Jahre aus Seide - Ulrike Renk - E-Book

Jahre aus Seide E-Book

Ulrike Renk

5,0

Beschreibung

Träume aus Seide in Zeiten des Aufruhrs.

1932: Ruth hat eine unbeschwerte Jugend. Die meiste Zeit verbringt sie in der Villa des benachbarten Seidenhändlers Merländer. Sie ist fasziniert von den kunstvoll bedruckten Stoffen, lernt Schnittmuster zu entwerfen und Taschen und Zierrat zu fertigen. Und sie begegnet Kurt, ihrer ersten großen Liebe. Als die Nazis an die Macht kommen, scheint es für sie keine Zukunft zu geben, denn sie sind beide Juden. Kurts Familie trägt sich mit dem Gedanken auszuwandern, auch Ruth soll gegen ihren Willen ihr Elternhaus verlassen. Und dann kommt der Tag, an dem das Schicksal ihrer Familie in Ruths Händen liegt...

Eine dramatische Familiengeschichte, die auf wahren Begebenheiten beruht. Der Auftakt zur neuen großen Trilogie von Bestsellerautorin Ulrike Renk: Die große Seidenstadt-Saga.

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Über Ulrike Renk

Ulrike Renk, geboren 1967, studierte Literatur und Medienwissenschaften und lebt mit ihrer Familie in Krefeld. Im Aufbau Taschenbuch liegen ihre Romane »Die Seidenmagd«, »Die Heilerin«, »Die Frau des Seidenwebers«, die Australien-Saga »Die Australierin«, »Die australischen Schwestern« und »Das Versprechen der australischen Schwestern« sowie die Ostpreußen-Saga »Das Lied der Störche«, »Die Jahres der Schwalben« und »Die Zeit der Kraniche« vor. Außerdem erschienen ihre Eifel-Thriller »Echo des Todes« und »Lohn des Todes«. Mehr Informationen zur Autorin unter www.ulrikerenk.de

Informationen zum Buch

Träume aus Seide in Zeiten des Aufruhrs

1932: Ruth hat eine unbeschwerte Jugend. Die meiste Zeit verbringt sie in der Villa des benachbarten Seidenhändlers Merländer. Sie ist fasziniert von den kunstvoll bedruckten Stoffen, lernt Schnittmuster zu entwerfen und Taschen und Zierrat zu fertigen. Und sie begegnet Kurt, ihrer ersten großen Liebe. Als die Nazis an die Macht kommen, scheint es für sie keine Zukunft zu geben, denn sie sind beide Juden. Kurts Familie trägt sich mit dem Gedanken auszuwandern, auch Ruth soll gegen ihren Willen ihr Elternhaus verlassen. Und dann kommt der Tag, an dem das Schicksal ihrer Familie in Ruths Händen liegt.

Eine dramatische Familiengeschichte, die auf wahren Begebenheiten beruht.

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Ulrike Renk

Jahre aus Seide

Das Schicksal einer Familie

Roman

Inhaltsübersicht

Über Ulrike Renk

Informationen zum Buch

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Personenverzeichnis

Teil 1: Glückliche Zeiten

Kapitel 1 (Oktober 1926)

Kapitel 2

Kapitel 3 (März 1927)

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10 (Frühjahr 1928)

Kapitel 11

Teil 2: Wolken ziehen auf

Kapitel 12 (April 1932)

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16 (Herbst 1932)

Kapitel 17

Kapitel 18 (Januar 1933)

Kapitel 19 (Sommer 1933)

Teil 3: Sturm kommt auf

Kapitel 20 (1934)

Kapitel 21 (Krefeld, Sommer 1935)

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24 (31. Dezember 1936)

Kapitel 25 (1937)

Kapitel 26 (Herbst 1937)

Kapitel 27 (1938)

Nachwort

Danksagung

Nachweise

Liebe Leserinnen und Leser

Impressum

Für Diane, David, Schalom und Larry

»Wenn das Tagebuch einmal verloren gehen sollte, und irgendjemand findet es, so halte der es bitte in Ehren. Und sollten auch einige Stellen dabei sein, worüber man später mal lachen würde, so denke der Finder bitte daran, dass ich alles, was in diesem Buch steht, aus dem innersten Herzen heraus geschrieben habe. Wenn ich einmal nicht mehr auf dieser Welt bin, dann sehen meine Enkel und Urenkel aus diesem Buch, dass meine Jugend, so schön sie mir von den Eltern auch gemacht wurde, doch nicht so sorgenlos war, wie [es], so hoffe ich fest, meine Nachfahren einmal haben werden.

Die Zeit ist so schwer, wie ich sie nicht hier hinein beschreiben kann. Vielleicht seid ihr dann, was ich von Herzen wünsche, in Palästina, in dem Land unserer Hoffnung. Vielleicht seid ihr auch mitbeschäftigt an der großen Arbeit, an der sich jeder gesunde, arbeitskräftige Jude beteiligen soll.

Den 19. September in dem Jahr 1935, das jeder Jude, der diese Zeit mitgemacht hat, nie vergessen wird.«

Ruth Meyer

(Aus dem Original-Tagebuch von Ruth Meyer, 19. September 1935)

Personenverzeichnis

Familie Meyer

Emilie Meyer (Großmutter) und Markus Meyer

Martha

Erich

Wilhelmine Meyer (Omi) und Valentin Meyer (Opi)

Karl

Hedwig Simons geb. Meyer und Berthold Simons

Hans Simons

Karl Meyer und Martha Meyer geb. Meyer

Ruth Meyer

Ilse

Freunde der Meyers

Ingrid und Kurt Lindenbaum

Tochter Edith

Sofie und Walter Gompetz

Elsa und Albert Glimmich

Tochter Anne

Sohn Kurt

Thea Horn

Minnchen Hirsch

Luise Dahl

Nachbarn der Meyers

Richard Merländer

Karl Merländer

Fam. Theißen

Sohn Horst

Angestellte bei Meyers

1. Chauffeur – Rudi Becker

2. Chauffeur – Hans Aretz und Familie

Josefine Aretz

Helmuth

Rita

Regina Jansen – Köchin

Anna Peters – Zugehfrau

Leni – Kindermädchen

Angestellte bei Merländer

Hermann Sanders – Chauffeur

Katharina Sanders

Rosi Sanders

Lisa Sanders – Haushälterin

Teil 1 Glückliche Zeiten

Kapitel 1 Oktober 1926

Ruth drückte sich die Nase an der kalten Fensterscheibe platt; es war Freitagabend, und ihr Vater würde endlich wieder nach Hause kommen. Die Woche über war er unterwegs gewesen und hatte seine Schuhkollektion vorgestellt.

»Ruth?«, hörte sie ihre Mutter fragen. »Wo bist du?«

»In der Diele, ich warte auf Vati.«

»Es kann noch dauern, bis er kommt.«

»Aber es ist Freitag, und gleich wird es dunkel. Wir wollen doch mit ihm zusammen die Kerzen anzünden!«

Martha lächelte und drückte ihre Tochter an sich. »Ach, du weißt doch, Vati ist das nicht so wichtig.«

»Wirst du es ihm erzählen?«, fragte Ruth leise und kuschelte sich an ihre Mutter.

»Ja, Ruth, natürlich. Aber er wird bestimmt nicht schimpfen, sondern sich freuen, dass nicht mehr passiert ist.«

»Glaubst du wirklich?«

»Ja, das tue ich.« Martha strich ihr beruhigend über die Haare. Karl würde allerdings sehr besorgt sein, doch das musste ihre Tochter nicht wissen.

»Jetzt aber los, bevor Vati kommt, müsst ihr noch baden. Und wenn ihr fertig seid, können wir schon einmal die Kerzen anmachen.«

»Auja!«, rief Ruth begeistert. »Und dann erzählst du uns eine Geschichte.«

Martha sah ihrer Tochter hinterher, die eilig durch den Flur Richtung Badezimmer lief, wo Leni, das Kindermädchen, sicher schon die Wanne eingelassen hatte und mit Ilse, der Jüngsten, auf sie wartete.

Dann ging ihr Blick wieder zur Straße. Langsam begann es zu dämmern, und die wenigen Laternen, die den Bürgersteig säumten, gingen an. Bestimmt würde Karl erst lange nach Sonnenuntergang kommen. Kurz nach dem Großen Krieg hatte Karl begonnen, seine Schuhkollektionen am ganzen Niederrhein zu vertreiben. Er hatte einen guten Blick für die kommende Mode. Die Schuhe, die er im Frühjahr und Herbst bei den Herstellern kaufte, waren sehr beliebt, und über die Jahre hatte er sein Geschäft immer weiter ausbauen können. Am Anfang reiste er mit dem Zug, mittlerweile besaß er ein Automobil. Für Martha ein erneuter Anlass zur Sorge, denn von Rudi Becker, dem Chauffeur, den Karl hatte anstellen müssen, weil er wegen seiner starken Kurzsichtigkeit nicht selbst fahren konnte, hielt sie nicht viel.

Martha seufzte, sie hatte sich abgewöhnt, auf Karl zu warten. Am Anfang ihrer Ehe war es schwerer gewesen. Sechs Jahre waren sie nun verheiratet, und seit sechs Jahren wohnten sie hier in diesem Haus auf der Drießendorfer Straße. Sie hatten damals verzweifelt nach einer schönen Wohnung zur Miete gesucht, doch ohne Erfolg. Vielen Vermietern waren sie zu jung gewesen, einige wollten sie nicht haben, weil sie jüdisch waren. Immer noch war Martha darüber verwundert. Was machte es für einen Unterschied, welchen Glauben sie hatte? Sie waren Juden, pflegten aber nur oberflächlich die Traditionen, vor allem Karl legte auf alles Religiöse wenig Wert. Den Samstag, den Sabbat, nutzte er, um seine Buchführung auf Vordermann zu bringen. Nur hin und wieder begleitete er sie und die Kinder in die Synagoge. So war das bei vielen Juden in Krefeld – die meisten jüdischen Rituale passten kaum noch in das moderne Leben, das sie führten.

