Jakob & Luise - Anni Tag - E-Book

Jakob & Luise E-Book

Anni Tag

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Beschreibung

Dieser Sammelband enthält die drei Teile "Wege des Schicksals", "Schatten der Vergangenheit" und "Bedrohtes Glück" der "Jakob & Luise"-Trilogie. "Wege des Schicksals": Juli 1871 Der Arzt Matthias Goldbach und seine Frau Anna ziehen mit ihren Kindern Georg und Klara aufs Land. Alle vier sind überglücklich in ihrem neuen Haus mit dem wunderbaren großen Garten. Schon bald lernen sie die Halbwaisen Jakob und Luise kennen, die in großer Armut leben und Angst vor ihrem trunksüchtigen Vater haben. Georg, Klara und ihre Eltern sind fest entschlossen, den beiden zu helfen, und die vier Kinder verbindet rasch eine innige Freundschaft. Doch dann droht der Familie Goldbach plötzlich große Gefahr, und Jakob und Luise geraten zusammen mit ihren neuen Freunden in ein spannendes Abenteuer, das ihrer aller Leben verändern wird. "Schatten der Vergangenheit": August 1871 Jakob und Luise leben glücklich bei den Goldbachs, und die Kinder verbringen zusammen herrliche Ferien. Doch plötzlich taucht ein Mann auf, dem ihr Vater Geld schuldete, und bedroht die heile Welt. Jakob gerät in große Schwierigkeiten, und dann verschwindet auch noch Klara. Erneut müssen Jakob, Luise und ihre neue Familie ein aufregendes Abenteuer bestehen. "Bedrohtes Glück": September 1871 Die Sommerferien sind fast vorüber, und Jakob und Luise genießen ihr neues Leben bei den Goldbachs. Das familiäre Idyll kommt jedoch zu einem jähen Ende, als Jakobs und Luises Onkel Richard auftaucht und die Kinder mitnehmen will. Erneut leben Jakob und Luise nun in schrecklichen Verhältnissen, und sie beschließen zu fliehen. Doch nicht nur die Kinder sind auf der Flucht, sondern auch gefährliche Verbrecher, und ein neues Abenteuer bahnt sich an.

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Seitenzahl: 446

Veröffentlichungsjahr: 2023

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„Jakob & Luise – Wege des Schicksals“

„Jakob & Luise – Schatten der Vergangenheit“

„Jakob & Luise – Bedrohtes Glück“

Anni Tag wurde 1991 in Wels geboren. Sie studierte Germanistik und Geschichte in Salzburg und ist seither als Schriftstellerin, Lektorin und Historikerin tätig.

Liste der vorkommenden Personen:

Matthias Goldbach: Arzt

Anna Goldbach: seine Frau

Klara: ihre Tochter

Georg: ihr Sohn

Konrad Schwarz: Nachbar der Familie Goldbach

Rosa Schwarz: seine Frau

Alfred Steiner: Tagelöhner

Jakob: sein Sohn

Luise: seine Tochter

Richard Steiner: Alfreds Bruder

Marianne: Richards Frau

Eduard Huber: Ladenbesitzer

Gloria Huber: seine Frau

Pauline & Valentina: ihre Töchter

Benedikt Moser: Postmeister

Friedrich & Ludwig: seine Söhne

Martha Schmitt: Bäuerin

Rudolf: ihr Sohn

Theresia & Wilhelmina: ihre Töchter

Flora: Tochter des Schusters

Else: Bauerntochter

Zacharias: Tagelöhner

Fräulein Lieblich: Dorflehrerin

Pfarrer Hilmer

Wachtmeister Berger

Inhaltsverzeichnis

Teil 1 Wege des Schicksals

Ein wunderbares Zuhause

Eine aufregende Entdeckung

Der Geheimgang

Der Apfeldieb

Jakob und Luise

Nette Nachbarn

Ein unangenehmer Besuch

Ein schrecklicher Vater

Rettung in der Not

Neue Freunde

Hoffnung und Vorfreude

Ein schlimmer Morgen

Fleißige Arbeiter

Ein wundervolles Geheimnis

Ein herrlicher Nachmittag

Alfreds Zorn

Eine Warnung

Ein rätselhaftes Vorhaben

Ein Notfall in der Nacht

Auf Verfolgungsjagd

Der Einbrecher

Ein wagemutiger Plan

Hinter Gittern

Ein neues Leben

Teil 2 Schatten der Vergangenheit

Die Hütte im Wald

Ein seltsamer Brief

Geheimnisse

Finstere Drohungen

Die Feier am Fluss

Schrecken der Nacht

Eine entsetzliche Nachricht

Schuldgefühle

Angst und Sorge

Ein kühnes Vorhaben

In Bedrängnis

Das falsche Geld

Eine Familie

Teil 3 Bedrohtes Glück

Ein Familienausflug

Die geheime Höhle

Onkel Richard

Düstere Zukunft

Ein trauriger Schulbeginn

Ein harter Tag

Auf der Flucht

Nächtliche Zusammenkunft

Auf geheimer Mission

Gefährliche Gesellen

Eine schlaue List

Für immer vereint

Teil 1

Wege des Schicksals

Juli 1871

Ein wunderbares Zuhause

Hier sind wir: Das ist unser neues Haus! Willkommen daheim!“ Mit einem stolzen Grinsen im Gesicht zog Matthias an den Zügeln und brachte das Pferd zum Stehen.

Die blonde Frau neben ihm auf dem Kutschbock und die beiden Kinder hinten im Wagen betrachteten mit großen Augen das alte, hellblau gestrichene Haus mit den dunkelbraunen Fensterläden und den vielen Efeuranken, die sich zu beiden Seiten der Haustür bis zu den Dachschindeln emporrankten. Das einstöckige Haus mit der schmalen Veranda auf der Vorderseite war nicht besonders groß, doch es strahlte eine romantische Behaglichkeit aus.

„Es ist einfach wunderbar“, schwärmte Anna, und ihre Augen leuchteten vor Begeisterung. Sie reichte ihrem Mann die Hand und ließ sich von ihm vom Wagen herunterhelfen.

Anna war eine hübsche zierliche Frau von dreiunddreißig Jahren mit haselnussbraunen Augen, ein paar Sommersprossen auf der Nase und honigblonden welligen Haaren, die sie auf dem Hinterkopf zu einem lockeren Knoten geschwungen trug. Sie war einen Kopf kleiner als ihr Mann Matthias, der groß und breitschultrig war und dessen dunkelbraune Locken unter seinem Hut hervorlugten. Matthias hatte strahlend blaue Augen und trug einen sorgsam zurechtgestutzten Vollbart. Er war fünf Jahre älter als seine Frau und Arzt von Beruf. Schon als kleiner Junge war es sein Traum gewesen, einmal Medizin zu studieren, um möglichst vielen Menschen helfen zu können. Und nun trat er in dem kleinen Dorf Steinberg eine Stelle als Landarzt an, da der hiesige Arzt in den Ruhestand gegangen war. Matthias freute sich auf seine neue Arbeit und hatte für seine Familie ein hübsches kleines Haus am Rande des Dorfes gekauft. Hier würden sie in Zukunft leben.

Die beiden Kinder, Georg und Klara, waren inzwischen ebenfalls vom Wagen heruntergeklettert und betrachteten neugierig ihr neues Heim.

„Ich finde es prima! Es sieht aus, als gäbe es hier jede Menge geheimer Gänge und verborgener Keller zu erforschen! Wie in einem Abenteuerroman!“, rief Georg übermütig, und seine Wangen röteten sich vor Aufregung.

Georg war zehn Jahre alt, hatte blondes lockiges Haar und haselnussbraune Augen, genau wie seine Mutter. Ein paar Sommersprossen zierten seine Stupsnase, und seine Lippen umspielte stets ein schalkhaftes Lächeln. Er war ein lebhafter Junge, der nicht lange stillsitzen konnte und immer auf der Suche nach einem neuen Abenteuer war.

„Geheime Gänge und verborgene Keller?“, fragte seine ältere Schwester zweifelnd und musterte ihn mit einem skeptischen Blick. „Du spinnst wohl! Hier gibt es bestimmt keine Gänge, Kammern oder Keller zu erforschen. Das Haus ist doch viel zu klein dafür!“ Klara bedachte ihren Bruder mit einem Kopfschütteln. Was der sich nur wieder ausdachte!

Klara war zweieinhalb Jahre älter als Georg und hatte von ihrem Vater die dunkelbraunen Haare und die blauen Augen geerbt. Sie trug ihr hüftlanges glattes Haar zu vier Zöpfen geflochten, die sie rund um den Kopf zu einer Krone aufgesteckt hatte. Sie war ein hübsches schlankes Mädchen, und ihr Körper zeigte bereits erste Ansätze einer weiblichen Figur. Im Gegensatz zu ihrem Bruder besaß Klara ein ruhiges Naturell. Sie las gerne und konnte geschickt mit der Häkelnadel und der Nähnadel umgehen.

