Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
«Ein frommer Mann …», Jakobea lacht bitter, «ich kenne ihn besser. Er ist reich, er ist mächtig, er ist gnadenlos.» Die Rede ist von Kaspar Stockalper, dessen Schloss in Brig mit den drei hoch aufragenden Türmen noch heute an ihn, den «Roi du Simplon», erinnert. Jakobea jedoch, die über ein Jahrzehnt seiner Gattin als Magd dient, ist längst vergessen. In seinem Folgeroman zum "Walliser Totentanz" stellt Werner Ryser Stockalpers grenzenloser Gier nach Macht und Geld die Geschichte Jakobeas gegenüber: Als Kind armer Leute wird sie 1612 im Mattertal geboren, als Fünfzehnjährige von drei Henkersknechten vergewaltigt, dann von reichen Leuten gedemütigt und ausgenutzt. Ihren Zorn, wenn er hochkommen will, unterdrückt sie, denn eine, die andern untertan ist, darf nicht zornig sein. Doch es kommt der Tag, an dem ihre Wut zum ersten Mal ausbricht …
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 425
Veröffentlichungsjahr: 2024
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Werner Ryser
Jakobea
Werner Ryser
Roman
Cosmos Verlag
Für Karim Habli und Hubert Theler
Alle Rechte vorbehalten
© 2024 by Cosmos Verlag AG, Muri bei Bern
Lektorat: René Karlen, Roland Schärer
Umschlag: Stephan Bundi, Boll
Druck: Merkur Medien AG, Langenthal
Einband: Grollimund AG, Reinach
ISBN 978-3-305-00498-0
e-ISBN 978-3-305-00499-7
Das Bundesamt für Kultur unterstützt den Cosmos Verlag mit einem Förderbeitrag für die Jahre 2021–2024
www.cosmosverlag.ch
Hass und Gewalt
Aus den privaten Aufzeichnungen von Kaspar Stockalper vom Thurm
Leuk, 1627: Aus dem Leben von Jakobea
1
2
Die von Riedmatten aus Münster
Aus den privaten Aufzeichnungen von Kaspar Stockalper vom Thurm
Münster, 1627–1635: Aus dem Leben von Jakobea
1
2
3
Die Vermählung von Besitz und Macht
Aus den privaten Aufzeichnungen von Kaspar Stockalper vom Thurm
Brig, 1638–1639: Aus dem Leben von Jakobea
1
2
3
Der Fürstbischof
Aus den privaten Aufzeichnungen von Kaspar Stockalper vom Thurm
Brig, 1640: Aus dem Leben von Jakobea
1
2
3
Das grosse Wasser
Aus den privaten Aufzeichnungen von Kaspar Stockalper vom Thurm
Brig, 1640: Aus dem Leben von Jakobea
Die Leute von Brei
Aus den privaten Aufzeichnungen von Kaspar Stockalper vom Thurm
Brei, 1641: Aus dem Leben von Jakobea
1
2
Frauenschicksal
Aus den privaten Aufzeichnungen von Kaspar Stockalper vom Thurm
Brei, 1641–1642: Aus dem Leben von Jakobea
1
2
3
Vom Kreislauf des Lebens
Aus den privaten Aufzeichnungen von Kaspar Stockalper vom Thurm
Brei, 1642–1644: Aus dem Leben von Jakobea
1
2
Lérida
Aus den privaten Aufzeichnungen von Kaspar Stockalper vom Thurm
Brei, 1644–1645: Aus dem Leben von Jakobea
1
2
Im Schatten der drei Türme
Aus den privaten Aufzeichnungen von Kaspar Stockalper vom Thurm
Brei, 1645–1679: Aus dem Leben von Jakobea
1
2
3
Allerseelen
Aus den privaten Aufzeichnungen von Kaspar Stockalper vom Thurm
Brei, 1679: Aus dem Leben von Jakobea
1
2
Epilog
Aus den privaten Aufzeichnungen von Kaspar Stockalper vom Thurm
Nihil solidum nisi solum – Nichts ist beständig ausser Grund und Boden. Nur weil es im Wallis kaum ein Städtchen oder Dorf gibt, wo ich nicht mindestens einen Acker, eine Wiese oder Alpweide besitze, glauben manche Zeitgenossen, das sei mein Wahlspruch. Aber das stimmt nicht. Meine wahre Devise besteht aus den siebzehn Buchstaben, aus denen sich in einem Anagramm mein Name, Casparus Stoc(k)alper, bilden lässt: Sospes lucra carpat. Gottes Günstling soll die Gewinne abschöpfen. Ich habe diesen Satz über dem Eingang zum Festsaal im Stammhaus unserer Familie anbringen lassen und immer wieder in meinen Handels- und Rechnungsbüchern vermerkt, denn Gottes Günstling war ich. Mir, Kaspar Stockalper vom Thurm, verlieh der Papst den Titel eines Ritters vom goldenen Sporn, Kaiser Ferdinand machte mich zum Ritter des Heiligen Römischen Reiches, Herzog Emanuel von Savoyen erhob mich zum Baron von Duin, und die französischen Könige hefteten mir die Orden vom heiligen Michael und vom Heiligen Geist an die Brust. Ich war Landeshauptmann, Handelsherr, Salzbaron, Inhaber von Söldnerkontingenten, Bauherr und Stifter. Ich habe alles erreicht, was es zu erreichen gibt: Einfluss, Macht, Besitz. Der Allmächtige bescherte mir reiche Geistesgaben, die ich zeit meines Lebens nutzte, um gewinnbringende Geschäfte abzuschliessen.
Auch über meine Herkunft wird oft Unwahres berichtet: Dass wir von den adeligen Olteri aus Mailand abstammen, ist eine fromme Lüge. Wahr ist, dass der Erste unseres Geschlechts sein Leben im Dunkel der Vergangenheit, mitten in der Wildnis, auf halber Höhe zum Simplon, fristete. Als er sein Land rodete, liess er die Wurzelstöcke stehen. So erklären sich der Name Stockalper und das Familienwappen: drei goldene Baumstümpfe auf drei silbernen Bergen vor rotem Hintergrund.
Als ich 1609 zur Welt kam, lebte unsere Familie bereits seit vier oder fünf Generationen in Brig, gehörte zu den Grossen im Land und besetzte wichtige Ämter. Von meinem früh verstorbenen Vater, dem Notar Peter Stockalper, erbte ich ein Vermögen, das es mir erlaubte, meine Ausbildung am Gymnasium der Gesellschaft Jesu in Venthen und in Brig zu machen und anschliessend an der Universität Freiburg im Breisgau zu studieren. Ich beherrsche Deutsch, Französisch, Italienisch und Latein in Wort und Schrift. Ausserdem kann ich mich leidlich auf Spanisch und Griechisch ausdrücken. Und nein, ich musste mich nicht hochkämpfen wie andere, aber niemand kann behaupten, ich hätte nicht mit meinen Pfunden gewuchert. Was ich ererbte, habe ich um das Zweitausendfache vermehrt.
Mein Tochtermann, Georg Mannhaft, der meine Vermögensverhältnisse kennt, hat errechnet, dass sich mit meinen liquiden Mitteln 122233 Kühe kaufen liessen. Er ist Maler, was seine Neigung zu müssigen Gedankenspielereien erklären mag. Stellte man die Tiere Kopf an Schwanz in einer Reihe auf, behauptet er, bildeten die Kühe eine Kolonne von Brig über den Simplon bis in die Gegend von Genua. Nicht eingerechnet in dieser «Viehwährung» sind mein Schloss und andere Güter in Brig, ebenso wenig meine Häuser auf dem Simplon, meine Besitzungen unterhalb von Sankt Leonhard, im Val d’Ossola und in der Baronie Duin.
«Der grosse Stockalper als guter Hirte», soll mein Vetter, Anton Maria Stockalper, gespottet haben, als er davon hörte. «Achte er nur darauf, dass man ihm seinen Besitz und seine Macht nicht neide, sonst wird es ein böses Ende mit ihm nehmen – gleich wie mit meinem Vater.»