Als die Wohnungssuche erfolglos blieb, wurde Karl das Haus in der Drießendorfer Straße angeboten. Er überlegte nicht lange und kaufte es. Seitdem lebten sie in der untersten Etage des Dreifamilienhauses. Die beiden anderen Wohnungen hatten sie vermietet. Zwar wohnten sie zentral, aber die Gegend war nicht so, wie Martha es sich eigentlich für ihre Familie wünschte. Die laute, enge Straße, die kleinen Gärten, meist nicht mehr als Hinterhöfe … erst gestern war wieder etwas passiert, was Marthas ungutes Gefühl bestärkte. Nachmittags hatte es geklingelt, und bevor Martha etwas sagen konnte, war Ruth zur Tür gelaufen. Vor ihr stand ein Bettler, wie so häufig in letzter Zeit. Ruth war zu ihrer Mutter gelaufen, um sie nach etwas Geld zu fragen. Als sie kurz darauf wieder zur Tür kam, war der Mann jedoch verschwunden. Da sie ihm aber unbedingt etwas hatte geben wollen, war sie ihm hinterhergegangen, und in ihrer Aufregung, ihn noch einzuholen, vor ein Automobil gelaufen.

Die Straße, dachte Martha, war einfach viel zu befahren für eine Wohngegend. Zum Glück hatte Doktor Hirschfelder, der Kinderarzt der Familie, Ruth sofort untersuchen können. Sie hatte nur eine Beule und ein paar Schürfwunden an den Beinen, mehr war nicht passiert. Dennoch, der Schreck blieb, und trug dazu bei, dass sich Martha hier immer unwohler fühlte.

In Gedanken versunken ging sie zum Esszimmer. Heute hatte sie gekocht, und gleich würde ihre Mutter kommen, um mit ihnen gemeinsam den Abend zu verbringen. Martha stöhnte auf, als sie an die Stunden dachte, die sie in der Küche zugebracht hatte – ihre Kochversuche waren meist nur von mäßigem Erfolg gekrönt. Es war nicht so, dass sie nicht die grundlegenden Regeln beherrschte, aber Kochen lag ihr einfach nicht. Manchmal dachte sie, dass sie es sogar schaffen würde, Wasser anbrennen zu lassen. Doch es half nichts, sie hatte die Köchin entlassen müssen, wieder einmal hatte es Ungereimtheiten bei den Abrechnungen gegeben, von versalzenem Essen, angebrannten Kartoffeln und rohem Gemüse ganz zu schweigen.

In Momenten wie diesen, wenn sie solche Entscheidungen zu treffen hatte, fehlte ihr Karl ganz besonders. Natürlich hatte sie gewusst, worauf sie sich einließ, als sie ihn heiratete. Sie hatte gewusst, dass er oft die ganze Woche über unterwegs war und sie nur am Wochenende ein gemeinsames Familienleben haben würden. Dennoch träumte sie manchmal von einem anderen Leben, einem Leben ohne ständiges Abschiednehmen – nur Karl, die Kinder und sie. Karl hätte eine Festanstellung in Krefeld, ginge morgens aus dem Haus und käme abends zurück. Es war ein Traum, ihr Traum – Karl wäre damit unglücklich. Er liebte seine Selbstständigkeit, ging in seinem Beruf auf. Er genoss es, jeden Tag andere Menschen zu treffen und mit ihnen zu reden. Und er war wirklich gut darin. Nein, Karl würde seinen Beruf nie aufgeben, und das war auch richtig so.

Inzwischen war es vollständig dunkel geworden. Sie hörte Lachen und Wasserrauschen aus dem Badezimmer. Wie dankbar kann ich sein, dass ich meine beiden Mädchen habe, dachte Martha, als sie den langen Flur nach hinten ging. Es war eines ihrer Rituale, dass Leni die beiden am Freitagabend badete. Danach zogen sie ihre Nachthemden und ihre Morgenmäntel an und setzten sich auf das Sofa im Wohnzimmer.

Das Badezimmer war voller Dampfschwaden, die sich mit dem fröhlichen Planschen ihrer Töchter vermischten.

»Nun ist aber gut«, ermahnte Leni gespielt streng. »Ich hole jetzt Ilse aus der Wanne, und du, Ruth, kannst dir noch die Haare waschen. Aber gib acht, dass du keine Seife in die Augen bekommst.«

»Ja, Leni«

Ilse streckte dem Kindermädchen die Ärmchen entgegen und ließ sich in das Badehandtuch hüllen.

»Danke, Leni«, sagte Martha. »Was würde ich ohne dich tun …«

»Dann hätten Sie ein anderes Mädchen«, sagte Leni. »Es suchen immer noch so viele Arbeit, obwohl der Große Krieg doch schon lange vorbei ist.«

»Das stimmt.« Martha räusperte sich. »Kennst du vielleicht eine gute Köchin?«

»Darüber zerbreche ich mir auch schon seit einiger Zeit den Kopf. Mit Erna war es ja nicht auszuhalten.«

»Frau Klein hatte gute Referenzen …«

»Wie auch immer sie das geschafft hat – mit ihren Kochkünsten sicher nicht.«

Die beiden Frauen sahen sich an und begannen zu lachen. Dann hob Martha resigniert die Arme: »Nein, das war es sicher nicht.«

»Ich höre mich weiter um«, versprach Leni. »Es wäre ja ein Ding, wenn Sie niemanden finden würden.«

»Wieso brauchen wir eine neue Köchin? Du kannst doch kochen, Mutti«, protestierte Ruth. »Heute hast du doch auch gekocht. Und es riecht lecker.«

»Hoffen wir, dass es auch schmeckt …«

»Mit Vati essen«, nuschelte Ilse und kuschelte sich an ihre Mutter.

»Ja, das wäre schön. Aber jetzt müssen wir dich erst einmal abtrocknen und dir etwas anziehen. Dann gehen wir ins Herrenzimmer und zünden die Sabbatkerzen an.«

»Erzählst du uns eine Geschichte, Mutti?«, fragte Ruth.

»Natürlich. Das mache ich doch immer.«

»Auja!«, krähte Ilse, Martha lachte leise und schnupperte am Kopf ihrer Tochter. Ilse war erst zwei, sie hatte immer noch den typisch süßlichen Geruch, den Kleinkinder oft hatten – ein betörender Duft.

Eine halbe Stunde später saß Martha mit ihren Töchtern auf dem Sofa. Leni zog sich ihren Mantel an und nahm ihre Handtasche. »Ich wünsche Ihnen und Ihrer Familie ein schönes Wochenende«, sagte sie.

»Danke. Bis Montag, Leni.«

Nachdem die Tür hinter dem Kindermädchen ins Schloss gefallen war, stand Martha auf und holte die Streichhölzer. Sie sprach den Segen und zündete die Kerzen an, die in zwei silbernen Haltern auf dem Esstisch standen. Die Streichhölzer ließ sie in einen Aschenbecher fallen und wartete, bis sie restlos verglüht waren, so wollte es die Tradition. Dann setzte sie sich wieder auf das Sofa, Ilse rechts und Ruth links von ihr.

»Heute schaffen wir aber nur eine kurze Geschichte. Großmutter Emilie kommt gleich und isst mit uns. Wollt ihr eine traurige oder eine lustige hören?«

»Eine traurige«, sagte Ruth. »Bitte eine traurige, die erzählst du immer so schön.«

»Nun gut …« Martha überlegte, dann fing sie an. Meistens nahm sie ein klassisches Märchen als Grundlage, wandelte es aber während des Erzählens ab, sodass es zu einer ganz eigenen Geschichte wurde. Manchmal wählte sie aber auch das Motiv einer der großen Opern. Sie ging gerne in die Oper, schon seit Jahren hatte sie ein Abonnement, sodass ihr die meisten Stücke vertraut waren. Es tat Martha leid, dass sie heute nur wenig Zeit hatten, denn das Erzählen war ihr liebster, ganz eigener Sabbattbrauch. Wie immer kuschelten sich die beiden Mädchen an sie, schauten in das Licht der Kerzen und genossen den Singsang der Stimme ihrer Mutter. Wenn etwas Schreckliches passierte, erschauderten sie, wenn es lustig wurde, kicherten sie gemeinsam. Es war ein schönes, ein inniges Ritual.

Martha hatte die Geschichte gerade beendet, da schellte es auch schon an der Haustür.

»Das ist Großmutter Emilie«, sagte Ruth und sprang auf.

»Begrüßt ihr sie und ich gehe in die Küche und hole das Essen«, bat Martha und stand eilig auf. Heute würde es Braten geben, Kartoffeln, dazu braune Soße und Rosenkohl. Koscher kochten sie selten.

