Vorhang beiseite, nur ein winziges Stück, sodass ich hindurchblicken kann. Mein Herz rast. Es beginnt.

Eli steht inmitten der Manege und verbeugt sich. Die dunklen Locken fallen über sein Gesicht. Im nächsten Moment wirft er sie zurück und verbiegt seinen Körper nach hinten, streckt die Arme aus. Die Karbidlampen beleuchten seinen Körper.

Es gibt keinen Applaus, diesmal nicht. Die Zuschauer halten den Atem an, und ihr Schweigen wiegt mehr als jedes Geräusch. Elis Körper ist das Einzige, das noch existiert. Jedes einzelne Augenpaar im Zelt ist gebannt auf ihn gerichtet.

Auch mir verschlägt es den Atem, wie jeden Abend. Ich kann einfach nichts dagegen tun.

Und dann geht es los. Eli beginnt zu laufen, schlägt ein Rad, zwei, drei. Er wirbelt durch die Luft, und dann springt er. Im nächsten Moment hängt er am Trapez. Als würde die Schwerkraft überhaupt nicht existieren. Er schwingt sich um die dünne Holzstange, lässt los, es wirkt so, als würde er fallen. Ein Keuchen aus unzähligen Kehlen erklingt. Auch ich keuche, obwohl ich seine Vorstellung in- und auswendig kenne.

Eli fällt nicht, natürlich nicht, auch an diesem Abend nicht. Er macht einen Salto in der Luft, zwei. Dann greift er mit flinken Fingern wieder nach dem Trapez, genau rechtzeitig. Im nächsten Moment, der nur einen Schlag meines Herzens dauert, schaukelt er lächelnd durch das Zelt, sein Gesicht verzerrt von der Trunkenheit, der Euphorie, die wir alle spüren, alle im Zelt. Wieder lässt er los, lässt sich einfach in die Luft fallen. Die Lampen flackern. Fast ist es, als würde der Wind durch das Zelt brausen und uns alle hinwegtragen in vereinter Faszination. Sein herumwirbelnder Körper ist das einzige, das noch existiert.

Eli schwingt sich zum nächsthöheren Trapez, dann zum nächsten. Wieder ein Salto. Mit einer Hand stemmt er sich im Handstand nach oben und es ist, als würde die Zeit kurz einfrieren. Dann fliegt er weiter … weiter.

Wie jeden Abend steigen mir Tränen in meine Dämonenaugen. Mein Blick huscht zu der Dame mit dem Riechsalz. Sie weint.

Eli stößt sich mit bloßen Füßen am höchsten Trapez ab, fliegt durch das halbe Zelt, fällt und schwingt sich dreimal um das niedrigste Trapez. Für einen Moment hält er sich nur mit der Spitze seines Zeigefingers fest, tanzt weiter, immer weiter.

Ich weiß, warum Ora seine Vorführung Windtanz nennt. Es ist so, als wäre er mit der Luft verschmolzen. Als wäre er der Wind.

Meine Hände klammern sich um den Vorhang. Wenn ich Eli bei seinem Windtanz zusehe ist es, als wäre ich nicht mehr ich. Vergessen ist das Schattenmädchen. Sein Tanz ist wie Musik, Musik, die trunken macht vor Begeisterung. Wenn Eli tanzt, ist es, als wäre alles eins.

Ich weiß, dass das merkwürdig klingt. Aber es ist einfach so. Der Atem der Zuschauer, die ich zuvor so verachtet habe, wird plötzlich zu meinem Atem. Im selben Moment bangen wir, keuchen und erschrecken. Im selben Moment jubeln wir, als Eli noch ein letztes Mal durch die Luft wirbelt, diesmal durch das ganze Zelt, und schließlich im letzten Moment nach einem Seil greift, an dem er sich herabgleiten lässt.

Er strahlt und verbeugt sich erneut. Tosender Jubel bricht aus.

Ich atme tief durch und bemerke erst jetzt, dass ich die Luft angehalten habe. Verstohlen hole ich meine Taschenuhr hervor und blicke darauf. Fünf Minuten. Er hat nur fünf Minuten getanzt, und ich habe das Gefühl, dass es einerseits viel zu kurz war, andererseits eine Ewigkeit gedauert hat, ein ganzes Leben lang.