Sein Vater, der Ritter und Söldnerhauptmann Anton Stockalper, war das Oberhaupt unserer Sippe. Er legte sich mit den Mächtigen im Land an. Sie nahmen ihn fest, liessen ihn foltern und übergaben ihn am 4. Dezember 1627 in Leuk dem Scharfrichter. Ich war damals achtzehn Jahre alt. Sein Schicksal stand mir stets als warnendes Beispiel vor Augen. Aber meine Vorsicht war vergeblich. Fortuna, die launische Göttin, der unser Geschlecht den Aufstieg verdankt, griff in die Speichen des Glücksrads und liess mich stürzen. Ich musste das Wallis verlassen und auf die Südseite des Simplons fliehen. Meine alten Tage verbringe ich im Palazzo Silva, einem herrschaftlichen Haus, das ich in Domodossola erworben habe.
Domodossola, im Juni 1684
Am Vormittag des 4. Dezembers 1627 überquerte die fünfzehnjährige Jakobea Truffer die Rottenbrücke und nahm den Aufstieg zum Städtchen Leuk in Angriff. Dort sollte der Ritter Anton Stockalper enthauptet werden. Der Mann war vor zwei Monaten im Gasthof, wo sie arbeitete, verhaftet und im bischöflichen Schloss von Leuk eingekerkert worden. Franziska, die Grossmagd, hatte ihr frei gegeben. «Ich selber habe keine Zeit hinzugehen», hatte sie erklärt, «aber dich kann ich heute entbehren. Dafür berichtest du mir am Abend genau, wie es war, als der Henker dem hohen Herrn den Kopf abschlug.»
Jakobea freute sich weder über den freien Tag noch darauf zuzuschauen, wie ein Verurteilter vom Leben zum Tode befördert wurde. Sie hatte das schon mehr als einmal gesehen. Wie anderswo wurden auch im Zenden Visp, wo sie herkam, Räuber und Mörder, nachdem man sie mit glühenden Zangen gezwickt hatte, öffentlich hingerichtet. Auch kleine Schelme, die sich etwas hatten zuschulden kommen lassen, einen Diebstahl etwa, kamen an den Galgen. Zur Warnung und Belehrung des Volkes liess man die Leichen, an denen sich die Krähenvögel gütlich taten, tagelang hängen. Zur Warnung und Belehrung des Volkes wurden Männer und Frauen für geringfügige Vergehen auf dem Platz vor der Kirche mit Ruten gestäupt und für Stunden an den Pranger gestellt, wo sie dem Hohn und Spott der Gaffer preisgegeben waren. Das galt ebenso für Mädchen, die zur Unzeit schwanger geworden waren. Dieses Schicksal drohte jetzt auch Jakobea, denn ihre Monatsblutung war seit sechs Wochen überfällig, und sie wusste, was das bedeutete.
Beim Ringacker, wo die Leuker ihre Toten begruben, verliess sie die Strasse, ging durch den Friedhof und betrat die unscheinbare Kapelle, in der man für das Seelenheil der Verstorbenen betete. Vor der aus Lindenholz geschnitzten Jungfrau mit Kind, die an der rechten Seitenwand auf einer Konsole stand, fiel sie auf die Knie. «Gegrüsset seist du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir, du bist gebenedeit unter den Weibern», stammelte sie und verstummte. Dann fasste sie sich ein Herz und sagte laut, wofür sie in den vergangenen Wochen Nacht für Nacht in der Dunkelheit ihrer Kammer heimlich gebetet hatte: «Heilige Muttergottes, lass die Frucht meines Leibes verderben!» Erschrocken über die Ungeheuerlichkeit ihrer Bitte, brach sie in Tränen aus.
Jakobea war Jungmagd in der Sust von Leuk. Der Gasthof, zu dem ein Lagerhaus und ein grosser Stall gehörten, lag am Rand des Pfynwalds, auf der linken Seite des Rottens, dort, wo der Saumweg von Bern über die Gemmi in die Handelsroute mündete, die von Lyon nach Genf durchs Wallis und über den Simplon und Domodossola bis nach Mailand führte. Hier feilschten Händler beim Kauf und Verkauf von Waren, hier versorgten die Säumer ihre Tiere, hier assen, tranken und nächtigten sie, bevor sie anderntags Richtung Brig, Sitten oder Kandersteg weiterzogen. Es herrschte ein reges Kommen und Gehen, und die Tage von Jakobea, die als Jungmagd niedrige Dienste verrichtete, dauerten oft zwölf Stunden und mehr. Noch vor Sonnenaufgang musste sie den Herd in der Küche anfeuern, sie leerte Nachttöpfe, fegte die Kammern aus, in denen die Männer geschlafen hatten, füllte Matratzen mit frischem Stroh, schleppte kübelweise Wasser vom Brunnen in die Küche, rüstete Gemüse, wusch dreckige Wäsche. Abends trug sie Krüge mit Wein und dampfende Schüsseln voller Fleisch und Gemüse in die Gaststube. Die Arbeit war hart, aber darüber beklagte sie sich nicht. Von zuhause war sie gewohnt zuzupacken. Neu war für sie hingegen die Zudringlichkeit der Männer, die sie in den Hintern kniffen, nach ihren Brüsten griffen, sie bei Gelegenheit in einer dunklen Ecke gegen die Wand pressten und versuchten, ihr einen Kuss zu rauben. «Frauenschicksal», meinte Franziska, der sie ihr Leid klagte. «Du musst dich wehren, so gut du kannst. Lass dir von keinem dieser Kerle ein Balg anhängen. Wenn du dann wegen Unzucht vor der Kirche am Pranger stehst, kennen sie dich nicht mehr.»
«Heilige Muttergottes, lass die Frucht meines Leibes verderben», wiederholte Jakobea schluchzend und streckte flehend die gefalteten Hände der geschnitzten Jungfrau entgegen.
«Versündige dich nicht!», sagte eine zornige Stimme hinter ihr. Erschreckt fuhr Jakobea herum. In schwarzer Soutane, ein Birett auf dem Kopf, stand ein Priester vor ihr. Sie hatte nicht realisiert, dass noch jemand in der Kapelle war. Der Mann war jung, nicht viel älter als zwanzig. Er war gross und hager, seine Gesichtszüge hatten etwas Asketisches. Jakobea, die noch immer auf den Knien lag, schaute zu ihm hoch.
«Wie kannst du es wagen, die Mutter unseres Herrn, die frei von Sünde ist, um so etwas zu bitten?»
Sie schlug die Hände vors Gesicht. «Was soll ich tun?», schluchzte sie. «Ich bin von Gott und der Welt verlassen. Man wird mich auspeitschen und an den Pranger stellen. Ich werde meine Arbeit verlieren, und die Eltern werden mir die Türe weisen.» Sie liess die Hände sinken und schaute den Geistlichen aus tränenverquollenen Augen an.
«Das hättest du dir überlegen müssen, als du deine Lust nicht bezähmen konntest und mit dem Burschen, der dich schwängerte, Unzucht getrieben hast», sagte der Geistliche streng.
Jakobea rappelte sich hoch. Der Vorwurf erschien ihr ungeheuerlich. Sie ballte die Fäuste. «Unzucht! Wo war die Muttergottes, als mir die drei Kerle Gewalt antaten?», fauchte sie empört. «Glaubt Ihr wirklich, ich hätte Lust verspürt und mich denen aus freiem Willen hingegeben?»
Der Priester musterte sie erstaunt. Ihrem Dialekt nach stammte sie aus dem Mattertal. Ihre Kleidung verwies auf eine Herkunft aus ärmlichen Verhältnissen. Ein Bergbauernkind. Sie war klein und zierlich, aber jetzt, wo sie ihn aufgebracht anfunkelte und ihr rotes Haar, von dem das Kopftuch gerutscht war, leuchtete, als würde es gleich zu brennen beginnen, spürte er eine Kraft, die er so einem jungen Ding nicht zugetraut hätte. Sie erinnerte ihn an seine zehnjährige Schwester, Cäcilia von Riedmatten.
Meint Ihr, ich hätte mich denen aus freiem Willen hingegeben?, hatte ihn die einfache Frau – oder war sie noch ein Mädchen? – zornig gefragt. Denen! War sie von mehreren Männern vergewaltigt worden? Von Riedmatten war verunsichert. War dieses verzweifelte Menschenkind unschuldig – trotz ihrer gotteslästerlichen Bitte an die Jungfrau? «Soll ich dir die Beichte abnehmen?», fragte er.