Entsetzt merkte sie, dass die Kartoffeln schon verkocht waren und stellte schnell eine Pfanne auf den Herd, um sie anzubraten. Der Rosenkohl dagegen war noch recht fest, also heizte sie den Topf noch einmal an. Ihre Mutter war immer sehr kritisch, nicht nur, was das Essen anging. Nach dem Tod des Vaters vor drei Jahren sahen sie sich häufiger als früher. Trotzdem war das Verhältnis zu ihr nicht besser geworden. Emilie war eine erfolgreiche Geschäftsfrau,– gemeinsam mit ihrer Schwester hatte sie ein Kurz- und Weißwarengeschäft eröffnet und betrieben –, auch, nachdem sie geheiratet hatte; für ihre Familie hatte sie nur wenig Zeit gehabt, Martha und ihr Bruder Erich wurden zum größten Teil von Kindermädchen erzogen oder waren bei den Großeltern in Anrath. Oft hatte sie unter der Abwesenheit eines liebenden Elternteils gelitten und hatte sich geschworen, es mit Ilse und Ruth besser zu machen als ihre Mutter. Sie wollte eine enge Beziehung zu ihren Töchtern haben, auch, wenn sie ein Kindermädchen hatte.

In diesem Moment betrat ihre Mutter die Küche.

»Ich komme gleich«, sagte Martha und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Wieso stehst du überhaupt am Herd?«, fragte Emilie und küsste ihre Tochter flüchtig auf die Wange. »Und warum lässt du Ruth die Tür öffnen?«

»Wir wussten doch, dass du es bist, Mutter.«

»Das kann man nie wissen. Es hätte auch ein Hausierer sein können, sie hören ja nicht auf, durch die Straßen zu laufen. Man hört Dinge von diesen Männern, Dinge, die deine Töchter nicht erleben sollten.«

»Ja!«, rief Ruth, die ihrer Großmutter in die Küche gefolgt war. »Vorgestern hat einer hier geschellt.«

Martha warf ihrer Tochter einen strengen Blick zu, das Letzte, was sie wollte, war, dass ihre Mutter von diesem Zwischenfall erfuhr.

»Ein Bettler, hier?«, fragte Emilie.

»Ruth zum Doktor«, ergänzte Ilse stolz.

»Unfug!«, sagte Ruth und nahm ihre Schwester bei der Hand. »Ich musste doch nicht deshalb zum Doktor. Komm, wir gehen schon mal ins Esszimmer.«

»Was erzählen die Kinder denn da?«, fragte Emilie und runzelte die Stirn.

»Das erkläre ich dir später. Erst muss ich mich um das Essen kümmern.« Hoffentlich würde sie die Kartoffeln noch retten können.

»Du hast mir immer noch nicht gesagt, wo deine Köchin ist.«

»Ich habe sie entlassen. Und auch das erzähle ich dir nachher, ich muss nur noch kurz …«

»Die Sonne ist schon längst untergegangen … du solltest überhaupt nicht mehr in der Küche stehen.«

»Mutter … bitte!«

Nach zehn Minuten waren die Kartoffeln zwar kross angebraten, dafür war der Rosenkohl jedoch zu weich. Immerhin machte der Braten einen guten Eindruck, und die Soße schmeckte köstlich. Martha füllte die Schüsseln und Platten, dann brachte sie alles ins Esszimmer. Über dem Tisch brannte die alte Petroleumlampe und verbreitete zusammen mit den Kerzen ein warmes und gemütliches Licht.

»Nun«, sagte Emilie, »dann wünsche ich uns allen einen gesegneten Sabbat.«

Das Schweigen am Tisch war dicht und bedrückend, aber Martha fiel nichts ein, worüber sie mit ihrer Mutter hätte sprechen wollen. Und auch die Kinder, die sonst immer frei und munter plauderten, waren in Gegenwart der Großmutter gehemmt.

»Wo ist denn Karl?«, fragte Emilie schließlich.

»Er ist noch unterwegs.«

»Seine Touren werden von Woche zu Woche länger, oder täusche ich mich?«

»Ja, das stimmt. Er fährt jetzt bis ins Münsterland. Die Geschäfte laufen gut.«

»Aber er ist kaum hier. Bei euch, bei seiner Familie.«

»Das warst du doch auch nie«, entgegnete Martha spitz.

»Ich hatte schließlich ein Geschäft zu führen.«

»So wie Karl.«

Martha blickte über den Tisch hinweg ihre Mutter an, zwang sich zu einem Lächeln. Aber Emilie wich ihrem Blick aus, sie nahm einen Bissen vom Rosenkohl, kaute. Sie wollte schon ansetzen, etwas zu sagen, besann sich dann aber und schwieg.

»Ich habe ein Auto gehört!«, rief Ruth plötzlich. »Das ist bestimmt Vati.«

Die beiden Mädchen sprangen vom Tisch auf und eilten ihm entgegen. »Vati! Vati!«

»Da sind ja meine beiden Hübschen!«, rief Karl, als er in die Diele trat. Erst nahm er Ilse, dann Ruth hoch, schwenkte sie im Kreis und gab jeder einen Kuss. »Bald seid ihr zu groß dafür«, sagte er mit Bedauern.

»Vati, Mutti hat gekocht, es schmeckt lecker.«

»Mutti hat gekocht?« Karl zog die Augenbrauen hoch.

»Ja, und da war’n … Bestler …«

»Bettler«, verbesserte Ruth ihre Schwester. »Aber darüber wollten wir doch nicht sprechen, Ilse.«

»Aha«, sagte Karl und schaute zu Martha, die unter den missbilligenden Blicken ihrer Mutter ebenfalls vom Tisch aufgestanden und in die Diele getreten war, um ihn zu begrüßen. »Guten Abend, mein Liebster. Wie geht es dir?«, fragte sie besorgt, die Woche war lang gewesen.

»Ich bin hungrig und müde. Und so froh, wieder hier zu sein.« Er küsste sie auf die Wange. »Ich mache mich eben frisch, dann komme ich zu euch.«

»Meine Mutter ist da«, flüsterte Martha ihm ins Ohr.

»Oh. Na gut. Dann werde ich sie schnell begrüßen.« Er legte Mantel und Hut ab und ging ins Esszimmer. »Guten Abend Emilie. Wie geht es dir?«

»Gut, Karl, wie immer.« Sie reichte ihm die Hand, dann schnupperte sie. »Hast du etwa geraucht?«

»Ja«, sagte er und lächelte. »Du nicht?«

»Natürlich nicht!« Sie sah ihn empört an. »Was denkst du denn von mir?«

»Immer nur Gutes, Emilie. Immer nur Gutes. Esst ihr schon einmal weiter, ich komme gleich.«

Im Flur nahm er seinen Koffer und ging Richtung Schlafzimmer. Bald darauf hörten sie Wasser rauschen, und wenig später stand Karl wieder am Tisch – war frisch rasiert, hatte die Haare zurückgekämmt und trug einen sauberen Anzug.

»Du duftest immer so gut«, sagte Ruth und blickte ihn strahlend an.

»Wenn er nicht gerade raucht«, ergänzte Emilie vernehmlich.

»Setz dich doch.« Martha füllte seinen Teller. »Ich musste die Köchin entlassen und habe deswegen heute selbst gekocht.«

»Hat sie wieder alles anbrennen lassen?«

»Ja, und die Abrechnungen vom Haushaltsgeld waren auch nicht korrekt.«

»Dann hast du es richtig gemacht. Der Braten riecht übrigens köstlich.«

»Wie war deine Woche?«, fragte Martha.

»Ausgezeichnet. Ich habe zwei neue Schuhläden im nördlichen Münsterland für mich gewinnen können. Meine Kollektion hat sie überzeugt.«

»Wie wunderbar. Aber ich finde ja auch, dass die Schuhe in diesem Jahr ganz besonders schön sind, der Lack und diese schicken Schnallen ...«, sagte Martha lächelnd.

»Bis ins Münsterland fährst du inzwischen?«, fragte Emilie.

»Ja, und die Geschäfte laufen gut. Seit ich das Automobil habe, ist vieles einfacher. Ich muss keine Musterkoffer mit mir herumschleppen, bin nicht auf die Zugverbindungen angewiesen. Dadurch kann ich mehr und bessere Geschäfte machen. Das Auto rentiert sich.« Dann seufzte er. »Nur Becker …«

»Wer ist Becker?«, fragte Großmutter Emilie.

»Aber Mutter, das ist Karls Chauffeur.«

»Wenn man so will. Er kann zwar fahren, aber er hat kein gutes Händchen für Autos. Irgendetwas stimmt schon wieder nicht mit dem Wagen, und du weißt ja, dass ich zwei linke Hände habe …«

»Entlass ihn«, unterbrach Emilie trocken.

Karl sah sie an. »Und dann, liebe Schwiegermutter? Was mache ich dann?«

»Du suchst dir eben einen neuen Chauffeur. So schwer kann das doch nicht sein.«

Martha blickte zu ihrem Mann, der mit gerunzelter Stirn auf seinen Teller schaute und schwieg. Eilig sprang sie auf. »Es gibt doch noch Nachtisch, ich habe Pudding gemacht.«

»Nun, ihr Süßen«, sagte Martha zu den Kindern, als die letzte Schüssel endlich geleert war, »es wird Zeit, die Zähne zu putzen und ins Bett zu gehen.«

Sollte sie mit den Kindern gehen? Würde dann ihre Mutter noch weitere Spitzen ablassen, und wie würde Karl, so angespannt, wie er war, darauf reagieren?

»Ich gehe mit Ilse Zähneputzen«, sagte Ruth, rutschte vom Stuhl und nahm Ilse bei der Hand. »Sagst du uns gleich noch Gute Nacht?«

»Natürlich, meine Süße.«

»Du auch, Vati?«, fragte Ruth mit einem engelsgleichen Augenaufschlag.

»Wie bitte?« Karl schaute auf. Er war ganz in Gedanken versunken gewesen.