„Ja, es sieht wirklich nicht sehr groß aus. Aber Klara und ich werden hier jeder unser eigenes Zimmer haben, nicht wahr?“, vergewisserte sich Georg.

Diese Frage hatte er seinen Eltern schon etliche Male gestellt. Es war ihm einfach überaus wichtig, endlich nicht mehr das Zimmer mit seiner großen Schwester teilen zu müssen. Dieser Punkt stellte auch aus Klaras Sicht eine wesentliche Verbesserung zu ihrem alten Heim dar. Auch sie wünschte sich sehnlichst ein eigenes Zimmer. Immerhin hatte sie vor zwei Wochen ihren dreizehnten Geburtstag gefeiert und fühlte sich daher nicht mehr wie ein kleines Mädchen, sondern bereits wie eine junge Dame. In dem Alter geziemte es sich nicht mehr, mit seinem jüngeren Bruder das Zimmer zu teilen, fand sie.

„Oh ja, das werdet ihr. Das Haus ist groß genug“, verkündete Matthias fröhlich, öffnete die Gartenpforte und spazierte auf die Haustür zu.

Anna und die Kinder folgten ihm. In dem kleinen Vorgarten blühten rosafarbene Dahlien, blauer und violetter Rittersporn und gelber Sonnenhut und bildeten zusammen einen hübschen farbenprächtigen Anblick. Zwischen den Blumen schlängelte sich ein schmaler Kiesweg von der Gartenpforte zur Haustür, und vor dem Haus befand sich eine schmale Veranda mit einem hübschen Geländer.

Noch ehe sie die Haustür erreicht hatten, wurde diese plötzlich geöffnet, und ein hochgewachsener älterer Mann mit grauen Haaren und einer Brille auf der Nase trat heraus. Hinter ihm erschien eine ebenfalls grauhaarige rundliche Dame mit einem freundlichen Lächeln im Gesicht.

„Guten Tag Herr Doktor“, grüßte der Mann und streckte Matthias die Hand entgegen.

„Grüß Gott Herr Schwarz.“ Matthias ergriff die ausgestreckte Hand des Mannes und schüttelte sie.

Als die vier Erwachsenen einander begrüßt hatten, wandte sich Matthias zu Georg und Klara um und stellte ihnen die beiden älteren Leute vor. „Kinder, dies sind unsere neuen Nachbarn, Konrad und Rosa Schwarz. Sie haben sich um das Haus gekümmert, seit die Vorbesitzer ausgezogen sind.“

Klara knickste leicht, und Georg machte eine kleine Verbeugung, während sie die Nachbarn höflich begrüßten, die ihnen ein herzliches Lächeln schenkten.

„Bitte kommen Sie doch herein. Ich habe in den letzten Tagen das ganze Haus gründlich geputzt, damit Sie alles zu Ihrer Zufriedenheit vorfinden“, sagte Frau Schwarz und machte eine einladende Handbewegung.

„Ach, das ist aber liebenswürdig von Ihnen“, bedankte sich Anna erfreut.

Auch Georg und Klara strahlten bei diesen Worten. Wenn das Haus bereits geputzt worden war, konnte ihre Mutter sie nicht mehr damit beauftragen, ihr beim Saubermachen zu helfen! Also konnten sie ihre Ferien vom ersten Tag an genießen! Was für eine herrliche Aussicht!

Anna, Matthias und die Kinder betraten ihr neues Zuhause. Während ihre Eltern ihr neues Haus bereits vor dem Kauf besichtigt hatten, sahen Klara und Georg alles zum ersten Mal und blickten sich neugierig um.

Im Erdgeschoß gab es eine gemütliche Wohnstube mit einem Kamin, einem Sofa, einem kleinen Bestelltisch, einem Schaukelstuhl, einem Lehnsessel, einer Kommode und einem großen, mit Schnitzereien verzierten Bauernschrank.

„Was für eine schöne Stube!“, stellte Klara begeistert fest und blickte sich verzückt in dem behaglichen Raum um.

„Ja, hier gefällt es mir“, erklärte auch Georg und ließ sich in den Lehnstuhl plumpsen. Die Polsterung war weich und überaus bequem, und er grinste zufrieden. „Dieser Stuhl ist sehr gemütlich“, meinte er und wippte ein paar Mal darauf auf und ab. Dann sprang er wieder auf, ging zum Schaukelstuhl hinüber und nahm dort Platz. Er schaukelte heftig hin und her und fand großen Gefallen daran, bis Anna ihn mit einem strengen Blick stoppte. Mit einem unschuldigen Grinsen stand Georg auf.

„Es freut mich, wenn es euch gefällt. Hier geht es in die Küche“, sagte Rosa zu den Kindern und wies auf das angrenzende Zimmer.

Die Küche war geräumig und hübsch möbliert. Der Esstisch war außerdem groß genug, dass acht Personen dort speisen konnten.

„Die Tür hier führt in den Garten hinaus. Gleich hinter der Küche befindet sich der Brunnen“, erklärte Konrad und wies auf die Hintertür, die in der Mitte ein kleines Glasfenster hatte, vor dem eine grünweißkarierte Gardine hing.

Georg trat sogleich zu dem kleinen Fenster, schob die Gardine beiseite und spähte nach draußen.

„Ich möchte mir den Garten ansehen!“, rief er ungeduldig. Der Gedanke, einen eigenen Garten zu haben, gefiel dem Jungen ganz außerordentlich, und er konnte es kaum erwarten, ihn zu erkunden.

„Gleich, mein Junge, erst wollen wir euch noch die oberen Räume zeigen“, antwortete Matthias.

Konrad und Rosa führten die Familie die Treppe hinauf in den ersten Stock. Dort gab es drei geräumige Schlafzimmer. Im mittleren Zimmer befand sich ein Doppelbett mit hohen Bettpfosten, die mit hübschen Schnitzereien verziert waren.

„Das wird unser Zimmer werden“, verkündete Anna und sah sich mit zufriedener Miene in ihrem neuen Schlafzimmer um.

„Dann wird das hier mein Zimmer!“, rief Georg aus dem Nebenraum.

Der Junge stand am Fenster und blickte vergnügt nach draußen. Er hatte eine tolle Aussicht über den Garten und konnte in einiger Entfernung einen breiten rauschenden Fluss entdecken. Am liebsten wäre er sofort nach draußen gestürmt, um die Gegend zu erkunden!

Klara stand hinter ihrem Bruder und sah sich in dem Zimmer um. Es gab zwei Betten mit je einem Nachtkästchen daneben, einen großen Schrank, eine Kommode, einen Tisch mit zwei Stühlen sowie einen Waschtisch, über dem ein Spiegel an der Wand hing. Die Möbel waren allesamt aus hellem Birkenholz geschreinert und mit kleinen Schnitzereien verziert, und die Wände waren mit einer hübschen hellblauen Tapete mit feinen weißen Mustern ausgekleidet.

„Es ist sehr schön hier, und sehr geräumig“, stellte sie fest und strich mit den Fingern über das glatte Holz der Kommode.

Georg wandte sich vom Fenster ab, ließ seinen Blick durch den Raum schweifen und nickte. „Ja, hier kann ich meine Eisenbahn mitten im Zimmer aufbauen“, meinte er fröhlich.

„Komm, schauen wir uns das andere Zimmer an“, schlug Klara vor.

Die beiden Geschwister traten auf den Flur hinaus und inspizierten das gegenüberliegende Zimmer. Auch hier gab es zwei Betten mit je einem Nachtkästchen, einen Schrank, eine Kommode, einen Tisch mit zwei Stühlen und einen Waschtisch aus demselben hellen Birkenholz. Vom Fenster aus konnte man in den Vorgarten und auf die Straße hinunterblicken.

„Also, meine Aussicht gefällt mir besser“, erklärte Georg.

„Wie kommst du eigentlich dazu, dir das Zimmer auszusuchen? Immerhin bin ich die Ältere, also steht wohl mir das Vorrecht zu, mir ein Zimmer auszusuchen“, erwiderte Klara ein wenig schnippisch.

„Ich habe mich aber als Erster für ein Zimmer entschieden! Wer schneller ist, trägt den Sieg davon“, widersprach Georg mit einem schelmischen Grinsen.

„Sei nicht so frech!“, wies ihn seine Schwester zurecht und bedachte ihn mit einem strengen Blick.