Jakobea nickte. Sie wusste nicht, weshalb sie glaubte, dem jungen Priester vertrauen zu können. Wahrscheinlich wollte sie es glauben, um endlich einmal ihr Herz auszuschütten.
Er nahm auf der einzigen Bank im kleinen Bethaus Platz. Sie kniete vor ihm nieder, schlug das Kreuz und sprach, wie es ihr der Pfarrer von Sankt Niklaus im Unterricht beigebracht hatte, die rituellen Anfangsworte, worauf er ihr antwortete: «Gott, der unser Herz erleuchtet, schenke dir die wahre Erkenntnis deiner Sünden und seiner Barmherzigkeit.»
«Amen», sagte sie und begann stockend von sich zu reden. Sie sei das siebte von zwölf Kindern eines Bergbauern in Sankt Niklaus, erklärte sie. Eine Schwester und drei Brüder seien bereits im Kindesalter gestorben. Ein Jahr zuvor, an ihrem vierzehnten Geburtstag, habe sie sich, genau gleich wie ihre älteren Geschwister, auswärts verdingen müssen, damit der Vater ein hungriges Maul weniger zu stopfen hatte. So sei sie Jungmagd in der Sust von Leuk geworden.
Und dann erzählte sie, was sie bisher noch niemandem erzählt hatte.
Zu Michaeli ging es in der Sust hoch zu und her. Es war einer jener «Jakobea-hol-dies-bring-das-trödle-nicht-beeildich-Mädchen-Tage». Als sie am Abend zusammen mit Franziska die Reisenden und Säumer bediente, die in der Gaststube sassen und später in den grossen Schlafsälen nächtigen würden, war sie todmüde. Gegen zehn Uhr betraten ein Sergeant und zwei Soldaten der Leuker Stadtwache den Raum. Sie setzten sich. Als Jakobea nach ihren Wünschen fragte, schlang einer der Männer seinen Arm um ihre Taille und zog sie auf seinen Schoss. Mit ihren Fingernägeln fuhr sie ihm durchs Gesicht und verzierte es mit Kratzspuren. Von ihrer Gegenwehr überrascht, liess er sie los, so dass sie davonlaufen konnte.
«Da hast du dir die Falsche ausgesucht», meinte der Sergeant, «rothaarige Weiber sind Wildkatzen.» Die andern Gäste lachten. Franziska, die die Szene beobachtet hatte, stellte schweigend einen Krug mit einheimischem Wein und drei Becher vor die Männer. Von weitem beobachtete Jakobea, wie die Soldaten die Köpfe zusammensteckten und ihr dabei immer wieder Blicke zuwarfen. Eine halbe Stunde später gingen sie. Allmählich leerte sich die Gaststube.
Nachdem sie abgeräumt hatte, trat Jakobea vors Haus. Es war finster. Der Nachtwind trug elf Glockenschläge der Sankt Stephanskirche über die Talebene. Sie ging über den Hof zum Brunnen, um sich zu waschen. Als sie sich über den Trog beugte und ihre nackten Arme ins kalte Wasser streckte, wurde sie von hinten gepackt. Eine raue Hand legte sich über ihre Nase und den Mund, so dass sie keine Luft mehr bekam.
«Du bist besser still, Mädchen, sonst werde diesmal ich dein Gesicht zeichnen, aber so, dass du ein Leben lang an mich denkst!», flüsterte eine heisere Männerstimme.
Sie spürte, wie eine scharfe Klinge gegen ihren Hals gedrückt wurde.
«Hast du mich verstanden?»
Sie nickte. Er zog die Hand von ihrem Gesicht. Gierig sog sie die kühle Nachtluft in ihre Lunge.
Ohne das Messer von ihrem Hals wegzunehmen, drehte er ihr mit seiner freien Hand den rechten Arm auf den Rücken und führte sie zu einem der Ställe.
Unter der Türe erkannte sie die Silhouetten von zwei weiteren Männern, die Kumpane des Mannes, in dessen Gewalt sie war. Ihr Peiniger stiess sie in den Stall und warf sie auf ein Bündel Heu. Er kniete neben ihren Kopf. Erneut spürte sie den scharfen Stahl der Klinge an ihrem Hals. Der Mann beugte sich über sie.
«Du bist noch Jungfrau?», flüsterte er, und als sie nickte, fuhr er fort: «Wir werden dich jetzt zur Frau machen. Wenn du dich nicht rührst, geschieht dir nichts.»
Jakobea schloss die Augen. Sie war ein Kind vom Land. Aus den Zoten der Burschen im Dorf und den heimlichen Erzählungen der Mädchen wusste sie, was ihr bevorstand. Es war dasselbe, was geschah, wenn man den Bock zur Geiss führt. Aber ich bin doch kein Tier, dachte sie in verzweifelter Empörung. Sie wollte sich wehren, wollte schreien, und gleichzeitig lag sie reglos auf dem Rücken, stumm, erstarrt von einer grenzenlosen Angst. Angst vor dem, was geschehen würde, Angst vor dem Messer an ihrer Kehle, Angst um ihr Leben. Sie spürte, wie ihr der Rock bis über die Hüften hochgeschlagen wurde, spürte, wie einer der Männer ihre Beine auseinanderzwängte, wie er sich auf sie legte. Ein ekelerregender Geruch nach Schweiss und Wein schlug ihr entgegen. Sie biss sich auf die Lippen, versuchte sich den wuchtigen Kirchturm von Sankt Stephan vorzustellen, dessen Glocken – vor wie langer Zeit war das gewesen? – die elfte Stunde angezeigt hatten. Sie hielt sich an diesem Bild fest, während die drei Soldaten, deren Aufgabe es war, über die Sicherheit der Menschen in Leuk zu wachen, sich abwechselten: Einer bedrohte sie mit dem Messer, einer stand daneben und schaute zu, wie der dritte die fünfzehnjährige Jakobea Truffer aus Sankt Niklaus vergewaltigte.
Einmal nimmt auch der schlimmste Albtraum ein Ende. Die Männer standen auf, brachten ihre Kleider in Ordnung, verliessen wortlos den Raum und liessen die vor Schmerz und Scham wimmernde Jakobea liegen, als sei sie ein nutzloser Gegenstand. So fühlte sie sich auch: nutzlos und missbraucht. Irgendeinmal hörte sie die zwölf Glockenschläge der Kirche schwach über die Ebene des Rottens wehen. Der 29. September war vorbei, der Tag, an dem man im ganzen Land des Erzengels Michael gedacht hatte, des Drachentöters und Beschützers vor allem Bösen.
Jakobea hatte ihre Geschichte erzählt, unterbrochen von vielen Pausen, in denen sie sich auf die Lippen biss, wortlos gegen die Tränen ankämpfte und gegen die Gefühle, die wieder hochkommen wollten. Jetzt schwieg sie.
Auch der Priester sagte nichts. Er war erschüttert. Adrian von Riedmatten stammte aus einem vornehmen Geschlecht. Seine Familie lebte in Münster im Goms und gehörte zu den Grossen im Land. Ihr Ahnherr war Adrian I., Fürstbischof von Sitten in den Jahren 1529 bis 1548. Und zwischen 1565 und 1613 hatte die Familie zwei weitere Fürstbischöfe gestellt: Hildebrand und Adrian II. Als die Eltern ihn, den Zweitgeborenen, auf den Namen Adrian tauften und später zur Priesterlaufbahn bestimmten, mochte die Hoffnung mitgespielt haben, er würde dereinst als Adrian III. in die Majoria, die bischöfliche Residenz von Sitten, einziehen. Vorderhand war er noch Kaplan an der Muttergotteskirche in Glis.
