Januarfluss - Ana Veloso - E-Book

Januarfluss E-Book

Ana Veloso

4,4
8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Eine Liebe gegen alle Widerstände

Brasilien, 1889. Die 15-jährige Isabel de Oliveira, Tochter eines verarmten Kaffeeplantagenbesitzers, soll mit dem mächtigen Dom Fernando verheiratet werden – der einfach nur abscheulich ist! Isabel flieht nach Rio de Janeiro, doch sie hat es sich einfacher vorgestellt, sich dort durchzuschlagen. Der 17-jährige Luiz erweist sich als Retter in der Not und gewährt ihr Unterschlupf. Allerdings verfolgt er seine eigenen Pläne, er kämpft gegen skrupellose Sklavenhändler – wie Dom Fernando. Hat die aufkeimende Liebe zwischen Isabel und Luiz unter diesen Umständen eine Chance?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 530

Bewertungen
4,4 (18 Bewertungen)
11
3
4
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



AnaVeloso

Januarfluss

cbj ist der Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House

1. Auflage 2013

© 2013 cbj Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Christina Neiske

Umschlagbild: Arcangel Images/Stephen Carroll; Shutterstock

Umschlaggestaltung: *zeichenpool, München

mi · Herstellung: kw

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-10931-8

www.cbj-verlag.de

Für Joyce, Winston,

Hannah und Phillip

Rio de Janeiro, 11. Februar 1888

Es ist vorbei.

Mehr als eine Ahnung ist es im Grunde nicht. Aber ich bin mir trotzdem sicher, dass heute der Tag ist, an dem alles zu Ende ist.

Ich zittere, obwohl es mindestens 30Grad warm sein muss. Das Klappern meiner Zähne ist bestimmt bis draußen zu hören.

Von fern dringen die fröhlichen Geräusche des Umzugs in mein Versteck. Bald wird die tanzende Menge auch an meiner Tür vorbeiziehen. Wie schön wäre es, einfach mitzufeiern! Stattdessen hocke ich hier, am Karnevalssamstag, und fürchte mich fast zu Tode.

Die Kammer, in der ich mich vor meinen Verfolgern verberge, ist dunkel, stickig und feucht. Sie befindet sich im Keller von Dona Martas Schankwirtschaft, und da hier unten die Vorräte gelagert werden, muss ich mir den engen Raum mit Schnapsfässern und getrockneten Würsten teilen, die von der Decke baumeln. Und mit allen möglichen Tieren. Es raschelt und knistert überall, und ich habe andauernd das Gefühl, dass irgendetwas auf mir herumkrabbelt. Es ist widerlich.

Ein Fensterchen führt zu der Gasse, die hinter dem Haus entlangläuft. Allerdings kann man dadurch nicht genau erkennen, was sich oben tut, denn vor dem Fenster befindet sich eine Art Luftschacht, auf dem ein Gitter liegt. Ich kann nur die Füße der Leute sehen, die über dieses Gitter gehen. Meist sind es Männerfüße in ausgetretenen Sandalen, die rissigen Füße von Arbeitern und einfachen Leuten, die bei der alten Wirtin Dona Marta ihre pinga trinken.

Pinga nennen die Menschen hier im Viertel den billigen Zuckerrohrschnaps. Das habe ich im Laufe der vergangenen Wochen gelernt, wie so viele andere Dinge. Viel wichtigere Dinge. Aber was nützt mir mein neu erworbenes Wissen jetzt noch? Er wird mich ja doch kriegen. Der Schuft, wie wir den Widerling nur noch nennen, ist zu allem entschlossen. Er hatte Zeit genug, um sich eine glaubhafte Geschichte auszudenken, Beweise zu fälschen und mich als die Schuldige dastehen zu lassen. Er wird alle davon überzeugen, dass ich ein verwirrtes Mädchen bin, ein dummes Ding, das einfach nicht weiß, was gut für es ist. Das der Führung bedarf– seiner Führung.

Ein kühler Schauer läuft mir über den Rücken. Schon beim Gedanken an diesen Mann bekomme ich eine Gänsehaut. Ein Leben an seiner Seite wäre der reinste Albtraum. Er würde mich in einen goldenen Käfig sperren, in ein Gefängnis aus Luxus und Lügen, aus Geld und Gefühlskälte. Und diese Vorstellung ist noch optimistisch. Im schlimmsten Fall wird er mich umbringen.

Die einzige Hoffnung, die ich jetzt noch habe, ist Alice. Ob sie meinen Hinweis erhalten hat? Hat sie ihn richtig gedeutet? Und wird es ihr gelingen, die Polizei von der Schuld des Schufts zu überzeugen? Ich bete, dass ihr nichts zustößt. Ich habe sie in Gefahr gebracht, so wie ich alle in Gefahr gebracht habe, die mir geholfen haben. Vielleicht liegt ein unheimlicher Fluch auf mir. Aber nein, rede ich mir gut zu. Nichts dergleichen ist der Fall. Es ist nur die lange, ermüdende Flucht, die an meinen Nerven zerrt. Ich darf unter keinen Umständen zulassen, dass das letzte Gut, das ich noch besitze, mir abhandenkommt: meine geistige und körperliche Gesundheit. Wenn ich hier durchdrehe, ist niemandem damit gedient, am allerwenigsten Lu.

Ich höre Schritte auf der Treppe. Das wird José sein, Dona Martas Gehilfe. Sie schickt ihn regelmäßig in den Keller, um ihr irgendetwas heraufzubringen. Er ist ein lustiger Geselle. Ich freue mich, ihn zu sehen, und sei es auch nur für ein paar Minuten. José gelingt es immer, mich aufzumuntern.

Er klopft dreimal kurz und nach einer Pause noch zweimal schnell hintereinander an die Tür: tok-tok-tok– tok-tok. Das ist unser vereinbartes Zeichen. Wenn ich weiß, dass er es ist, muss ich mich nicht in dem Vorratsschrank verstecken, der meine letzte Zuflucht ist.

»Oi, Isabel«, begrüßt er mich, »tudo bem?«

Hallo, Isabel. Alles klar?

Ich nicke und lächele ihm zu. Allein seine Redeweise beruhigt mich und lässt mich für eine Sekunde vergessen, wo ich mich befinde. Bei uns zu Hause hätte die gleiche Frage ganz anders geklungen. Zum Beispiel so: »Einen wunderschönen Abend, Senhorita Isabel. Darf ich mich nach Ihrem werten Wohlbefinden erkundigen?«

Wir wechseln ein paar freundliche, belanglose Worte, bevor José mit einer Kiste Limonen verschwindet. Als die Tür hinter ihm zufällt, empfinde ich meine Einsamkeit als noch bedrückender.

Die Musik des Karnevalsumzugs wird lauter. Er muss bereits ganz in der Nähe sein, vielleicht schon an der nächsten Straßenecke. Obwohl ich weiß, dass die Menge nicht durch diese Gasse laufen wird, gehe ich ans Fenster und blicke nach oben.

Was ich sehe, lässt mir das Blut in den Adern gefrieren.

Ein Paar Lackschuhe. Schwarze vornehme, auf Hochglanz polierte Herrenlackschuhe.

Das kann nur eines bedeuten: Jetzt hat er mich.

1

29 Tage vorher–

Águas Calmas, Brasilien

13. Januar 1888

Als ich aufwache, weiß ich im ersten Moment nicht, wo ich mich befinde. Aber eines weiß ich mit Gewissheit: Heute ist ein ganz besonderer Tag. Es fühlt sich so ähnlich an wie vor Weihnachten, wenn die erste Empfindung, die man beim Erwachen hat, prickelnde Vorfreude ist.

Ich blinzle, denn ein Sonnenstrahl fällt durch einen Spalt zwischen den Gardinen direkt auf meine Augen. Als ich mich endlich an die Helligkeit gewöhnt habe, lasse ich meinen Blick umherschweifen. Die hellblauen Vorhänge, die blau-weiß gestreiften Tapeten, der kleine Holztisch mit der Waschschüssel und dem angeschlagenen Krug aus Porzellan– ja, das ist zweifellos mein Zimmer. Und ebenso plötzlich, wie meine Orientierungslosigkeit verschwunden ist, weiß ich auch, welcher Tag heute ist: mein 15.Geburtstag.

Da er auf einen Freitag fällt, muss ich nicht lange auf die große Feier warten: Schon morgen wird meine festa de quinze anos stattfinden, der wichtigste Tag im Leben eines jungen Mädchens. Dieses Fest zum 15.Geburtstag ist in Brasilien eine große Sache. Meine Freundin Alice, deren verstorbene Mutter Französin war, macht sich immer darüber lustig. In Europa, so behauptet sie, gebe es sogenannte Debütantinnenbälle, um die jungen Mädchen in die Gesellschaft und bei Hof einzuführen, und daran erkenne man mal wieder, wie rückständig Brasilien doch sei, wenn die Mädchen hier ganz private Feiern veranstalten müssten, bei den Eltern zu Hause, igitt.

Ich glaube, dass Alice in Wahrheit nur neidisch ist. Sie wird erst im September fünfzehn und wahrscheinlich gönnt sie mir mein großes Fest nicht. Dabei redet sie seit Wochen von nichts anderem. Sie ist nämlich sehr verliebt in meinen Cousin, und der ist natürlich, genau wie Alice, zu meiner festa eingeladen. Sie kann es kaum erwarten, sich ihm an den Hals zu werfen, obwohl er ein ziemliches Scheusal ist.