»Kommst du uns gleich auch Gute Nacht sagen?«

»Natürlich. Gute Nacht, mein Kind.«

»Nein«, protestierte Ruth und baute sich vor ihm auf. Ihre Stimme zitterte vor Wut. »Kommst du bitte zu uns, wenn wir im Bett sind? Gibst du uns dann noch einen Kuss?« Sie holte tief Luft. »Wir sehen dich so selten, Vati. Ich würde mir so sehr wünschen, dass du uns heute Gute Nacht sagst. Bitte.« Ruth musste die Tränen wegblinzeln, senkte aber trotzdem nicht den Blick, sondern sah ihren Vater durchdringend an. »Bitte.«

»Natürlich komme ich noch«, sagte er und drückte sie an sich. »Mein Schätzchen. Ich habe dich lieb.« Er holte tief Luft. »Und jetzt geh mit Ilse Zähneputzen.«

Dankbar sah Martha ihn an und schickte ihm über den Tisch einen Kuss zu. Karl lächelte. »Das Essen war sehr gut, aber wir sollten trotzdem schnell eine neue Köchin finden.«

»Gutes Personal gibt es heute kaum noch«, sagte Emilie. Dann runzelte sie die Stirn. »Wollen sich die Kinder nicht von mir verabschieden?«

»Ach, Mutter, sie denken sicherlich, dass du nachher auch noch zu ihnen gehst«, sagte Martha.

»Das habe ich aber nicht vor. Ich werde mich gleich auf den Heimweg machen. Der Tag war lang, und ich muss ins Bett.«

»Das verstehen wir«, sagte Karl und erhob sich. Einen Moment später stand er mit seinen beiden Töchtern an den Händen wieder im Esszimmer.

»Gute Nacht, Großmutter«, sagte Ruth und gab der alten Dame einen Kuss auf die Wange.

»Gute Nacht«, sagte auch Ilse und streckte ihr die Hand hin. Doch Emilie beugte sich zu ihr vor und zog sie an sich.

»Gib mir einen Gute-Nacht-Kuss!«

Unwillig fügte Ilse sich, dann trippelten die beiden Mädchen den langen Flur entlang zurück ins Bad.

»Danke für das Essen«, sagte Emilie und stand auf.

»Ich wünsche euch einen friedlichen Sabbat... und dir wünsche ich, dass du ganz schnell eine neue Köchin findest.« Zielstrebig ging sie zur Diele.

»Mutter … sollen wir nicht eine Droschke rufen?«

»Oder ich rufe Becker an. Er wird dich bringen«, sagte Karl.

»Ich glaube nicht, dass ich mit deinem Chauffeur fahren möchte, ich nehme die Tram. Das ist kein Problem.«

»Aber wir könnten doch wenigstens eine Droschke …«

»Lass es gut sein, Martha«, sagte Emilie lächelnd. »Ich nehme die Tram. Das geht wunderbar.« Mit geradem Rücken und gestrafften Schultern verließ sie das Haus.

Karl überlegte kurz. »Soll ich sie begleiten?«, fragte er leise.

»Ich glaube nicht, dass sie das möchte. Wobei ich oft gar nicht weiß, was sie möchte. Sie ist meine Mutter, aber manchmal habe ich das Gefühl, sie könnte auch auf dem Mond leben, so fern sind wir uns.«

»Immerhin kommt sie uns ab und an besuchen.« Karl schloss die Tür. »Deine Mutter ist schon lange erwachsen, sie hat erfolgreich ein Geschäft geführt, sie weiß, was sie will. Ändern können wir sie nicht mehr.«

»Nein, das können wir tatsächlich nicht …«

Karl nahm sie in den Arm.

»Was denn?«, fragte er. »Was betrübt dich?«

»Ich würde mich einfach gern besser mit ihr verstehen, das habe ich mir schon gewünscht, als ich noch ein kleines Mädchen war …« Arm in Arm gingen sie zurück ins Esszimmer. »Und nun scheint es zu spät zu sein. Vater ist tot, und Mutter ist immer noch distanziert.«

»Ich weiß, mein Schatz, aber ich befürchte, sie wird sich nicht mehr ändern.«

»Das weiß ich ja auch, Karl.« Martha senkte den Kopf. »Aber … aber ich will es anders machen, verstehst du?«

»Du machst es doch anders.«

»Ich will es aber viel, viel besser machen als meine Mutter. Ich will für unsere Töchter, für meine Mädchen, immer da sein. Ich möchte sie unterstützen, ich möchte sie verstehen, ich möchte mit ihnen reden können, an ihrer Seite sein – aber ich hab’ Angst, dass ich das nicht schaffe. Ich habe ja nie vorgelebt bekommen, wie das geht …« Martha stockte. »Verstehst du, wie ich das meine?«

»Ja, Liebes, mach dir nicht so viele Gedanken. Du bist eine wunderbare Mutter und glaube mir, das werden unsere Töchter auch zu schätzen wissen.«

Er hob lauschend den Kopf: Aus dem Badezimmer war kein Laut mehr zu hören. »Sollen wir zu ihnen gehen und ihnen Gute Nacht sagen?«

Marthas Blick wanderte zum Tisch, der voller Geschirr stand.

»Kannst du schon einmal vorgehen? Ich komme dann gleich, ich räume nur schnell ab.«

»Lass uns das doch gemeinsam machen...«, schlug Karl vor.

»Das ist lieb von dir, aber Ruth und Ilse würden sich sicher sehr freuen, Zeit mit dir alleine verbringen zu können. Davon habt ihr so wenig.«

»Das ist wahr«, sagte Karl und küsste sie. »Aber versprich mir eins, denk nicht zu viel darüber nach, ob du eine gute Mutter bist – denn du bist es. Die beste, die es gibt.«

Dankbar sah sie ihm hinterher, wie er im Kinderzimmer verschwand. Dann begann sie, das Geschirr in die Küche zu räumen und es einzuweichen. Auch die Töpfe hatte sie schon mit warmem Wasser gefüllt. Die Reste der Mahlzeit füllte sie in Schüsseln und stellte sie in den Eisschrank. Nachdem sie den Esstisch abgewischt hatte, folgte sie Karl ins Zimmer der Mädchen.

Ilse schlief bereits tief und fest, und sie küsste ihre kleine Tochter auf die Stirn. Ruth war noch wach. Karl erzählte ihr gerade von seiner Arbeit.

»Jeden Tag fahre ich in eine andere Stadt und treffe neue Menschen«, sagte er.

»Aber irgendwann kennst du sie dann doch, oder?«

Karl lächelte. »Du hast recht. Irgendwann kennt man sie – und das ist auch gut so.«

»Und alle kaufen deine Schuhe?«, fragte Ruth verblüfft.

»Viele, nicht alle.«

Ruth gähnte. »Gute Nacht, Vati«, murmelte sie.

»Gute Nacht, schlaf schön, mein Kind.«

»Gute Nacht, meine Süße«, sagte Martha, küsste ihre Älteste auf die Stirn und strich die Decke glatt. Als sie und Karl die Tür leise hinter sich zuzogen, schliefen beide Mädchen bereits.

Zurück im Wohnzimmer, setzten sie sich auf die Couch. Karl nahm eine Zigarre aus der Jackentasche, rollte sie in seinen Händen, nahm dann ein scharfes Messer, das auf einem kleinen Tablett lag, und schnitt die Spitze ab.

»Es tut mir leid, dass ich die ganze Woche über unterwegs war. In den nächsten Wochen wird es leider nicht anders sein. Ich will auch dringend einen neuen Chauffeur finden. Doch erst einmal muss der Wagen morgen in die Werkstatt.«

»Du kommst morgen wieder nicht mit zum Gottesdienst?«

»Nein, Liebes, das schaffe ich nicht. Sei mir nicht böse.« Karl senkte den Kopf.

»Gott wird es dir verzeihen, weil er weiß, dass du ihn im Herzen liebst«, sagte Martha mit einem Schmunzeln.

»Du bist mir also nicht böse?«

»Wie könnte ich dir böse sein?« Martha lehnte sich zu ihm und gab ihm einen Kuss.

* * *

»Es ist zum Mäusemelken«, sagte Karl, als sie am nächsten Abend zusammen am Tisch saßen. »Irgendetwas ist mit dem Motor des Wagens, sagt Aretz.«

»Wer ist Aretz?«, fragte Martha und verteilte die Kartoffeln, das Sauerkraut und die Rindswürste. Für Ilse schnitt sie die Wurst in kleine Stücke, sie konnte noch nicht so gut mit Messer und Gabel umgehen. Andere Kinder saßen in dem Alter nicht am Familientisch, doch Martha waren die gemeinsamen Mahlzeiten wichtig. Sie wollte möglichst viel Zeit zu viert verbringen, sich mit ihnen über die Ereignisse des Tages austauschen. Was könnte es Schöneres geben, als gemeinsam zu essen? Außerdem wollte sie die Mädchen schnell an die Tischsitten gewöhnen. Deshalb kam das Kindermädchen auch nicht am Wochenende.

»Aretz hat eine Autowerkstatt auf der Moerser Straße«, erklärte Karl. »Er ist mir empfohlen worden.«

»Von wem?«

»Von Merländer. Richard Merländer.«

»Ach?«, sagte Martha und schaute ihren Mann an. »Der Merländer? Ich habe von ihm gehört. Er ist Jude, war aber noch nie in der Synagoge.«

»Er ist ein sehr erfolgreicher Seidenhändler.«

»Ich weiß. Viele der Jungs finden eine Anstellung bei ihm, in der Seidendruckerei. Und ich habe erst letztens seine aktuellen Stoffe gesehen, sie sind wirklich einzigartig schön. Reine, feste Seide, und die Farben und Muster nach der neuesten Mode – lachsrosa und taubenblau, ein Traum. Trotzdem, was die Weißwäsche angeht, hatte das Geschäft meiner Mutter immer die bessere Ware.«

»Ach, Liebes, die beiden stehen doch überhaupt nicht in Konkurrenz«, sagte Karl.

