Unter den Sternen von Rio - Ana Veloso - E-Book

Unter den Sternen von Rio E-Book

Ana Veloso

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Beschreibung

1924. Als die schöne Brasilianerin Ana Carolina in Paris den geheimnisvollen Antoine kennenlernt und mit ihm den Rausch der ersten Liebe erlebt, ahnt sie nicht, dass dieser Mann ihr Schicksal werden wird. Durch einen unglücklichen Zufall ist ihr kein Wiedersehen mit ihm vergönnt, und sie reist zurück in ihre Heimat. Hier soll sie den Ingenieur Henrique heiraten, der am Bau der Christusstatue in Rio beteiligt ist. Da stellt dieser ihr eines Tages seinen besten Freund vor, und Ana Carolina glaubt zu träumen, denn vor ihr steht Antoine …

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Ana Veloso

Unter den Sternen von Rio

Roman

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

PrologTeil 11. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. KapitelTeil 217. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. KapitelTeil 334. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. KapitelEpilogDer historische Hintergrund
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Prolog

Paris, 1923

Ana Carolina betrachtete die aufperlenden Bläschen in ihrem Champagnerglas. Langsam bewegten sich die winzigen Luftblasen aufwärts, strebten an die Oberfläche des Getränks, wo sie, einzeln kaum wahrnehmbar, zerplatzten und sich in der Raumluft in nichts auflösten. Und genau das hätte Ana Carolina jetzt ebenfalls gern getan: sich in nichts aufgelöst.

Es war einfach zu entwürdigend. Das Spektakel auf der Bühne trieb der jungen Frau die Schamröte ins Gesicht, ihr, die sich für so aufgeschlossen und modern gehalten hatte. Aber wie hätte sie auch ahnen können, dass die »frivole« Darbietung, die man ihr angekündigt hatte, sich nicht darauf beschränkte, ein paar Unterröcke hervorblitzen und ein Paar hübscher nackter Beine sehen zu lassen? Nichts und niemand hatte sie darauf vorbereitet, eine fast vollständig entkleidete Dame in äußerst obszönen Posen tanzen zu sehen. Die »Künstlerin« trug nicht mehr als drei große Muschelschalen, die ihre Scham und ihre Brüste bedeckten, sowie einen türkisfarbenen Organzaschleier, der um sie herumwaberte und der Aufführung einen geheimnisvollen östlichen Zauber verleihen sollte. Immerhin nannte die Show sich »Die orientalische Meerjungfrau«.

Ana Carolina nahm einen großen Schluck aus ihrem Glas und stellte es schwungvoll wieder ab – einzig, um abermals die aufsteigenden Perlen zu zählen und nicht auf die Bühne schauen zu müssen. Oder gar in die Zuschauermenge. Die geröteten Gesichter der Männer, das aufdringliche Lachen ihrer Begleiterinnen sowie die aufreizend kurzen Röcke der Serviermädchen waren beinahe genauso peinlich wie der Tanz dieser Möchtegern-Mata-Hari auf der Bühne.

Ana Carolina trank ihren Champagner aus. Sie fühlte sich bereits ein wenig beschwipst, dennoch bestellte sie sich sofort ein weiteres Glas. Mit irgendetwas musste sie sich schließlich beschäftigen, und lieber trank sie zu viel, als dass sie sich eine weitere Zigarette anzündete. Ihr wurde übel vom Qualm, leider. Sie fand die Attitüde eleganter Raucherinnen äußerst schick und stellte sich gern den Namen des entsprechenden Gemäldes vor: »Dame mit Pelzstola und Zigarettenspitze«. Nun, dann war sie eben die »Einsame Demoiselle im Pariser Cabaret«.

Es war zum Heulen. Wie konnte Marie sie so schmählich im Stich lassen? Was hatte ihre Cousine sich nur dabei gedacht? Erst schleppte sie sie hierher, in dieses abscheuliche Etablissement, das eine Mischung aus Café Concert und Bordell, aus Music Hall und Spelunke war, und dann verzog sie sich mit ihrem Verehrer und ließ sie, Ana Carolina, allein am Tisch zurück. So hatte sie sich ihren Ausflug in das verruchte Pariser Nachtleben ganz sicher nicht vorgestellt.

Keine drei Stunden zuvor hatte Ana Carolina noch vor dem Spiegel gestanden und, freudig erregt angesichts des bevorstehenden Abenteuers, die Wellen ihres Pagenkopfs in Form gelegt. Dann hatte sie ein wenig von Maries Rouge aufgetragen und ein Stirnband mit Feder umgebunden. Zu guter Letzt hatte sie die Pelzstola ihrer Tante Joana über ihren Schultern drapiert und sich vor dem Spiegel gedreht, verzückt über ihr mondänes und erwachsenes Aussehen. Sie wirkte deutlich älter als zwanzig Jahre. Sie sah aus wie eine Femme fatale, und als eine solche würde sie sich auch geben. Es war das erste Mal, dass sie und Marie den Abend außer Haus verbrachten, ohne den argwöhnischen Blicken von Tante Joana und Onkel Max ausgesetzt zu sein, Maries Eltern, die unerwartet zu einer erkrankten Freundin gerufen worden waren.

Ach, in welch schillernden Farben hatte Ana Carolina sich diesen Spaß ausgemalt! Tanzen wollte sie und flirten, trinken und rauchen, sich amüsieren bis zum Morgengrauen. Über anzügliche Witze würde sie überlegen lächeln, während sie den geistreichen Bemerkungen ihrer zahlreichen Verehrer ein wohlklingendes Lachen schenken würde. Sie würde sich unnahbar geben und doch zugänglich genug, um das Interesse der Männer zu fesseln. Sie hatte sogar schon das Übereinanderschlagen ihrer Beine geübt, so dass es nicht vulgär aussah und doch verführerisch. Ein kleines bisschen Haut zu viel, gerade genug, um ihre langen, schlanken Beine zur Geltung zu bringen.

Aber in diesem grässlichen Lokal war keiner, der als Galan auch nur annähernd in Frage gekommen wäre und dem sie einen Blick auf ihre Beine gegönnt hätte. Sie presste die Knie unter dem Tisch fest zusammen und stierte weiter auf das Glas, nur um nicht einem der lüsternen Blicke der Männer an den Nachbartischen begegnen zu müssen.

Seit Marie und dieser Schuft Maurice sie hier allein zurückgelassen hatten, musste etwa eine halbe Stunde vergangen sein, wenn man nach der Anzahl der Tanznummern ging. Ana Carolina kam es vor wie eine Ewigkeit. Sie wünschte sich inständig, dass die beiden draußen in der beißenden Februarkälte an ihren Mündern zusammenfroren. Und dass sie sich eine schwere Erkältung zuzogen, ach was, eine Lungenentzündung! Sie würde jetzt noch höchstens weitere drei der erschütternd schlechten Darbietungen über sich ergehen lassen, und wenn die beiden bis dahin nicht wieder auftauchten, dann würde sie gehen. Für ein Taxi würde ihr Budget noch eben so reichen.