Seiner vornehmen Herkunft zum Trotz war er ein empfindsamer Mensch. Er war es schon in seiner Kindheit gewesen. Das Schicksal der Armen hatte ihn stets berührt: ihr Kampf um das tägliche Brot, ihre Angst vor Missernten, nach denen ein Hungerwinter drohte, der die Kinder und Alten dahinraffe; ihre Angst vor den immer wiederkehrenden Krankheiten und Seuchen, denen sie, weiss Gott warum, mehr ausgeliefert waren als die Reichen; das Los ihrer zweit- und drittgeborenen Söhne, die sich als Söldner verkaufen mussten und, wenn sie dabei nicht ums Leben kamen, beschädigt an Leib und Seele von den Schlachtfeldern zurückkehrten. Vor allem aber berührte ihn das Schicksal ihrer Frauen, die von ihren Männern geschlagen wurden, Jahr für Jahr ein Kind auf die Welt brachten, vorzeitig alterten und starben. Und noch schlimmer erschien ihm das Schicksal jener Töchter, die, noch halbe Kinder, in fremden Häusern als Mägde vom Sonnenaufgang bis spät in die Nacht harte Arbeit verrichteten, an denen die Söhne der Herrschaft ihre böse Lust befriedigten und denen ein Leben in Schande, Not und Elend bevorstand, wenn sie schwanger wurden. So wie diesem armen Menschenkind, das vor ihm kniete und von ihm erwartete, von seinen Sünden freigesprochen zu werden. Von welchen Sünden? Dann fiel es ihm wieder ein: «Bereust du, dass du die Muttergottes gebeten hast, die Frucht deines Leibes zu verderben?», fragte er.
Jakobea dachte lange nach: «Die Frucht meines Leibes hat drei schreckliche Väter, die es in Sünde gezeugt haben», sagte sie endlich. «Ich trage ein Unwesen im Bauch, und es wäre wohl besser, es würde nicht geboren.»
«Wir wissen nicht, was Gottes Plan für das Kind ist», antwortete der Priester. «Vielleicht ist es dazu bestimmt, in dieser Welt Gutes zu tun. Wer bist du, dass du glaubst, darüber entscheiden zu dürfen, ob es leben soll oder nicht?»
Jakobea senkte den Kopf. «Ihr wisst, was mit mir geschieht, wenn ich das Kind zur Welt bringe, ohne sagen zu können, wer sein Vater ist?»
Er wusste es. Weshalb fiel ihm jetzt, ausgerechnet jetzt, die schöne Margreth Imwinkelried aus Münster ein? Zu Beginn des vorigen Jahrhunderts hatte sie, damals noch ein junges Ding, eine Pilgerreise zum heiligen Bernhard gemacht. Unterwegs hatte sie den zwanzigjährigen Domherrn Adrian von Riedmatten, den Sekretär des grossen Matthäus Schiner, kennengelernt. Bereits in der folgenden Nacht verlustierten sich die beiden irgendwo in den Rottenauen zwischen Visp und Niedergesteln. Als Margreth ins Goms zurückkehrte, trug sie ein Kind unter ihrem Herzen, das sie ihrem Verlobten, Johann Gon, unterschob. Erst auf dem Sterbebett gestand sie, dass nicht ihr Ehemann der Vater ihres Sohnes sei, sondern der inzwischen zum Fürstbischof von Sitten aufgestiegene von Riedmatten. Der hohe Herr, dem man Margreths Behauptung hinterbrachte, erinnerte sich mit leiser Wehmut an seine Jugendsünde und anerkannte Peter Gon. Darauf behauptete dieser, stets geahnt zu haben, von edler Abstammung zu sein, und nahm umgehend den Namen seines bischöflichen Erzeugers an. Er begründete damit das Geschlecht der von Riedmatten in Münster, das, obwohl aus einer liederlichen Beziehung entstanden, nun schon seit fünf Generationen von Gott mit Glück und Wohlstand gesegnet wurde. Warum sollte er, der Nachfahre des hohen Geistlichen, dessen Namen er trug, nicht auch in den Lauf des Schicksals eingreifen, damit sich für die unglückliche Jakobea Truffer alles zum Guten wenden würde? In seinem Kopf reiften die Umrisse eines Plans. Er lächelte. «Mit Gottes Hilfe werde ich dafür sorgen, dass dir die Erniedrigung und das Leid erspart bleiben, die unschuldige Mütter erwarten, denen Gewalt angetan wurde», sagte er.
Sie hob den Kopf, schaute ihn ungläubig aus grossen Augen an.
«Vertraust du mir nicht?»
Weshalb sollte er ihr helfen, er, ein geistlicher Herr, der sie nicht kannte? Sie schwieg.
Von Riedmatten verstand sie auch so. «Ich verspreche es dir, bei allem, was mir heilig ist.»
«Dann will ich glauben, dass es die Jungfrau war, die mich hierherführte, damit Ihr mir helfen könnt, und bereue meine Bitte an sie», flüsterte Jakobea.
Meinte sie es ernst? Empfand sie echte Reue? Der Priester war unsicher, aber er wollte nicht länger in sie dringen und sprach Jakobea von ihrer Sünde frei.
Als er das Bethaus verliess, folgte sie ihm. Er hatte, bei allem, was ihm heilig war, versprochen, ihr zu helfen, und sie war entschlossen, nicht von seiner Seite zu weichen, bis er seinen Eid erfüllen würde. Allerdings achtete sie darauf, einen gewissen Abstand von ihm zu halten. Immerhin war er ein Geistlicher.
Draussen blieb von Riedmatten zwischen den Grabkreuzen stehen. Das hier war ein besonderes Stück Erde. Als vor Jahrzehnten der Gottesacker bei der Kirche von Sankt Stephan zu klein geworden war und man die Schädel der Toten nach immer kürzerer Zeit im Beinhaus zu ihrer letzten Ruhe umbetten musste, suchte man nach einem neuen Ort für die lieben Verstorbenen. Eines Tages, als man auf dem Ringacker etwas unterhalb des Städtchens den Weizen einbrachte, schwebte aus der Himmelsbläue, umgeben von einem Strahlenkranz, eine Hostie, die sich auf einer Garbe niederliess. Die Legende mochte wahr sein oder nicht. Jedenfalls legte man hier einen neuen Friedhof an. Das Gelübde, anstelle des unscheinbaren Bethauses eine Kapelle zu bauen, die der Muttergottes würdig war, hatten die Leute von Leuk immer noch nicht eingelöst.
Vom Ringacker aus hatte man einen weiten Blick über die breite Ebene des Rottens und den Pfynwald. Aus dessen dunklem Grün wuchsen im Süden schroffe Felswände in den Himmel, grauer Granit, durchfurcht von den Runsen, die durch Murgänge und Wildbäche entstanden waren. Aus Granit bestand auch die Arena aus der himmelstürmenden, gezackten Mauer des um diese Jahreszeit mit Schnee bedeckten Gebirges im Norden, die nur über die Gemmi passierbar war. Irgendwo dort oben entsprang die wilde Dala, die durch eine enge Schlucht an Leuk vorbei Richtung Rotten floss.
Eine knappe Viertelstunde hangaufwärts über dem Ringacker beherrschten zwei düstere Gebäude, auch sie aus Granit, das Landschaftsbild. Im fahlen Licht dieses wolkenverhangenen Dezembertages waren sie für von Riedmatten Sinnbild der Gnadenlosigkeit jener Menschen, die sich um die Herrschaft im Land stritten.
Da war rechter Hand ein wuchtiger Turm mit einem Treppengiebel und vier zierlichen Fialen an jeder Ecke. Hier hatten früher die Vitztume im Namen der Fürstbischöfe von Sitten regiert, bis das Gemäuer von den Leukern zerstört und vor knapp hundert Jahren im Auftrag der Burgerschaft vom berühmten Baumeister Ulrich Ruffiner als Rathaus wiederaufgebaut worden war.
Links davon stand das Schloss mit seinem mächtigen, von einer Zinne gekrönten Bergfried. Es diente nicht nur als Sommerresidenz der geistlichen Herren von Sitten, es verfügte auch über Kerkerzellen und eine Folterkammer. Dort wurden Menschen, die eines Verbrechens angeschuldigt waren, so lange mit Peitschen geschlagen, mit glühenden Eisen gebrannt, an den Handgelenken aufgehängt und mit Gewichten an den Füssen beschwert, bis sie am Leben verzagten und die unsinnigsten Geständnisse ablegten. Einer dieser Unglücklichen war Ritter Anton Stockalper. Adrian von Riedmatten sollte heute Augenzeuge sein, wie der Scharfrichter das Urteil vollstrecken würde, das seine Feinde über ihn gefällt hatten.