Eli verbeugt sich wieder und wieder. Er sieht so aus, als hätte es ihm nicht die geringste Mühe bereitet. Er schwitzt nicht einmal, soweit ich es von hier beurteilen kann.

Schließlich flaut der Jubel ab. Ora tritt in die Manege und hält seine Abschiedsrede. Eltern nehmen ihren Kindern die kandierten Kastanien ab, tätscheln ihnen die erhitzten Wangen und beginnen, sie nach draußen zu scheuchen. Damen mit ebenso erhitzten Wangen stehen auf und verrenken sich den Hals nach Eli, der sich ein letztes Mal verbeugt und aus der Manege läuft. Direkt auf mich zu.

Mein Herzschlag schnellt erneut in ungeahnte Höhen. Ein Brennen kriecht meinen Rücken empor. Eigentlich sollte ich seit fünfzehn Sekunden weg sein. Das ist eine lange eingeübte Choreografie. Fünfzehn Sekunden, bevor Eli aus der Manege läuft, ziehe ich mich zurück. Doch anscheinend habe ich heute zum zweiten Mal meinen Einsatz verpasst. Vielleicht hat Ora recht, wenn er behauptet, dass ich in letzter Zeit mit meinen Gedanken woanders bin.

Ich drücke mich noch weiter in die Schatten. Doch anders als zuvor Marie bemerkt Eli mich trotzdem.

Ein überraschtes Lächeln breitet sich auf seinem Gesicht aus. »Louise«, sagt er, als wäre er tatsächlich erfreut, mich zu sehen. »Hast du mir zugesehen?« Er bleibt stehen und schenkt mir ein weiteres Lächeln, diesmal sanfter. Von außerhalb des Vorhangs erklingt das Fußgetrappel der Zuschauer, die sich auf den Heimweg machen. Zurück in ihr normales Leben, in ihren eintönigen Trott.

»Louise?«, fragt er und greift nach meiner Schulter. Im letzten Moment, bevor er meine weiße Haut berührt, hält er inne. »Geht es dir gut?«

Wie ich schon sagte, ich habe das Gefühl, dass er peinlich genau darauf achtet, mich niemals zu berühren. Schnell wende ich mein Gesicht ab. Noch immer brennen meine Wangen.

»Du warst gut«, sage ich leise.

Elis Lächeln wird noch breiter. Die Grübchen in seinen Wangen werden tiefer. »Danke«, sagt er und strahlt nun so hell wie die Karbidlampen, deren Schein durch einen kleinen Spalt in die Dunkelheit zwischen den zwei Vorhängen dringt. »Aber geht es dir nun gut oder nicht?«

Ich mache eine unbestimmte Geste zwischen Nicken und Ratlosigkeit.

Elis Hand überwindet die letzte Strecke, und nun legt er sie doch auf meine bloße Schulter, zögerlich, als würde es ihn Überwindung kosten. »Komm, gehen wir«, sagt er. Er führt mich in den abgetrennten Bereich, in dem nun niemand mehr ist. Wahrscheinlich sind die anderen schon in Oras Wagen.

Eli platziert mich mit sanftem Druck auf der Bank und mustert mich besorgt.

»Mir geht es gut, Eli«, sage ich schwach. »Wirklich.«

Er wirkt nicht überzeugt. »Ist es wegen Maku?«, fragt er.

Ich zögere. Ja, es ist wegen Maku; aber nicht nur. Es ist alles. Die Euphorie seines Auftritts lässt langsam nach. Wie jeden Abend frage ich mich nach dem warum. Warum haben die Menschen, die zuvor Maku, mich und Dorothea verhöhnt haben, Eli zugejubelt? Sie lassen sich alle so leicht mitreißen. Mitreißen von Hass, Furcht und später Bewunderung.

»Louise …«, beginnt er leise.

Ich schrecke auf. Für einen Moment war ich weit, weit weg. »Ja?«

»Es kann nicht mehr so weitergehen«, sagt er leise. »Nein, bitte«, unterbricht er mich, als ich automatisch den Mund öffne, um zu protestieren. »Wir müssen mit Ora reden. Alle gemeinsam.«

Ich will lachen, doch mir gelingt nur eine Art höhnisches Keuchen. »Was soll das bringen? Du hast ja mitbekommen, wie er zuvor reagiert hat.«

Eli wirft die Hände in die Luft. »Aber wenn er dich nur sehen würde! Wenn du es ihm zeigen würdest! Du kannst genauso gut auf dem Seil tanzen wie ich am Trapez. Wenn du nur die Gelegenheit hättest, die Zuschauer würden dir genauso zujubeln wie soeben mir … Und wenn Dorothea ihre Witze erzählen und Maku seine Zauber vorführen würde …«

Ich schlucke. Es schmeckt bitter.