Ihr Glas war schon wieder leer. Ana Carolina kramte umständlich in ihrer Handtasche herum, einem mit Fransen besetzten Satintäschchen ihrer Tante, um ihre Barschaft zu überprüfen. Nein, einen weiteren Champagner konnte sie sich nicht leisten, wenn sie noch die Heimfahrt bezahlen wollte. Verflucht! Sie hängte die Tasche wieder an den Stuhlrücken und widmete sich dann intensiv dem weißen Tischtuch. Mit einem Streichholz zeichnete sie geometrische Formen hinein. Warum hatte sie nicht selber einen Verehrer? Nicht so einen Einfaltspinsel wie Maurice, nein, einen kultivierten, womöglich exzentrischen Mann, der ihr etwas wirklich Spannendes bieten konnte? Wäre sie zwanzig Jahre früher in Paris gewesen, hätte sie mit ihrem Landsmann Alberto Santos-Dumont in seinem Luftschiff »La Baladeuse« vor dem »Maxim’s« landen können. Das waren noch Zeiten gewesen! Da hatten die Menschen noch Stil besessen. Aber heute? Sie sah nichts als vulgäres Pack und billige Vergnügungssucht.

Als die Musik immer schwülstiger wurde und das Gejohle der Männer immer lauter, gab sie sich einen Ruck. Warum sollte sie eigentlich noch länger warten? Es war ja nicht so, als würden Marie und Maurice sie für irgendetwas brauchen. Als sie in dem »Cabaret«, das den Namen nicht verdiente, angekommen waren, hatten sie kurze Zeit geplaudert und sich noch der Illusion hingegeben, es könne ein vergnüglicher Abend für alle werden, doch selbst dieses harmlose Gespräch hatten Marie und Maurice fast zur Gänze unter sich bestritten. Ein Küsschen hier, ein Wimpernflattern dort, eine laszive Pose, ein zweideutiger Witz – und schon waren sie nach draußen entschwunden, »um frische Luft zu schnappen«.

Als Ana Carolina aufstand, wurde ihr schwindelig. Herrje, erst jetzt merkte sie, wie beschwipst sie wirklich war. Sie hielt sich an der Tischkante fest, bis sie glaubte, ihr Gleichgewicht gefunden zu haben. Dann hängte sie sich ihre Tasche über die Schulter und bewegte sich vorsichtig, das Kinn nach oben gereckt und die schmal gezupften Augenbrauen zu einem arroganten Bogen gehoben, durch die Stuhlreihen. Hoffentlich merkte man ihr nicht an, wie schwer es ihr fiel, nicht zu torkeln.

Wenige Sekunden später stolperte sie über eine Jacke, die von der Stuhllehne ihres Besitzers herabgefallen war. Ana Carolina landete praktisch auf dem Schoß seines Sitznachbarn.

»Hoppla! Nicht so stürmisch, meine Schöne«, sagte der Mann und gab ihr einen Klaps auf ihr Hinterteil.

»Finger weg, Dreckskerl!«, schimpfte sie.

Die anderen Personen an dem Tisch brachen in lautes Gelächter aus, während der Grabscher Ana Carolina konsterniert ansah. »Nun aber mal halblang, du kleine Hexe. Für was hältst du dich eigentlich? Allein und betrunken durch den Saal taumeln, und dann …« Weiter kam er nicht, denn ein junger Mann war neben Ana Carolina aufgetaucht und hielt ihr die Hand hin.

»Schatz, wo hast du denn gesteckt? Komm mit.«

Sie reichte ihm ihre Hand und ließ sich bereitwillig fortführen. Sie fühlte sich merkwürdig benommen, was nicht allein auf den übermäßigen Alkoholgenuss zurückzuführen war. Der Schreck über ihr kleines Malheur saß ihr noch in den Knochen, dazu kam die Verwunderung über ihre überraschende Rettung. Ohne ein weiteres Wort miteinander zu wechseln, durchquerten sie den Raum. Ana Carolina betrachtete den Fremden, dessen Hand sie so vertrauensselig ergriffen hatte. Er sah blendend aus mit seinem pomadisierten schwarzen Haar und seinen kantigen Gesichtszügen. Er war sehr elegant gekleidet und passte überhaupt nicht in dieses drittklassige Nachtlokal. Sonderbar, dass er ihr nicht schon früher aufgefallen war.

Erst als sie die Eingangshalle des Etablissements erreichten, richtete der gutaussehende Kavalier das Wort an sie. Er blickte ziemlich streng drein, und plötzlich fand Ana Carolina ihn nicht mehr ganz so vertrauenerweckend wie noch Sekunden zuvor. Und auch nicht mehr so schön.

»Was haben Sie sich nur dabei gedacht?«, tadelte er sie. »Sie hätten auf die Rückkehr Ihrer Freunde warten sollen.«

»Sie sind nicht meine Freunde«, erwiderte Ana Carolina und schämte sich Augenblicke später für ihre dumme Antwort. Was ging es diesen Mann an, ob sie in Begleitung ihrer Cousine ausging oder in der von Freunden?

»Es freut mich, dass Sie wenigstens in diesem Punkt noch klar sehen. Freunde lassen eine junge Dame wie Sie nicht allein in einer solchen Umgebung zurück.«

»Geschweige denn in der Obhut eines Wildfremden … Schatz.«

Seine Lippen verzogen sich zu einem spöttischen Lächeln. »Sie haben völlig recht. Verzeihen Sie bitte meinen Mangel an Umgangsformen. Ich bin … nennen Sie mich einfach Antoine.«

»Enchantée, Monsieur Antoine. Und danke für Ihren heldenhaften Einsatz. Wären Sie vielleicht noch so freundlich, mir ein Taxi zu rufen?«

»Selbstverständlich, Mademoiselle …« Er schaute sie fragend an.

»Sie dürfen mich Caro nennen.« Sie sprach die Kurzform aus wie die Franzosen, also mit der Betonung auf der letzten Silbe – Caroh.

Sie traten durch die Drehtür, deren abgewetzte Mattglasscheiben einmal mit goldenen Schnörkeln verziert gewesen sein mussten, ins Freie. Die Kälte ernüchterte Ana Carolina augenblicklich. Ihre dünnen Seidenstrümpfe und die feinen Tanzschuhe waren für derart arktische Temperaturen denkbar ungeeignet.