„Aber Kinder, streitet euch doch nicht!“, ermahnte sie Matthias, der soeben mit seiner Frau den Raum betreten hatte.

„Ich möchte das andere Zimmer haben. Da hat man eine viel schönere Aussicht!“, rief Georg sofort. „Bitte, darf ich mir das andere Zimmer nehmen?“ Der Junge schenkte seinen Eltern einen flehentlichen Blick. Diesen Blick wandte er immer an, wenn er unbedingt etwas erreichen wollte.

„Nun, ich finde, dieses Zimmer hat auch eine schöne Aussicht“, meinte Anna, trat zum Fenster und spähte hinaus. „Man sieht die Blumen im Vorgarten und die Wiesen und Weiden auf der anderen Seite des Feldweges.“

„Ja, ich finde die Aussicht auch schön. Wenn man hier am Fenster steht, kann man schon lange im Vorhinein sehen, ob eine Kutsche kommt“, sagte Klara und spähte auf den Feldweg hinunter.

„Dann darf ich also das andere Zimmer haben?“, fragte Georg und trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen.

„Wenn Klara damit einverstanden ist, ja“, sagte Matthias und befühlte mit den Fingern die kunstvolle Schnitzerei auf den Schranktüren.

„Von mir aus“, lenkte Klara ein, „du gibst ja sowieso keine Ruhe, wenn du nicht deinen Willen bekommst.“

„Hurra!“, jauchzte Georg und machte einen Luftsprung.

Er drehte sich um und rannte so stürmisch aus dem Zimmer, dass er Konrad und Rosa, die auf dem Flur standen, beinahe umgerannt hätte und selbst ins Straucheln geriet.

„Hoppla, mein Junge“, sagte Konrad, fasste ihn an den Schultern, damit er nicht hinfiel, und lächelte mild.

Matthias schüttelte seufzend den Kopf und trat auf den Flur hinaus. Sein Sohn besaß wahrlich ein überschäumendes Temperament.

„Bitte entschuldigen Sie meinen Sohn. Er ist heute etwas außer Rand und Band“, wandte er sich ein wenig verlegen an die beiden älteren Leute.

Doch Konrad und Rosa wirkten keineswegs verärgert.

„Ach, lassen Sie ihn nur, ich war als Junge genauso. Außerdem ist so ein Umzug für ein Kind doch wirklich eine aufregende Sache“, meinte Konrad nachsichtig.

„Ja, das stimmt wohl“, gab ihm Matthias recht. „Wie wäre es, wenn wir jetzt in den Garten gehen?“

Bei diesen Worten jubelte Georg erneut, und auch Klara freute sich. So gingen alle nach unten. Konrad und Rosa führten sie durch die Hintertür nach draußen, und Matthias, Anna, Klara und Georg blieben vor dem Haus stehen und sahen sich um. Vor ihnen lag ein weitläufiger, etwas verwilderter Garten. Die Wiese war übersät mit Klee, Löwenzahn und Gänseblümchen. Es gab bunte Blumenbeete, einen großen Gemüsegarten, fünf alte, knorrige Obstbäume sowie einen Tisch und zwei Gartenbänke. Im hinteren Teil des Gartens befanden sich außerdem ein alter, baufällig wirkender Schuppen und daneben ein Hühnerstall mit einem weitläufigen Verschlag, in dem fünf Hühner und ein Hahn herumspazierten.

Georg blickte freudestrahlend umher. Die Obstbäume mit ihren weit ausladenden Ästen eigneten sich bestimmt prima zum Klettern! Vielleicht konnte er ja auf einem von ihnen ein Baumhaus bauen! Und die Wiese war groß genug, dass man toll umherlaufen und Ball spielen konnte! Der Junge spürte, wie sein ganzer Körper von einem warmen Glücksgefühl durchströmt wurde. Hier würde er sich wohlfühlen, das wusste er ganz genau.

„Na, gefällt euch der Garten?“, fragte Matthias und wandte sich zu den Kindern um.

„Oh ja, er ist wunderbar!“, rief Georg sogleich und hüpfte ausgelassen über die Wiese.

„Mir gefällt er auch“, sagte Klara und trat zu den Blumenbeeten hinüber. „Vor allem die Blumen sind wunderschön.“

„Ja, die sind wirklich hübsch anzusehen“, meinte Anna mit einem glücklichen Lächeln auf den Lippen. „Ich wollte immer schon einen eigenen Garten haben. Jetzt kann ich mein eigenes Obst und Gemüse ernten und brauche nicht mehr alles auf dem Markt zu kaufen! Und frische Eier haben wir auch! Es ist wunderbar!“ Anna geriet regelrecht ins Schwärmen, und ihre haselnussbraunen Augen strahlten vor Freude.

Matthias lächelte zufrieden und legte seiner Frau einen Arm um die Schultern. „Ja, jetzt haben wir unser eigenes Haus und unseren eigenen Garten. Ich könnte mir wahrlich nichts Besseres vorstellen.“

„Es freut mich, wenn es Ihnen gefällt. Der Garten macht aber gewiss auch eine Menge Arbeit. Falls Sie Hilfe benötigen sollten, dürfen Sie sich jederzeit gerne an uns wenden“, bot Konrad freundlich an.

„Ach, das ist aber liebenswürdig von Ihnen“, freute sich Anna. „Ich werde gerne auf Ihr Angebot zurückkommen.“

„Papa, darf ich mir im Garten ein Baumhaus bauen?“, fragte Georg, der mit geröteten Wangen angelaufen kam.

„Ja, warum denn nicht? Wenn ich Zeit habe, helfe ich dir gerne beim Bauen“, antwortete Matthias fröhlich und fuhr seinem Sohn über die Haare.

„Prima!“ Georg strahlte vor Freude. „Das werden bestimmt die schönsten Sommerferien, die ich je erlebt habe!“

Eine aufregende Entdeckung

Nachdem Konrad Matthias geholfen hatte, die schweren Umzugskisten ins Haus zu tragen, verabschiedete sich das Ehepaar Schwarz, und die Familie machte sich ans Auspacken.

Fröhlich summend räumte Anna mit ihrer Tochter das Geschirr in die Küchenschränke, während Matthias seine Bücher in den Schrank im Wohnzimmer stellte.

„Es ist wirklich ein wunderschönes kleines Haus“, meinte Anna und seufzte zufrieden. „Die Größe ist genau richtig für uns vier.“

„Ja, das finde ich auch“, stimmte ihr Klara zu und wischte das Besteck, das sie eben aus einer Umzugskiste hervorgeholt hatte, mit einem Tuch sauber. „Georg!“, rief sie dann tadelnd und stieß ihren Bruder, der untätig vor dem Fenster stand und mit verträumtem Blick nach draußen in den Garten spähte, mit dem Ellbogen in die Seite. „Du könntest auch einmal mithelfen!“

Georg wandte sich um und grinste unschuldig. „Ich werde mir ein Baumhaus bauen. Papa hat versprochen, mir zu helfen“, erklärte er, ohne auf den Vorwurf seiner Schwester einzugehen.

„Da hörst du es, Mutti!“, empörte sich Klara. „Er träumt von Baumhäusern und denkt nicht einmal daran, beim Auspacken zu helfen!“

„Georg, nun ist genug geträumt. Bevor du ein Baumhaus bauen kannst, müssen wir erst einmal mit dem Auspacken und Einräumen fertig werden. Und da müssen wir alle zusammenhelfen, also auch du. Hast du mich verstanden?“ Anna blickte ihren Sohn streng an.

Georg schnitt eine Grimasse und seufzte. Dann nickte er jedoch und fügte sich ergeben in sein Schicksal, obgleich er am liebsten gleich nach draußen gestürmt wäre, um mit dem Bau seines Baumhauses zu beginnen oder die Gegend zu erforschen. Er wollte sich zu gerne den Fluss näher ansehen.

Als sie schließlich das ganze Geschirr und die Küchenutensilien ausgepackt und zum Teil in die Schränke geräumt hatten, schickte Anna die Kinder nach oben in ihre Zimmer.

„Den Rest erledige ich hier unten alleine. Fangt ihr beide ruhig schon einmal damit an, eure Zimmer einzuräumen. Und vergiss nicht, Georg, ich werde deinen Schrank und deine Kommode kontrollieren und mich davon überzeugen, dass alles ordentlich ist“, ermahnte sie ihren Sohn, denn sie wusste nur zu gut, dass der Junge am liebsten alles schlampig in die Fächer und Laden stopfen würde, nur um möglichst schnell fertig zu sein und Zeit zum Spielen zu haben. Der Junge steckte wahrlich voller Flausen.

Georg grinste breit und folgte seiner Schwester die Treppe hinauf. Matthias hatte bereits die Koffer mit ihren Kleidern in ihren Zimmern abgestellt.