Anna, die Witwe von Peter Stockalper, deren Beichtiger er war, hatte ihn im Namen der Sippe gedrängt, dem Verurteilten die Beichte abzunehmen und den Todgeweihten auf seinem letzten Gang zu begleiten. Sie hatte dem Kaplan ein entsprechendes Bittschreiben mit auf den Weg gegeben und ihm eingeschärft, ihr, wenn alles vorbei sei, zu berichten, ob der Vetter ihres Mannes auf dem Schafott jene Haltung gewahrt habe, die eines Stockalpers würdig sei.
Gestern, am späten Nachmittag, war von Riedmatten in der Schreibstube von Heinrich Loretan gestanden, dem Vorsteher der Grosspfarrei Leuk, zu der mehr als ein Dutzend Dörfer gehörten. Es war ein düsterer Raum, dessen Lärchentäfer im Laufe der Zeit dunkel geworden war. Im mittleren der eng nebeneinander angebrachten Fenster war eine in Blei gefasste Wappenscheibe: ein goldener Greif mit Schwert auf rotem Grund. Darunter stand der Wahlspruch des Städtchens: Leuca fortis – wehrhaftes Leuk.
Loretan sass an einem grossen Tisch und schrieb. Der Schein von drei Kerzen, die in einem silbernen Ständer brannten, beleuchtete sein Gesicht. Endlich hob er den Kopf und musterte den Besucher ungnädig. Auf diesen wirkte Loretan wie ein grämlicher älterer Herr. Durch das spärliche, graue Haar schimmerte rosa die Kopfhaut. Zu beiden Seiten des verkniffenen Munds hatten sich im Laufe eines langen Lebens zwei tiefe Falten eingegraben, die von Bitterkeit zeugten. Zweifellos hatten es die Kapläne und Altaristen, die ihm unterstellt waren, nicht einfach mit ihrem Vorgesetzten.
Ohne von Riedmatten aufzufordern, sich zu setzen, fragte der hochwürdige Herr unwirsch, was er von ihm wolle. Der Kaplan überreichte ihm den Brief der Stockalperin. Heinrich Loretan las ihn mit hochgezogenen Brauen. Schliesslich liess er das Blatt sinken und erklärte, um das Sündenregister dieses Mörders, Verräters und Brandstifters anzuhören und ihm, falls dieser bereue, was er allerdings bezweifle, die Absolution zu erteilen, bedürfe er keines blutjungen Priesters aus dem Zenden Brig. Das sei allein seine Sache.
Mit vor der Brust verschränkten Armen stand von Riedmatten gelassen da und hörte höflich zu. Ihm war klar, dass Loretan den Verurteilten verabscheute und dass der von ihm gewiss keinen tröstenden Zuspruch erwarten durfte. Er stellte sich vor, wie Anton Stockalper, in Ketten an die Kerkerwand geschmiedet, den Geistlichen von Leuk keines Wortes würdigte und eher auf die Sterbesakramente verzichtete, als Taten zu bereuen, die er nie begangen hatte.
Mörder, Verräter, Brandstifter! Keine dieser Anschuldigungen traf zu. Was Stockalper nach mehrmaliger Folter brüllend vor Schmerzen zugegeben haben mochte, war das Papier nicht wert, auf dem ein Schreiber das Geständnis festgehalten hatte. Der Mann aus Brig sollte auf dem Altar der Staatsräson geopfert werden – aus politischen und wirtschaftlichen Gründen.
Seit dreizehn Jahren war das Wallis eine Republik, in Wahrheit allerdings eher eine Interessengemeinschaft der sieben Zenden, ihrerseits kleine Republiken, die eifersüchtig über ihre Selbstständigkeit wachten und deren Schicksal von wenigen Familien bestimmt wurde, die miteinander versippt und verschwägert waren. Die beiden oberen Bezirke, Goms und Brig, die unter dem Einfluss Anton Stockalpers standen, hatten Interessen, die jenen von Visp, Raron, Leuk, Siders und Sitten entgegengesetzt waren. Anders als die fünf westlichen Zenden, die dem bischöflichen Landesherrn nur noch repräsentative Aufgaben zugestanden, wollten sie dessen weltliche Herrschaft wiederherstellen. Dazu kam, dass Brig nicht nur den Verkehr über den Simplonpass, die wichtigste Verbindung zwischen Lyon und dem von den spanischen Habsburgern beherrschten Mailand kontrollierte, sondern mit dem Nachbarn im Süden auch regen Handel betrieb. Das musste Michael Mageran, dem reichsten Mann im Wallis, missfallen. Der Grossunternehmer aus Leuk hatte es schon früh verstanden, seine Handelsgeschäfte mit seinem politischen Engagement zu verbinden: zunächst als Kastlan und Meier, später als Bannerherr seines Zendens. Er, der einstige Führer der Protestanten, hatte aus opportunistischen Gründen zum Katholizismus konvertiert, was ihm den Weg in die höchsten Ämter frei machte. Seit zwei Jahren war er als Landschreiber, zusammen mit dem Landeshauptmann Johannes von Roten aus Raron und dessen Statthalter, Teil jenes Triumvirats, welches de facto das Wallis regierte. Mageran war Frankreich verpflichtet. Von dort bezog er das Salz, das er mit Gewinn an die Gemeinden verkaufte. Von dort bezog er auch Pensionen für seine Söldnerkompanien, die für König Ludwig auf den europäischen Schlachtfeldern verbluteten. Er empfand Anton Stockalper aus Brig, der sein vom Staat verliehenes Salzmonopol missachtete und das begehrte weisse Gold zu günstigeren Bedingungen aus Italien bezog, als gefährlichen Konkurrenten, den es aus dem Weg zu räumen galt.
Fürstbischöfliche Herrschaft oder Zendenrepublik, Parteinahme für Frankreich oder für Spanien, unterschiedliche Handelsinteressen – die Gegensätze stellten das Wallis auf eine Zerreissprobe, die das Land an den Rand eines Bürgerkriegs brachte. Mit der Vernichtung Stockalpers, so die Rechnung Magerans, würde der Kampf entschieden sein. Endgültig.
Von Riedmatten kannte Anton Stockalper. Er war als Söldnerhauptmann in den Krieg gezogen, ein Haudegen, der sich auf dem Schlachtfeld wohler fühlte als auf dem diplomatischen Parkett. Weil er Fürstbischof Hildebrand Jost im Streit mit dem Landtag um die weltliche Macht unterstützte, hatte ihn der Papst zum Ritter vom Orden des goldenen Sporns gemacht. In den oberen Zenden war Stockalper beliebt. Die Männer aus Brig und dem Goms wären ihm zweifellos gefolgt, hätte er sie zur Rebellion gegen die Heerlini, wie er die Herren aus den unteren Zenden verächtlich nannte, aufgerufen. Gewohnt an den Umgang mit Soldaten, konnte er aufbrausend und aggressiv sein, manchmal auch ungerecht – ein Verbrecher war er nicht.
Ob er ihm sagen könne, fragte von Riedmatten Pfarrer Loretan sanft, wen Anton Stockalper ermordet, wen er verraten und wo er Feuer gelegt habe, wie das in der Anklageschrift behauptet werde.
Der Erzschelm habe gestanden, sagte der Pfarrer grollend. Er selbst habe das Geständnis gelesen.
«Was hat er denn unter der Folter genau zugegeben?», erkundigte sich der Kaplan aus Glis, jetzt mit unüberhörbarer Ironie.
Heinrich Loretan beherrschte sich nur mühsam. Er empfand die Hartnäckigkeit des jungen Priesters als ungehörig. «Stockalper hat geplant, Leuk und Sitten niederzubrennen, den Landeshauptmann Johannes von Roten und den Landschreiber Michael Mageran umzubringen, der Zendenrepublik ein Ende zu setzen und die Herrschaft wieder in die Hände des Fürstbischofs zu legen!», sagte er lauter als notwendig.
«Aber nichts von alledem hat er getan», stellte Adrian von Riedmatten gelassen fest. Noch immer stand er mit verschränkten Armen da.
Der hochwürdige Herr geriet in Rage. Sein Gesicht rötete sich. Er mochte bedauern, dass dieser Grünschnabel nicht zur Schar seiner Kapläne gehörte, die er kujonieren konnte. «Das Gericht hat Stockalper zum Tod verurteilt, und das Todesurteil droht auch jedem, der es wagt, die Gerechtigkeit des Urteilsspruchs anzuzweifeln, merkt Euch das!», schrie er und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch.