»Sie sollten lieber drinnen warten, Mademoiselle Caro, bis ich einen Wagen aufgetrieben habe.«

Dankbar lächelte sie ihm zu und nickte. Er erwiderte ihr Lächeln, und prompt verwandelte sich sein Gesicht wieder in das eines strahlenden Helden. Er hatte blendend weiße, perfekt angeordnete Zähne – etwas, was man im Nachkriegseuropa nur selten zu sehen bekam.

Ana Carolina stapfte über den mit Brandlöchern übersäten Teppich zu einem Sofa. Es sah schmuddelig aus, aber das war ihr egal. Sie musste sich setzen, denn plötzlich überfiel sie eine schier unüberwindbare Erschöpfung.

»Mademoiselle Caro?«, hörte sie eine Stimme wie aus großer Entfernung. »Kommen Sie, Ihr Wagen ist da.«

Ana Carolina schlug die Augen auf. Sie musste eingenickt sein. Jesus Christus! Blieb ihr denn vor diesem Antoine keine einzige Peinlichkeit erspart? Erst wurde er Zeuge ihres traurigen Aufenthalts in dieser Spelunke, nun erwischte er sie auch noch dabei, wie sie ihren Rausch ausschlief.

Er nahm ihren Arm und führte sie die Stufen zum Trottoir hinab. Dann hielt er ihr die Tür des Wagens auf und ließ sie einsteigen. Kurz bevor er die Tür wieder schloss, raunte er ihr zu: »Wenn Sie einen wirklich unvergesslichen Abend erleben wollen, dann kommen Sie am Freitag um 20 Uhr zu Alfred, an der Madeleine. Ich erwarte Sie dort.«

Der Wagen fuhr an. Ana Carolina verschlief die gesamte Fahrt und wachte erst wieder auf, leicht benebelt, als der Fahrer sie unsanft anstupste.

»Was macht das?«, konnte sie sich gerade noch aufraffen zu fragen.

»Hat der Herr schon erledigt.«

 

Von dem heimlichen Ausflug der beiden jungen Frauen erfuhren Tante Joana und Onkel Max nie etwas. Als sie am nächsten Tag heimkehrten – »oh, es tut uns leid, Kinder, wir mussten über Nacht bleiben« –, hätten sie sich höchstens über die Ringe unter Maries Augen oder den Geruch nach kaltem Rauch in der Pelzstola wundern können. Doch sie waren zu sehr mit sich selbst und mit der Krankheit ihrer Freundin beschäftigt, um irgendetwas zu bemerken. Es entging ihnen ebenfalls, dass Ana Carolina und Marie, anders als sonst, kaum miteinander sprachen. Die Cousinen hatten sich heftig gestritten.

»Wie konntest du nur einfach verschwinden?«, empörte sich Marie. »Wir haben uns große Sorgen gemacht, als du fort warst, erst recht, nachdem wir vom Portier erfuhren, dass du in Begleitung eines Herrn warst. Wirklich, Ana Carolina, für so naiv hätte ich dich wirklich nicht gehalten. Auch bei euch in Brasilien geht man doch nicht einfach mit dem erstbesten Fremden mit!«

»Nein. Aber auch in Rio lässt man ein Mädchen nicht stundenlang allein in einem anrüchigen Etablissement hocken, umgeben von halbnackten Huren und sabbernden Männern.«

»Wessen Idee war es denn, dorthin zu gehen? Deine! Du hast dich ja förmlich ausgeschüttet vor Lachen, als du den Namen des Spektakels gelesen hattest, ›Die orientalische Meerjungfrau‹. Ich dachte, es macht dir Spaß, dir die Show anzusehen.«

»Du hast gar nichts gedacht, Marie. Dein Hirn war dir doch in die Körpermitte gerutscht, und ich bin sicher, dass Maurice sich nicht lange bitten ließ, es dort zu suchen.«

»Aus dir spricht der blanke Neid.«

Ana Carolina hob verächtlich die Schultern. »Wenn du meinst.«

Eine Weile starrten die beiden Cousinen einander an, jede von ihnen unversöhnlich und fest davon überzeugt, man habe ihr Unrecht getan. Ana Carolina wusste genau, wie sie die Situation hätte bereinigen können. Wenn sie ihrer Cousine nur in verschwörerischem Ton von dem geheimnisvollen Herrn erzählt und damit deren brennende Neugier befriedigt hätte, wäre wohl alles zwischen ihnen wieder gut gewesen. Warum sie es nicht tat, war Ana Carolina selber unerklärlich. Sie mochte Marie, ja, sie liebte sie beinahe wie eine Schwester. Sie hatten nie Geheimnisse voreinander gehabt. Doch der Wunsch, Marie jetzt eine vermeintlich spannende Episode aus ihrem sonst so unaufregenden Alltag vorzuenthalten, war stärker als das Bedürfnis, die alte Harmonie wiederherzustellen. Und das nicht etwa aus Wichtigtuerei. Im Grunde gab es kaum etwas, das sie hätte berichten können, doch das wenige war ihr zu kostbar, um es durch flapsiges Geplauder und albernes Kichern herabzuwürdigen. Dieser Antoine hatte Eindruck auf sie gemacht.

Um nichts auf der Welt würde sie es versäumen, ihn wiederzusehen. Am Freitag, bei Alfred an der Madeleine. Um welche Art von Treffpunkt es sich dabei handelte, würde sie noch diskret in Erfahrung bringen müssen. Vielleicht ein Restaurant, »Chez Alfred«? Oder eine American Bar, »Alfred’s«? Hatte er überhaupt »Alfred« gesagt und nicht vielmehr »Arthur« oder »Auguste«? Je länger sie darüber nachdachte, desto unsicherer wurde sie. Auch in Bezug auf Ort und Zeit des Treffens traute sie ihrem Gedächtnis plötzlich nicht mehr. Aber was hatte sie schon zu verlieren? Sie würde sich am Freitagabend irgendwie davonstehlen, ein Taxi nehmen und darauf hoffen, dass der Chauffeur mit der ungenauen Angabe des Fahrziels mehr anfangen konnte als sie.

Die ganze Woche über dachte Ana Carolina an ihr heimliches Rendezvous. Dabei war die Vorfreude auf die Verabredung selber nicht halb so aufregend wie der Gedanke daran, sich überhaupt auf ein solches Abenteuer einzulassen: Ana Carolina gefiel sich einmal mehr in der Rolle der Femme fatale. Sich mit einem Fremden zu treffen gehörte zu den Dingen, die ein anständiges Mädchen nun einmal nicht tat. Genau das machte ja den Reiz aus.