Klara machte sich sogleich vergnügt daran, ihre Kleider und Unterröcke auszupacken und auf die Kleiderbügel in den Schrank zu hängen. Ihr machte das Einräumen Spaß, und sie freute sich unendlich darüber, endlich ein eigenes Zimmer zu haben. Sie nahm sich vor, ein paar schöne Bilder an die Wände zu hängen und ihre Mutter zu fragen, ob sie ein Paar Spitzengardinen für ihr Fenster haben konnte. Sie wollte sich ihr Reich so schön wie möglich gestalten.

Georg räumte unterdessen eher unwillig seine Hosen und Hemden in den Schrank. Er fand das Auspacken und Einräumen langweilig, und sein Blick wanderte immer wieder sehnsüchtig zum Fenster. Doch als er sich vor seinen Schrank kniete, um seine Schuhe hineinzustellen, ertastete er plötzlich einen Griff im Schrankboden. Der Junge stutzte und beugte sich tiefer herab, um den Schrankboden genauer zu untersuchen. Tatsächlich, in der linken hinteren Ecke befand sich ein schmaler Griff!

„Wozu der bloß gut ist?“, überlegte der Junge.

Neugierig zog er daran, und zu seinem größten Erstaunen ließ sich ein Teil des Schrankbodens aufklappen wie eine Falltür.

„Das gibt es doch nicht!“, wisperte Georg aufgeregt und beugte sich über die Öffnung, doch darunter war nichts als Schwärze.

Vorsichtig ließ der Junge einen Arm hinabsinken und tastete nach allen Seiten. Da spürte er Stufen! Georgs Herz klopfte rasend schnell vor Aufregung. Er konnte kaum glauben, was er da eben entdeckt hatte! Es sah so aus, als würde von seinem Kleiderschrank ein Geheimgang ausgehen!

Aufgeregt sprang der Junge auf, rannte zu seinem Koffer, zerrte einige seiner Kleider heraus und warf sie achtlos auf den Boden, bis er endlich gefunden hatte, wonach er suchte. Eilig griff er nach der dicken langen Kerze und der neumodischen Schachtel mit den Zündhölzern, die es erst seit wenigen Jahren überall zu kaufen gab. Er fischte ein Zündholz aus der Schachtel und zündete die Kerze an. Dann legte er die Streichholzschachtel zurück auf den Tisch, kniete sich wieder vor seinen Schrank und leuchtete mit der Kerze in die Finsternis hinab. Er hatte sich nicht getäuscht, es führten tatsächlich schmale Stufen nach unten!

Gerade als Georg in den Schrank kroch und die Stufen hinabsteigen wollte, erklang eine Stimme hinter ihm.

„Georg, was in aller Welt tust du da?“, fragte Klara fassungslos.

Der Junge erstarrte und wandte sich erschrocken zu seiner Schwester um. Weshalb musste sie ausgerechnet jetzt sein Zimmer betreten, wo er dabei war, einen Geheimgang zu erforschen? Er hatte niemandem etwas von seiner Entdeckung erzählen wollen, das sollte vorerst sein Geheimnis bleiben. Doch nun konnte er es vor Klara nicht mehr verbergen.

Ich hätte die Tür schließen und absperren sollen, ärgerte sich Georg.

„Georg, was tust du da? Was ist das für eine Öffnung in deinem Schrank?“ Klara war nähergetreten und blickte neugierig auf die Falltür und die Stufen hinab.

„Ich habe die Öffnung im Schrankboden eben entdeckt“, erklärte Georg unwillig. „Es führen Stufen nach unten, und ich möchte nachsehen, wohin sie führen.“

Klara machte große Augen vor Erstaunen. „Das ist ja aufregend!“, sagte sie beeindruckt.

Georg nickte aufgeregt. „Oh ja, das ist es. Stell dir vor, in meinem Zimmer gibt es tatsächlich einen Geheimgang! Willst du mitkommen? Dann können wir ihn gemeinsam erforschen. Ich wollte eigentlich, dass es mein Geheimnis bleibt, aber jetzt, wo du schon einmal da bist und alles gesehen hast, kann ich es ja mit dir teilen.“ Sein Ärger war inzwischen wieder verraucht, und er steckte voller Abenteuerlust.

„Willst du Mutti und Papa denn nichts davon sagen?“, fragte Klara verwundert.

Georg schüttelte heftig den Kopf. „Nein, vorerst noch nicht. Es ist doch viel aufregender, wenn man ein Geheimnis daraus macht! Also, schließ rasch die Tür ab, falls Mutti oder Papa heraufkommen.“

Klara zögerte kurz, tat dann aber, wie ihr geheißen. „Also gut, dann lass uns mal sehen, wohin der Gang führt. Das ist wirklich aufregend! Nie im Leben hätte ich gedacht, dass es hier in diesem Haus einen Geheimgang gibt!“ Sie strich nervös mit den Händen über ihren Rock.

„Ich auch nicht. Aber gleich werden wir wissen, wohin er führt“, sagte Georg aufgeregt.

Der Geheimgang

Vorsichtig stieg Georg die schmalen Stufen hinab in die Finsternis und leuchtete mit der Kerze den Weg ab. Im blassen Kerzenlicht konnte er gerade mal die nächsten beiden Stufen vor sich ausmachen, und er ging langsam, Stufe für Stufe, weiter nach unten. Klara beobachtete einen Moment lang, wie ihr Bruder in der Öffnung verschwand, dann raffte sie ihre Röcke, kroch in den Schrank und folgte ihm in den Geheimgang. Aufgeregt tastete sich das Mädchen an den Mauern links und rechts entlang und stieg Stufe für Stufe hinab.

„Was meinst du, wohin führt dieser Gang?“, fragte sie atemlos.

Georg zuckte mit den Schultern. „Ich habe keine Ahnung“, wisperte er. Er senkte unwillkürlich die Stimme, weil er sich vorkam, als sei er in einer gefährlichen geheimen Mission unterwegs. „Es geht jedenfalls immer weiter hinunter. Halt! Jetzt hören die Stufen auf.“

„Und? Was siehst du vor dir? Sind wir in einer Sackgasse gelandet?“ Klara spähte ungeduldig über die Schulter ihres Bruders, konnte jedoch nichts erkennen.

Georg streckte den Arm mit der Kerze aus und leuchtete alles vor sich ab. Zu seiner Rechten befand sich eine kahle Steinmauer, doch zu seiner Linken entdeckte er eine kleine Tür in der Mauer. Und vor ihm erstreckte sich ein schmaler Gang, dessen Ende sich in der Finsternis verlor.

Aufgeregt berichtete Georg seiner Schwester, was er sah.

„Lass uns zuerst die Tür aufmachen. Ich möchte wissen, wohin sie führt“, flüsterte Klara aufgeregt.

Georg nickte und drückte die verrostete Klinke nieder. Die Tür klemmte ein wenig, doch als er mit aller Kraft daran zerrte, ging sie mit einem Knarren auf. Neugierig trat der Junge hindurch und fand sich in einem im Halbdunkel gelegenen Raum wieder. Klara trat hinter ihm durch die Tür und blickte sich neugierig um.

„Es sieht so aus, als wären wir im Keller gelandet“, vermutete das Mädchen und spähte nach oben. Dicht unter der Decke des Raums befanden sich zwei schmale Fenster, durch die ein wenig Sonnenlicht hereinflutete.

Georg blickte sich ebenfalls neugierig um. In dem Raum befand sich jede Menge altes Gerümpel. Ein kaputter Schaukelstuhl stand in einer Ecke, daneben befanden sich mehrere Kisten, ein paar alte Blechstücke, einige Holzbretter, eine verrostete Säge, eine Schachtel mit Hammer und Nägeln, eine Vorratskiste mit Zwiebeln und eine mit alten, bereits vergammelten Erdäpfeln.

„Ja, wir sind tatsächlich im Keller gelandet“, stellte Georg begeistert fest. „Das ist ja toll! Ich kann direkt von meinem Kleiderschrank aus in den Keller hinuntergehen! Aber jetzt will ich wissen, wohin der Gang führt. Komm, wir wollen weitergehen!“

Der Junge huschte wieder in den Geheimgang zurück, und seine Schwester folgte ihm. Beiden Kindern schlug das Herz schnell vor Aufregung. Sie erlebten gerade ein richtiges Abenteuer!

Im blassen Schein der Kerze konnte Georg nicht viel erkennen. Das fahle Licht reichte gerade aus, dass er die kahlen Steinmauern links und rechts von sich sowie den Lehmboden zu seinen Füßen ungefähr einen Meter weit ausmachen konnte. Langsam und vorsichtig ging der Junge voran, und seine Schwester folgte ihm dicht auf den Fersen und spähte immer wieder neugierig über seine Schulter.