»Wie bitte?«, fragte Ruth. »Wo stehen sie nicht?«

Martha lachte leise. »Süße – Vati meint, dass die Kurzwarenhandlung von Großmutter Emilie und die Firma von Richard Merländer nicht verglichen werden können, weil sie zu unterschiedlich sind.«

»Wieso? Was macht denn dieser Meermann?«

»Er lässt Seidenstoffe bedrucken und verkauft sie dann. Er hat dafür eine große Fabrik.«

»Und wie macht er das, das Bedrucken? Und woher hat er überhaupt die Seide?«

»Weißt du Ruth, Seide wurde vor vielen tausend Jahren das erste Mal in China hergestellt. Und auch heute ist es noch so: Die Seide stammt von einer ganz bestimmten Raupenart. Du kennst das doch von den Schmetterlingen. Um zu einem Schmetterling zu werden, muss sich die Raupe verpuppen. Und diese Raupen verwenden eben Seidenfäden für den Bau ihres Kokons. Wenn man genügend Fäden spinnt, entsteht Seidenstoff, und den kauft Richard Merländer für seine Fabrik ein, färbt und bedruckt ihn mit verschiedenen Mustern.«

Ruth sah ihren Vater mit großen Augen an. »Das würde ich so gerne einmal sehen! Und dann würde ich mich in so ein Seidentuch einwickeln und so tun, als wäre ich ein Schmetterling!«

»Oder du nähst dir aus ganz vielen bunten Stoffen ein Kostüm, für das Purim-Fest«, sagte Martha lachend.

Nach dem Essen brachte Karl die Kinder zu Bett, während Martha abräumte. Im Anschluss trafen sie sich im Wohnzimmer wieder – jeder auf seine Art erschöpft.

»Dieser Mechaniker ist wirklich gut«, sagte Karl nachdenklich.

»Welcher Mechaniker?«

»Aretz – der auf der Moerser Straße. Bis Montag will er unseren Wagen repariert haben.«

»Gut, das freut mich!«

»Ich habe«, sagte Karl nachdenklich, »eine Weile mit Richard gesprochen.«

»Mit Merländer?«

»Ja. Er hat ja vor drei Jahren hier in Krefeld gebaut.«

»Ich erinnere mich, in der Friedrich-Ebert-Straße. Ein hässliches Gebäude. Ich verstehe gar nicht, wie man heutzutage so bauen kann«, sagte Martha. »Das Haus sieht aus wie ein altes Nachthemd – so verschnörkelt und mit den Säulen.«

»Du magst recht haben, aber ihm gefällt es. Und nur ihm muss es doch gefallen, oder?«, sagte Karl. Dann räusperte er sich. »So würde ich natürlich nicht bauen wollen. Aber ein eigenes Haus – eines so wie wir uns das vorstellen, das fände ich schon schön.«

»Ja, irgendwann wird das vielleicht möglich sein«, sagte Martha verträumt.

»Auf der anderen Seite der Straße stehen Grundstücke zum Kauf, sagte Richard mir.«

»Welcher Straße?«

»Na, auf der Friedrich-Ebert-Straße, dort wo Richard auch wohnt. Auf der Seite, wo das Realgymnasium ist, also auf dessen Rückseite.«

»Ach, ich weiß, wo du meinst, eine schöne Gegend. Sehr viel ruhiger als hier.«

»Das denke ich auch. Und nachdem diese Geschichte mit Ruth und dem Automobil passiert ist, denke ich es dreimal.« Er zog an seiner Zigarre, dann sah er Martha an. »Ich würde gerne dort ein Grundstück kaufen und ein Haus für uns bauen. Ein Haus, nur für uns und die Kinder. Ohne Mietwohnungen und ohne gefährliche Straßenkreuzungen. Ein Haus, in dem wir in Ruhe leben könnten, wo es eine Garage für das Auto gibt, ein Arbeitszimmer für mich und reichlich Platz für dich und die Mädchen.«

»Das klingt wundervoll, aber können wir uns das denn leisten? Wir wollen uns doch nicht verschulden. Wenn Merländer dort gebaut hat, werden die Preise ordentlich sein. Er muss ja nicht darüber nachdenken …«

Karl schmunzelte. »Liebes, ja, wir können es uns vermutlich leisten. Ich werde das noch einmal durchrechnen. Wir hätten dann ja auch noch die zusätzliche Mieteinnahme von unserer Wohnung hier. Und dieses Haus könnte als Sicherheit dienen, alles in allem denke ich, dass es schon machbar ist. Aber viel wichtiger ist, wie du die Idee an sich findest? Könntest du dir vorstellen, dort hinzuziehen?«

Martha beugte sich zu ihm und sah ihn mit strahlenden Augen an. »Was für eine Frage, Karl. Lieber heute als morgen. Das wäre phänomenal, einfach nur wunderbar – für mich und die Mädchen. Das würde so viel ausmachen.«

»Ich bin froh, dass du das sagst. Merländer hat mir da einen Floh ins Ohr gesetzt, und seitdem denke ich darüber nach. So schön du die Wohnung hier auch hergerichtet hast, ich merke immer mehr, dass sie nie wirklich zu unserem Zuhause geworden ist, meinst du nicht auch?«

Lächelnd strich er ihr durch die Haare. »Lass uns ein Haus bauen, natürlich zusammen mit einem Fachmann, aber nach unseren Ideen! Wäre es nicht herrlich, das Haus unserer Träume zu entwerfen? Allein der Gedanke macht mich schon froh.«

»Ein Architekt«, sagte Martha, »der alles für uns macht. Ja, das wäre phantastisch.«

»Du würdest es also wollen?«

»Da fragst du noch?« Martha lachte leise.

»Niemals würde ich so ein Projekt ohne deine Zustimmung in Angriff nehmen. Es wird uns viel Zeit, Geld und Kraft kosten – vermutlich eher dich, denn ich werde noch weiter reisen müssen – aber du weißt, ich tue es für euch, für dich und die Mädchen.«

»Das weiß ich, Liebster«, sagte Martha leise und griff nach seiner Hand. »Das weiß ich genau. Und ich bin sehr dankbar dafür.«

Kapitel 2

»Ich weiß nicht, was ich mit Becker machen soll«, sagte Karl frustriert. Es war der erste Abend der Chanukka, sie entzündeten die erste Kerze. Karls Eltern waren gekommen und spielten mit den Kindern.

»Hast du dir überlegt, einen neuen Fahrer zu suchen?«, fragte Valentin seinen Sohn.

»Ich suche schon seit Monaten nach einem neuen Chauffeur, aber es ist nicht so einfach, Vater«, gab Karl zu. »Es hat ja Wochen gedauert, bis wir endlich eine Köchin gefunden haben.«

»Sie ist gut, aber ich weiß nicht, ob wir sie behalten können«, sagte Martha und warf Karl einen Blick zu. Er lächelte.

»Warum?«, fragte Minnie erstaunt. »Habt ihr finanzielle Probleme?«

Karl lachte. »Nein, wir haben keine Probleme, wir werden ein Haus bauen.«

»Wo denn?«, wollte Valentin wissen. »Und warum?«

»Wir wollen ein Haus und Garten ganz für uns haben. Ohne Mieter und vor allem in einer besseren Nachbarschaft. Ich habe ein Grundstück auf der Friedrich-Ebert-Straße gekauft, erst letzte Woche. Dort werden wir bauen.«

»Das ist eine teure Gegend …«

»Aber auch ein schönes Viertel, ein modernes Viertel«, sagte Minnie. »Aber dann könnt ihr euch kein Personal mehr leisten? Das wäre schon schwierig für Martha, Karl.«

»Mach dir keine Sorgen. Ich muss noch ein wenig rechnen, aber im Moment sieht es gut aus. Das Grundstück war nicht so teuer wie gedacht. Und jetzt fangen wir an, mit einem Architekten den Grundriss zu planen.«

»Es ist so aufregend.« Marthas Augen strahlten. »Es gibt so viele Dinge zu überdenken und zu entscheiden – wir wollen es doch zu unserem Zuhause machen, zu einem Ort, an dem wir unser ganzes Leben lang bleiben werden.«

An diesem Abend ging es am Tisch nur noch um die neuen, aufregenden Pläne. Martha liebte ihre Schwiegereltern dafür, dass sie so offen waren und alles so positiv aufgenommen hatten.

»Was stellt ihr euch denn vor?«, fragte Minnie. »Wie soll das Haus werden?«

»Ich möchte große, offene Räume haben«, sagte Martha schwärmerisch. »Große Fenster und eine moderne Küche. Sie sollte auf der gleichen Etage sein wie das Esszimmer. Und einen Wintergarten, das wäre wunderbar.«

»Ich wünsche mir ein Arbeitszimmer – etwas abseits vom Trubel des Hauses«, sagte Karl. »Damit ich in Ruhe arbeiten kann.«

»Und einen Hauswirtschaftsraum in der Mansarde – zum Zusammenlegen der Wäsche, Bügeln, Flicken und Stopfen. Und einen Dachboden, wo man die Wäsche aufhängen kann – egal bei welchem Wetter«, sagte Martha.