Alice und ich reden in letzter Zeit häufig über Jungen und über die Liebe, obwohl meine Erfahrungen auf diesem Gebiet– leider– sehr begrenzt sind. Ich wünschte, ich könnte mit mehr Kenntnisreichtum aufwarten, und am liebsten wäre mir, ich hätte diese Kenntnisse mit Gustavo erworben. Ah, Gustavo… Allein beim Gedanken an ihn werden meine Knie weich. Aber ich habe in meinem ganzen Leben erst einen Kuss bekommen und der war vom Nachbarssohn. Dieser berühmte Kuss fand im vorletzten Jahr statt, als ich dreizehn war und er sechzehn. Es war, offen gestanden, kein Erlebnis, das ich allzu bald noch einmal haben möchte, jedenfalls nicht in dieser Form. Ich bin sicher, dass Gustavos Küsse ganz anders sein werden.

Alice weiß nichts von meiner heimlichen Liebe. Ich verstehe selbst nicht, warum ich sie nie eingeweiht habe, denn umgekehrt schildert sie mir jedes Detail ihrer amourösen Begegnungen. Vielleicht habe ich insgeheim Angst davor, dass sie sich über mich lustig macht oder, schlimmer noch, dass sie sich Gustavo an den Hals wirft. Sie ist diese Art Mädchen, sie kann nicht anders, als mit allen Männern zu flirten.

Dennoch macht es Spaß, sich mit Alice über solche Dinge zu unterhalten. Damit ich in diesen Gesprächen erwachsener wirke als ich bin und um vor Alice ein bisschen anzugeben, habe ich mir einen älteren Verehrer ausgedacht. Das heißt, es gibt diesen Mann natürlich, aber ich kenne ihn gar nicht näher. Er heißt Dom Fernando, ist bestimmt schon dreißig Jahre alt und ein Geschäftsfreund meines Vaters. Spontan war mir kein Kandidat eingefallen, der zum Prahlen besser geeignet gewesen wäre, denn dieser Mann sieht immerhin sehr gut aus und ist schwerreich. Er wird morgen Abend zu meinem Fest kommen, und mir ist jetzt schon flau bei der Vorstellung, wie ich dann vor Alice so tun muss, als sei er mein Traumprinz.

Das ist er nämlich nicht. Die wenigen Male, die er bei uns zu Hause war, hat er mir penetrant aufs Dekolleté gestarrt. Außerdem hat er beim Händeschütteln unauffällig seinen Daumen über mein Handgelenk bewegt, wie ein leichtes Streicheln. Es war eine so intime, dabei aber so kleine und kurze Geste, dass ich mir nicht mal ganz sicher bin, ob es sich tatsächlich so zugetragen hat.

Habe ich mir das alles vielleicht nur eingebildet?

Wie dem auch sei. Mein dummes Gerede hat mich nun in die unangenehme Lage gebracht, dass ich einerseits vor Alice so tun muss, als sehnte ich mich nach den Aufmerksamkeiten von Dom Fernando, und mir andererseits diesen alten Lüstling vom Hals halten muss. Zugleich möchte ich natürlich die Nähe von Gustavo suchen, ohne dabei Alices Interesse für ihn zu wecken. Ist das nicht vertrackt?

Dennoch freue ich mich wie verrückt auf die Feier. Es ist das erste Mal, dass ich in der Öffentlichkeit höhere Absätze, ein eng geschnürtes Korsett sowie ein Kleid mit großzügigem Ausschnitt tragen darf. Mit der festa de quinze anos wird die Verwandlung des Mädchens zur Frau gewürdigt, sodass meine Garderobe morgen Abend erstmals die einer erwachsenen Frau sein wird. Meine Mutter wird mir ihr Smaragdcollier sowie die passenden Ohrringe leihen und sogar ein wenig Lippenrot, Puder und Rouge werde ich auftragen dürfen.

Das alles habe ich selbstverständlich schon heimlich getan, und es ist wirklich erstaunlich, um wie vieles älter man in dieser Aufmachung wirkt. Ich kann meinen großen Auftritt vor den Gästen kaum erwarten. Die werden Augen machen! Ich kann mir genau die bewundernden Blicke der Männer vorstellen und die erstaunten Kommentare der Frauen: »Sieh nur, die kleine Isabel de Oliveira, wie sie sich entwickelt hat!« Und Gustavo erst– er wird mich anschmachten und plötzlich erkennen, dass er mir rettungslos verfallen ist.

Am schönsten wird natürlich der Anblick von Alice sein, wie ihr die Kinnlade herunterklappt. Sie hält sich für so viel reifer, hübscher und klüger, aber wenn sie mich erst in meinem Abendkleid aus Seide sieht, wird sie ihre Meinung wohl ändern müssen. Ich sehe in dem Kleid aus wie eine Märchenprinzessin. Es hat dieselbe hellgrüne Farbe wie meine Augen und zusammen mit den grünen Edelsteinen meiner Mutter ist der Effekt wirklich grandios.

Ein hartes Klopfen an meiner Tür unterbricht mich in meinen herrlichen Tagträumen. Ich mache mir nicht die Mühe, »herein« zu sagen, denn kaum eine Sekunde später kommt, genau wie ich es erwartet habe, unser Hausmädchen Maria hereingepoltert. Ich schließe die Augen, aber sie weiß genau, dass ich nicht mehr schlafe.

»Aufstehen, Senhorita Isabel!«, ruft sie so laut, dass man es bis in die senzala, die Sklavenunterkunft, hören kann. »Sie machen mir nichts vor, junges Fräulein. Ich weiß, dass Sie hellwach sind.«

»Ist gut, Maria, ich steh schon auf«, murmele ich in gespielter Schlaftrunkenheit und gähne ein wenig übertrieben.

»Hier steht schon Ihr café com leite, Ihr Milchkaffee.«

»Mit drei Löffeln…«

»…Zucker, wie immer.« Dann werden ihre Gesichtszüge plötzlich weicher und ihre Stimme nimmt einen zärtlichen Klang an: »Feliz aniversário, Kindchen.« Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.

»Danke, Maria.«

Sie legt mir ein kleines Päckchen auf die Bettdecke. Dann wird ihr Ausdruck wieder strenger, so als schäme sie sich ihrer tiefen Gefühle für mich.

Genau wie Maria immer schon weiß, was ich sagen will, weiß ich, was sie tun wird. Und tatsächlich: Sie schreitet energisch zum Fenster, zieht die Vorhänge zurück und schiebt die Fenster hoch. Dann klappt sie die Holzläden nach außen, die ohnehin nicht richtig geschlossen waren, denn sonst hätte sich der Sonnenstrahl ja nicht in mein Gesicht verirren können. Schließlich stellt sie sich vor meinem Bett auf und droht mir damit, mir die Decke wegzureißen. Sie hat ihre Hände dabei auf die breiten Hüften gestemmt und sieht mich mit einem Blick an, von dem sie glaubt, dass er furchterregend wirkt.

»Erst öffne ich das Geschenk«, sage ich und wickele es bereits hastig aus. Es ist ein Satz Knöpfe: sechs schlichte Holzknöpfe, die Maria mit Pinsel und Farbe in einzigartige Schmuckstücke verwandelt hat. Ich bin zutiefst gerührt und will ihr einen liebevollen Dank aussprechen, als ich ihr böses Gesicht sehe, das sie beibehält, weil ich noch immer nicht aufgestanden bin.

Mit Mühe verkneife ich mir ein Grinsen. Maria kann mich nicht täuschen. Sie liebt mich. Und ich liebe sie. Seit ich denken kann, ist sie mir Mutter, Kindermädchen, Schwester und Freundin in einer Person.

In Wahrheit ist Maria unsere Sklavin. Eine von vielen.

Eines Tages, wenn ich Gustavo heirate und von hier fortgehe, wird mein Vater sie mir als Mitgift mitgeben. Und wenn sie offiziell mein Eigentum ist, werde ich ihr die Freiheit schenken. Ich finde die Sklaverei schrecklich. Kann ein Mensch einem anderen »gehören«? Meiner Meinung nach ist das völlig absurd. Wir leben immerhin im späten 19.Jahrhundert, es sind moderne Zeiten. Es gibt elektrisches Licht und immer schnellere Eisenbahnen, neuerdings gibt es sogar einen sogenannten Fernsprechapparat, mit dem man über große Entfernungen hinweg mit anderen Menschen reden kann. Ist das nicht unglaublich? Und mitten in dieser Fortschrittlichkeit, die auch in Brasilien Einzug gehalten hat, leben Hunderttausende, wenn nicht Millionen von Sklaven, die für uns die niedersten Arbeiten verrichten müssen. Wie in der Antike.

Es scheint sich allerdings etwas zu ändern. Seit ein paar Jahren gibt es Gesetze, die zum Beispiel den Handel mit Sklaven stark einschränken. So ist es nicht mehr erlaubt, Schwarze in Afrika einfach einzufangen und auf Schiffen hierherzubringen, um sie dann an den Höchstbietenden zu verkaufen. Diese schrecklichen Auktionen, bei denen Menschen wie Vieh versteigert wurden, sind gottlob Vergangenheit.