Marie bemerkte, dass ihre Cousine etwas ausheckte, doch ihr Stolz verbot es ihr, nachzuforschen. Sie ließ gelegentlich eine Bemerkung fallen – »du gibst dich ja neuerdings so geheimnisumwittert« oder »ich bin dir wohl nicht mehr gut genug, seit du diesen Fremden aufgegabelt hast« –, aus deren spitzem Ton Ana Carolina die Enttäuschung Maries heraushörte, nicht eingeweiht worden zu sein. Dennoch behielt sie ihr Geheimnis für sich.

Sie verwandte viel Sorgfalt darauf, ein Alibi für den Freitag zu konstruieren, das auch vor Marie standhalten würde. Glücklicherweise war deren Geburtstag nicht mehr fern, so dass Ana Carolina eine vermeintliche Überraschung als Grund heranziehen konnte, warum sie allein aus dem Haus musste. Ihrer Tante Joana gab sie dieselbe Erklärung. »Weißt du, tia, ich habe mir etwas wirklich Außergewöhnliches für Marie ausgedacht, und ich muss dafür eine Spezialistin aufsuchen. Die aber hatte nur noch diesen einen Termin für mich frei. Bitte, dringt nicht in mich, ich verspreche, dass alles ganz harmlos ist und ich um Punkt 22 Uhr wieder zu Hause sein werde. Wenn du möchtest, kannst du mir ja auch Yvette als Aufpasserin mitgeben.«

Yvette war das Hausmädchen, und Ana Carolina wusste genau, dass sie am Freitag ihren freien Abend haben würde, an dem sie ihre Familie in einem Vorort von Paris besuchen wollte.

»Na schön«, ließ sich Tante Joana schließlich erweichen, »du bist ja immerhin schon eine ziemlich erwachsene junge Dame.«

Ziemlich erwachsen, dachte Ana Carolina, war doch wohl die Untertreibung des Jahres! Mit zwanzig Jahren hatten andere Frauen schon Mann und Kinder, während sie selber behandelt wurde wie ein Schulmädchen. Die Fürsorglichkeit ihrer Tante war beinahe noch schlimmer als die ihrer Mutter, und das, obwohl sie nicht einmal ihre echte Tante war. Tia Joana war mit dem Bruder von Dona Vitória verheiratet gewesen, Pedro, der viele Jahre vor Ana Carolinas Geburt gestorben war. Aber die beiden älteren Damen betrachteten sich weiterhin als Schwägerinnen, und eine tiefe Freundschaft verband sie.

»Danke, tia! Du wirst sehen, es lohnt sich. Lass dich überraschen!«, jubelte Ana Carolina, als sie die Erlaubnis bekommen hatte, abends noch allein aus dem Haus zu gehen. Einen winzigen Makel hatte das Ganze allerdings doch. Denn jetzt musste Ana Carolina sich ein wirklich ausgefallenes Geschenk für ihre Cousine überlegen und obendrein eines, das den Besuch einer »Spezialistin« erforderlich machte. Ach, da würde ihr schon noch etwas einfallen.

 

Am Freitagabend nahm Ana Carolina sich ein Taxi. Der Fahrer hatte noch nie von »Alfred« gehört, so dass sie sich einfach vor einem Café absetzen ließ und sich durchfragte. Das war, sagte sich Ana Carolina, eine ziemlich dumme Idee gewesen, denn ein feiner, eiskalter Nieselregen sorgte dafür, dass sich kaum Passanten auf der Straße befanden und sie selber in kürzester Zeit durchgefroren war. Als sie »Alfred«, ein winziges Restaurant in der ersten Etage eines Geschäftshauses, endlich gefunden hatte, war es bereits Viertel vor neun. Da ihr Galan nicht vor der Tür stand, vermutete sie ihn im Innern. Doch dort war er auch nicht. Ana Carolina ließ ihren Blick mehrmals durch das heimelige Lokal schweifen, ohne einen Mann zu entdecken, der Antoine auch nur annähernd ähnlich sah. Verflucht! Sie war wütend darüber, dass sie so spät dran war. Noch mehr aber ärgerte sie sich über Antoine, der sie zu einem unbekannten Lokal bestellte und dann nicht einmal auf sie wartete. Sie sehnte sich danach, sich an einem der liebevoll eingedeckten Tische niederzulassen, am besten in der Nähe des Kamins, und sich ein wenig aufzuwärmen. Wie schön es gewesen wäre, hier mit einem Verehrer zu speisen! Auf allen Tischen standen Kerzenleuchter, und die Atmosphäre war sehr romantisch. Vielleicht kam er ja noch? Womöglich war er nur kurz aufgestanden, um die Toilette aufzusuchen? Aber nein – sie musste realistisch bleiben. Der Mann hatte sie versetzt. Abrupt machte Ana Carolina auf dem Absatz kehrt und hastete zum Ausgang. Tränen stiegen ihr in die Augen, und sie versuchte sie herunterzuschlucken. Das wäre der Gipfel der Demütigung, wenn sie wegen eines treulosen Kerls auch noch heulte.

»Sind Sie Mademoiselle Caro?«, sprach sie plötzlich ein befrackter Mann, wahrscheinlich der Oberkellner, an. Sie stand bereits an der Tür und wünschte sich nun nichts sehnlicher, als dieses Lokal so schnell wie möglich zu verlassen.

»Äh, ja, die bin ich.«

»Ich habe eine Nachricht von Monsieur Antoine für Sie.«

»Ja?«

Er reichte ihr einen kleinen zusammengefalteten Zettel. Ana Carolina musste sich zusammenreißen, um nicht allzu begierig nach der Notiz zu greifen. »Danke«, sagte sie nur und verließ das Restaurant, ohne die Nachricht gelesen zu haben. Erst im Treppenhaus entfaltete sie den Zettel. Es handelte sich um ein Blatt aus einem Kellnerblock, auf den Antoine hastig ein paar Worte gekritzelt hatte. »Allein wollte ich nicht speisen. Aber vielleicht leisten Sie mir noch Gesellschaft bei einem Glas Wein? Ich warte im Café Royal auf Sie. Es ist gleich an der Metrostation, nur wenige Schritte von hier. A.«

Ana Carolina war erleichtert und empört zugleich. Hätte er nicht auch ein Glas Wein bei Alfred bestellen können? Was war das für ein albernes Spielchen – eine Schnitzeljagd durch Paris? Wie konnte er sich erdreisten, sie bei diesem Hundewetter durch die Gegend zu scheuchen? Und wieso, verdammt noch mal, freute sie sich über die Aussicht, ihn wiederzusehen?