»Ganz wichtig ist, dass ich eine Garage habe«, sagte Karl. »Direkt im Haus. Das habe ich jetzt einige Male bei anderen Häusern gesehen, und es gefällt mir gut. Da steht das Automobil sicher und muss nicht mehr auf der Straße geparkt werden. Und nebenan ein Raum für meine Kollektion. Dann brauche ich nur die verschiedenen Musterkoffer in das Auto zu packen. Das wäre eine große Erleichterung.«

»Ihr habt ja schon sehr konkrete Pläne.« Minnie lachte. »Das alles hört sich gut durchdacht an«, fügte Valentin hinzu.

Mit ihrer Mutter, die noch nichts vom Hausbau wusste, würde es ganz anders werden. Sie hatte ganz sicher viele Einwände und Bedenken und würde davon abraten, befürchtete Martha. Aber ihre Entscheidung war gefallen, auch wenn sie es sich nicht leicht gemacht hatten.

Emilie besuchte sie am letzten Abend der Chanukka. Es war Anfang Dezember. Auch Karls Eltern waren wieder bei ihnen. Ruth und Ilse bekamen Geschenke, und die Köchin Weber hatte ein Festmahl gekocht – eine Gans mit Klößen und Rotkohl, und dazu Fettgebackenes – als Erinnerung an die Traditionen.

»Ich liebe Reibekuchen«, sagte Ruth glücklich und nahm sich noch einmal nach, genauso wie vom selbsteingekochten Apfelmus ihrer Omi Minnie.

»Gut ist der, der bescheiden ist«, sagte Emilie.

»Aber doch nicht heute«, entgegnete Minnie lächelnd. »Heute dürfen alle schlemmen. Und ich habe dieses Jahr viel Apfelmus eingekocht, die Bäume trugen reichlich.«

»Ihr könntet hier auch etwas Obst und Gemüse anbauen«, sagte Emilie zu Martha. »Euer Garten ist zwar nicht groß, aber für ein wenig würde es reichen. Das Haus gehört schließlich euch.«

»Der nächste Garten wird größer«, sagte Ruth und tauchte ein Stück vom knusprigen Reibekuchen in das Apfelmus.

Martha schloss die Augen. Sie hatte gehofft, dass dieses Gespräch erst nach dem Essen und der Geschenkeübergabe stattfinden würde.

Karl lächelte seiner Schwiegermutter zu. »Wir werden bauen«, sagte er mit einer Stimme, die keinen Widerspruch zuließ.

»Bauen?«

»Ja, wir haben ein Grundstück an der Friedrich-Ebert-Straße gekauft, dort werden wir bauen.«

»Was wollt ihr denn dort bauen?«, fragte Emilie verblüfft.

»Ein Haus, natürlich«, sagte Martha. Sie blickte sich um, alle hatten den Hauptgang aufgegessen. »Und jetzt ist es Zeit für die Geschenke. Den Nachtisch können wir später essen.«

Ilse und Ruth sprangen jubelnd auf, Minnie und Valentin begleiteten sie in das Wohnzimmer, wo die Geschenke aufgebaut waren und auch der Chanukkaleuchter im Fenster stand. Alle neun Lichter brannten. Die Kinder sahen entzückt auf die bunt eingewickelten Päckchen, die auf dem Tisch lagen.

»Chanukka ist ein Fest der Spiele«, sagte Minnie und erzählte wie jedes Jahr, wie es damals war, als der zweite Tempel wieder eingeweiht wurde und nur noch eine Flamme der Chanukkia – des heiligen Leuchters – brannte.

»Früher hat man aber keine Wachskerzen verwendet«, erklärte sie, »sondern Öllichter. Und die Flammen mussten immer brennen – um den Herrn zu ehren. Doch es gab nur noch wenig Öl, es würde kaum noch einen Tag reichen. Und um neues herzustellen, brauchte man acht Tage – aber dann geschah das Wunder: Die Lichter brannten, acht Tage lang, bis sie neues Öl hatten. Und seitdem feiern wir das Lichterfest, Chanukka.«

»Das Licht der Kerzen ist so schön«, sagte Ruth andächtig, »aber warum sind es neun?«

»Die Kerze in der Mitte ist die Dienerkerze – mit ihr zünden wir doch alle anderen nach und nach an.«

»Jetzt aufmachen?«, fragte Ilse und zeigte auf die Geschenke.

Valentin lachte. »Ja, das dürft ihr. Aber nacheinander, und jeder darf sein Geschenk nur aufmachen, wenn er eine Sechs würfelt, das wisst ihr doch.«

Er legte den Würfel auf den Tisch, und Ilse griff begeistert danach. Es dauerte eine Weile, bis alle ihre Geschenke ausgepackt hatten. Die Erwachsenen hatten sich Süßigkeiten, Marzipan und belgische Pralinen geschenkt. Ilse bekam eine neue Puppe und Kleidung für das Puppenkind. Ruth bekam einen Ball und ein neues Springseil, außerdem Ausschneidefiguren mit einer ganzen Kollektion schöner Kleider und Accessoires sowie ein Bilderbuch. Die Mädchen waren entzückt.

»Ein Bilderbuch?«, fragte Emilie skeptisch. »Ruth wird im Sommer sechs und kommt in die Schule. Sollte sie nicht langsam anfangen zu lesen? Und was ist das überhaupt für ein Buch?«

»Das Buch der Hasengeschichten, von Tom Seidmann-Freud«, erklärte Karl. »Es sind wunderschöne Illustrationen, aber auch schöne Texte, die wir natürlich zusammen mit Ruth lesen werden.«

»Außerdem werden wir sie im nächsten Jahr noch nicht einschulen«, sagte Martha. »Ich habe mit Doktor Hirschfelder gesprochen. Er empfiehlt uns, sie erst im Jahr darauf zur Schule zu schicken.«

»Aber sie wird doch sechs«, sagte Emilie indigniert.

»Erst Ende Juni. Sie wäre die Jüngste in der Klasse. Und Ruth ist noch sehr verspielt und kindlich. Ein weiteres Jahr gibt ihr die Möglichkeit zu reifen.«

»Nun, wenn ihr meint. Und was ist das jetzt mit dem Haus?« Emilie sah Karl an. »Das könnt ihr doch unmöglich ernsthaft vorhaben?«

»Ich bringe eben die Kinder ins Bett«, sagte Martha, die plötzlich unendlich müde war. Eine Diskussion vor den Ohren der Mädchen war das Letzte, was sie wollte.

»Ich helfe dir«, sagte Minnie und stand eilig auf. Sie nahm Ilse hoch, drückte sie an sich. »Gehen wir ins Kinderzimmer? Wenn ihr wollt, lese ich euch aus Ruths neuem Buch vor.«

Dankbar sah Martha ihre Schwiegermutter an. Gemeinsam gingen sie mit den Kindern, die noch aufgeregt von dem Abend sprachen, in den hinteren Teil der Wohnung.

»Ich finde es gut, dass ihr baut«, wisperte Minnie, »solange ihr euch nicht übernehmt. Aber Karl konnte immer schon gut rechnen, ich bin sicher, dass er kein Risiko eingehen wird.«

»Ich war selbst erst skeptisch, aber Karl hat alles gründlich geprüft, und für die Kinder wäre es so viel schöner, dort aufzuwachsen. Die Gegend hier verkommt zunehmend.«

»Für die Kinder wäre es besser und für dich auch. »Minnie schaute nach oben. »Außerdem weiß man nie, was für Mieter man bekommt.«

»Da hast du recht, im Moment geht es, aber die Familie, die letztes Jahr hier gewohnt hat, war schlimm. Laut, dreckig, ihre Mietschulden werden sie vermutlich nie bezahlen. Ich bin froh, dass sie ausgezogen sind. Obwohl ich sie auch bedauert habe.«

»Wieso?«

»Er war Kriegsveteran, konnte nicht mehr richtig arbeiten – irgendetwas mit seinen Nerven. Stattdessen hat er gesoffen und seine Frau verprügelt. So manchen Abend hatte sie zitternd und weinend hier unten verbracht. Ich schätze, er konnte nichts dafür – dieser Krieg hat viele in der Seele verwundet, es war schrecklich, ihnen nicht helfen zu können.«

»Was ist Miete?«, fragte Ruth. Martha lief rot an, sie hatte ihre beiden Töchter ganz vergessen.

»Das ist etwas, was man zahlt, damit man in einer Wohnung wohnen kann«, erklärte ihre Oma. »Aber darüber musst du dir jetzt keine Gedanken machen. Geht euch ausziehen und waschen. Und dann werden Zähne geputzt.«

»Darf ich vorher noch ein Stück von meiner Schokolade essen?«, fragte Ruth. »Sie ist so lecker.«

»Ausnahmsweise, weil heute Chanukka ist. Aber nur ein Stück«, sagte Martha.

»Ich auch!«, krähte Ilse.

»Wo ist denn deine Schokolade? Ihr habt beide gleich viel bekommen.«

»Schon auf«, sagte Ilse und senkte den Kopf.

»Ich gebe dir ein Stück ab, aber nur ein kleines.«

»Danke«, nuschelte Ilse und schon hatte sie das Stück im Mund.

Die beiden sahen sich an und kicherten.

»Nun esst die Schokolade, dann wascht ihr euch und putzt die Zähne – heute Abend besonders gründlich. Vati und Opi wollen sicher gleich noch kommen und euch Gute Nacht sagen.«

»Aber Omi wollte uns doch noch vorlesen.«

»Wenn ihr euch beeilt, dann wird sie das auch«, Martha lächelte, ihren beiden Mädchen konnte man wirklich nichts vormachen. Sie liebte ihre Töchter von ganzem Herzen.