Elis Augen glänzen zwar vor Begeisterung, und ich kann sehen, dass er wirklich an seine Worte glaubt. Er mag Mitleid mit mir, Maku und Dorothea haben, doch er weiß nicht, wie es ist.

»Und was machen wir mit meinen Augen, Eli?«, frage ich leise. »Was machen wir mit meinem Haar und meiner Haut? Und Dorothea und Maku …«

Er senkt betroffen den Blick, bevor ich zu Ende sprechen kann. »Mir fällt etwas ein, Louise«, sagt er. »Ich verspreche es.«

Obwohl ich nicht will, muss ich lächeln. »Du hast ein gutes Herz, Eli. Du meinst es nett.«

»Aber ich bin es nicht?«, fragt er und hebt den Blick. Seine dunklen Augen funkeln traurig.

»Was?«

»Nett. Ich bin nicht nett?«

Ich muss lachen. »Doch. Bist du. Komm, lass uns gehen. Wir sprechen ein anderes Mal darüber.« Schon bevor ich die Worte ausgesprochen habe, fangen meine Wangen wieder an zu brennen. Heute ist ein merkwürdiger Abend. Vielleicht liegt es am Herbst, der nun vollständig über die Welt hereingebrochen ist. Der Herbst verdreht mir immer den Kopf, erfüllt mich mit einer seltsamen Aufregung, einer Vorfreude auf etwas, von dem ich nicht weiß, was es ist.

Eli schluckt. Doch schließlich nickt er. »Verzeih mir, Louise.«

»Was soll ich dir verzeihen?«, frage ich und stehe auf. Ich muss mich zwingen, meinen Blick abzuwenden.

Er hat doch nur Mitleid mit einem Monster wie mir. Ich darf ihm nicht böse sein.

»Nichts. Alles«, murmelt er und folgt mir nach draußen.

Die letzten Zuschauer gehen an uns vorbei und biegen in die Straße ein, wo Gaslaternen das bunte Herbstlaub erleuchten. Langsam verklingen ihre Stimmen.

Leichter Nebel liegt in der Luft. Aus Madame Rosas Wagen erklingt die sanfte Musik eines Leierkastens. Sie hat wohl noch einen Kunden. Viele Zuschauer wollen sich nach der Vorstellung noch ein wenig die Zukunft voraussagen lassen.

In Gedanken verloren bleibe ich stehen und atme die Herbstluft ein. Mein Blick bleibt an Madame Rosas Zelt hängen. Es ist dunkelrot; reich verziert. Ein großer, elfzackiger Stern ist auf den Vorhang gestickt, durch den man ins Innere gelangt. Irgendwann muss ich Madame Rosa fragen, was das Symbol bedeutet. Schon viele Male habe ich es mir vorgenommen; doch jedes Mal vergesse ich es wieder. Madame Rosa verwirrt mich irgendwie, mit ihrem seltsamen Blick.

Ich kann das Plätschern des Echos selbst von hier hören, obwohl die Bäume den Blick auf den Fluss versperren. Den grünen Fluss, so nennt man ihn auch. Ich finde nicht, dass er grün ist; er ist eher grau. In meinem Lexikon habe ich etwas darüber gelesen, warum dieser Fluss Echos heißt. Ein alter Aberglauben besagt, dass in dem Fluss eine Flussdämonin haust, so schwarzäugig wie ich, die kleine Kinder zu sich in die Tiefe zieht. Wenn man dem Plätschern der Wellen ganz aufmerksam lauscht, kann man angeblich das Rufen der vielen Kinderseelen hören. Doch ich höre nichts dergleichen.

Mit einem Kopfschütteln setze ich mich wieder in Bewegung und laufe neben Eli her. Wir sprechen nicht mehr, bis wir Oras Wagen betreten. Marie, Vincent, Eduard und Ora sitzen schon auf den harten Holzbänken und spielen Karten. Als wir hereinkommen, blicken sie alle auf.