„Wo der Gang wohl hinführt?“, überlegte Klara. „Das Haus muss längst hinter uns liegen, so groß ist es ja nicht.“

„Ja, wir müssen uns jetzt irgendwo außerhalb des Hauses unter der Erde befinden“, mutmaßte Georg.

Klara erschauderte unwillkürlich bei diesem Gedanken. Die Vorstellung, unter der Erde in einem alten Gang unterwegs zu sein und nicht zu wissen, wohin er führte, löste ein beklemmendes Gefühl in ihr aus.

„Hoffentlich stürzt der Gang nicht ein“, flüsterte sie besorgt. „Dann wären wir irgendwo unter der Erde verschüttet, und niemand würde uns je finden!“

Georg erschrak bei dieser schrecklichen Vorstellung. Daran hatte er noch gar nicht gedacht! Weshalb muss Klara nur solche schlimmen Befürchtungen aussprechen? Er wollte sich schließlich keine Sorgen machen, sondern einfach ganz unbeschwert das tolle Abenteuer genießen! Typisch Mädchen, dachte er verärgert.

„Der Gang wird schon nicht einstürzen“, versuchte er seine Schwester und auch sich selbst zu beruhigen. „Er existiert bestimmt schon viele Jahre und ist sehr massiv gebaut.“

„Woher willst du das wissen?“ entgegnete Klara verunsichert. „Wenn wir nicht bald zu einem Ende kommen, sollten wir lieber umkehren!“

„Du kannst ja umkehren, wenn du willst. Ich gehe auf jeden Fall weiter. Ich will unbedingt herausfinden, wohin der Geheimgang führt“, erwiderte Georg schnippisch und beschleunigte seinen Schritt.

„Wenn du weitergehst, gehe ich auch weiter. Ich lasse dich hier unten sicher nicht alleine“, widersprach Klara energisch. Schließlich war sie die Ältere und fühlte sich daher für ihren Bruder verantwortlich. Außerdem würde Georg sie ständig damit aufziehen, dass sie ein Angsthase sei, wenn sie nun umkehrte, und darauf konnte sie gut verzichten.

„Geh nicht so schnell, sonst erlischt noch die Kerze, und wir sind im Stockdunkeln“, ermahnte ihn Klara.

Georg verlangsamte seinen Schritt wieder und achtete auf die Flamme. Der Gedanke, vielleicht in völliger Dunkelheit weitergehen zu müssen, löste auch in ihm ein ziemliches Unbehagen aus, und er ärgerte sich, weil er die Schachtel mit den Zündhölzern nicht mitgenommen hatte. Wenn er nochmals in den Geheimgang hinunterging, wollte er auf jeden Fall zur Sicherheit eine Packung Streichhölzer einstecken.

Da erkannte Georg plötzlich eine Wand vor sich. Der Gang hatte unvermittelt aufgehört. Der Junge blieb stehen, und seine Schwester wäre beinahe in ihn hineingerannt.

„Pass doch auf!“, fuhr Georg sie an und leuchtete mit der Kerze die Mauer vor sich ab.

„Entschuldige. Aber weshalb musst du auch so abrupt stehenbleiben? Du könntest mich ja vorwarnen“, verteidigte sich Klara.

„Dazu hatte ich keine Zeit“, erwiderte Georg genervt. „Und jetzt muss ich mich konzentrieren und alles genau ableuchten.“

„Meinst du, wir sind in einer Sackgasse gelandet?“, fragte Klara enttäuscht.

„Ich hoffe nicht. Es würde doch keinen Sinn machen, wenn der Gang einfach im Nirgendwo endet“, meinte Georg nachdenklich.

Da stieß Klara plötzlich einen aufgeregten Laut aus. „Leuchte nochmal mit der Kerze nach oben, Georg“, wies sie ihren Bruder an. „Ich glaube, da ist etwas!“

Georg gehorchte und leuchtete mit der Kerze die Decke ab. Tatsächlich, dort befand sich ein metallener Griff!

„Da ist eine Falltür!“, stellte er aufgeregt fest und ärgerte sich sogleich, dass seine Schwester sie als Erste entdeckt hatte. Der Geheimgang ging schließlich von seinem Zimmer aus, da hatte er das Vorrecht, alle Entdeckungen zuerst ausfindig zu machen, fand er.

„Wo die wohl hinführt?“, überlegte Klara . „Eines steht jedenfalls fest: Sie führt bestimmt nicht zu unserem Keller, dafür sind wir viel zu weit gegangen.“

„Wir werden es ja gleich sehen“, erwiderte Georg und streckte den Arm nach dem Griff aus.

Er musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um ihn erreichen zu können, und zog heftig daran. Ein unheilvolles Knarren und Ächzen erklang, und Klara wich erschrocken einen Schritt zurück und starrte ängstlich zur Decke hinauf. Hoffentlich stürzte die Decke nicht jeden Moment über ihnen ein! Doch der unterirdische Gang blieb intakt, lediglich eine kleine Falltür schwang über ihren Köpfen auf.

Georg duckte sich und ließ die Tür ganz aufklappen. Von oben drang Sonnenlicht zu den beiden Kindern herab und blendete sie. Georg blinzelte und blickte nach oben. Er sah Gebüsch und darüber einen strahlend blauen Himmel. Der Gang führte ganz offensichtlich ins Freie hinaus.

Klara war inzwischen wieder dicht hinter ihren Bruder getreten und spähte ebenfalls nach oben. Erleichterung durchflutete sie, als sie den Himmel über sich erblickte. Gott sei Dank, der Gang führte nicht in irgendwelche weiteren finsteren unterirdischen Gänge! Davon hatte sie inzwischen nämlich die Nase voll, und sie sehnte sich nach Tageslicht und frischer Luft.

„Wie sollen wir da hochkommen?“, fragte Klara und sah sich um. Da entdeckte sie metallene Sprossen an der Wand.

Ihr Bruder hatte die Sprossen ebenfalls entdeckt. Rasch pustete er die Kerze aus und schob sie in seine Hosentasche. Dann kletterte er geschickt die Sprossen empor und befand sich im nächsten Augenblick halb in einem dichten Gebüsch, das die Falltür von oben sicherlich gut verdeckte. Er blickte sich um und strahlte.

„Klara!“, rief er zu seiner Schwester hinunter. „Stell dir vor, der Geheimgang führt ans hintere Ende unseres Gartens!“

Klara raffte ihre Röcke und begann ebenfalls die Sprossen hinaufzuklettern. Ihr knöchellanges Kleid und die Unterröcke waren dabei ziemlich hinderlich, und sie fluchte leise. Doch mit einiger Anstrengung gelang es ihr, die Sprossen zu erklimmen, und schließlich stand sie oben neben ihrem Bruder und ließ ihren Blick umherschweifen. Tatsächlich, sie befanden sich ganz am hinteren Ende des weitläufigen Gartens, direkt neben dem alten baufälligen Holzzaun, der ihr Grundstück begrenzte. Neben der im Gebüsch verborgenen Falltür wuchs ein alter knorriger Apfelbaum, und ein paar Meter von ihnen entfernt befanden sich der Schuppen und der Hühnerstall. Einige Amseln zwitscherten in den Bäumen, und bunte Schmetterlinge flogen über die Wiese.

„Ach, wie schön es doch ist, endlich wieder im Freien draußen zu sein“, schwärmte Klara und sog tief die frische Luft ein.

„Ja, stimmt. Und ist es nicht einfach prima, dass von meinem Zimmer aus ein Geheimgang in den Garten hinausführt?“, fragte Georg begeistert. „Stell dir doch nur vor, ich bekomme mal Hausarrest. Dann kann ich mich heimlich davonstehlen, ohne dass jemand etwas merkt.“ Georg strahlte bei diesem Gedanken.

Klara lachte. „Das sieht dir wieder mal ähnlich, solche Pläne auszuhecken, Bruderherz. Aber sieh dich vor, ich kenne schließlich dein Geheimnis, und ich könnte es Mutti und Papa verraten, wenn du nicht nett zu mir bist.“

Georg schnitt eine Grimasse. „Ach, das würdest du doch nicht tun, nicht wahr, Schwesterchen? Ich verspreche dir auch, dass ich dir nie wieder eine Spinne oder einen Frosch ins Bett setze! Und auch keinen Regenwurm oder sonst ein Getier!“

„Das will ich auch meinen!“, rief Klara empört und erinnerte sich mit Schaudern daran, wie ihr Bruder ihr schon des Öfteren einen solch gemeinen Streich gespielt hatte. Er besaß eine Vorliebe für Insekten und machte sich gerne einen Spaß daraus, sie mit den Tieren zu ärgern, denn er wusste, dass sie sich vor Spinnen, Würmern und dergleichen ekelte.