Der junge Kaplan stand mit unbewegtem Gesicht da. Ein Justizmord, angeordnet von den Feinden des Angeklagten, dachte er. Kein Wunder, dass die Richter verfügt hatten, jeder, der an ihrer Jurisdiktion zweifle, sei hinzurichten. Pfarrer Loretan, davon war von Riedmatten überzeugt, hoffte wohl, der Verurteilte gebe einen Vorwand, ihm die Absolution zu verweigern, so dass er nach seiner Hinrichtung in die Hölle fahren musste, wo er hingehörte.
Adrian von Riedmatten fröstelte. «Ich will Euch nicht länger bei Eurer Arbeit stören», sagte er, verbeugte sich knapp und verliess grusslos den Raum.
Jetzt, einen Tag später, stand er zwischen den Gräbern auf dem Ringacker. Er wandte sich um und schaute Jakobea an, die geduldig gewartet hatte, während er über das gestrige Gespräch nachdachte. Sie hatte sich einen wollenen Schal um Kopf und Schultern gelegt, der sie notdürftig gegen die Dezemberkälte schützte. Sie sieht aus wie eine traurige Krähe, dachte der Priester. Er empfand Mitleid mit der geschändeten jungen Frau. Von seinem Ahnherrn gab es einen Brief, der von der Familie aufbewahrt wurde. Darin schrieb Fürstbischof Adrian I. von Riedmatten, durch jedes Unrecht, das geschehe, geriete die Welt ein bisschen aus den Fugen und nur ein Werk der Barmherzigkeit vermöge ihr Gleichgewicht wiederherzustellen. Für ihn, den Nachfahren, war das zu einem Leitsatz geworden. Er schickte ein stummes Stossgebet zum Himmel: Hilf mir, dieses arme Menschenkind vor der Verfolgung durch Obrigkeit und Kirche zu schützen, und gib, dass ich damit dem unchristlichen Hass von Stockalpers Richtern und dem Verbrechen der drei Stadtwächter ein kleines Licht entgegenstellen kann.
«Weshalb bist du ausgerechnet an diesem Tag nach Leuk gekommen, Jakobea?», fragte er.
«Franziska wollte, dass ich zuschaue, wie der Henker dem Ritter Stockalper den Kopf abschlägt, damit ich ihr am Abend alles berichten kann», sagte sie.
«Franziska?»
«Die Grossmagd in der Sust.»
Seltsam, dachte von Riedmatten, wir werden beide stellvertretend für andere zu dieser Hinrichtung geschickt, diese junge Frau für Franziska, ich für Anna Stockalper. «Du wirst mich begleiten», sagte er und wandte sich zum Gehen.
Sie ging drei Schritte hinter ihm durch den Gottesacker und dann die Strasse hinauf ins Städtchen. Sie waren nicht allein. Aus der näheren und weiteren Umgebung kamen zahlreiche Schaulustige, um das blutige Spektakel, von dem man noch wochenlang reden würde, mitzuerleben. Die meisten waren zu Fuss unterwegs, einige ritten auf Maultieren und Pferden. Unter ihnen waren gutgekleidete Bürger, Bauern und arme Schlucker. Sie kamen allein, zu zweit oder in Gruppen. Alte, die am Stock gingen, liefen neben Kindern, denen man vor Augen führen wollte, dass es mit jemandem, der sich gegen die Obrigkeit erhob und damit gegen Gott versündigte, ein böses Ende nahm.
Der Kaplan bog in eine Seitengasse und betrat mit Jakobea durch den Hintereingang ein Haus. Sie wurden von einer älteren Magd empfangen, die sie in eine vornehme Stube im ersten Stockwerk führte. «Das Haus gehört meinem Onkel, dem Domherrn Baptist Im Ahorn», erklärte von Riedmatten, der bisher geschwiegen hatte. «Er wohnt da nur, wenn er in Leuk zu tun hat. Zur Zeit ist er in Sitten auf Valeria. Ich habe schon die letzte Nacht hier verbracht.» Er trat ans Fenster, öffnete es und bedeutete der jungen Frau, näher zu treten.
Unter ihnen, auf dem Platz vor Sankt Stephan, drängte sich, Kopf an Kopf, die Menge, durch die sich Krämer einen Weg bahnten und Getränke und Esswaren feilboten. Soldaten hielten eine schmale Gasse frei, die zum Blutgerüst führte. Als die Glocken vom Kirchturm die dritte Stunde anzeigten und anschliessend das Armesünderglöcklein metallisch und monoton zu läuten begann, um den Verurteilten auf seinem letzten Gang zu begleiten, wurde es ruhig. Ein Seitenportal des Gotteshauses öffnete sich, und die Richter, angeführt vom Landeshauptmann Johannes von Roten, traten ins Freie und nahmen auf den Armsesseln Platz, die man für sie am Rand der niedrigen Terrasse an der Nordseite der Kirche, direkt gegenüber dem Blutgerüst, hingestellt hatte. Von weitem hörte man Schreie und Schmährufe, die Anton Stockalper galten, der barfuss und im Büsserhemd, mit auf dem Rücken gefesselten Händen, neben Pfarrer Loretan zum Schafott schritt. Ihnen folgte ein Unteroffizier, der das Richtschwert trug, dahinter Meister Jörg, der Henker, flankiert von zwei Männern der Stadtwache, die ihm heute als Gehilfen dienten.
Die Beschimpfungen wurden lauter. «Mörder!», schrien die Gaffer, «Rebell! Judas!»
Anton Stockalper war wohl der meistgehasste Mensch in den unteren Zenden. Man versuchte, ihn über die Reihen der Soldaten hinweg anzuspucken, warf mit faulen Früchten nach ihm. Eine traf ihn am Kopf. Er reagierte nicht, ging weiter.
War das Ausdruck jener Haltung, die Anna Stockalper von einem aus dem Geschlecht ihres Mannes erwartete? Von Riedmatten versuchte, einen Blick auf das Gesicht des Todgeweihten zu erhaschen. Der Ritter war bleich. Man hatte ihm, um dem Scharfrichter die Arbeit zu erleichtern, das Haar im Nacken geschoren. Seine Augen waren aufs Gerüst gerichtet, das er in wenigen Augenblicken besteigen würde. Geschwächt von den barbarischen Foltern, mit denen man ihm sein Geständnis abgepresst hatte, hielt er sich nur mit Mühe aufrecht. Da war nichts mehr von Würde, da war nur noch ein gebrochener Mensch, eine Jammergestalt, die wohl hoffte, bald alles hinter sich zu haben.
Der Kaplan spürte, wie ihn Jakobea am Ärmel zupfte. «Was ist?», fragte er, ohne den Blick vom Verurteilten abzuwenden.
«Die drei Soldaten, die den Henker begleiten», sagte sie aufgeregt, «sind dieselben, die mich geschändet haben.»
«Bist du sicher?» Er wandte sich ihr zu. Sie war bleich, zitterte und presste eine Faust gegen ihren Mund, als müsse sie einen Schrei ersticken.
Der Priester legte einen Arm um ihre Schulter. «Sie können dir nichts mehr antun. Nie mehr.»
Jakobea begann zu weinen. «Die Teufel», stammelte sie, «die Teufel!»
Inzwischen war der Lärm auf dem Platz noch lauter geworden. Von Riedmatten betrachtete die geröteten, feindseligen Gesichter der Menschen, die Stockalper verwünschten, als ihn die beiden Henkersknechte die Treppe zur Bühne hinaufstiessen. Oben zwangen sie ihn auf die Knie, und zwar so, dass er seine Richter anschauen musste.
Einer der hohen Herren erhob sich von seinem Stuhl. Es war Michael Mageran, der Landschreiber. Gross und dunkel stand er da. Sein volles schwarzes Haar, die buschigen Brauen über den tiefliegenden Augen und der eckig geschnittene, schwarze Vollbart verliehen ihm ein finsteres Aussehen. Schwarz war auch seine elegante, spanische Tracht, von der sich die weisse Spitzenkrause abhob, der Mühlsteinkragen, wie man sie im Volk nannte. Über Schulter und Brust trug er eine vierfache, goldene Kette, an der eine Medaille hing, die ihm der französische König verliehen hatte. Er wartete, bis der Lärm verstummte. Dann entfaltete er ein Papier und verlas mit lauter Stimme das Urteil, welches das Gericht am 22. November gefällt hatte. Anton Stockalper sollte als Mörder enthauptet, als Landesverräter gevierteilt und schliesslich als Brandstifter dem Feuer übergeben werden.