Sie zog den Mantel enger um sich und machte sich auf den Weg. Kaum zwei Minuten später erreichte sie das Lokal. Was an diesem Café Royal außer dem Namen königlich sein sollte, war ihr schleierhaft. Es machte den Eindruck einer äußerst bodenständigen Brasserie. Lautes Gelächter quoll aus der Tür, als ein Paar auf die Straße hinaustrat. Ana Carolina fühlte sich auf einmal gehemmt. Ganz allein in ein Lokal zu gehen, noch dazu in eines, in dem vermutlich einfache Leute verkehrten, war sie nicht gewohnt. Courage, Mademoiselle!, ermahnte sie sich und nahm all ihren Mut zusammen. Als sie durch den dicken roten Filzvorhang trat, der den Schankraum vor der klammen Kälte abschirmte, die durch die Tür drang, schlugen ihr Tabakqualm und eine feuchte, stickige Hitze entgegen. Die Luft roch abgestanden und nach schalem Alkohol. Doch die Wärme und das Duftgemisch waren beruhigend und irgendwie tröstlich. Es war sehr voll in dem Lokal, so dass sie einen Moment brauchte, um sich zu orientieren und die Gesichter an den Tischen zu studieren. Einen Mann, der allein saß, entdeckte sie nirgends. Erst als sie sich Richtung Tresen wandte, sah sie ihn.

Ja, das war er. Unverwechselbar, selbst im Profil. Und attraktiver, als sie ihn in Erinnerung hatte.

Er hatte ihr Eintreffen noch nicht bemerkt, so dass sie ihn in aller Ruhe betrachten konnte. Sein schwarzes Haar war zerzaust, seine Kleidung viel legerer als bei ihrer ersten kurzen Begegnung. Er sah blendend aus, obwohl er ein wenig trübsinnig in sein Weinglas starrte. Ana Carolinas Herz begann zu rasen. Was war eigentlich in sie gefahren, dass sie sich hier mit einem Unbekannten traf? Ob sie nicht doch noch schnell umkehren und nach Hause fahren sollte? Sie wusste nichts, rein gar nichts über diesen Mann, außer dass er immerhin Kavalier genug gewesen war, sie aus dem unsäglichen Cabaret zu retten und ihr das Taxi zu spendieren. Ihr fielen all die grässlichen Geschichten ein, mit denen Tante Joana sie zu ängstigen pflegte: von Sittenstrolchen, Entführern und Mädchenmördern, die offenbar alle auf ein Opfer wie sie aus waren, nämlich eine hübsche und viel zu arglose junge Frau.

Gerade als Ana Carolina sich einredete, dass sie nun eigentlich gar nicht mehr in der Stimmung für ein Rendezvous war, drehte Antoine sich auf seinem Barhocker um. Ihre Blicke trafen sich. Ana Carolina war wie elektrisiert. Wie konnte ein einziges Lächeln ein Gesicht derart verändern? Während Antoine vorher von einer klassischen, strengen Schönheit gewesen war, sah er nun, mit seinem breiten Strahlen, herzlicher, jünger und noch umwerfender aus. Sie konnte nicht anders, als zurückzulächeln.

»Ah, meine unzuverlässige Mademoiselle Caro! Was für köstliche Qualen Sie mir bereitet haben«, begrüßte er sie.

»Ich bitte Sie, Monsieur Antoine. Sie wissen gar nicht, was echte Qualen sind. Laufen Sie nur einmal in solchen Schuhen«, dabei zeigte sie auf ihre eleganten Pumps, »durch Schneematsch einem ungeduldigen Mann hinterher.«

»Ich hätte Sie gar nicht für den Typ Frau gehalten, der einem Mann hinterherläuft.«

»Sie sind ja der reinste Wortverdreher. Sie müssen in der Politik sein. Oder ein Anwalt?«

»Kommen Sie, meine Liebe, nehmen Sie erst einmal Platz. Was trinken Sie?«

»Anwalt, ganz klar. Ausweichende Antworten auf klare Fragen.«

Antoine lachte leise in sich hinein. Ana Carolina setzte sich auf den Hocker neben seinem und rief mit einem Winken den Barmann herbei. »Einen trockenen Martini Cocktail, bitte.«

»Wie grausam Sie sind. Sie gönnen mir nicht einmal das Vergnügen, Ihnen den Drink zu bestellen. Ist es das, was die Frauen von heute unter Gleichberechtigung verstehen?«

»Ja, unter anderem.«

»Lassen Sie mich Ihnen den Cocktail wenigstens spendieren?«

»Selbstverständlich. Die Emanzipation hat ihre Grenzen. Sie dürfen mir übrigens auch gern aus dem Mantel helfen.«

»Wie unaufmerksam von mir!« Antoine zwinkerte ihr zu, erhob sich, nahm ihr den Mantel ab und brachte diesen zu einem Garderobenständer. Ana Carolina war hingerissen. Wie gut er aussah! Wie herrlich er sich bewegte! Ach, und wie sie dieses harmlose Geplänkel liebte!

Als er zurückkam, stand bereits ihr Drink vor ihr. Er nahm sein halbvolles Weinglas, erhob es und sagte in aufgesetzt feierlichem Ton: »Auf die modernen Frauen!«

Ana Carolina nickte und stieß mit ihm an. Sie hatte sich eigentlich nie für besonders emanzipiert gehalten. Dass sie ihr Getränk selber bestellt hatte, war eher aus Verlegenheit geschehen. Andererseits: War sie nicht allein ausgegangen, um sich mit einem Fremden zu treffen? Wenn das nicht modern war!

»Sie müssen mir alles von sich erzählen«, forderte er sie auf.

»Alles?«

»Nun, beginnen wir damit: Woher kommen Sie? Ihr Akzent ist einfach zu charmant.«

Sie sei aus Südamerika, berichtete Ana Carolina, genauer, aus Argentinien. Sie sei in Paris ihres Literaturstudiums wegen, flunkerte sie weiter, und für die Dauer ihres Aufenthaltes teile sie sich ein Appartement mit einer Kommilitonin. Sie sei kurz vor dem Examen und gerade dabei, ihre Magisterarbeit über Molière zu verfassen. Je mehr sie redete, desto leichter fielen ihr die Lügen. Es machte ihr Spaß, diesem Mann eine Geschichte aufzutischen, die ihr viel glanzvoller als die Wahrheit erschien und die sie in einem besseren Licht dastehen ließ. Sie machte sich älter, als sie war, und sie machte sich klüger. Sie konnte ihm schließlich schlecht erzählen, dass sie erst zwanzig war, dass sie gar nichts Sinnvolles tat, weder studieren noch arbeiten, oder dass sie bereits in einer guten halben Stunde aufbrechen musste, weil ihre Tante sie sonst nie wieder allein vor die Tür lassen würde.