»Maria, hol mir doch bitte noch ein Glas Wasser, ja?«, will ich die dicke Schwarze wieder losschicken, um noch ein paar Minuten liegen bleiben zu können. Eine schöne Sklaverei-Gegnerin bin ich.

Maria runzelt die Augenbrauen.

»Sinhazinha…«, grummelt sie düster. »Ich durchschaue Sie. Wenn Sie jetzt nicht sofort aufstehen, dann werde ich Ihrer Frau Mama Bescheid sagen müssen, Geburtstag hin oder her. Es ziemt sich wirklich nicht, den halben Tag so faul im Bett herumzuliegen.«

Ich muss ihr wohl glauben. Immer wenn sie mich mit »Sinhazinha« anspricht, was im Jargon der Sklaven so viel wie »junges Fräulein« bedeutet, ist Maria ernsthaft verärgert.

Ächzend rappele ich mich auf, werfe die dünne Decke von mir und schlüpfe in die Hausschuhe, die vor meinem Bett stehen. Ich lasse mir von Maria in meinen Morgenmantel helfen und trinke einen Schluck Kaffee. Er ist heiß, süß und sehr hell, wie ich es mag. Es ist mehr Milch darin als Kaffee. Maria kennt mich so in- und auswendig, dass sie ihn sogar zwischendurch immer mal wieder umgerührt hat, sodass sich keine Haut bilden konnte. Ich hasse nämlich Milchhaut.

»Beeilung, Senhorita«, sagt Maria. »Unten wartet schon die Schneiderin. Außerdem wollen Sie ja unbedingt mit João zum Bahnhof fahren, um Ihre Internatsfreundin persönlich in Empfang zu nehmen. Er fährt gegen Mittag los, Sie sollten sich also sputen.«

João ist unser Kutscher. Auch er ist ein Sklave, aber es fühlt sich für mich eher so an, als sei er ein lieber alter Onkel oder etwas in der Art. Er gehört, wie auch Maria, zur Familie. Ich nutze jede Gelegenheit, um ihn auf seinen Fahrten zu begleiten, denn so furchtbar viele Vergnügungen gibt es auf dem Lande nicht, schon gar nicht für junge Mädchen wie mich. Mädchen aus gutem Hause. Wir dürfen praktisch keinen Schritt allein machen, immerzu werden wir bewacht. Dass es dem Nachbarsjungen und mir vor zwei Jahren gelungen ist, uns davonzuschleichen und uns zu küssen, grenzte an ein Wunder. Allerdings dauerte es damals keine fünf Minuten, bis Maria auftauchte und mich mit sich zerrte. Die Tugend eines Mädchens sei ihr wertvollstes Gut, schärfte sie mir damals ein. Wenn der gute Ruf einmal ruiniert sei, könne man sich eine vorteilhafte Ehe aus dem Kopf schlagen.

Als ob ich auch nur das geringste Interesse an einer »vorteilhaften Ehe« gehabt hätte. Bis heute kann ich den Ehrgeiz mancher Mädchen nicht ganz nachvollziehen, sich einen reichen Ehemann zu angeln. Ich persönlich träume nicht von dem großen Geld, sondern von der großen Liebe. Genauer: von Gustavo.

Ich schlürfe noch einen Schluck von meinem Milchkaffee. Dann will ich die nicht ganz leere Tasse auf der Kommode abstellen, treffe aber die marmorne Ablagefläche nicht richtig. Die Tasse fällt scheppernd zu Boden und zerbricht. Auf dem cremefarbenen Flickenteppich vor der Kommode bildet sich ein hässlicher hellbrauner Fleck. Verflucht, denke ich.

»Ach, Mädchen«, seufzt Maria und macht sich daran, die Scherben aufzusammeln und den Fleck abzutupfen.

»Tut mir leid«, sage ich und verlasse eilig den Raum, bevor mich noch eine Anwandlung von Hilfsbereitschaft überkommt. Die Schneiderin wartet.

»Herzlichen Glückwunsch, Senhorita Isabel!«, ruft diese mit ihrer lächerlichen Piepsstimme, als ich in das Arbeitszimmer meines Vaters trete, das uns vorübergehend als Ankleidekammer dient. »Schön, dass Sie ausschlafen konnten. Wie traurig sähe dieses hinreißende Kleid an einer jungen Dame aus, die übermüdet ist, die Ringe unter den Augen hat und die immerzu gähnt.«

Sie hat ihre Kritik an meinem späten Erscheinen geschickt verpackt, das muss ich zugeben. So viel Raffinesse hätte ich der ältlichen Frau gar nicht zugetraut. Eine Entschuldigung wird sie von mir trotzdem nicht zu hören bekommen.

»Guten Morgen. Können wir gleich beginnen? Ich habe es eilig.« Damit setze ich die arme Schneiderin ins Unrecht, als sei sie es, die mich aufgehalten hat, wo es sich doch genau andersherum verhält. Ich habe festgestellt, dass dies eine sehr wirksame Methode ist, um lästiges Genörgel zu unterbinden. Ich habe es satt, dass sich alle Welt anmaßt, über meine Schlafgewohnheiten zu urteilen. Und nicht nur über die.

Ich darf nicht essen, was ich will. Ich darf nicht anziehen, was ich will. Ich darf eigentlich gar nichts von dem machen, worauf ich Lust habe. Immer und überall wird an mir herumgemäkelt: Du willst doch wohl nicht ohne Hut und Handschuhe ins Freie gehen, Isabel? Was liest du da wieder für einen Schundroman, Isabel? Wenn du weiter so viel Schokolade isst, wirst du kugelrund. Spiel uns doch noch ein heiteres Klavierstück vor, Isabel. Es ist wirklich nicht lustig, die Tochter eines Kaffeebarons zu sein.

Dabei ist es auf unserer Fazenda, so nennt man eine Plantage in Brasilien, nicht halb so schlimm wie im Internat. Es sind Sommerferien, sodass ich die mehr als zwei Monate von Weihnachten bis Karneval auf Águas Calmas verbringe. Zwar wäre ich lieber nach Europa gereist– diese Reise ist nämlich mein Geburtstagsgeschenk–, aber die Jahreszeit scheint nicht günstig dafür zu sein. Während wir hier unter der tropischen, schwülen Hitze leiden, stöhnt man in Europa über die lausige Kälte. Man kann sich nicht wirklich vorstellen, dass es auf der Nordhalbkugel Winter sein soll, während hier die Durchschnittstemperatur im Januar über 30Grad im Schatten beträgt. Ich beneide sie, diese Europäer. Ich habe noch nie in meinem Leben Schnee gesehen und ich stelle ihn mir sehr schön und vor allem sehr erfrischend vor.

Aber heute ist mein Geburtstag, daher verdränge ich alle unschönen Gedanken an meine aufgeschobene Reise lieber schnell. Ich drehe und wende mich vor der Schneiderin, lasse das Gezupfe über mich ergehen und verdrehe im Geiste die Augen über all ihre erschrockenen Ausrufe. Ganz gleich, wie oft sie »oh weh!« ruft– das Kleid sitzt perfekt, es müssen gar keine Änderungen mehr vorgenommen werden. Die Frau will nur noch ein bisschen mehr Geld an uns verdienen.

Ich betrachte mein Spiegelbild in der Fensterscheibe und bin entzückt. Übermütig drehe ich mich so schwungvoll im Kreis, dass der Saum hochfliegt… und eine kostbare Porzellanvase mit sich reißt. Meine Güte, was bin ich heute nur für ein Trampel!

Die Schneiderin jammert, während schon unsere jüngste Haussklavin herbeieilt, um die Trümmer zu beseitigen. Von meiner Mutter weit und breit keine Spur. Sie wird zornig sein, denn diese Vase bedeutet ihr viel. Aber was soll’s. »Scherben bringen Glück«, rufe ich aus und glaube in diesem Augenblick auch daran. Bald schon werde ich meinen großen Auftritt haben, ich kann es mir nicht leisten, meinen Optimismus zu verlieren.

Zunächst aber muss ich mit João zum Bahnhof fahren, um Alice abzuholen. Ich freue mich auf ihren Besuch. Es ist wunderbar, dass sie bereits so früh eintrifft, denn so können wir uns gemeinsam auf den Ball vorbereiten. Gibt es etwas Schöneres, als sich zusammen mit der besten Freundin anzukleiden, Frisuren auszuprobieren oder Schmuckstücke und Accessoires auszutauschen?

Ich ziehe ein schlichtes Sommerkleid an, lasse mir von Maria einen Zopf flechten, setze den Strohhut auf und schlüpfe in die Baumwollhandschuhe. Als ob mich all das nicht schon ausreichend vor der starken Januarsonne schützen würde, drückt mir Maria noch einen Sonnenschirm in die Hand.

João hilft mir in die Kutsche, ein elegantes offenes Gefährt, in dem vier Personen Platz haben, zusätzlich zu den beiden Plätzen vorn auf dem Kutschbock. Auf den Türen prangt das Wappen unserer Familie, gold auf schwarz.

Wir wollen gerade abfahren, als meine Mutter in der Tür erscheint. Ich sehe sie heute zum ersten Mal. Ich habe mich schon gewundert, warum sie bei dem Termin mit der Schneiderin nicht aufgetaucht ist. Normalerweise mischt sie sich in alles ein und kontrolliert mich auf Schritt und Tritt.