Eine halbe Stunde später lagen die beiden gewaschen und mit geputzten Zähnen in ihren Betten, noch teilten sie sich ein Zimmer. Bald schon – wenn alle Pläne aufgingen – würde das anders werden. Es wurde auch Zeit, denn die Interessen der Mädchen gingen sehr auseinander. Ruth war voller Bewegungsdrang, Ilse dagegen beschäftigte sich gerne alleine – sie malte oder bastelte, schaute Bilderbücher an.

Omi Minnie setzte sich zwischen die beiden Betten, nur noch die Nachttischlampe goss eine warme Pfütze aus Licht in den Raum.

»Warum der Hase keinen Schwanz hat«, begann Minnie, »An dem Tag, an dem Schwänze ausgeteilt wurden, hatte der Himmel sich bewölkt …«

Erst hörten die Mädchen noch aufmerksam zu, dann machte sich schnell die Müdigkeit breit. Ruth schlief als Erste ein, kurz darauf schloss auch Ilse die Augen, ihr Atem wurde tief und regelmäßig. Gerade in dem Moment hörte Martha die schweren Schritte und die tiefen Stimmen von Karl und Valentin im Flur. Schnell sprang sie auf und ging ihnen entgegen. »Die Mädchen sind gerade eingeschlafen«, wisperte sie und legte den Zeigefinger auf ihre Lippen.

»Ach …«, seufzte Karl. »Ich wollte ihnen so gerne Gute Nacht sagen.«

»Dann machst du es halt morgen«, sagte sein Vater.

»Morgen bin ich schon wieder in Osnabrück – bis zum Ende der Woche. Ich will ihnen wenigstens noch einen Kuss geben.«

»Aber sei bitte leise und weck sie nicht mehr auf«, sagte Martha, während Valentin zurück ins Wohnzimmer ging.

»Wenn sie schlafen, kann ich ja auch noch ein Schlückchen Wein trinken«, sagte er fröhlich. »Ist ja schließlich Chanukka.«

»Aber nur noch ein Schlückchen, Valentin. Nicht mehr!«, sagte Minnie und folgte ihm.

Martha und Karl schlichen ins Kinderzimmer. Karl strich erst Ruth und dann Ilse sacht über den Kopf, küsste ihre Stirn. »Gute Nacht«, murmelte er.

»Ich würde so gerne mehr Zeit mit ihnen verbringen«, sagte er betrübt, als sie den langen Flur zurück zu den anderen gingen.

Martha drückte seine Hand. »Ich weiß das und ich glaube, die Mädchen wissen es auch. Es geht nun mal nicht anders.«

Als sie das Wohnzimmer betraten, schaute sich Martha verwirrt um. »Wo ist meine Mutter?«, fragte sie.

»Emilie ist vorhin gegangen«, antwortete Karl betreten.

»Aber … sie hat sich gar nicht verabschiedet …«

»Ich soll dir Grüße ausrichten. Sie wollte euch mit den Kleinen nicht stören.«

»Komm, wir trinken jetzt einen Schnaps«, sagte Minnie zu Martha. »Auf diesen schönen Abend, auf diese schöne Chanukka.«

»Und dann erzählst du uns noch einmal ganz ausführlich von deinen Plänen, Karl«, sagte Valentin. Er holte Schnapsflasche und Gläser von der Anrichte, und alle setzten sich um den großen Couchtisch. Die Kerzen brannten auf dem Fenstersims, draußen heulte der Dezemberwind um das Haus und in der Straße – aber hier drinnen war es warm und heimelig.

Minnie sah Martha an und legte ihr die Hand auf den Arm.

»Grämst du dich wegen deiner Mutter?«

Martha hatte plötzlich einen dicken Kloß im Hals. »Ich finde es so wunderbar, wie gut wir uns verstehen«, sagte sie stockend. »Ich wünschte nur, mit meiner Mutter wäre es ähnlich.«

Minnie nickte. »Ich verstehe dich. Aber versuch du auch, deine Mutter zu verstehen. Du lebst ein ganz anderes Leben als sie. Du bist Hausfrau und Mutter. Sie war immer nur Geschäftsfrau. Vielleicht sieht sie an dir, wie es mit dir und deinem Bruder hätte sein können. Doch die Zeit ist vergangen, und die Chancen sind vertan. Möglicherweise grämt es sie.«

»Meinst du?«

Minnie nickt. »Ja, sei geduldig und demütig. Ich glaube, sie liebt dich, sie kann es nur nicht zeigen. Ich liebe dich auch, du bist wie eine Tochter für mich.«

»Und du kannst es zeigen«, sagte Martha dankbar. »Darüber bin ich sehr froh.«

Karl holte zwei Zigarren aus seiner Jackentasche, und bot seinem Vater eine an.

»Fürs Erste war die Wohnung, für Martha, die Kinder und mich auch ausreichend. Aber nun kann ich mir mehr leisten – warum sollte ich das nicht tun?«

»Das ist auch richtig so, Karl. Du warst schon immer sehr fleißig«, sagte Minnie stolz.

»Ja, das ist er«, sagte Martha und nahm Karls Hand. »Er ist fleißig und bodenständig. Der beste Mann, den ich mir wünschen konnte.«

Plötzlich donnerte es. Martha ging zum Fenster, spähte nach draußen. »Ein Gewitter ist aufgezogen«, sagte sie besorgt. »Ein Wintergewitter. Wie ungewöhnlich. Es schneit auch stark.«

Sie hatten nicht auf das Wetter geachtet, gingen aber nun alle zum Fenster und schauten nach draußen. Auf dem Gehsteig lag plötzlich eine Schicht Schnee, dicke, feste Flocken wirbelten durch die Luft.

Martha zog die Vorhänge zu.

»Wie kommt ihr denn nach Hause?«, fragte Martha. »Ich glaube nicht, dass noch Droschken fahren bei dem Wetter.«

»Noch wollen wir ja nicht gehen, mein Kind«, sagte Omi Minnie lächelnd. »Oder sollen wir?«

»Nein, nein, so war das nicht gemeint.« Martha spürte die Hitze, die in ihre Wangen zog. »Ich dachte nur … Ihr könnt ja auch hier übernachten. Dann muss ich nur das Gästezimmer fertig machen.«

»Mach nicht die Pferde scheu, Martha«, sagte ihr Schwiegervater gemächlich und zog an seiner Zigarre. »Das Wetter wird sich schon wieder beruhigen. Es wird ein paar Mal blitzen und donnern und dann ist der Spuk vorbei. Wirst schon sehen. Aber vielleicht brauchen wir auf den Schreck noch einen Schnaps?« Er zwinkerte ihr zu.

»Gerne«, sagte Martha und schenkte allen ein.

In diesem Moment blitzte es, der Donner folgte sofort. Alles schien für einen Moment zu erzittern und der Petroleumleuchter an der Decke flackerte.

Ruth hatte selig in ihrem Bett gelegen. Chanukka war ihr Lieblingsfest. Jeden Tag wurde eine Kerze mehr angezündet – das war so himmlisch feierlich. Sie liebte das Flackern der Kerzen, den warmen Schein – jeden Tag eine mehr. Sie liebte die Gebete und die Geschichten und natürlich das Naschwerk. Alle waren fröhlich, es wurde gerätselt und gespielt. Nur Großmutter Emilie war manchmal so kalt und fremd, sie mochte Omi und Opi viel lieber, aber sie befürchtete, dass das keine guten Gedanken waren. Man sollte doch immer alle gleich liebhaben. Dann hatte sie über ihre Geschenke nachgedacht und Omis sanfter Stimme gelauscht, worüber sie eingeschlafen war.

Doch nun war sie plötzlich wieder wach geworden. Sie hatte ein Geräusch gehört. Was war das nur gewesen? Erschrocken setzte sie sich im Bett auf. Der Wind heulte um das Haus, und es prasselte gegen die Fensterscheibe. War das Regen? Aber es klang anders als Regen.

Ruth stand auf und ging zum Fenster, zog den Vorhang ein Stückchen zur Seite. In diesem Moment blitzte es – der Garten war plötzlich in gleißendes Licht getaucht. Und es sah unheimlich aus – alles war weiß, aber es war kein Schnee, der durch die Luft wirbelte. Schnee war weich, und die Flocken fielen sanft zu Boden – wie der Puderzucker, den Omi über die Krapfen streute. Doch dies hier waren harte kleine Körner, die im Licht des Blitzes aufleuchteten wie Glaskugeln.

Der Donner erschütterte das Haus, alles schien zu beben, und das laute Geräusch fuhr Ruth in die Knochen. Sie zitterte – nicht nur wegen der plötzlichen Kälte, die durch die Fensterritzen zog. Sie kniff die Augen zusammen und biss sich auf die Lippen. Vor Gewitter hatte sie furchtbare Angst. Dann schaute sie sich um, die Helligkeit war verschwunden, alles war wieder dämmerig, nur das kleine Nachtlicht brannte noch. Ilse schlief tief und fest, ihre neue Puppe an sich gedrückt.