Von ihm erfuhr sie, dass er Pilot war und in einem Komitee saß, das über die Erfolge, Rekorde und Erfindungen in der Fliegerei zu urteilen hatte. Die Fortschritte im Flugzeugbau seien unglaublich, und der Ehrgeiz der Piloten sei es nicht minder. Er berichtete in äußerst unterhaltsamer Weise von den verschiedenen – misslungenen – Versuchen der Flieger, einen Preis über 25000US-Dollar für den ersten Nonstop-Flug zwischen Paris und New York einzuheimsen, den ein exzentrischer Hotelier bereits 1919 ausgelobt hatte. Bislang war es niemandem gelungen. Er unterhielt sie mit teils lustigen, teils tragischen Anekdoten von Flugpionieren oder Postfliegern, und er imponierte ihr mit seiner Fähigkeit, Fachwissen so anschaulich zu vermitteln.

»Dann kennen Sie bestimmt auch meinen … den großen Alberto Santos-Dumont?«, fragte Ana Carolina. Beinahe wäre ihr herausgerutscht »meinen Landsmann«. Himmel noch mal, wieso hatte sie sich eigentlich als Argentinierin ausgegeben? Sie mochte die Nachbarn nicht einmal. War es, weil der Tango hier derzeit so hoch im Kurs stand und man die Argentinier allesamt für leidenschaftliche Menschen hielt, die zu großen Gefühlen fähig waren, während das Klischee des Brasilianers weit weniger schmeichelhaft war?

»Ja, ich habe seine Bekanntschaft gemacht. Ein eigenartiger Mensch. Gar nicht so, wie man sich die Brasilianer vorstellt.«

»Wie stellen Sie sich die denn vor?«

»Nun ja, temperamentvoll, ausgelassen, fröhlich, ein wenig undiszipliniert …«

Ana Carolina besann sich auf ihre falsche Identität, über die sie nun wieder froh war, und ergänzte: »… eine Bande von faulen Nichtsnutzen.«

Antoine lachte darüber. »Ich habe schon gehört, dass man in Argentinien so seine Probleme mit dem Nachbarland hat.«

»Allerdings. Ein unerfreuliches Thema. Lassen Sie uns lieber über Europa reden. Über Paris. Kommen Sie von hier?«

»Ich lebe seit vier Jahren hier. Ich komme aus einem kleinen Dorf, das Sie nicht kennen werden.«

Und so plauderten sie angeregt weiter, lachten, tranken und genossen die Gesellschaft des anderen. Ana Carolina fand sich ernst genommen wie lange nicht mehr, sie fühlte sich lebendig, begehrenswert und schön. Es war herrlich. Doch ein zufälliger Blick auf die Wanduhr ließ sie erschrocken zusammenzucken.

»Jesus und Maria, es ist schon nach zehn! Ich muss aufbrechen.«

»Haben Sie noch eine andere Verpflichtung heute Abend?«

»So könnte man es sagen.«

»Sehen wir uns wieder?«

»Sehr gern.«

»Wie erreiche ich Sie?«

Ana Carolina überlegte fieberhaft, wie sie diese Klippe umschiffen sollte. Sie konnte ihm unmöglich Adresse oder Telefonnummer geben. »Gar nicht. Lassen Sie uns eine neue Verabredung treffen. Bei der Sie dann bitte schön auf mich warten werden.«

»Und zu der Sie pünktlich erscheinen?«

»Ich versuche es.«

Antoine schmunzelte. Er kritzelte eine Nummer auf einen Bierdeckel und gab ihn ihr. »Hier erreichen Sie mich. Falls Sie es sich anders überlegen sollten.«

»Anders als was? Mir muss entgangen sein, dass wir schon etwas ausgemacht hatten.«

»Sonderbar. Mir war so, als hätten Sie zugestimmt, sich mit mir im Lichtspielhaus am Boulevard des Italiens zu treffen, und zwar am kommenden Samstag um 20 Uhr.«

»Oh, da habe ich bereits etwas vor. Sollen wir nicht lieber die Nachmittagsvorstellung besuchen?« Ana Carolina beglückwünschte sich im Stillen für ihre schnelle Reaktion. Ein weiterer abendlicher Ausgang wäre schier unmöglich zu bewerkstelligen, jedenfalls nicht, ohne Marie einzuweihen.

»Einverstanden. Also um 16 Uhr vor dem Filmtheater?«

Ana Carolina nickte. Leise lächelnd sagte sie: »Ich freue mich.«

Antoine sah ihr tief in die Augen. »Nicht so sehr wie ich.«

Nachdem er bezahlt hatte, half er ihr in den Mantel und begleitete sie nach draußen, um ein Taxi zu rufen. Der Wagen kam, und er öffnete ihr die Tür. Gerade als sie einsteigen wollte, nahm er ihre Hand, zog Ana Carolina zu sich heran und hauchte, wie es in Frankreich üblich war, zwei Küsschen auf ihre Wangen. Anders als üblich traf er dabei allerdings ihre Mundwinkel und streifte beim Seitenwechsel ihre Lippen. Es war eine sehr zärtliche Berührung, und eine sehr intime, die den Wunsch nach mehr weckte.

Ana Carolina dachte während der Heimfahrt an nichts anderes als daran, wie es wäre, richtig von Antoine geküsst zu werden.

 

Die Woche bis zu ihrer Verabredung zog sich endlos hin. Mit jedem Tag wurden Ana Carolinas Gefühlsschwankungen extremer. Während sie morgens mit einem köstlichen Kribbeln im Bauch erwachte und ihr der trübe Winter plötzlich viel strahlender erschien, war sie nachmittags, in Gesellschaft Maries oder ihrer Tante, oft unausstehlich. Sie empfand ihren Alltag als öde und ihre Verwandten als vollkommen uninspirierend. Die herrschaftliche Wohnung in einem wunderschönen Haussmann-Gebäude erschien ihr wie der Gipfel an Spießbürgerlichkeit, und die Freunde von Marie kamen ihr nun wie die größten Langweiler vor. Doch schließlich hatte die unerträgliche Warterei ein Ende.

Am Samstagnachmittag floh sie förmlich aus dem Haus. Sie warf Marie eine unglaubwürdige und beleidigende Erklärung hin – »ich muss mal ein wenig frische Luft schnappen, hier drin erstickt man ja vor Tristesse« – und ließ der anderen keine Zeit, sich ihr anzuschließen. Es war noch hell, und sie nahm die Metro bis zur Station »Opéra«. Da sie noch ein wenig Zeit hatte, ging sie in ein Bistro und bestellte sich einen Kaffee. Diesmal würde sie keinen Alkohol anrühren, schwor sie sich, denn Antoine sollte sie ja nicht für eine Trinkerin halten. Sie zog ein silbernes Schminkspiegelchen aus ihrer Tasche und trug ein wenig Rouge sowie Lippenstift auf. Anschließend befestigte sie ein Paar auffälliger Perlenohrringe an ihren Ohrläppchen und rückte ihre Mütze aus Waschbärenfell schief auf den Kopf, was ihr ein koketteres Aussehen verlieh. Um keinen Verdacht aufkommen zu lassen, hatte sie es nicht gewagt, sich zu Hause hübsch zu machen.