»Isabel, Liebes«, ruft sie, »wieso versteckst du dich vor mir? Lass dich kurz umarmen, Schatz.« Sie kommt zur Kutsche und küsst mich auf beide Wangen. »Herzlichen Glückwunsch!« Sofort danach wird ihr Ton wieder geschäftsmäßig. »Trödel bloß nicht herum. Sieh zu, dass du am frühen Nachmittag wieder hier bist, der Florist kommt.« Dann wendet sie sich an João: »Und du, alter Nichtsnutz, kutschier sie bloß nicht ziellos in der Gegend herum. Ihr fahrt zum Bahnhof und kommt dann schnurstracks zurück, ist das klar?«

»Ja, sehr wohl, Dona Rosália. Kein Getrödel«, antwortet er ergeben.

»Wir beeilen uns, mãe«, versichere ich ihr. Der Florist will Blüten aussuchen, mit denen morgen meine Frisur verziert wird, und die sollen genau zu der Blumendekoration des Hauses passen. Meine Anwesenheit ist dafür eigentlich nicht erforderlich, aber ich will jetzt keinen Streit mit meiner lieben mãe, meiner Mutter, anfangen. Ich winke ihr fröhlich zu, während ich João leise anzische: »Jetzt mach schon, schnell!«

Je mehr wir uns von Águas Calmas entfernen, desto mehr entspanne ich mich. Unsere Fazenda hat ihren Namen »Águas Calmas«– Ruhige Wasser– von drei Seen, die nicht weit entfernt vom Herrenhaus liegen. Man kann in ihnen baden und fischen. Am schönsten aber ist es, auf dem größten See zu rudern oder sich einfach im Boot treiben zu lassen. Man hört dann nur das Geräusch des an die Bootsplanken plätschernden Wassers, den Gesang der Vögel und das Summen der Insekten. Manchmal brauche ich genau diese Ruhe, denn zu Hause werde ich ja keine Sekunde in Frieden gelassen.

Jetzt aber lassen wir die Seen links liegen und rumpeln in gemächlichem Tempo über den Feldweg zum Bahnhof. Der Fahrtwind weht mir ums Gesicht, eine Strähne meines Haars hat sich aus dem Zopf gelöst und flattert mir vorwitzig ins Gesicht. Die Sonne scheint, doch fern am Horizont bemerke ich, dass sich bereits die dicken Wolken zu bilden beginnen, die von einem heraufziehenden abendlichen Unwetter künden. Um diese Jahreszeit ist das ganz normal. Diese Tropengewitter geben einem das Gefühl, die Welt ginge unter, aber meist ist nach einer halben Stunde wilden Donnerns und greller Blitze der Spuk vorbei. Anschließend dampft alles und am nächsten Morgen erstrahlt die Welt in einem satten, herrlichen Grün. Viel Sonne, viel Regen: eine Mischung, der wir unseren Reichtum verdanken, denn hier wächst neben Kaffeesträuchern praktisch alles wie von allein. Es ist eine wahre Pracht.

Weniger prachtvoll ist die tote Kuh, die plötzlich vor unserer Kutsche auf dem Feldweg auftaucht. Weil das verendete Tier hinter einer Kurve liegt, muss João eine Vollbremsung machen, sodass ich nach vorne fliege und mir beinahe die Zähne an der gegenüberliegenden Sitzbank ausschlage.

»Das arme Viech, es wurde bestimmt vom Blitz getroffen«, murmelt João leise.

»Ja, ja, das arme Viech«, brumme ich vor mich hin. »Und wer denkt an den armen Besitzer? Sieh mal nach dem Brandzeichen. Ich hoffe, es war keins von unseren Rindern.« Auch wenn mich selbst Mitleid beim Anblick des Tiers überkommt, darf ich mir das keineswegs anmerken lassen. Ich habe meine Rolle als Tochter des Plantagenbesitzers gelernt. Man darf vor den Sklaven keine Schwäche zeigen.

João nickt, steigt vom Kutschbock und geht um das Tier herum. Er wedelt dabei fortwährend mit den Händen, denn Hunderte vom Fliegen umschwirren die übel riechenden Überreste der Kuh. »Es ist keins von unseren Tieren«, stellt der Kutscher schließlich fest. Er verschränkt die Arme vor seinem Körper und versinkt traurig in der Betrachtung des toten Tiers, als müsse er überlegen, was zu tun sei. Nicht, dass er noch ein Gebet spricht.

Ich steige aus der Kutsche und weise João an, die Pferde vor den Kadaver zu spannen. Wir müssen das Ungetüm schnellstmöglich von dem Weg schaffen, wenn wir noch rechtzeitig am Bahnhof ankommen wollen. Zum Glück bin ich nicht zimperlich, sodass ich João bei der Aufgabe helfen kann, zumindest bei den nicht gar so unappetitlichen Handgriffen. Nun ja, ich halte eigentlich nur die Pferde. Nach etwa einer Viertelstunde ist es uns gelungen, das Rind an den Wegesrand zu befördern, und wir können unsere Fahrt fortsetzen.

Diesmal jedoch vermag ich nicht staunend und gut gelaunt die Umgebung in all ihrer Üppigkeit zu bewundern. Vielmehr schieben sich dunkle Wolken vor meine Wahrnehmung. Allmählich beschleicht mich nämlich das Gefühl, dass dieser Tag vielleicht doch nicht der glücklichste meines Lebens ist. Maria würde die »Zeichen« zu deuten wissen: den vergossenen Kaffee, die zerbrochene Vase, die tote Kuh. Im Gegensatz zu den Sklaven bin ich nicht abergläubisch, aber eine solche Häufung von Missgeschicken und Unglücken ist nicht normal.

Ach was, rede ich mir gut zu, das wird nur am Wetter liegen. Auch am Himmel haben sich in kürzester Zeit so viele schwarze Wolken aufgetürmt, dass sie die Sonne verdunkeln. Merkwürdig, so früh am Tag ist sonst eigentlich nicht mit Regen zu rechnen.

Wir erreichen den Bahnhof ohne weitere Vorkommnisse. Der Zug läuft pünktlich ein. Sein Signal schrillt in den Ohren, und die dicken Dampfschwaden aus dem Schornstein der Lokomotive trüben die Sicht, aber wie immer ist der Anblick erhebend. Die Eisenbahn ist das modernste und schnellste Transportmittel, ein Triumph moderner Ingenieurskunst über die Beschränkungen von Raum und Zeit. Wo man früher tagelang über unwegsames Gelände reiten musste, gleitet man nun innerhalb weniger Stunden auf Schienen zu seinem Ziel. Fantastisch.

Inmitten der Menschenmenge halte ich vergeblich Ausschau nach Alice, als ich auf einmal ihre Stimme direkt hinter mir höre. »Isabel, du blindes Huhn!« Ich drehe mich um, und wir fallen uns in die Arme, ich lachend, Alice schluchzend.

»Du musst nicht gleich Freudentränen vergießen, weißt du«, sage ich und tätschele ihr dabei den Rücken.

»Ich weiß. Aber du, du weißt gar nichts!«, heult sie. »Es ist eine Katastrophe! Eine Tragödie! Ein…«

So ist sie. Alice kann in einer Sekunde fröhlich sein und in der nächsten zu Tode betrübt. Ihre Stimmungsschwankungen sind manchmal schwer zu ertragen. Aber ich kenne Alice nun einmal nicht anders.

»Senhorita Alice!«, kommt es tadelnd von der Gouvernante, wie Alice ihre Erzieherin beziehungsweise Aufpasserin nennt. Allein hätte meine Freundin diese Fahrt nie antreten dürfen. »Sie übertreiben maßlos. Und außerdem schickt es sich nicht, sich in der Öffentlichkeit so gehen zu lassen.«

»Erzähl mir alles auf dem Heimweg. Und dann haben wir noch den ganzen Abend für uns– Zeit genug, dich bei mir auszuheulen.« Ich verstehe selbst nicht, woher ich diese vernünftigen Worte nehme.

Denn natürlich sterbe ich fast vor Neugier.

Auf der Rückfahrt erfahre ich nichts, weil wir uns unter den lauernden Blicken der Gouvernante befangen fühlen. Noch dazu hat jetzt Regen eingesetzt. Ich starre trübsinnig hinaus und hoffe, dass meine Pechsträhne nun bald ein Ende hat.

Alice hat mir nicht einmal zum Geburtstag gratuliert.

2

Es ist schon fast zwei Uhr morgens. Alice und ich haben seit unserer Ankunft auf Águas Calmas pausenlos geredet. Die einzige Unterbrechung unseres Gesprächs war das Abendessen mit meinen Eltern, wobei wir da natürlich auch geredet haben, nur eben über andere Dinge. Was Eltern so alles hören wollen, über die Schule und ähnlich uninteressante Sachen. Alice ist es gelungen, alle davon zu überzeugen, dass sie das bravste und fleißigste Mädchen aller Zeiten ist. Wenn die wüssten…

Gleich nach dem Essen sind wir wieder auf mein Zimmer gegangen. Um elf Uhr hat die Gouvernante ihren Schützling dann ins Bett geschickt, doch wenig später kam Alice aus ihrem Gästezimmer wieder in mein Zimmer geschlichen, wo wir weitergeredet haben. Bis jetzt.