„Aber wenn ich ganz brav bin, dann behältst du unser Geheimnis für dich, nicht wahr?“, drängte Georg ungeduldig.

Klara nickte. „Also gut, wenn du mich in Zukunft nie wieder ärgerst, werde ich Mutti und Papa kein Sterbenswörtchen von unserer Entdeckung verraten.“

Georg strahlte. „Prima! Komm, lass uns schwören! Eine solch wichtige Angelegenheit muss man mit einem Schwur besiegeln. Das machen die Helden in allen Abenteuerromanen so.“

„Tatsächlich?“ Klara zog die Augenbrauen hoch. „Na, wenn du meinst. Dann schwöre ich eben, dass ich niemandem ein Wort von dem Geheimgang verraten werde.“

„Wir müssen einen Blutschwur leisten, damit er auch wirklich gilt“, widersprach Georg, der schon öfter davon gelesen hatte, dass wackere Helden sich mit einem Messer in den Finger ritzten und dann ihren Schwur mit einem Tropfen Blut besiegelten.

„Du spinnst wohl?!“, rief Klara empört. „Ich leiste ganz bestimmt keinen Blutschwur! Entweder dir genügt ein ganz normaler Schwur, oder wir lassen es bleiben!“

Georg zuckte resigniert mit den Achseln. „Schon gut“ murmelte er und dachte bei sich, dass Mädchen doch wirklich keinen Sinn für wahre Heldentaten wie das Leisten eines Blutschwurs besaßen. Wenn er einen Bruder statt einer Schwester gehabt hätte, so hätte dieser gewiss seinen Schwur mit einem Tropfen Blut besiegelt, dachte er wehmütig.

„Ich schwöre ebenfalls, dass ich keiner Menschenseele ein Sterbenswörtchen von unserem Geheimgang verraten werde“, gelobte er mit feierlicher Miene und reichte seiner Schwester die Hand.

Klara ergriff die ausgestreckte Rechte ihres Bruders und schüttelte sie. Nun war ihr Schwur endgültig besiegelt.

Da raschelte plötzlich etwas über ihnen im Apfelbaum, und im nächsten Moment fiel ein Leinensack dicht neben Klara herab. Das Mädchen stieß einen erschrockenen Schrei aus und machte einen Satz zur Seite, um nicht getroffen zu werden. Verblüfft blickten die beiden Geschwister nach oben und entdeckten zu ihrem größten Erstaunen einen schmutzigen Jungen im Geäst des Apfelbaums. Der fremde Junge starrte aus großen braunen Augen erschrocken zu ihnen herab.

Der Apfeldieb

Wer bist du? Und was machst du hier in unserem Garten?!“, rief Georg erzürnt. „Komm sofort herunter!“

Der fremde Junge starrte weiter aus großen Augen zu ihnen herunter. Er war offensichtlich sehr erschrocken darüber, dass sie ihn entdeckt hatten. Doch schließlich löste er sich aus seiner Starre und kletterte flink wie ein Wiesel vom Apfelbaum herab. Kaum stand er unten, wollte er schon an den Geschwistern vorbeihuschen und über den Zaun klettern, doch Georg packte ihn mit festem Griff am Ärmel und hielt ihn zurück, obgleich der andere Junge einen Kopf größer war als er. Auch Klara trat dem fremden Jungen mutig in den Weg.

„Was hast du in unserem Garten zu suchen?“, fragte sie mit scharfer Stimme. „Du hast Äpfel gestohlen, nicht wahr?“

Sie wies mit der ausgestreckten Hand auf den Leinenbeutel, der zu ihren Füßen im Gras lag. Er war bei dem Sturz aufgegangen, und ein paar der weißgelben Frühäpfel, die bereits reif genug waren, um gegessen zu werden, waren herausgekullert. Der freche Dieb hatte den Beutel bis zum Rand mit den Früchten gefüllt.

Der fremde Junge senkte scheinbar beschämt den Kopf. Er hatte hellbraunes zerzaustes Haar, das ihm bereits über die Ohren wuchs und dringend geschnitten werden musste, und braune Augen. Er mochte etwa zwölf oder dreizehn Jahre alt sein und war mager, besaß jedoch kräftige Arme. Sein kurzärmliges Hemd und seine Hose waren zerschlissen und wiesen etliche Flicken auf, seine Füße waren nackt, und sein Gesicht und seine Hände waren mit Schmutzflecken übersät. Alles in allem machte er einen ziemlich verwahrlosten schäbigen Eindruck und hätte dringend ein Bad und saubere Kleidung benötigt.

„Entschuldigt bitte. Ich wusste nicht, dass hier jemand wohnt“, murmelte er.

„Und da kommst du einfach her und klaust Äpfel aus einem fremden Garten?“, fragte Georg erzürnt.

„Ich hatte Hunger!“, verteidigte sich der Junge und blickte auf. Nun lag eine gewisse Angriffslust in seiner Miene, und er befreite sich mit einem kräftigen Ruck aus Georgs Griff.

Georg wich sicherheitshalber einen Schritt zurück. Immerhin war der Junge ein ganzes Stück größer als er und, wie es aussah, auch ziemlich stark.

„Wenn du wirklich Hunger hast und deshalb einen oder zwei Äpfel stibitzt, hätte ich ja Verständnis dafür. Aber du hast einen ganzen Beutel angefüllt! So viele Äpfel kannst du doch auf einmal gar nicht essen! Das ist Diebstahl!“, empörte sich Klara und funkelte den Jungen wütend an.

„Du verstehst überhaupt nichts! Ich bin kein Dieb!“, verteidigte sich der fremde Junge wütend und machte einen drohenden Schritt auf Klara zu.

Das Mädchen wich ein wenig zurück. Allmählich wurde ihr mulmig zumute.

„Lass ja meine Schwester in Ruhe, hörst du?!“, rief Georg, der Klara beweisen wollte, wie mutig er war.

„Keine Angst, ich lege mich bestimmt nicht mit einem Mädchen an“, entgegnete der fremde Junge kalt. „Und auch nicht mit einem Knirps wie dir!“ Er warf Georg einen herablassenden Blick zu, den dieser mit einem wütenden Funkeln quittierte.

„Ich werde meinem Vater erzählen, dass wir dich beim Stehlen erwischt haben!“, drohte Georg wütend. „Wie lautet dein Name?“

„Den verrate ich dir sicher nicht! Und ich sage es noch einmal: Ich bin kein Dieb! Ich hatte bloß Hunger! Aber so fein, wie ihr gekleidet seid, wisst ihr bestimmt nicht, was das bedeutet! Das wissen Leute wie ihr nie!“ Der Junge spie die Worte wie Gift hervor, schnappte sich den Leinenbeutel vom Boden und kletterte blitzschnell über den Holzzaun. Im nächsten Augenblick rannte er bereits mit fliegenden Beinen über die Wiese davon.

Georg und Klara starrten ihm völlig verdattert hinterher.

„Wer das bloß war?“, wunderte sich Klara.

„Und er hat sogar die Frechheit besessen, den Beutel mit den gestohlenen Äpfeln mitzunehmen, obwohl wir ihn erwischt haben!“, rief Georg empört und stampfte mit dem Fuß auf. Er ärgerte sich, weil der Junge größer und stärker gewesen war als er. Wie gerne hätte er ihn überwältigt, um seinen Eltern den Dieb präsentieren zu können!

„Ja, er war wirklich ziemlich dreist“, murmelte Klara nachdenklich.

„Was hast du?“ Georg musterte seine Schwester, die die Stirn in Falten gelegt hatte, wie immer, wenn sie tief in Gedanken versunken war.

„Ich überlege nur, ob der Junge nicht vielleicht doch die Wahrheit gesagt haben könnte. Seiner Erscheinung nach zu urteilen, stammt er aus ärmlichen Verhältnissen. Womöglich hatte er wirklich bloß Hunger und wollte die Äpfel nach Hause zu seiner Familie bringen“, mutmaßte Klara.

„Ach was, der war bestimmt nur ein Dieb“, widersprach Georg, der immer noch wütend auf den fremden Jungen war und keine Lust hatte, weiter über dessen Worte nachzudenken.