Dann endlich schlenderte sie zu dem großen Filmtheater. Es befanden sich zahlreiche Menschen davor, die offenbar für die nächste Vorstellung anstanden. Trotz des garstigen Wetters, es fiel ein dünner Schneeregen, war die Stimmung auf dem Trottoir gut. Manche Leute hielten Sektgläser in der Hand, andere rauchten, hier und da wurde gelacht, einmal hörte sie auch einen empörten Aufschrei, als ein vorbeifahrendes Auto eine Dame nass spritzte. Ana Carolina warf einen Blick in das überfüllte Foyer des Kinos und beschloss, ebenfalls hier draußen zu warten. Sie suchte Schutz unter dem ausladenden, elegant geschwungenen Vordach und zündete sich eine Zigarette an. Einige Männer sahen sie vorwurfsvoll an – noch immer war die »neue Frau«, die in der Öffentlichkeit rauchte, eine Ausnahme.

Allmählich dünnte die Menschenmenge aus. Die meisten waren inzwischen nach drinnen gegangen, wo der Einlass begonnen hatte. Ana Carolina ließ ihren Blick durch die großen Fenster hindurch über die plakatierten Wände schweifen. Es war ihr gleich, welcher Film gegeben wurde – was sie suchte, war eine Wanduhr. Als sie eine entdeckte, mochte sie ihren Augen nicht recht trauen. Halb fünf! Hatte dieser Unmensch sie etwa schon wieder versetzt? Oder wartete er drinnen auf sie? Aber nein, dann hätte er doch längst herauskommen und hier draußen nach ihr Ausschau halten müssen, oder etwa nicht?

Dennoch ging sie hinein. Sie fand ein kleines Café, das allerdings jetzt, da fast alle im Vorführraum verschwunden waren, so gut wie leer war. Von Antoine war nichts zu sehen. Sie nahm Platz, bestellte sich einen weiteren Kaffee und entschied, dass sie, sobald sie diesen ausgetrunken hatte, gehen würde. Aus dem Vorführsaal drang gedämpft die Pianomusik, die den Stummfilm begleitete, sowie gelegentliches Gelächter. Diese akustische Kulisse ließ Ana Carolina ihr einsames Warten noch trauriger erscheinen, als es ohnehin schon war. Sie hätte heulen können. Und der halb anzügliche, halb mitleidige Blick des Kellners, der mit solchen Situationen vertraut zu sein schien, gab ihr den Rest.

Zur selben Zeit stürmte Antoine aus einem Waggon der Metro, rücksichtslos alle anderen Fahrgäste beiseitestoßend. Er war wirklich vom Pech verfolgt. Erst war sein Wagen wegen der Kälte nicht angesprungen, so dass er zur Metrostation laufen und damit eine viertelstündige Verspätung hinnehmen musste. Dann hatte der poinçonneur, der Fahrkartenknipser, irgendetwas an seinem billet erster Klasse auszusetzen gehabt und ihn gezwungen, ein anderes Ticket zu kaufen. Schließlich war die Untergrundbahn auf halber Strecke auch noch minutenlang stehen geblieben. Jetzt war es Viertel vor fünf. Wenn die schöne Caro sich noch am verabredeten Ort befände, wäre das ein Wunder.

Natürlich war sie nicht mehr dort. Antoine glaubte nicht, dass sie allein in den Vorführsaal gegangen war. Oder sollte er lieber einmal dort nachsehen? Es war ihm herzlich egal, ob das Publikum ihn beschimpfen würde, wenn er sich in den Saal stellte und laut »Mademoiselle Caro« rief. Was konnte es schaden? Er begab sich auf den Weg dorthin, doch ein Platzanweiser hielt ihn auf und fragte nach seiner Karte. Herrgott, fluchte Antoine im Stillen, wie viele solcher wichtigtuerischer Ticketknipser gab es eigentlich in Paris? »Ich will den Film gar nicht sehen«, erklärte er dem Burschen, »ich suche nur eine Bekannte.«

»Wenn es eine junge, hübsche Dame mit südländischem Aussehen ist …«

»Ja?«

Der junge Mann wand sich verlegen in seiner Pagenuniform, bis Antoine endlich begriff, dass er die gewünschte Information nur gegen ein Trinkgeld herausrücken würde. Er gab ihm die stolze Summe von 50 Centimes.

»Die Demoiselle hat im Café gewartet. Sie ist vor fünf Minuten gegangen.«

Ana Carolina hatte, als sie die Treppe zur Metro hinabstieg, einen Blick auf jemanden erhascht, der wie Antoine aussah. Aber er war zu weit weg gewesen und zu schnell die Treppe hochgerannt, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, als dass sie hätte sicher sein können. Wahrscheinlich war es nur Wunschdenken. Und selbst wenn er es gewesen wäre: Mit einem so unzuverlässigen und unhöflichen filou wollte sie sich nicht abgeben. Durfte sie sich nicht abgeben. Gewollt hätte sie schon. Auch wenn sie wusste, dass es nicht gut für sie war.

In den folgenden Tagen überlegte Ana Carolina, ob sie ihn trotz allem anrufen sollte. Sie legte sich Erklärungen für ihn zurecht, redete sich die Sache immer schöner, fand unzählige Entschuldigungen für ihn. Viele Male war sie versucht, zum Telefon zu greifen und ihren Seelennöten ein Ende zu bereiten. Denn sie litt fürchterliche Qualen: Sie hatte sich verliebt, Hals über Kopf, in einen Mann, von dem sie weder den Familiennamen noch die Adresse kannte und von dem sie nicht mehr wusste, als dass er der bestaussehende und aufregendste Mann war, dem sie je begegnet war. Einmal war sie sogar schon so weit gewesen, eine Verbindung herstellen zu lassen. Doch das Fräulein vom Amt meldete sich nicht zurück, und Ana Carolina deutete dies als einen Wink des Schicksals. Es sollte nicht sein. Und so gewann allmählich ihr Verstand – und mit ihm die Wut – wieder die Oberhand. So wahr sie Ana Carolina Castro da Silva hieß: Sie würde keinem Mann je hinterherrennen.