Um es gleich vorwegzunehmen: Die große »Katastrophe« ist die, dass Alices Vater sich neu vermählen will. Er hat drei Jahre um seine erste Frau, Alices Mutter, getrauert und findet es nun an der Zeit, erneut zu heiraten. Ich denke eigentlich, dass er recht hat, aber andererseits kann ich auch Alice verstehen. Die Vorstellung, eine Stiefmutter zu bekommen, wäre mir ja ebenfalls unerträglich. Wir haben dieses Thema nun unzählige Male durchgekaut und von allen Seiten beleuchtet, aber immer wieder kommen wir zu demselben Ergebnis: Dass Senhor Fagundes eine zweite Ehe eingehen will, ist im Prinzip in Ordnung, aber dass es mit einer Frau passiert, die fast seine Tochter sein könnte, ist widerwärtig.

Ein anderes Thema beschäftigt uns allerdings noch viel mehr als die Eheabsichten von Alices Vater: unsere eigenen Liebesabenteuer. Auch die haben wir bereits hundertmal vor- und zurückgewälzt, aber weil es so spannend ist, kommen wir immer wieder auf dieselben Dinge zu sprechen.

»Ich kann es kaum erwarten, diesen Dom Fernando endlich kennenzulernen«, sagt Alice in schwärmerischem Ton. »Wie aufregend es sein muss, von einem so erfahrenen Mann hofiert zu werden.«

Ich nicke und setze ein verträumtes Gesicht auf, ohne sie auf die widersprüchlichen Maßstäbe hinzuweisen, die sie anlegt. Junge Frau und deutlich älterer Mann– bei mir ist diese Konstellation »aufregend«, bei ihrem Vater »pervers«.

»Wenn er dich küsst«, fügt sie mit wissendem Blick hinzu, »wird es ganz anders sein als bei diesem trotteligen Nachbarsjungen. Du wirst schon sehen. Es wird dir gefallen, geküsst zu werden.«

»Aber Alice«, wende ich ein, »ich weiß doch, wie es ist.«

»Ein richtiger Kuss«, fährt sie fort, als habe sie mich gar nicht gehört, »ist etwas so Wunderbares, etwas so Spektakuläres, dass es dein Leben auf den Kopf stellen wird. Wenn dieser Fernando dich so küsst, wie Pedro mich küsst, nämlich indem er dich fest an sich zieht und du dich an ihn klammerst wie eine Ertrinkende, dann… wirst du nie wieder loslassen wollen. Du wirst dir nichts sehnlicher wünschen als die Verschmelzung mit ihm, die Vereinigung eurer liebestrunkenen Körper.«

»Alice!«, rufe ich aus und schlage mir die Hand vor den Mund.

Sie sieht mich aufmüpfig an. »Was? Sei doch nicht so prüde.«

Ich schüttele stumm den Kopf. Über Flirts zu reden oder ein paar harmlose Küsse, das ist eine Sache, über den Liebesakt zu reden eine ganz andere. Mädchen aus gutem Hause haben sich mit derartigen Dingen nicht zu beschäftigen, jedenfalls nicht vor der Ehe. Mädchen wie wir, höhere Töchter, haben sogar die Vorstellung davon abschreckend und empörend zu finden. Dennoch empfinde ich die Wendung, die unser Gespräch nimmt, als überaus anregend. Ich stelle mir vor, wie ich in Gustavos Armen liege, doch immer wieder schiebt sich das Bild von einem gierig fummelnden Dom Fernando davor. Ich bin hin- und hergerissen zwischen Lust und Ekel. Ein wenig Neid auf Alices Erfahrungen ist natürlich auch dabei.

»Du wirst schon sehen: Faire l’amour ist nichts, wovor man Angst haben muss. Im Gegenteil, es ist das Schönste auf der Welt.«

So gut ist mein Französisch auch, dass ich »Liebe machen« verstehe. Aber es ist mal wieder typisch für Alice, dass sie ihre Rede mit solchen Ausdrücken spickt. Damit gibt sie sich den Anschein, Bescheid zu wissen über die verbotenen Dinge des Lebens.

»Aber… hast du es denn schon einmal… ich meine… mit Pedro oder mit wem?«, stammele ich verwirrt. So wie meine Freundin sich aufführt, könnte man glauben, sie sei eine Frau mit bewegter Vergangenheit.

»Aber chérie«, sagt sie und lächelt mich an. »Eine Dame schweigt und genießt.« Dann erhebt sie sich, gibt mir zwei Küsschen auf die Wangen und wünscht mir eine gute Nacht. »Bonne nuit, meine liebste Isabel. Träume süß.« Mit einem vielsagenden Zwinkern schleicht sie sich aus meinem Zimmer.

Ich liege noch lange wach und ärgere mich über mich selbst. Obwohl ich genau weiß, dass Alices Raffinesse nur gespielt ist, falle ich immer wieder darauf herein und fühle mich in ihrer Gegenwart wie das letzte plumpe Mauerblümchen.

Als ich geweckt werde, kommt es mir vor, als hätte ich nur eine halbe Stunde geschlafen. Dabei ist es schon nach zehn.Wie immer bringt Maria mir eine Tasse Milchkaffee, öffnet die Fensterläden und piesackt mich so lange, bis ich aufstehe. Obwohl heute der Tag der Feier ist und ich vor Vorfreude hellwach sein müsste, rappele ich mich nur mühsam auf.

Aus dem Erdgeschoss höre ich Getrampel und Gerumpel.

Maria interpretiert mein Stirnrunzeln ganz richtig und antwortet auf die ungestellte Frage: »Da unten ist mächtig was los. Der reinste Ballsaal entsteht da. Wenn nur die ungehobelten Kerle sorgsam mit Dona Rosálias Möbeln umgehen…«

»Mach dir keine Sorgen, Maria. Der eine oder andere Kratzer wird uns schon nicht in den Ruin treiben.«

Die füllige Schwarze schaut mich aus traurigen Augen an. Ich frage mich, was sie jetzt schon wieder für Bedenken vorbringen will, gebe ihr aber keine Gelegenheit, diese zu äußern. »Na komm schon, hilf mir in das gelbe Kleid. Ich will nachsehen, was die da unten treiben.«

Zwischen Salon, Speisesaal, Arbeitszimmer sowie diversen kleineren Räumen werden die Türen ausgehängt, sodass eine riesige Fläche für die Feier entsteht. Alle Möbel werden umgerückt und anschließend soll der Florist das ganze Erdgeschoss mit frischen Blumen in ein Blütenmeer verwandeln. Ich kann es mir lebhaft vorstellen und freue mich auf die Verwandlung des Hauses genauso wie auf meine eigene. Ach, es wird großartig werden!

Aufgrund der Möbelrückerei darf ich in der Küche frühstücken, die normalerweise für die Herrschaft tabu ist, es sei denn, wir wollten sie inspizieren. Unsere Gäste bekommen ihr Frühstück auf ihren Zimmern serviert. Ich stürze mich mit großem Appetit auf die Leckereien, die die Köchin auf einem separaten Tisch aufgebaut hat: warme Brötchen und Croissants, Rührei und Tapioca-Fladen, Käsebällchen und Kokoskrapfen, Bananenkuchen und Schinkenpastetchen, dazu bergeweise frisches Obst, Quark, Honig, Marmelade, Käse… Es ist ein wahres Fest. Leider betritt meine Mutter die Küche in genau dem Augenblick, in dem ich mir ein ganzes pastel de carne, eine frittierte Teigtasche mit Hackfleischfüllung, auf einmal in den Mund stopfe und diesen nun kaum noch schließen kann.

»Isabel! Wo hast du deine Manieren gelassen? Schling nicht so. Und mäßige dich, bitte. Wenn du zu viel isst, wirddein Bauch ganz dick. Was sollen denn die Gäste denken?«

Ich blicke auf meinen sehr flachen Bauch hinab und denke, dass noch einiges hineinpasst, bevor er dick wird. Was ich sage, ist aber nur: »Ja, mãe.« Es hat keinen Zweck, sich mit ihr anzulegen.

»Und wisch dir die Finger gut ab, wenn du fertig bist. Du hast Post bekommen.«

Ich nicke ergeben. »Ist gut, mãe.«

Immerhin hält mich die Nachricht von einem Brief davon ab, noch mehr zu futtern. Ich bin so gespannt, von wem er sein mag, dass ich all die verlockenden Delikatessen sausen lasse. Wenig später bereue ich es, dass ich überhaupt gefrühstückt habe. In meinen zitternden Händen halte ich einen Brief von Gustavo.

Liebe Isabel,

mit tiefer Beschämung und Enttäuschung muss ich Dir mitteilen, dass ich zu Deinem großen Fest nicht werde kommen können. Eine dringende geschäftliche Entscheidung steht an, und leider lässt sich die Konferenz, die mein Vater anberaumt hat, nicht vertagen, genauso wenig, wie sich meine Abwesenheit entschuldigen ließe.

Ich wünsche Dir alles Gute zu Deinem Geburtstag und hoffe, dass das Fest ein grandioser Erfolg wird.