Von Riedmatten, dessen rechter Arm noch immer auf der Schulter der zitternden Jakobea ruhte, schloss die Augen. Wie grenzenlos muss der Hass und das Rachebedürfnis der vom Verurteilten als Heerlini verspotteten Gerichtsherren sein, dachte er, dass es ihnen nicht genügt, ihm den Kopf abzuschlagen? Sogar an seiner Leiche mussten noch weitere Todesstrafen vollzogen werden.
Mageran setzte sich wieder. Anton Stockalper rührte sich nicht. Einer der Henkersgehilfen zerriss das Büsserhemd des Verurteilten, der jetzt mit entblösstem Hals und nackten Schultern auf dem Schafott kniete. Sein Kollege liess unterdessen den Blick über die Häuserfront rings um den Platz schweifen. Er entdeckte Jakobea neben dem Priester. Er machte den Sergeanten auf sie aufmerksam. Die beiden Männer grinsten. Der Unteroffizier machte eine obszöne Geste, die vom Publikum, das glaubte, sie gelte Stockalper, mit Gelächter quittiert wurde.
Die junge Frau flüchtete sich in die Dunkelheit des Raums. «Es ist nicht vorbei», flüsterte sie. «Sie werden mich mein Leben lang verfolgen.» Der Kaplan blieb allein am Fenster zurück.
Inzwischen hatte der Sergeant dem Scharfrichter das Richtschwert überreicht, eine Waffe, die nicht in einem ehrlichen Kampf verwendet werden durfte. Meister Jörg, ein grosser, muskulöser Mensch, nahm sie entgegen. Er fasste den Griff mit beiden Händen und legte, um Mass zu nehmen, die breite Klinge, in die die Umrisse der Muttergottes eingraviert waren, an den Hals des Verurteilten. Dann holte er mit einer Drehbewegung weit aus. Für einen Augenblick schien die Welt stillzustehen. Von Riedmatten nahm wahr, wie zwei Krähen mit schweren Flügelschlägen über den Platz flogen. Ein lauter Schrei aus Hunderten von Kehlen zerriss die Stille, als der Henker das Haupt Anton Stockalpers mit einem einzigen Hieb vom Leib trennte und das Blut wie eine Fontäne aus dem Rumpf schoss. Meister Jörg bückte sich, hob den Kopf am Schopf in die Höhe und präsentierte ihn mit breitem Grinsen der Menge. Er, dessen Stellung geächtet war, er, der ausserhalb des Städtchens wohnen, in der Kirche zuhinterst und im Wirtshaus an einem separaten Tisch in einem Winkel sitzen musste, genoss den Applaus der grölenden Menge, die ihn, ausser an diesem einen Tag, nur verachtete. Keiner von denen, die ihm jetzt zujubelten, würde ihm seine Tochter zur Frau geben, keiner wäre bereit, für eines seiner Kinder die Patenschaft zu übernehmen. Neben seinem Scharfrichteramt war er auch Abdecker und Hurenweibel. Sein Umgang beschränkte sich auf Angehörige unehrlicher Berufe und fahrendes Volk, auf Ausgestossene, wie er selbst einer war. Aber heute war sein grosser Tag. Er liess sich von einem seiner Gehilfen eine Axt reichen, mit der er, wie ihm das befohlen war, den Leichnam in vier Stücke teilte. Er würde sie für ein paar Tage an einem Kreuzweg hängen lassen und anschliessend, wie es das Urteil verlangte, auf einem Scheiterhaufen verbrennen.
Sein blutiges Handwerk war vollendet. Nachdem er die Überreste Stockalpers auf einen Karren geworfen hatte, dem eine Schindmähre vorgespannt war, erhoben sich die Richter von ihren Stühlen. Gemeinsam mit Hochwürden Loretan, der während der Hinrichtung auf dem Blutgerüst gestanden war und sich jetzt ihnen zugesellt hatte, schritten sie durch die Menge der Gaffer, die ihnen eine Gasse freihielt, zum Pfarrhaus. Dort würden sie bei einem üppigen Mal die vollständige Vernichtung ihres Feindes feiern.
Das Spektakel war zu Ende. Auch die Leute verliefen sich.
Adrian von Riedmatten wandte sich um. «Es ist alles vorbei», sagte er zu Jakobea. Sie, ein Bild des Jammers, hockte mit angezogenen Knien, die Hände vors Gesicht geschlagen, an die gegenüberliegende Wand gelehnt, auf dem Boden.
«Für den Ritter Stockalper mag es vorbei sein, aber nicht für mich», sagte sie dumpf. «Sie haben mir die Ehre genommen, und jetzt verhöhnen sie mich. Sie werden wiederkommen. Ich werde ihnen im Gasthof wieder Wein auf den Tisch stellen müssen, und sie werden mich wieder und wieder schänden.»
«Nichts von alldem wird geschehen», sagte der Priester. «Du schläfst heute Nacht in diesem Haus, und morgen bringe ich dich fort, weit weg von diesem unseligen Ort. Du wirst nicht mehr in die Sust zurückkehren.»
Sie hob den Kopf, schaute ihn aus vom Weinen verquollenen Augen an. «Wohin bringt Ihr mich?»
«Nach Münster. Meine Mutter braucht eine tüchtige Magd, die ihr im Haus zur Hand geht.»
«Eure Mutter?» Jakobea schüttelte den Kopf. «Wird sie denn eine wie mich nehmen, eine, die ein Kind von drei Henkersknechten im Leib trägt?»
«Sie wird es nicht erfahren», erklärte er. «Niemand wird es erfahren, auch nicht das Kind, das du auf die Welt bringen wirst. Wenn du schweigen kannst, sind wir zwei die Einzigen, die die Wahrheit kennen.» Der Kaplan atmete tief durch. Er hatte sich im Laufe des Tages alles überlegt. «Ich werde jedem, der es wissen will, sagen, dein Ehemann sei wenige Wochen nach der Heirat am Antoniusfeuer gestorben. Ein Amtsbruder aus den unteren Zenden, von dem ihr getraut worden seid, habe mich gebeten, mich um dich zu kümmern.»
«Ihr, ein geistlicher Herr, wollt für mich lügen?», fragte Jakobea ungläubig. «Ist das denn keine Sünde?»
«Ich bin sicher: Gott wird sie uns verzeihen. Er ist barmherzig und will nicht, dass du und dein Kind ein Leben als Gezeichnete führen müsst. Hilf jetzt der Magd, unser Nachtessen vorzubereiten. Ich gehe inzwischen hinüber in die Beinhauskapelle, um zu beten.»
Von Riedmatten verliess das Haus seines Onkels Im Ahorn und überquerte den Platz. An der Südwand von Sankt Stephan befand sich ein kleines Portal. Er ging die paar Stufen hinunter in die Krypta. Durch zwei schmale Fenster drang ein wenig Licht in den Raum. In dessen Zentrum stand ein Kreuz, an dem ein lebensgrosser, blutüberströmter Christus hing. Das mit einem Dornenkranz gekrönte, nach rechts geneigte Haupt und die geschlossenen Augen machten deutlich, dass er ebenso ausgelitten hatte wie die Hunderten von toten Leuker, deren übereinandergestapelte Schädel die rückwärtige und die linke Wand der Kapelle bedeckten.
Der Priester sank vor dem Gekreuzigten auf die Knie. Er schloss die Augen und liess die Bilder dieses Tages an sich vorbeiziehen. Er sah die gemeinen Gesichter der drei Soldaten der Stadtwache, die Jakobea Gewalt angetan und dem Henker geholfen hatten, Anton Stockalper zu foltern und hinzurichten. Er sah das kalte, verbitterte Gesicht von Pfarrer Loretan, sah das düstere Gesicht des reichen Michael Mageran, der sein Amt missbraucht und seinen Widersacher aufgrund falscher Anschuldigungen einem schmählichen Tod ausgeliefert hatte. Dem jungen Kaplan war, als spüre er, wie der Hass und die Niedertracht, die er in den vergangenen Stunden erlebt hatte, zu einem Dämon wurden, der ihn noch lang als Nachtmahr begleiten würde. In einem Gebet, für das er keine Worte brauchte, verharrte er vor dem Kreuz, bis er spürte, dass die Bilder zu verblassen begannen und es ihm leichter ums Herz wurde.