„Naja, wie dem auch sei, jetzt weiß er jedenfalls, dass dieses Haus wieder bewohnt ist, und wird bestimmt nicht mehr herkommen, um Äpfel zu stehlen“, meinte Klara mit einem Schulterzucken. „Und wir beide sollten zusehen, dass wir zurück in unsere Zimmer gehen, ehe Mutti und Papa sich noch wundern, wo wir stecken.“

Georg nickte betrübt. Am liebsten wäre er draußen geblieben und hätte im Garten gespielt, doch er wusste, dass in seinem Zimmer die restlichen Koffer und Kisten darauf warteten, ausgepackt zu werden.

„Also gut“, murmelte er ergeben und trat zur Falltür, um wieder die Sprossen in den Geheimgang hinunterzuklettern.

„Warte“, hielt ihn Klara zurück, „du hast doch vorhin die Kerze ausgeblasen und keine Streichhölzer mitgenommen. Jetzt müssen wir den Geheimgang ganz im Dunkeln zurückgehen. Sollen wir nicht lieber durch die Hintertür ins Haus gehen?“

Georg überlegte kurz. Dann jedoch fiel ihm ein, dass ja seine Zimmertür abgeschlossen war und der Schlüssel von innen steckte. Er seufzte. „Nein, das geht nicht, wir müssen durch den Geheimgang in mein Zimmer zurück. Du weißt ja, die Tür ist von innen abgeschlossen.“

Klara griff sich an die Stirn und stieß ebenfalls ein Seufzen aus. „Ach, wie dumm! Da bleibt uns wohl wirklich nichts anderes übrig.“

„Naja, so schlimm ist es auch wieder nicht. Wir müssen ja immer nur geradeaus gehen und können uns mit den Händen an den Wänden entlangtasten. Wenn wir dann zu den Stufen kommen, wird ein bisschen Licht von meinem Zimmer herabscheinen, schließlich haben wir ja die Falltür im Schrank offengelassen“, meinte Georg zuversichtlich und kletterte flink die Sprossen hinab.

Klara seufzte erneut, raffte ihre Röcke, stieg ins Gebüsch und folgte ihrem Bruder nach unten. Sie schwor sich, in Zukunft selbst immer eine Streichholzschachtel einzupacken, falls sie den Geheimgang wieder einmal benutzten.

Vorsichtig stapften die Geschwister hintereinander den dunklen Gang entlang. Es war so finster, dass sie nicht einmal die Hand vor Augen erkennen konnten, und beide beschlich unweigerlich ein mulmiges Gefühl.

„Es ist gespenstisch hier unten, nicht wahr?“, bemerkte Georg, doch seine Stimme klang freudig erregt. Für ihn war dies ein aufregendes Abenteuer, das er in vollen Zügen genoss.

Klara hingegen machte der Marsch durch den dunklen engen Gang keinen Spaß, und sie konnte es kaum erwarten, endlich wieder ans Tageslicht zu kommen. „Es ist eng und bedrückend hier unten“, jammerte sie und hoffte inständig, ihr werde keine Spinne übers Haar krabbeln!

Als die beiden Kinder schließlich das Ende des Geheimgangs erreicht hatten, stiegen sie im Halbdunkel die Stufen hinauf und kletterten durch die Öffnung im Schrankboden.

„Puh, das wäre geschafft!“, stieß Klara erleichtert aus und strich sich ihr Kleid glatt.

„Georg! Klara! Wie kommt ihr denn mit dem Auspacken voran? Weshalb habt ihr die Tür abgeschlossen?“, drang da die Stimme ihrer Mutter zu ihnen herein, und sie sahen, wie die Türklinke hinabgedrückt wurde.

Die Geschwister warfen einander einen erschrockenen Blick zu. Hastig klappte Georg die Falltür zu, um den Zutritt zu dem Geheimgang zu verbergen, und Klara trat zur Tür und schloss auf.

„Was macht ihr denn da, Kinder? Weswegen schließt ihr euch ein?“, fragte Anna verwundert und blickte verwirrt von ihrem Sohn, der immer noch vor seinem Schrank kniete, zu ihrer Tochter.

„Ich…ich helfe Georg nur beim Auspacken“, stammelte Klara und spürte, wie sie rot wurde. Sie hasste es, zu lügen.

„Und da müsst ihr die Tür absperren?“ Anna zog verwirrt die Augenbrauen hoch. Zudem sah es Klara gar nicht ähnlich, ihrem Bruder unaufgefordert zu helfen.

„Ähm…ich…ich wollte nur herausfinden, ob der Schlüssel passt“, schwindelte Georg rasch und stand auf.

Anna schien nicht recht überzeugt zu sein. Sie merkte ganz genau, dass ihre Kinder ihr etwas verschwiegen, und fragte sich, was bloß dahinterstecken mochte. Auf der anderen Seite freute sie sich jedoch, dass die beiden offensichtlich ein gemeinsames Geheimnis teilten. Georg und Klara stritten sich nämlich sehr oft und spielten kaum je zusammen. Da war es erfreulich, wenn sie einmal gemeinsam unter einer Decke steckten.

„Beeilt euch jetzt aber mit dem Auspacken, damit ihr bis zum Abendessen fertig seid“, ermahnte sie die Kinder und ging wieder nach unten.

Georg und Klara warfen einander einen erleichterten Blick zu. Da hatten sie noch einmal Glück gehabt!

Klara huschte rasch in ihr Zimmer hinüber, um ihre Koffer weiter auszupacken, und auch Georg widmete sich wieder dem Einräumen seines Kleiderschranks. Beide Kinder waren mit ihren Gedanken jedoch noch bei dem Geheimgang und dem fremden Jungen, den sie im Garten erwischt hatten. Ob der Geheimgang sich wohl einmal als nützlich erweisen würde? Und ob sie den Apfeldieb jemals wiedersehen würden?

Jakob und Luise

Jakob rannte über die Wiese und am Ufer des dahinterliegenden Flusses entlang, so schnell ihn seine Beine trugen. Der Schreck darüber, dass er eben beim Klauen erwischt worden war, saß ihm immer noch in den Gliedern. Er hatte gewusst, dass das Haus mit dem großen Garten seit einigen Wochen leerstand. Doch als er sich heute wieder dorthin geschlichen hatte, um heimlich seinen Beutel mit Früchten zu füllen, hatte er Stimmen und Lärm aus dem Haus vernommen und einen Wagen davor stehen sehen. Doch die Verlockung beim Anblick der reifen Äpfel war einfach zu groß gewesen, und so war er flink über den Zaun geklettert, auf den Baum hinaufgestiegen und hatte seinen Leinensack mit prächtigen Äpfeln gefüllt. Sein Magen hatte so laut geknurrt, dass er am liebsten gleich einen der Äpfel verspeist hätte, doch er wollte lieber so schnell wie möglich verschwinden, um nicht zu riskieren, dass man ihn erwischte. Zum Glück hatte sich niemand im Garten aufgehalten. Doch dann waren plötzlich dieser Junge und dieses Mädchen scheinbar aus dem Nichts mitten im Gebüsch aufgetaucht. Jakob hatte seinen Augen kaum getraut, so plötzlich waren die beiden dagewesen. Und dann war ihm auch noch der Leinenbeutel aus der Hand gerutscht und dem Mädchen direkt vor die Füße geplumpst! Das war wirklich großes Pech gewesen. Wenn der Beutel nicht hinuntergefallen wäre, hätten ihn die beiden Kinder vermutlich gar nicht entdeckt. Aber so hielten sie ihn nun für einen Dieb.

Einen Dieb! Die beiden Worte schmeckten bitter auf seiner Zunge, und Jakob schämte sich. Denn im Grunde war er genau das – ein Dieb. Immerhin schlich er schon seit Jahren immer wieder in fremde Gärten und stahl dort Obst, Gemüse und Eier. Er war jedoch geschickt genug gewesen, sich niemals dabei erwischen zu lassen.

Nein, ich bin kein Dieb, dachte Jakob entschlossen und hielt in seinem Lauf inne, um Atem zu schöpfen. Ich musste das Obst, das Gemüse und die Eier klauen, damit wir nicht verhungern!