Mit herzlichen Grüßen

Dein Gustavo

Das ist niederschmetternd. Es ist die größte Katastrophe, die hätte eintreten können. Dagegen sind Alices kleine Dramen nun wirklich lachhaft. Tränenblind bahne ich mir einen Weg durch die Stühle, Sofas, Vitrinen und Beistelltischchen, die die ganze Eingangshalle versperren, und renne auf mein Zimmer.

Hier endlich lasse ich meinen Tränen freien Lauf. Wie kann er mir das antun? Wieso ist seine Anwesenheit bei dieser blöden Konferenz unbedingt erforderlich? Er ist neunzehn Jahre alt und soll eines Tages der Nachfolger seines Vaters werden, der Direktor und Teilhaber einer sehr großen Konservenfabrik ist. Aber noch wird es ja wohl ohne ihn gehen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Gustavo schon jetzt absolut unentbehrlich ist, so klug und tüchtig er auch sein mag.

Mir ist die Lust auf mein eigenes Fest gründlich vergangen.

Als es wenig später klopft und Alice freudestrahlend hereinkommt, habe ich mich immerhin so weit gefasst, dass ich so tun kann, als freute ich mich auf heute Abend.

»Oho, ein Liebesbrief oder was?«, ruft sie aus, als sie das Kuvert auf meiner Kommode liegen sieht. Flink und frech greift sie danach und schaut hinein. Ich sitze auf dem Bett und schaue ihr fassungslos zu. War Alice immer schon so rücksichtslos? Aber ich lasse sie gewähren.

»Wer ist Gustavo?«, fragt sie, nachdem sie die Zeilen gelesen hat.

»Ach, niemand.«

»Wieso kenne ich ihn nicht?«

»Er ist Florindas Bruder.« Florinda ist eine gemeinsame Freundin von uns aus dem Internat, die aber ebenfalls nicht zu meinem Fest kommt, weil sie den Sommer weit weg von hier verbringt. Die Glückliche.

»Ach, dieser große, dunkle, geheimnisumwitterte Schönling? Ich habe ihn mal gesehen. Ich wusste gar nicht, dass du mit ihm befreundet bist.«

Bin ich auch nicht, gestehe ich mir selbst ein. Ich habe ihn ebenfalls nur einmal gesehen, doch das hat gereicht. Ich habe mich auf der Stelle in ihn verliebt. »Nun ja«, flunkere ich stattdessen, »wir sind uns ein paarmal begegnet. Und weil die Gefahr bestand, dass heute die Damen in der Mehrzahl sind, habe ich ihn eingeladen. Ein gut aussehender junger Mann hat noch keinem Fest geschadet.«

»Wie wahr. Aber ein Langweiler ist tödlich für jede gute Feier. Und ich fürchte, dieser Gustavo ist einer.«

»Wie kannst du so etwas sagen?«, ereifere ich mich, doch dann halte ich inne, damit Alice nicht merkt, was los ist. »Glaubst du wirklich?«, frage ich betont desinteressiert.

»Ja. Aber lass uns über etwas Spannenderes reden. Sag: Was machen wir heute Schönes, um uns die Zeit bis zu dem Fest zu vertreiben?«

»Viel Zeit für uns werden wir nicht haben, denn viele Gäste trudeln schon im Laufe des Nachmittags ein. Ich muss natürlich da sein, um sie zu begrüßen und Glückwünsche entgegenzunehmen.«

»Und Geschenke«, kichert Alice.

»Ja, auch das.«

»Freust du dich denn nicht darauf?«

»Auf die Geschenke? Doch, schon. Aber weißt du, von all den alten Tanten und Großcousins und wer noch so kommt erwarte ich nicht viel. Altmodische Tischwäsche, stillosen Porzellan-Nippes und derlei mehr.«

»Egal«, sagt Alice entschieden. »Am schönsten ist doch sowieso das Auspacken.« Damit reicht sie mir ihr sehr aufwendig in Seidenpapier eingewickeltes Geschenk.

Ungeduldig reiße ich die Verpackung auf. Zum Vorschein kommt ein hauchdünner Seidenschal, ein erlesenes Stück, das von außergewöhnlich gutem Geschmack zeugt. Entzückt lege ich mir den Schal um und begutachte mich vor dem Spiegel. Er steht mir vorzüglich.

»Er ist hinreißend, Alice!« Ich falle in ihre Arme und hauche ein beglücktes »Danke« in ihr Ohr.

»Für deine Europareise. Hier braucht man zurzeit ja wirklich keine Schals.«

Trotz des wirklich gelungenen Geschenks fühlt es sich nach wie vor so an, als sei alle Farbe aus dem Tag gewichen, seit ich Gustavos Brief gelesen habe. Ich habe den Geschmack von Fadheit auf der Zunge, trotz meines herrlichen Frühstücks, und den Klang von Nieselregen in den Ohren, obwohl es ein sonniger Tag ist. Ich muss mich überwinden, normal zu sprechen.

»Wir können zu den Ställen gehen, wenn du willst. Eine unserer Stuten hat gefohlt, das Kleine ist erst wenige Tage alt und sehr niedlich.«

Alice stimmt zu. Gemeinsam machen wir uns auf den Weg zu den Stallungen, Alice beschwingt, ich selbst ein wenig lahmer. Mir erscheint ihre Fröhlichkeit ziemlich aufgesetzt. Womöglich hat sie etwas bemerkt und will mich aufmuntern oder ablenken? Ach was, so viel Einfühlungsvermögen sähe Alice gar nicht ähnlich.

Die Zeit bis zum Nachmittag vergeht rasend schnell. Ich zeige Alice den Hof, auf dem die Kaffeekirschen zum Trocknen liegen, und führe sie durch die Sklavenunterkünfte. Dann reiten wir zum Badesee und rudern unter die herabhängenden Äste eines Baums, die Schatten spenden. Dort reden wir weiter, über die immer selben Dinge. Es ist, als könnten wir das, was uns beschäftigt, gar nicht oft genug in Worte fassen.

Die Liebe, natürlich. Sie ist unser bevorzugtes Thema. Seit ich die Absage von Gustavo erhalten habe, kann ich endlich nachvollziehen, was mit Liebeskummer gemeint ist– jenem unerträglichen Schmerz, den ich bisher nur aus den Romanen kannte, die im Internat heimlich von Hand zu Hand gehen.

Das Internat, ja, auch das beschäftigt uns. Besonders unsere Mitschülerinnen. Wir haben dort ein paar Lieblingsfeindinnen, und wir werden es nicht müde, über sie herzuziehen. Mit Alice zu lästern ist einzigartig. Sie ist so herrlich grausam in ihren Urteilen und bringt die Dinge immer wunderbar auf den Punkt. »Orfélia ist ein hoffnungsloser Fall. Weil sie so dick und unglücklich ist, tröstet sie sich mit unanständigen Bergen von Konfekt und wird immer dicker und unglücklicher.«– »Hast du die neue Brosche von Ermelinda gesehen? Ist sie nicht vöööllig unmöglich?!« Oder auch: »Maria Fernanda wird auch im elegantesten Kleid von ganz Paris immer noch aussehen wie eine Landpomeranze.«

Ich lache herzhaft über diese Gemeinheiten, die leider nur allzu wahr sind. Da sie sich vorwiegend um das Aussehen und die Kleidung der anderen Mädchen drehen, könnte man sagen, dass es auch bei unseren Lästereien indirekt um Männer geht, denn das ist ja wohl unser aller Trachten: dem starken Geschlecht zu gefallen. Und wenn Alice und ich unter uns sind, ist auch klar, wer da die besten Chancen hat: wir beide. Sie nimmt in unserer Rangliste ganz klar Platz eins ein, ich folge auf Platz zwei. Allerdings mit gewaltigem Abstand.

Heute jedoch muss Alice diese Einschätzung ausnahmsweise revidieren. Als ich mich am frühen Abend fertig mache– mein zauberhaftes Kleid anziehe, mir von Maria eine komplizierte Frisur stecken lasse und mich mit Schminke und Juwelen verschönere– kommt Alice in mein Zimmer geplatzt. Sie macht große Augen und wirkt ganz so, als hätte der Blitz sie getroffen.

»Sagenhaft!«, seufzt sie, und es klingt noch nicht einmal neidisch.

Sie selbst sieht ebenfalls zum Anbeißen aus. Ihr himmelblaues Kleid passt perfekt zu ihrem blassen Teint und ihren blauen Augen. Sie macht darin einen engelhaften Eindruck, als sei sie nicht von dieser Welt. Süß und unschuldig wirkt sie. Aus ihrem komplizierten Haarknoten hat sie einzelne Strähnen ihres hellbraunen Haars gelöst, die in weichen Locken ihr Gesicht umschmeicheln.

»Du siehst auch ganz hinreißend aus«, gebe ich das Kompliment zurück.

»Also dann… Beeilung, Senhorita!«

Zusammen schreiten wir wenige Minuten später unsere breite Wendeltreppe hinab, auf königliche Würde bedacht: das Kinn angehoben, den Blick auf unser bewunderndes Publikum gerichtet. Allerdings sind es nicht eben viele Leute, die unserem majestätischen Auftritt beiwohnen.

Warum das so ist, merke ich keine zehn Sekunden später: Draußen tobt ein schweres Gewitter. In unserem Eifer, uns für das Fest zu verschönern, haben wir es zuvor gar nicht bemerkt.