»Nun, dann sind wir wohl vollzählig«, sagt Ora und bleckt die Zähne zu einem Lächeln. Ich verdrehe innerlich die Augen und setze mich.

»Schön, schön, schön«, sagt Ora und lächelt wieder sein breites Lächeln. »Marie – der Plan?«

Marie räuspert sich. »Freiherr Leopold von und zu Kleefeld … Oder irgendwie so … Um ehrlich zu sein, habe ich seinen Namen vergessen. Doch ich schätze, der ist nicht so wichtig, oder?«

Ora nickt. »Nicht so wichtig, mein Kind«, beschwichtigt er sie. »Du musst Vincent nur den Weg erklären. Mag Freiherr von und zu Hunde?«

»Keine Hunde«, sagt Marie. »Er hasst Hunde, hat er mir bei unserem Rendezvous gesagt. Katzen sind ihm lieber. Sein Anwesen ist am Rande des Vidunner Waldes. Zehn Bedienstete, fünf von ihnen haben nachts frei. Drei Wächter, eine Köchin und ein Kindermädchen sind anwesend. Ansonsten nur er, und die Kinder natürlich.«

Ich rutsche unruhig auf meiner Bank herum. »Kindermädchen? Kinder?«

»Ja, er hat eine Tochter und einen Sohn. Aber keine Gattin. Verwitwet.«

Ich beiße mir auf die Unterlippe. Kinder. Das ist mir nicht recht.

Ora hat meinen Ausdruck wohl gesehen, denn er lacht. »Louise scheint ängstlich zu sein. Gut, du hast recht, Louise. Das ist besorgniserregend viel Publikum. Heute Abend gehen nur Louise und Eli rein«, befiehlt er. »Vincent, Eduard – ihr wartet draußen.«

Ich nicke erleichtert. Wenn ich nur mit Eli gemeinsam gehe, mache ich mir nicht so viele Sorgen. Oft habe ich den Verdacht, dass Eli genauso gut im Dunklen sehen kann wie ich. Nur Schlösser öffnen kann ich besser.

Ora nickt zufrieden. »Also dann. Vincent, Eduard, Eli – baut das Zelt ab und beladet die Wagen.« Er zieht seine Taschenuhr hervor und betrachtet sie. »Dann ist der Zirkus bereit zum Aufbruch, sobald Eduard und Vincent mit der Kutsche zurück sind. Louise, Eli, wir sehen uns morgen zu Einbruch der Dunkelheit in Marbor; am gewohnten Platz. Worauf wartet ihr noch?«

Ich seufze. Nun muss ich warten, bis die Männer damit fertig sind, alles abzubauen. Es würde natürlich schneller gehen, wenn Ora mithelfen würde, aber dafür ist er sich zu fein. »Sagst du Maku liebe Grüße?«, flüstere ich Marie zu. Sie nickt und schickt mir eine Kusshand. »Viel Glück, ihr vier«, sagt sie leise. Dann verlässt sie den Wagen. Sicher, um sich schlafen zu legen. Noch etwas, um das ich sie beneide. Für uns ist die Nacht noch lange nicht vorbei.

Kapitel 3

Die Kutsche rattert über das Kopfsteinpflaster der gewundenen Straße, die in den Vidunner Wald hinauf führt. Vincents Pferde, Calimero und Primadonna – seltsame Namen, ich weiß, doch so hat Vincent sie genannt – schnauben vor Anstrengung. Kein Wunder, der Berg, den wir hinauffahren, ist steil. Schon vor einer Weile haben die Gaslaternen aufgehört, den Weg zu säumen. Vor dem Kutschenfenster ist es nun fast völlig dunkel. Mir macht das natürlich nichts aus. Ich sehe trotzdem den Herbstwald entlang der Straße, die Serpentinen. Noch immer liegt Nebel in der Luft. Mir kommt es so vor, als ob er immer stärker wird.

Eli und Eduard sind auffallend schweigsam. Eduard sitzt mir gegenüber und ist wahrscheinlich betrunken, zumindest lassen seine glasigen Augen das vermuten. Andererseits ist er meistens betrunken, also ist das nicht besonders auffällig. Nachdenklich betrachte ich ihn, frage mich zum zweiten Mal an diesem Abend, welch traurige Ereignisse in seinem Leben ihm trotz seines noch nicht so hohen Alters diese tiefen Falten ins Gesicht gegraben haben. Vielleicht hat es mit seinem Unfall zu tun. Eduard war früher Artist, bis zu dem Unfall, seit dem er seinen linken Arm nur mehr unter Schmerzen bewegen kann. Er war es, der mir schon als Kind Seiltanzen beigebracht hat.