Mit schnellen Schritten marschierte Jakob durch ein Waldstück. In einiger Entfernung tauchte zwischen den Bäumen eine armselige kleine Hütte auf. In dieser Hütte lebte Jakob zusammen mit seiner jüngeren Schwester Luise und seinem Vater Alfred. Alfred arbeitete als Tagelöhner auf den umliegenden Höfen oder auch mal bei den Handwerkern oder Kaufleuten. Er machte kleine Gelegenheitsarbeiten und half mal hier und mal da aus. Mit einer solchen Arbeit verdiente man natürlich kaum etwas, und den wenigen Lohn, den er erhielt, vertrank er meist im Wirtshaus. Vor drei Jahren war ihre Mutter im Winter an einem Fieber gestorben; Jakob war damals neun Jahre alt gewesen und Luise erst fünf. Seither arbeitete Alfred nur noch unregelmäßig und betrank sich noch viel öfter. Seine beiden Kinder vernachlässigte er völlig, sie waren für ihn lediglich ein Klotz am Bein. Anfangs hatte eine Frau aus dem Dorf bei ihnen das Kochen und Waschen erledigt und sich mehr schlecht als recht um die Kinder gekümmert. Doch vor wenigen Monaten hatte sie geheiratet und war weggezogen. Seither waren Jakob und Luise sich selbst überlassen. Luise musste sich mit ihren acht Jahren nun ganz alleine ums Kochen und Waschen kümmern. Oft war die Arbeit für das schmächtige kleine Mädchen zu schwer, doch Luise beklagte sich niemals und erledigte alles, so gut sie es eben konnte. Jakob half ihr dabei und übernahm, so oft es ging, die schweren Arbeiten, wie Feuerholz hacken und Wasser holen. Nach der Schule nahm der Junge auf den umliegenden Höfen zudem immer wieder kleine Gelegenheitsarbeiten an, für die er mit ein paar Eiern, einem Krug Milch, einem Stück Brot oder einer Scheibe Schinken bezahlt wurde. Diese Lebensmittel waren kostbar, und Jakob und Luise teilten sie jedes Mal gerecht und verspeisten sie heimlich, wenn ihr Vater im Wirtshaus steckte. Wenn das Essen trotzdem knapp wurde, stahl Jakob Obst und Gemüse oder Eier aus fremden Gärten. Er schämte sich jedes Mal dafür, wenn er so etwas tat, doch sein knurrender Magen und der Anblick seiner mageren hungerleidenden Schwester zwangen ihn dazu. Für Luise hätte Jakob alles riskiert. Die beiden Geschwister hielten zueinander wie Pech und Schwefel, und Jakob kümmerte sich immer um seine kleine Schwester. Er liebte Luise über alles und fühlte sich für sie verantwortlich. Seinen Vater jedoch konnte Jakob nicht ausstehen. Er hasste ihn dafür, dass er seinen kargen Lohn lieber abends ins Wirtshaus trug, anstatt Essen oder Kleidung für Luise und ihn zu kaufen. Zum Glück sammelte der Pfarrer im Dorf immer wieder Spenden, die dann an die Armen verteilt wurden. Jakob und Luise erhielten aus den Spenden alte Kleidungsstücke oder auch mal einen Korb mit Lebensmitteln, die der Pfarrer für sie besorgte.

Ohne die Spenden, das geklaute Obst und Gemüse und meine kleinen Arbeiten wären wir wohl schon längst verhungert oder erfroren, dachte Jakob bitter und kickte mit dem Fuß einen Stein weg. Er konnte es kaum erwarten, endlich alt genug zu sein, um sich eine richtige Arbeit zu suchen. Doch damit musste er noch zwei Jahre warten, bis er vierzehn war. Vorher würde ihm niemand eine Arbeit geben. Also würde er bis dahin weiterhin die Dorfschule besuchen, kleine Arbeiten annehmen und, so gut es ging, für sich und seine Schwester sorgen.

Als Jakob die Hütte erreichte, verlangsamte er seinen Schritt und sah sich aufmerksam um. Vielleicht war sein Vater ja schon zuhause, dann durfte er sich nicht von ihm erwischen lassen. Denn wenn er den Beutel mit den Äpfeln sah, würde er ihm diesen gewiss abnehmen und im Wirtshaus gegen ein paar Gläser Schnaps eintauschen. Und Luise und er würden, wie so oft, mit knurrendem Magen ins Bett gehen müssen.

Geduckt schlich Jakob näher und spähte vorsichtig durch das Fenster der kleinen Hütte. Er hatte Glück; drinnen war nur seine Schwester zu sehen. Rasch öffnete Jakob die Tür und schlüpfte in die Hütte.

„Jakob! Da bist du ja!“, rief Luise erleichtert und sprang vom Stuhl auf, wo sie gesessen hatte und damit beschäftigt gewesen war, eines der unzähligen Löcher in ihrer zerschlissenen Schürze zu flicken. Bestimmt würde der Stoff neben dem Flicken bald erneut aufreißen. Doch Luise war es gewohnt, ihre Kleidung immer wieder zu flicken, bis sie irgendwann aus der Spendensammlung neue erhielten – die dann jedoch ebenfalls bereits alt, abgetragen und teilweise geflickt war.

Luise hatte langes hellbraunes Haar, das sie zu zwei dicken Zöpfen geflochten trug, braune Augen und eine Stupsnase. Sie war ein ausgesprochen hübsches Mädchen, allerdings viel zu mager.

„Hallo Luise.“ Jakob schenkte seiner Schwester ein Lächeln und reichte ihr den Leinensack voller Äpfel.

Auf Luises Gesicht erschien ein freudiges Strahlen, als sie die Äpfel sah. „Oh, so viele Äpfel! Das ist ja prima!“, rief sie begeistert, fischte sogleich eine der Früchte hervor und biss hungrig hinein. „Mhm.“ Luise schloss für einen Moment die Augen und genoss den frischen Geschmack auf der Zunge. „Der schmeckt köstlich!“

Jakob strahlte ebenfalls und nahm sich einen der Äpfel. Gierig biss er hinein. „Komm, wir müssen den Beutel rasch verstecken“, drängte er mit vollem Mund und band den Lederbeutel wieder zu.

Eilig lief er zum hinteren Ende der Hütte, wo hinter einem zerschlissenen Vorhang das Bett stand, das Luise und er sich teilten. Das Bett hatte keine Matratze, sondern war mit altem, bereits ein wenig verschimmeltem Stroh gefüllt, und darauf lag eine dünne Decke, die in kalten Nächten kaum Wärme spendete. Jakob und Luise wärmten sich dann stets aneinander, so gut es eben ging. Beide träumten davon, eines Tages in richtigen Federbetten zu schlafen und ein warmes Feuer im Kamin neben sich prasseln zu haben. Doch dieser Traum lag noch in weiter Ferne – falls er sich überhaupt jemals erfüllen würde.

Rasch versteckte Jakob den Leinenbeutel unter dem Bett. Die beiden Geschwister machten es sich auf ihrem Strohlager bequem und aßen heißhungrig ihre Äpfel. Als sie aufgegessen hatten, holte Jakob zwei weitere Äpfel hervor, und die Kinder verspeisten sie. Anschließend gingen sie nach draußen und warfen die Stängel und Kerne in die Wiese.

„Ich werde mir diesen Sommer eine Arbeit suchen, und zwar eine richtige, nicht nur kleine Hilfsarbeiten wie sonst“, erklärte Jakob mit ernster Miene.

Luise blickte überrascht zu ihm auf. „Eine richtige Arbeit? Bist du denn nicht noch zu jung dafür?“

„Ich bin schon zwölf“, entgegnete Jakob. „Vielleicht stellt mich einer der Bauern als Erntehelfer ein. Oder ich gehe in eine der Fabriken in den Städten, da arbeiten ja viele Kinder, auch jüngere als ich.“

„Aber dann bist du ja den ganzen Tag über nicht zuhause! Und wenn du in einer Fabrik arbeitest, müsstest du auch in der Stadt übernachten. Dann könnten wir uns nur noch an den Sonntagen sehen, außerdem würde von deinem Lohn nichts mehr übrigbleiben“, erwiderte Luise erschrocken.

Die Achtjährige war nicht gerne alleine zu Hause. Sie hing sehr an ihrem Bruder und mochte es nicht, wenn sie getrennt waren. Außerdem hatte sie Angst vor ihrem Vater. An manchen Tagen, wenn er keine Arbeit fand, ging er schon früh ins Wirtshaus und betrank sich. Wenn er dann betrunken nach Hause kam, war er laut und grob und hatte schon so manches Mal zugeschlagen. In einer solchen Situation wollte sie auf keinen Fall alleine sein.

„Mach dir keine Sorgen, Luise, wenn ich eine Arbeitsstelle bekomme, nehme ich dich einfach mit. Du brauchst keine Angst zu haben, ich lasse dich nicht alleine“, versicherte Jakob seiner Schwester.

Luise lächelte dankbar. „Du bist der beste große Bruder, den man haben kann“, sagte sie leise.

Jakob strahlte. „Danke! Und du bist die beste kleine Schwester, die man sich nur wünschen kann. Wir beide halten immer zusammen, nicht wahr, Luise?“

Luise nickte eifrig. „Oh ja, das machen wir. Wir werden uns niemals trennen!“

Jakob legte den Arm um seine kleine Schwester, und die beiden gingen in die Hütte zurück. Wie gut, dass sie wenigstens einander hatten!

Nette Nachbarn

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