Doch Ruth konnte nicht mehr schlafen, ihr Herz pochte so sehr, dass sie es bis in die Zunge spürte. Und wieder wurde es hell – so hell, als würde jemand eine Fotografie mit Blitzlichtpulver machen – nur stank es nicht so grässlich. Die Angst vor dem Donner schnürte Ruths Hals zu. Sie wollte nicht alleine sein, sie wollte nicht hier hinten in dem Zimmer sein … sie wollte zu Mutti und Vati. Die waren sicherlich noch im Wohnzimmer. Fieberhaft tastete sie im Halbdunkel nach ihren Hausschuhen, aber sie fand nur einen. Wo war denn nur der andere? Unmöglich konnte sie ohne Schuhe den langen Flur entlanglaufen. Mutti ermahnte sie ständig, nie mit nackten Füßen zu laufen. »Wenn man mit nackten Füßen durch die Wohnung läuft, holt man sich eine Lungenentzündung und kann sterben«, sagte sie immer wieder.

Was eine Lungenentzündung war, wusste Ruth nicht, aber was sterben bedeutet, das schon. Vor drei Jahren, noch bevor Ilse geboren wurde, war ihr Großvater gestorben. Sie waren damals dort gewesen, in der Wohnung in Uerdingen. Um Abschied zu nehmen, hatte Mutti gesagt – aber Ruth hatte nicht verstanden, was das bedeutete. Sie war in das Schlafzimmer ihrer Großeltern gegangen, und dort hatte Großvater im Bett gelegen – aber er hatte nicht mehr wie Großvater ausgesehen. Seine Haut war ganz anders – wie zusammengeknülltes Butterbrotpapier – auch von der Farbe her. Und er atmete so komisch. Dann wurde Ruth in das Nebenzimmer geschickt. Sie setzte sich auf das Fensterbrett und sah in den Garten. Dort unten stand ein Korb mit frisch geernteten Tomaten – leuchtend rot. Ruth konnte den Blick nicht abwenden, auch nicht, als sie die verzweifelten Schreie und dann das Weinen aus dem Nebenzimmer hörte. Seitdem weigerte sie sich, Tomaten zu essen – die hatten sicherlich mit Tod genauso viel zu tun, wie mit nackten Füßen über den Flur zu laufen.

Wieder blitzte es. Ein Schluchzen kämpfte sich aus Ruths Kehle empor, sie musste hier raus, musste zu Mutti – zu ihrer Mutti, mit den warmen, weichen Armen, den starken Händen, die immer so gut duftete und bei der alles in Ordnung kam. Der zweite Hausschuh war nicht aufzufinden, aber an der Tür lag einer ihrer Slipper, schnell zog sie ihn an den anderen Fuß und lief durch den langen, dunklen Gang. Da, Gott sei Dank, unter der Tür des Wohnzimmers strahlte noch ein Spalt Licht hervor – die Eltern waren noch auf. Sie stürzte zur Tür, riss sie auf und warf sich in die Arme ihrer Mutter. Jetzt flossen die Tränen.

»Ruth, Ruthchen, mein Schatz«, sagte Mutti erschrocken. »Was hast du denn nur?«

»Es … es gewittert«, schluchzte Ruth. »Ich habe … so … so Angst!«

»Armes Häschen«, sagte Karl tröstend und strich ihr über die Haare. »Komm, ich beschütze dich.«

Bereitwillig kletterte Ruth auf seinen Schoß, kuschelte sich an ihn. Oft hatte sie nicht die Gelegenheit dazu.

»Was ist mit Ilschen?«, fragte Omi.

»Die schläft«, sage Ruth und wischte sich die Tränen von den Wangen. Hier in der Runde der Erwachsenen fühlte sie sich gleich viel sicherer.

»Ilse hat einen wunderbar festen Schlaf«, sagte Martha. »Aber ich gehe trotzdem schnell nach ihr schauen.« Ihr Blick fiel auf Ruths Füße und sie konnte ein Lächeln nicht unterdrücken.

Martha ging ins Kinderzimmer, aber wie erwartet schlief Ilse tief und fest. Unter Ruths Bett fand sie den zweiten Hausschuh und nahm ihn mit.

»Ich glaube«, sagte sie mit einem Zwinkern, »du hast einen Schuh verwechselt«, als sie sich wieder auf die Couch setzte.

»Ich habe ihn auf die Schnelle nicht gefunden«, sagte Ruth beschämt. »Und ich wollte unbedingt zu euch. Aber … nicht mit nackten Füßen.«

Kapitel 3 März 1927

Am Sonntag wurde die Saison auf der Krefelder Rennbahn eröffnet. Es war jedes Mal ein besonderes Ereignis in der Stadt und Karl ließ es sich nicht nehmen, mit seiner Familie dabei zu sein.

Martha hatte sich ein neues, fliederfarbenes Kleid gekauft, dazu einen schicken Topfhut, wie er gerade in Mode war. Auf der Rennbahn trug man Hüte und gab sich elegant – asymmetrische Kleider in Blau oder Weiß. Auch die Mädchen waren neu eingekleidet worden. Ilse drehte sich immer wieder im Kreis und ließ den blauen Rock flattern.

»Schön«, sagte sie glücklich.

Karl schaute auf seine Uhr, die er an einer Kette an der Weste trug. »Wo bleibt Becker denn nur?«, brummte er. »Er sollte schon längst mit dem Wagen hier sein.«

»Er wird schon kommen«, meinte Martha und legte eine Hand beruhigend auf Karls Arm.

In diesem Moment hielt der Adler vor dem Haus.

»Endlich«, sagte Karl erleichtert.

Der Parkplatz an der Rennbahn war gut gefüllt. Alles, was in Krefeld Rang und Namen hatte, war gekommen.

»Kaum zu glauben, wie viele inzwischen einen Wagen haben«, flüsterte Martha Karl zu und nahm Ilse fest an die Hand, damit das Kind im Gedränge nicht verloren ging. Sie lächelte nach links und nach rechts, begrüßte Freunde und Bekannte.

Auf der Tribüne hatte Karl Plätze reservieren lassen.

Die ersten Pferde gingen an den Start, es lag eine angespannte Stimmung über allem, und dann fiel der Startschuss, die Gatter öffneten sich, und die Pferde liefen los, begleitet von Applaus und lauten Anfeuerungsrufen.

»Habt ihr gewettet?«, fragte Walter Gompetz.

Karl schüttelte den Kopf. »Ich wette nie.«

»Ich schon«, sagte Sofie Gompetz lächelnd. »Aber nur am Anfang der Saison.«

»Richard Merländer war ganz vorne an den Wettbuden. Er wird sicher ein Heidengeld ausgeben«, sagte Walter.

»Er kann es sich ja leisten«, sagte Martha und nahm das kleine Fernglas. Obwohl sie nicht wettete, hatte sie einen Favoriten. »Golden Glory ist ganz vorne«, rief sie. »Ich hoffe, er gewinnt.«

»Nun, ich hoffe, dass Midnight Fever gewinnt«, meinte Sofie. »Auf ihn habe ich nämlich gesetzt.«

»Hoffentlich nicht das ganze Haushaltsgeld«, sagte Walter lachend. »Sonst haben wir den Rest des Monats nichts mehr zu beißen.«

»Er ist auch im ersten Feld«, meinte Sofie. »Er hat gute Chancen.« Sie drückte ihr Fernglas an die Augen. »Er holt auf. Er ist ganz vorne!«, rief sie aufgeregt. »Und … jetzt … jetzt … Ja! Er hat gewonnen.«

»Wenn das nicht Grund für Champagner ist«, meinte Karl und öffnete die Flasche, die er vorhin schon gekauft hatte.

Auch andere Freunde gesellten sich zu ihnen. Die Kinder spielten vergnügt, Martha hatte Ruth eingetrichtert, auf Ilse achtzugeben. Noch drei weitere Rennen schauten sie sich an, doch dann begann es zu regnen, und Martha drängte Karl dazu, wieder nach Hause zu fahren.

»Ist das normal?« fragte sie, als sie im Wagen saßen. »Dass es so knattert und hinten eine dunkle Wolke aus dem Wagen kommt?«

»Nein«, knurrte Becker. »Da ist was kaputt. Aber was, weiß ich nicht.«

Karl seufzte. »Schon wieder.«

»Nun lass dir nicht die gute Laune verderben«, sagte Martha. »Es war doch so ein schöner Tag. Wir haben tolle Rennen gesehen, und unsere Freunde getroffen. Wusstest du eigentlich, dass Inge Liebknecht schon wieder schwanger ist?«, fragte Martha. »Das muss jetzt das fünfte Kind sein. Und Glimmichs sind immer noch in Amerika.«

»Worüber ihr Frauen euch alles austauscht«, sagte Karl belustigt. Über das Auto würde er morgen nachdenken, jetzt konnte er ohnehin nichts an der Situation ändern.

Als Becker am Haus hielt, sagte Karl: »Bringen Sie den Wagen bitte direkt in die Werkstatt an der Moerser Straße. Ich werde morgen hingehen und mit dem Mechaniker sprechen.«

»Es ist der Auspuff, Herr Meyer«, sagte Hans Aretz am nächsten Tag bedauernd.

Karl seufzte. Irgendetwas war immer mit dem Adler. »Liegt es an der Marke?«, fragte er. »Es kann doch nicht sein, dass ich alle paar Wochen Probleme mit dem Automobil habe.«

»Nein, daran liegt es nicht », sagte Aretz. »Ich weiß nicht, wie ich das sagen soll, aber Ihr Chauffeur … er hat einen recht rasanten Fahrstil, wenn man das so nennen will. Der Auspuff ist kaputt, weil er über irgendetwas mit hohem Tempo drübergerauscht ist – ein großer Ast oder Steine … er ist richtig aufgerissen. Aber ich kann ihn austauschen.«

»Ja, Becker …« Karl stöhnte auf. »Ich bin leider auf ihn angewiesen.« Er zeigte auf seine Brille. »Eine Augenerkrankung – ich bekomme keinen Führerschein.«