Ich hoffe, dass unsere restlichen Gäste nicht mit ihren Kutschen in Lehmflüssen und Morastbergen stecken bleiben. Ich bete, dass niemand vom Blitz getroffen wird. Und ich rede mir ein, dass bestimmt alle gut gelaunt hier eintreffen. Durchnässt vielleicht, mit schmutzigen Kleidern und ramponierten Frisuren, aber in bester Stimmung.

Es muss einfach so sein.

Heute ist ja wahrhaftig schon genug schiefgegangen.

Das einzig Gute ist, dass Gustavo nichts von meinem missratenen Fest mitbekommt.

3

So vollkommen missraten ist meine festa aber dann doch nicht. Alle Gäste kommen unversehrt hier an, und der kräftige Regen trägt doch wahrhaftig, Wunder über Wunder, zur guten Stimmung bei. Wo sich normalerweise die Menge ein wenig verteilt hätte, weil wir auch im Garten Pavillons haben aufstellen lassen, sind nämlich nun alle gezwungen, im Inneren des Hauses zu bleiben. Selbst die wenigen Schritte auf die Veranda oder in den Garten hätten, trotz der mit Regenschirmen bewaffneten Schar von Sklaven, die Leute durchnässt oder zumindest ihre Schuhe ruiniert. Und weil alle drinnen bleiben, ist es richtig schön voll und eng und laut. Es gibt nicht einmal genügend Stühle für alle, sodass sich nur die älteren Herrschaften hinsetzen können. Wir jungen Leute tanzen dafür umso ausgelassener.

Alice hat nur Augen für Carlos. Jedes Mal, wenn ich auf der Tanzfläche an den beiden vorbeikomme– denn sie tanzt ausschließlich mit ihm–, höre ich sie kichern und gurren. Aha, denke ich, sie setzt sich mal wieder als schüchterne Unschuld in Szene. Mein Cousin, der sehr gut aussieht, aber unglaublich dumm ist, ist völlig von ihr gefangen. Es fehlt nicht viel und ihm läuft Speichel am Mundwinkel hinab. Was findet sie nur an ihm?

Da ich das Geburtstagskind bin, muss ich mit allen möglichen Männern tanzen: zuerst mit meinem Vater, dann mit Dom Fernando, außerdem mit einem greisen General a.D., dem Bürgermeister von Vassouras, meinem Onkel Eduardo, dem Nachbarn Henrique und vielen mehr. Das ist ein weiterer Vorteil von Gustavos Nichterscheinen: Es ist mir gleichgültig, mit wem ich tanze, solange mir der jeweilige Herr nicht auf die Füße tritt und keinen Mundgeruch hat.

Alice beobachtet mich mindestens ebenso genau wie ich sie, offenbar ist ihre Bewunderung für Carlos nicht ganz so grenzenlos, wie sie es vorgibt. Deshalb muss ich öfter mit Dom Fernando tanzen, als mir lieb ist. Er ist ein ausgesprochen guter Tänzer, zugegeben. Dennoch fühle ich mich sehr unwohl. Er umfasst meine Taille ein wenig zu besitzergreifend, er hält sein Gesicht zu nah an meines, und er flüstert mir Dinge ins Ohr, die ich von ihm nicht hören will. Zweideutigkeiten, die ein Kavalier einer Dame niemals zuraunen würde, wie etwa: »Man muss die Blumen pflücken, wenn sie frisch erblüht sind.« Es ist ganz und gar widerwärtig.

Dennoch lächele ich und mache gute Miene zum bösen Spiel. Was bleibt mir anderes übrig? Ich kann einen Gast, den meine Eltern so schätzen, doch nicht mitten auf der Tanzfläche von mir stoßen. Dazu wäre ich im Übrigen auch gar nicht in der Lage, ich weiß nicht warum. Manchmal bin ich einfach zu passiv oder nicht schlagfertig genug.

»Würden Sie mir Ihren Garten zeigen, liebe Senhorita Isabel?«, bittet er mich jetzt, und es klingt weniger wie eine Frage als vielmehr wie eine Aufforderung. Auf keinen Fall!, will ich schreien, aber mein Mund ist wie versiegelt. Wie werde ich den impertinenten Kerl nur los?

»Aber es regnet in Strömen, mein sehr verehrter Dom Fernando«, sage ich steif.

»Natürlich tut es das. Wissen Sie, wie schön Regentropfen aussehen, die an Blütenblättern abperlen?«

Oh Gott, nicht schon wieder diese metaphorischen Aufdringlichkeiten. Ich zögere, weil ich nach einer guten Antwort suche. Unterdessen schaut er mir tief und, wie er vermutlich glaubt, verführerisch in die Augen. Doch ich sehe in seinem Blick weder Verehrung noch Bewunderung. Der ganze Mann strahlt nichts als Wollust aus. Er will die Blüte nicht betrachten, sie um ihrer Schönheit oder Zartheit willen bestaunen. Er will sie besitzen.

»Oh, verzeihen Sie mir, Dom Fernando, da kommt gerade Senhor Tavares, dem ich ein Tänzchen versprochen habe«, sage ich und winde mich aus seinen Armen.

Dann suche ich schnell das Weite. Leider begehe ich den Fehler, von der Treppe aus noch einmal zurückzublicken. Dom Fernando grinst mich ölig und siegesgewiss an, als wolle er sagen: Ich durchschaue dich, und alle Ausflüchte werden dir nichts nützen, denn ich erreiche meine Ziele für gewöhnlich.

Auf dem Weg zu meinem Zimmer, in dem ich mich für ein paar Minuten sammeln muss, höre ich Stimmen aus dem Zimmer meiner Eltern. Ich bleibe kurz stehen, um mich zu vergewissern, dass sie tatsächlich da drin sind. Es erscheint mir sehr ungewöhnlich, schließlich haben wir das Haus voller Gäste, um deren Wohl es sich zu kümmern gilt.

Ich habe nicht die Absicht, ihre Unterredung zu belauschen. Doch als ich meinen Vater sagen höre: »Sie ist kein Kind mehr«, und mir schwant, dass es in ihrem Gespräch um mich geht, kann ich nicht umhin, mein Ohr an die Tür zu pressen.

»Nein, sie ist kein Kind mehr. Aber auch noch keine Frau«, gibt meine Mutter zu bedenken.

Ach, denke ich entrüstet, und was feiern wir dann hier gerade? Doch wohl meine festa de quinze anos, meine Frau-Werdung. Für was hält sie mich?

»Natürlich ist sie eine Frau, Rosália.«

Danke, pai!, denke ich und muss an mich halten, um es nicht laut herauszurufen. Wenigstens er scheint erkannt zu haben, dass ich kein Baby mehr bin.

»Sieh sie dir an«, fährt er fort. »Sie ist zu einer jungen Schönheit herangereift, die allen Männern den Kopf verdreht, und zwar mit voller Absicht. Ich habe sie beobachtet, sie hat sehr offen mit Dom Fernando geflirtet.«

»Ich glaube nicht«, entgegnet meine Mutter, »dass sie sich ihrer Wirkung auf das andere Geschlecht bereits in ganzem Ausmaß bewusst ist.«

Ach nein? Und ob ich das bin!

»Es schien mir vielmehr«, so meine Mutter weiter, »als spiele sie ein Spiel. Als erprobe sie sich, als lote sie aus, wie weit sie gehen kann und darf. Wir sollten ihr die Zeit geben, sich selbst sowie das Leben und die Männer besser kennenzulernen.«

»Was soll das, Rosália? Du warst selbst erst siebzehn, als wir geheiratet haben.«

»Ja, mein lieber Raimundo, aber das geschah ja auch unter völlig anderen Umständen, wenn du mir das Wortspiel erlaubst. Im Übrigen liegen zwischen fünfzehn und siebzehn immerhin zwei Jahre.«

»Ach, papperlapapp, mit der Verlobungszeit und allem wird sie sechzehn sein, bis sie heiratet. Alt genug, wie ich finde.«

Worüber sprachen die beiden da bloß? Wie kamen sie nur darauf, ich wolle heiraten?

»Er erscheint mir ein wenig zu alt für sie«, warf meine Mutter ein.

»Er ist neunundzwanzig Jahre alt, im besten Alter also für eine Vermählung. Er ist jung, von tadelloser Abstammung, sieht blendend aus und vor allem: Er ist so reich, dass all unsere Probleme auf einen Schlag gelöst wären, wenn er in unsere Familie einheiratet. Außerdem hatte ich den Eindruck, dass Isabel ihn durchaus anziehend findet.«

Oje. Mir dämmert allmählich, um wen es sich handelt. Ich muss verrückt gewesen sein, so deutlich mit ihm zu schäkern, dass sogar meine Eltern es gemerkt haben.

»Ich weiß nicht, Raimundo. Ist das nicht alles ein wenig… übereilt?«, fragt meine Mutter.

»Du weißt, wie es um unsere Finanzen bestellt ist, meine Liebe. Ich fürchte, Isabel wird im Februar nicht einmal zurück aufs Internat gehen können.«

Verflucht, was reden die beiden da nur? Seit wann sind wir arm? Und wieso muss ich dafür büßen?