Ich traue mich nicht, denjenigen anzusehen, den ich viel lieber ansehen würde. Eli sitzt an meiner Seite, und es wäre allzu auffallend, wenn ich den Kopf drehen würde, um ihn unverwandt anzustarren. Außerdem weiß ich ja längst, wie er aussieht. Ich habe ihn oft genug heimlich betrachtet, seine dunklen Locken und die blitzenden Augen, die Grübchen in seinen Wangen, wenn er lacht. Seine schlanken Hände, die tanzenden Muskeln auf seinem Rücken.

»Wir sind fast da«, ruft Vincent über das Hufgeklapper hinweg vom Kutschbock aus.

Die Aufregung jagt wieder durch meine Adern. Vielleicht liegt es am Herbst, an dem Nebel und der Kälte und den bunten Bäumen, die an den Kutschenfenstern vorbeiziehen.

Früher wusste ich nicht, dass normale Menschen in der Nacht keine Farben erkennen können. Ich kann es.

Meine schwirrenden Gedanken kehren wieder an ihren Ausgangspunkt zurück. Dieses seltsame Gefühl, das ich immer im Herbst verspüre … Es ist, als würde etwas Großes auf mich zukommen. Etwas Wichtiges. Eine Geschichte wie in meinen Büchern, voller Abenteuer und Heldenmut und unglücklicher Liebe, die am Ende doch erfüllt wird. Doch ich weiß, dass dieser Gedanke genauso dumm ist wie der Gedanke, dass in Wirklichkeit ich die Einzige bin, die frei ist, während die Menschen außerhalb meines Käfigs diejenigen sind, die ihr Leben in Gefangenschaft fristen.

So dumm, wie den Wind zu jagen. So dumm, wie den Schatten fangen zu wollen.

Wir biegen in einen kleinen Weg ab, der in die Weinberge Vidunns führt.

»Brrr«, macht Vincent schließlich. Primadonna und Calimero werden langsamer. Dann hält die Kutsche. Die Pferde schnauben zufrieden.

Eduard strafft die Schultern und wirkt plötzlich wieder nüchtern. Eli neben mir räuspert sich leise und öffnet die Tür, um sie mir aufzuhalten. »Die Dame zuerst«, sagt er mit Schalk in der Stimme. Ich zwinkere ihm zu und steige aus der Kutsche. Wie eine Dame sehe ich gerade wirklich nicht aus. Das Haar habe ich mir zu einem Zopf geflochten und in den Hemdkragen gesteckt. Kleider sind fürchterlich unpraktisch für das, was wir vorhaben, also habe ich mir wie jedes Mal von Vincent ein Hemd, eine Hose und ein Jackett geborgt. Seine Kleidung passt mir wie angegossen, er ist genauso groß wie ich.

Unwillkürlich frage ich mich, ob Elis Kleider mir passen würden. Wahrscheinlich nicht, er ist einen halben Kopf größer als ich. Die Bundweite würde mir wahrscheinlich passen. Aber ich habe mich noch nie getraut, Eli statt Vincent um Kleider zu bitten. Obwohl ich seine Kleider lieber tragen würden. Sicher riechen sie nach Eli und nicht nach Pferd, wie Vincents Hose. Den Geruch bekommt man auch beim Waschen unmöglich heraus, egal mit wie viel Seife man sie schrubbt.

Als wir alle ausgestiegen sind, sammeln wir uns kurz. Es ist schon so kalt, dass unser Atem in der Luft hängt, sich zu einer Wolke über uns sammelt. Die Trauben der Weinreben sind bereits abgeerntet. Eine Vogelscheuche steht ein paar Schritte von uns entfernt. Ihr zerrissener Kittel hängt traurig hinab, kein einziger Lufthauch weht durch die neblige Nacht.

»Also«, sagt Vincent. »Wir gehen gemeinsam zum Anwesen. Eduard und ich postieren uns am Zaun. Louise, du versuchst, ein Fenster oder eine Tür zu finden, die du möglichst lautlos öffnen kannst. Eli, du gehst gemeinsam mit Louise hinein. Keine Laterne. Wenn es für dich zu dunkel ist, wird Louise dich führen. Ihr nehmt nur, was in die Tasche passt. Diamanten zuerst, dann Gold, dann Silber.« Vincent wirft mir eine Stofftasche zu. Ich fange sie routiniert auf. Ich weiß, wie die Sache läuft.