Er stand auf, zündete eine Kerze an und wandte sich nach rechts, wo auf zwei Seiten eines mächtigen, viereckigen Fundamentpfeilers je eine Totentanz-Darstellung gemalt war. Der Kaplan war schon gestern, nach dem Gespräch mit dem Pfarrer, hier gewesen. Er hatte lange das Bild betrachtet, auf dem der Papst, der eine Gruppe hoher Geistlicher anführt, vom Tod mit einem Pfeil, den er in der erhobenen Hand hält, bedroht wird. Um sein Gerippe flattert eine goldene Stoffbahn. Vier etwas kleinere Gesellen des Knochenmanns bedrängen das Gefolge des Heiligen Vaters. Einer von ihnen hält in der Hand eine Schriftrolle. Nach jedem Wort steht ein Punkt: o. bapst. cardinal. bischoff. prelaten. kaplân. Die. stund. Ist. Hie. üwe’. Leben. Müssen. Ir. lan., hatte der Priester halblaut gelesen.
Jetzt betrachtete er die Malerei auf der Westseite des Pfeilers. Hier überfallen der Tod und seine Helfer zwei Ritter und einen Bannerträger, die von Reisigen begleitet werden. Der grosse Gleichmacher, erneut mit einem goldenen Tuch um die knochige Hüfte, auf dem Kopf diesmal ein rotes Barett samt Federbusch, richtet den Pfeil auf seinem gespannten Bogen gegen den Anführer. Es ist ein Jüngling in gelbem Kleid, dessen Pferd vor dem unheimlichen Gesellen zurückscheut. Der Ritter streckt ihm vergeblich einen vollen Geldbeutel entgegen. Ich. Bin. Der. Thod. Mit. Gwallt. Ich. Nim. Kriegschlyd. Jung. Und. alt., steht auf einem Band über den Figuren.
Es hiess, für den Jüngling habe der adelige Johannes von Werra, der vor hundert Jahren Landeshauptmann gewesen war, Modell gestanden. Auch so ein reiches Heerli aus Leuk, das es wie Michael Mageran in die höchsten Ämter gebracht hat, dachte von Riedmatten. Der Spruch aus dem Beinhaus von Naters fiel ihm ein: Was ihr seid, das waren wir. Was wir sind, das werdet ihr. Das gilt nicht nur für Anton Stockalper, spann der Kaplan seinen Gedanken weiter. Das gilt auch für Pfarrer Loretan, die drei Unholde aus der Stadtwache, für Michael Mageran, für Jakobea und mich – für jedermann. Wir alle müssen in die Grube fahren, um dann, vor dem Jüngsten Gericht, für unsere Taten Rechenschaft abzulegen. Aber ist es ein Trost, auf die göttliche Gerechtigkeit zu warten? Es gibt doch auch ein Leben vor dem Tod.
Es war fast sechs Uhr, als er das Beinhaus verliess. Inzwischen hatte es zu schneien begonnen. Bereits lag eine hauchdünne weisse Decke über dem Platz. Während er zum Haus seines Onkels schritt, wusste von Riedmatten: Er würde alles tun, was in seinen Kräften stand, um der unglücklichen Jakobea ein Leben zu ermöglichen, das es wert war, gelebt zu werden.
Einige Zeitgenossen wollen in meinem beispiellosen Aufstieg einen Rachefeldzug gegen Michael Mageran und die mit ihm verbündeten Herrschaften aus den unteren Zenden sehen. Aber darum ging es mir nicht. Natürlich war ich erschüttert und zutiefst empört, als mir mein Bruder Johann im Dezember 1627 in einem Brief schilderte, wie unser Onkel, Ritter Anton Stockalper, von seinen Feinden hingerichtet worden war. Johann äusserte die Vermutung, dass ich jetzt, nachdem unsere Familie im eigentlichen und übertragenen Sinne ihres Hauptes beraubt sei, die Gelübde ablegen werde. Er täuschte sich. Zwar trifft es zu, dass ich in meiner Jugend mit dem Gedanken spielte, Jesuit zu werden. Aber bereits während meines Studiums wurde mir klar, dass Armut, Keuschheit und Gehorsam nicht zu mir passen. Nach dem schmählichen Tod meines Onkels durch Henkershand war ich entschlossen, der reichste Unternehmer und mächtigste Politiker im Wallis zu werden, um so die Ehre unserer Familie wiederherzustellen und unser Geschlecht unangreifbar zu machen.
So wandte ich mich, als ich 1629 ins väterliche Haus nach Brig zurückkehrte, dem Handel zu. Es gab nichts, was ich nicht kaufte und weiterverkaufte: Vieh, Fleisch, Käse, Wein, Häute, Felle, Leder und Tuch. Zehn Jahre nach meiner Rückkehr hatte ich ausser der Einfuhr von Salz, dem einträglichsten Monopol, das nach wie vor in den Händen Magerans war, sämtliche Monopole gepachtet, die das Land zu vergeben hatte. Nichts war mir zu gering, weder Lärchenschwämme noch Terpentinöl oder Schnecken. Dass man mich hinter meinem Rücken Schneggensammler nannte, kümmerte mich nicht. Für dreitausend gedeckelte Schnecken bezahlte ich siebzig Batzen und verkaufte sie mit gutem Gewinn nach Frankreich und Italien, wo sie als Speise sehr begehrt waren. Aber mich verlangte nach mehr.
Seit 1618 herrschte im Deutschen Reich ein blutiger Krieg, ausgelöst von böhmischen Protestanten, die nicht länger Untertanen der katholischen Habsburger sein wollten. Den Königen und Fürsten, die sich einmischten, ging es weniger um die Verteidigung des Glaubens, als um Macht, Einfluss und Gebietsansprüche. Marodierende Söldnertruppen verwüsteten ganze Landstriche und drangsalierten die Bevölkerung. Der Handel über die Bündnerpässe und den Sankt Gotthard brach ein. Ich erkannte, dass der Simplon, an dessen Fuss ich wohnte, als Verbindung zwischen Lyon und Mailand zunehmend an Bedeutung gewann. So reiste ich 1633 nach Burgund, Frankreich und Flandern. Dort suchte ich grosse Handelshäuser auf und bot an, ihre Waren sicher durch das Rhonetal über die Alpen nach Italien zu schaffen.
Im Jahr darauf erhielt ich den ehrenvollen Auftrag, die Reise von Marie-Marguerite de Bourbon-Soissons von Turin durch das Wallis über den Simplon zu organisieren. Sie war die Gattin von Thomas Franziskus von Savoyen, Prinz von Carignano. Mit grosser Prachtentfaltung zog die hohe Frau mit ihrem Gefolge in mehr als zwei Dutzend Kutschen durchs Rhonetal, bejubelt vom staunenden Volk, das sich am Wegrand drängte. In Brig hatte ich hundertfünfzig Reitpferde bereitstellen lassen. Ich begleitete die fürstliche Gesellschaft über den Pass bis Domodossola. Die Durchführung dieser Reise, die mir zahlreiche schlaflose Nächte bereitet hatte, brachte mir doppelten Gewinn. Zum einen wurde ich für meine Dienste mit zweihundert Silberkronen und einer goldenen Kette entschädigt, zum andern sprachen sich meine Fähigkeiten in Savoyen und der Lombardei sowie an den europäischen Fürstenhöfen herum. Der Transitverkehr über den Simplon nahm einen ungeahnten Aufschwung. Er wurde die Basis meines Reichtums und Ansehens, die mir den Zugang zu politischer Macht öffneten.
Ich war jetzt fünfundzwanzig Jahre alt. Es war Zeit, zu heiraten und Nachkommen zu zeugen. Ich träumte vom Glanz und Ruhm unseres Geschlechts, der weit über meinen Tod hinaus die Leistungen der Magerani und der mit ihnen verbündeten Familien aus Sitten, Siders, Leuk, Raron und Visp in den Schatten des Vergessens stellen würde.
Domodossola, im Juli 1684