»Sie wird auch nicht dorthin zurückgehen können, wenn wir Dom Fernandos Antrag zustimmen.«

»Oh doch. Er hat mir deutlich zu verstehen gegeben, dass er nicht nur auf eine Mitgift verzichtet, sondern sogar noch bereit ist, uns ein zinsloses und unbefristetes Darlehen in beträchtlicher Höhe zu geben. Und zwar sofort. Damit wären unsere Sorgen Vergangenheit.«

»Aber…«

Welchen Einwand meine Mutter noch vorbringt, kann ich mir nicht mehr anhören. Am Ende des Flurs sehe ich Marias unverwechselbare Gestalt auftauchen, sodass ich schnell so tun muss, als sei ich auf dem Weg in mein Zimmer.

»Sinhazinha«, sagt sie streng, »was machen Sie hier oben? Unten wird getanzt– und zwar Ihnen zu Ehren.«

»Ja, ja, Maria, ich weiß. Ich wollte nur schnell etwas frischen Puder auftupfen.«

»Na dann…« Sie wirkt nicht überzeugt, geht aber weiter. Wahrscheinlich richtet sie die Betten in den Gästezimmern.

Erst als die Tür hinter mir ins Schloss fällt, gestatte ich mir, tief durchzuatmen. Das ist doch wohl die Höhe! Was ich da gerade mit anhören musste, ist das Niederträchtigste, Gemeinste und Schäbigste, was mir je untergekommen ist. Wie können sie es wagen, mich dem Erstbesten zur Frau zu geben, nur weil er reich ist? Wie können sie mich so billig verscherbeln? Und warum, zum Teufel, können sie mich nicht vorher fragen? Sie hätten mich zu diesem Gespräch dazubitten können, mir erklären können, warum eine Heirat mit Dom Fernando ihnen als der beste Weg erscheint. Aber nein: Sie verfügen über mich, meine Zukunft und mein Lebensglück, als sei ich ein… Haustier.

Mich ihnen zu widersetzen würde vermutlich herzlich wenig bewirken. Bei der Hochzeit einer Bekannten aus Kindheitstagen, Amélia, habe ich gesehen, wie so eine Zwangshochzeit vonstattengeht. Amélia hat auf die Frage des Padre, ob sie den Mann zum Gemahl nehmen wolle, Nein gesagt. Es haben nur die Leute gehört, die in den ersten Reihen saßen, darunter auch ich, doch es war eindeutig ein Nein. Der Padre ließ sich davon überhaupt nicht stören. Er machte einfach weiter mit der Zeremonie. Und die anwesenden Hochzeitsgäste, die Zeugen von Amélias Weigerung geworden waren, taten alle so, als hätten sie nichts gehört. Es war fürchterlich. »So erkläre ich euch hiermit zu Mann und Frau«, sagte der Padre dann irgendwann, und ich glaube, dass dies der Moment war, in dem Amélias Widerstand endgültig gebrochen war.

Amélia ist ein paar Jahre älter als ich, bei ihrer Hochzeit war ich erst elf– alt genug auf jeden Fall, um zu begreifen, was da mit der jungen Frau geschah. Zugegeben, vielleicht war ich damals noch nicht reif genug, um zu sehen, dass die Eltern mit dem Bräutigam eine gute Wahl getroffen hatten. Heute sehe ich Amélia noch gelegentlich, wenn ich in Vassouras Erledigungen mache. Sie hat mittlerweile zwei Kinder und macht einen ziemlich glücklichen Eindruck. Das gibt einem zu denken, oder?

Dennoch bin ich überzeugt, dass meine Eltern sich in Dom Fernando täuschen. Er würde keinen guten Ehemann für mich abgeben. Er wäre bestenfalls ein guter, weil reicher, Schwiegersohn.

Von unten höre ich die Musik. Es ist meine festa, ich kann ihr nicht allzu lange fernbleiben. Also pudere ich mir die Nase und mache mich auf den Weg zurück ins bunte Treiben. Die Stimmung hat inzwischen ihren Höhepunkt erreicht. Nur einige ältere Herrschaften sitzen mit vornübergebeugten Köpfen auf ihren Stühlen, sie sind eingenickt. Andere brüsten sich mit geröteten Nasen ihrer Heldentaten im Paraguay-Krieg oder erzählen mit zu lauter Stimme von besonders gelungenen Coups im Geschäftsleben. Die jungen Leute tanzen. Ich füge mich ins Unvermeidliche und feiere mit.

Aber in Gedanken bin ich ganz woanders. Ich schmiede einen Plan.

Als die ersten Gäste sich verabschieden, es muss gegen Mitternacht sein, ziehe ich mich zurück. Höflich verabschiede ich mich von den Leuten, denen meine Abwesenheit überhaupt auffallen würde, unter anderem von meinen Eltern.

»Ich kann nicht mehr!«, stöhne ich. »Ich gehe jetzt zu Bett, wenn es euch recht ist.«

»Ja, ja, geh nur. Wir amüsieren uns auch ohne dich prächtig«, sagt mein Vater, der schon ein bisschen zu tief ins Glas geschaut hat. »Verabschiede dich noch von Dom Fernando, ja? Er hat vorhin nach dir gesucht.«

»Ist gut, pai.«

Ich bemerke den Blick, den meine Mutter ihm zuwirft, kann ihn aber nicht deuten.

»Boa noite, mãe.« Gute Nacht, Mutter.

»Boa noite, mein Kind.«

Ich wende mich von ihnen ab und suche die Räume mit den Blicken nach Dom Fernando ab. Ich entdecke ihn schließlich vor den hohen Sprossentüren zur Veranda, wo er an einem Glas Champagner nippt und mich beobachtet. So jedenfalls erscheint es mir. Da ich weiß, dass meine Eltern mir nachschauen, bleibt mir nichts anderes übrig, als mich zudem Mann zu begeben und mich höflich zu verabschieden.

»Was für ein herber Verlust für dieses Fest«, sagt er. »Und ich hatte gehofft…«

»Ja?«

»…dass Sie mir die Gunst erweisen würden, bei einem weiteren Tanz den Duft Ihres…«

»Gute Nacht, Dom Fernando«, unterbreche ich ihn brüsk und stolziere davon. Ich habe keine Lust, mir neue Abwandlungen des Blütenthemas anzuhören.

Zuletzt verabschiede ich mich von Alice, die an Carlos hängt wie eine Klette. »Nur eine Minute«, verspreche ich ihr, als ich ihren etwas allzu engen Tanz störe.

»Was denn, Isabel? Du siehst doch selbst…«

»Ich wollte dir nur sagen, dass ich mich jetzt unauffällig verdrücke. Ich habe allen erzählt, ich ginge zu Bett. Aber später, wenn du mir all deine Erlebnisse schildern möchtest, wirst du mich nicht auf meinem Zimmer antreffen.«

Sie folgt meinem kurzen Blick zu Dom Fernando, der zu uns herüberstiert und mich damit ganz nervös macht. Ihre Miene drückt Erstaunen aus. »Oho!«, sagt sie und grinst anzüglich. »Verstehe. Dann viel Spaß, Isabel.« Damit zwinkert sie mir zu und ich werde rot. Alice hat mich völlig falsch verstanden. Doch als ich zu einer Erklärung ansetzen will, wird mir klar, dass es vielleicht besser so ist. Würde ich Alice jetzt in meinen Plan einweihen, müsste ich sehr weit ausholen, und dazu habe ich weder die Lust noch die Zeit.

Also zwinkere ich einfach zurück und verlasse mein Fest– hellwach und mit heftigem Herzklopfen.

Der Anfang ist gemacht. Bis zum späten Vormittag wird mich niemand vermissen: Ich habe fast zwölf Stunden Zeit, um zu verschwinden.

Zunächst schleiche ich mich in die Unterkunft der Haussklaven. Die sind in diesem Augenblick alle auf dem Fest beschäftigt, sei es mit Arbeit, sei es beim Glotzen oder Stibitzen von Essensresten. So eine Gelegenheit bietet sich ihnen schließlich nicht alle Tage, sie werden sich samt und sonders im Herrenhaus herumdrücken. Genauso ist es auch. Ich stöbere ein wenig in ihren Sachen, bis ich schließlich finde, was ich gesucht habe: eine einfache Leinenhose, ein abgewetztes Hemd, ausgetretene Sandalen, einen zerknautschten und zerfaserten Strohhut. Ich schätze, diese Sachen gehören einem der Stallburschen, denn die wohnen ebenfalls hier und nicht in der senzala der Feldsklaven.

Mit sehr schlechtem Gewissen rolle ich die Sandalen in die Kleider und packe mir das Bündel unter den Arm.

Aber wie gelange ich jetzt ungesehen mit meiner Beute zurück auf mein Zimmer? Ich beschließe, es durch den Hintereingang zu versuchen. Bei schönem Wetter wären überall im Haus und darum herum Menschen, doch– wer hätte gedacht, dass ich dies für ein Glück halten würde?– es regnet noch immer in Strömen. Kaum bin ich in den hinteren Hausflur getreten, schnappe ich mir eines der Regencapes, die dort an einer Hakenleiste hängen, und wickele mein Kleiderbündel hinein. Es erregt weniger Verdacht, ein eigenes Cape mit sich herumzutragen, als ein Bündel schlammfarbener Sklavenkleidung. Doch bisher ist mir noch keine Menschenseele begegnet.