»Wenn etwas schiefgeht, schreit ihr wie ein Käuzchen. Sobald ihr fertig seid, wie eine Eule.« Eli und ich nicken beflissen. Wir haben das schon unzählige Male so gemacht. »Wenn ihr entdeckt werdet, lauft nach draußen. Wenn es zum Kampf kommt, bist du für Louise verantwortlich, Eli.«

Eli runzelt die Stirn. »Du musst mich nicht daran erinnern«, erwidert er leise. »Niemand muss mich daran erinnern. Ich würde niemals zulassen, dass Louise etwas geschieht, das weißt du ganz genau.«

Meine Wangen werden heiß, wie jedes Mal, wenn Vincent Eli darauf anspricht. Es ist ein schönes Gefühl, zu wissen, dass Eli mich beschützen würde, wie die Helden in meinen Büchern ihre Geliebte beschützen. Allerdings bin ich nicht so schwach, wie Vincent denkt. Es braucht Kraft, um auf dem Seil zu tanzen. Vincent weiß aber nichts davon, dass ich das heimlich tue. Nur Eduard, Eli, Marie und Dorothea wissen es. Deshalb nehme ich Vincent seine Worte nicht übel. Manchmal frage ich mich unweigerlich, ob ich einen Angreifer nicht auch allein in die Flucht schlagen könnte. Ich weiß nicht, ob ich es schaffen würde, jemanden bewusstlos zu schlagen. Doch vielleicht würde ein Angreifer ja wie die Riechsalz-Dame in Ohnmacht fallen, wenn ich mein bestes Dämonengrollen erklingen lasse. Wahrscheinlich nicht. Trotzdem muss ich über den Gedanken lächeln.

»Also, los geht es.« Vincent richtet sich auf. »Ab jetzt kein Laut mehr.« Er bindet Calimero und Primadonna an einem Baum fest. Und dann gehen wir los.

Das Herbstlaub raschelt unter meinen Stiefeln, als wir die Weinberge entlanggehen. Nur das wolkenverhangene Licht des Mondes leitet uns. Vincent und Eduard stolpern ab und zu über Wurzeln oder Steine. Eli geht neben mir. Er stolpert nie. Deshalb habe ich auch die seltsame Vermutung, dass er genauso gut im Dunklen sieht wie ich. Ob er ebenfalls Farben erkennen kann?

Als ich das Anwesen erblicke, zische ich leise. Ein Zeichen für Vincent, Eduard und Eli, stehen zu bleiben. »Da vorne«, hauche ich und strecke den Zeigefinger aus. Kein einziges Licht brennt in dem riesigen Gebäude. Sehr gut. Es ist von einem hohen, eisernen Zaun umgeben. Ich kann aus der Ferne erkennen, dass das Tor mit einem großen Schloss bestückt ist.

Ich übernehme die Führung, leite die anderen zu dem Zaun neben den Weinbergen. Wir sprechen nicht mehr miteinander.

»Ihr bleibt hier«, befehle ich, als wir angekommen sind. »Verteilt euch. Achtet auf den Ruf des Käuzchens. Und lasst euch nicht von den Wachmännern erwischen.«

Vincent und Eduard nicken.

»Bis später«, sage ich leise und schwinge mir die Stofftasche über meine Schulter.

Eli klettert flink über den Zaun und hält mir die Hand hin, um mich hochzuziehen, doch ich klettere selbst darüber. Wir nähern uns dem Gebäude vollkommen lautlos. Der Park um das Anwesen ist reich ausstaffiert. Ich erkenne Statuen, eine mit Rosen bestückte Gartenlaube, ja, sogar den Eingang in ein Heckenlabyrinth.

Lautlos schleiche ich von Fenster zu Fenster. Eli folgt mir. Endlich entdecke ich ein Fenster im Erdgeschoss, dessen Riegel von innen nur halb vorgeschoben ist. Sehr gut. Ich werde also nicht einmal den Dietrich brauchen. »Hier«, hauche ich und mache mich ans Werk. Eli nickt, seine Augen glänzen in der Dunkelheit.