 

Als sie Wochen später nach Portugal abfuhr, der letzten Station ihrer Europareise, hatte sie sich weitgehend gefasst. Das Verhältnis zu Marie, das bedenklich abzukühlen gedroht hatte, war wieder so herzlich wie vor dieser lächerlichen Episode mit Antoine, und auf dem Bahnsteig umarmten und küssten sie sich unter Tränen. Als der Zug sich endlich schnaubend in Bewegung setzte, stand Ana Carolina am geöffneten Fenster ihres Abteils und winkte. Tante Joana, Onkel Max, Marie und ihr inoffizieller Verlobter Maurice waren alle mit zur Gare de Lyon gekommen, und gemeinsam hatten sie in dem prunkvollen Bahnhofsrestaurant »Le Train Bleu« zu Mittag gegessen.

Ihr letzter Gedanke, bevor sie Paris verließ, galt Maries flatterndem Taschentuch. Was für ein dürftiges Geburtstagsgeschenk, ging es Ana Carolina durch den Kopf. Sie hatte schnell Maries Initialen in ein Dutzend Tücher hineingestickt – sie sahen ganz sicher nicht danach aus, als sei dafür der Besuch einer Spezialistin erforderlich gewesen.

Beschämt und zugleich gerührt ließ Ana Carolina sich auf die mit rotem Samt gepolsterte Bank fallen. Und jetzt endlich ließ sie ihren Tränen freien Lauf.

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Teil 1

Rio de Janeiro, Januar – Februar 1926

1

Dieses verfluchte Ding! Ana Carolina schaute verzweifelt auf die drei Scherben, die vor ihr auf dem Tisch lagen. Da hatte sie nun Porzellankitt besorgt und die drei Teile mit größter Sorgfalt zusammengefügt, doch sobald sie ihre Hand von dem geflickten Döschen löste, brach es wieder auseinander. Verdammt! Es handelte sich um ein altes Stück, das zwar weder antik noch besonders kostbar war, an dem jedoch das Herz ihrer Mutter hing. Wenn Dona Vitória entdeckte, dass ihr heißgeliebtes Porzellandöschen zerbrochen war, wäre sie untröstlich.

Nach acht weiteren Anläufen schienen Ana Carolinas dilettantische Reparaturversuche endlich zu fruchten. Die Bruchkanten waren zwar noch deutlich sichtbar, aber wenn erst der Deckel wieder auf dem kleinen Behältnis saß, der gottlob heil geblieben war, würde man vielleicht nichts merken. Wieso hatte sie es aber auch unbedingt aus der Vitrine nehmen müssen? Es hätte doch gereicht, es durch die schützende Glasscheibe hindurch zu betrachten und darüber zu sinnieren, welche Erinnerungen ihre Mutter wohl mit diesem Stück verbinden mochte.

Es gab nicht viel, woran Dona Vitória hing. Um genau zu sein, waren es ganze zwei Gegenstände im Haus, die ihr heilig waren: besagtes Porzellandöschen sowie eine Halskette mit einem Anhänger in Form eines Kaffeestrauchs. Alle anderen Dinge beurteilte sie einzig nach ihrem praktischen Nutzen. Erst heute Morgen hatte sie im Zimmer ihrer Tochter gewütet und dabei alles aussortiert, was in ihren Augen nicht der Aufbewahrung lohnte.

»Was willst du denn noch mit diesem alten Fetzen? Man trägt das heute nicht mehr. Und es ist ja nicht so, als wäre er über und über mit echten Perlen besetzt. Der kommt weg.« Damit hatte sie nach dem Kleid gegriffen, in dem Ana Carolina vor Jahren einen rauschenden Ball getanzt hatte, und es achtlos in einen Beutel gestopft.

»Mãe, nicht! Ich liebe dieses Kleid.«

»Papperlapapp. Was soll denn dein zukünftiger Ehemann davon halten, wenn du unmodische Kleider mitbringst, nur weil sie dich an deinen ersten Kuss erinnern? Einen Kuss wohlgemerkt, den du geschmackloserweise mit diesem Nichtsnutz Carlos ausgetauscht hast.«

Ana Carolinas Herzschlag hatte eine Sekunde lang ausgesetzt. Woher wusste ihre Mutter das nun wieder? Konnte man vor dieser Frau denn gar nichts geheim halten?

»Jetzt schau mich doch nicht so erschrocken an. Hast du etwa gedacht, so etwas bliebe vor mir verborgen?« Dona Vitória hatte das Kleid mit Nachdruck noch etwas tiefer in den Beutel gepresst. »So, weiter. Ich habe nicht viel Zeit, Bankdirektor Gonçalves kommt zum Mittagessen.«

Diese Unterhaltung lag erst wenige Stunden zurück. Der Bankdirektor war nach dem digestivo – bei dem Ana Carolinas Anwesenheit nicht erwünscht war – mit roten Wangen und mit unsicherem Gang zu seinem Auto gewankt, und ihre Mutter hatte sich mit triumphierendem Lächeln in ihr Arbeitszimmer zurückgezogen. Ana Carolina hatte sich nachdenklich vor die Vitrine gestellt und sich zum wiederholten Mal gefragt, was ihr Vater an einer Frau fand, die so kalt, berechnend und herzlos war. Vielleicht hatte dieses Rätsel den Impuls ausgelöst, sich das Porzellandöschen genauer anzuschauen.

Hinuntergefallen war es jedenfalls in dem Augenblick, in dem Mariazinha den Salon betrat, und zwar … in Ana Carolinas altem Ballkleid! Die Unverfrorenheit dieses Mädchens hatte Ana Carolina nicht zum ersten Mal wütend gemacht.

»Was rennst du hier am helllichten Tag in meinem Ballkleid herum? Willst du tanzen, anstatt zu arbeiten? Los, verschwinde! Und lass dich vor mir nie wieder in meinen ausgemusterten Kleidern blicken!«

Das Hausmädchen hatte dummdreist gegrinst, geknickst und sich verzogen, nur um wenige Augenblicke später wieder hereinzuplatzen: »Soll ich die Scherben auffegen, Senhorita?«

»Geh und hol mir etwas Kitt beim Töpfer-José. Sag ihm, ich bezahle ihn, wenn ich das nächste Mal in der Nähe bin. Und kein Sterbenswörtchen zu Dona Vitória.«

Nun, da die Porzellandose wieder repariert war, stellte Ana Carolina sie übervorsichtig in die Vitrine zurück und begutachtete ihr Werk. Nein, auf den ersten Blick würde man den Schaden nicht bemerken. Und mehr als einen oberflächlichen Blick würde ihre Mutter dem alten Ding ja wohl kaum gönnen.

 

Am nächsten Morgen kämpfte sich Ana Carolina abermals durch die Berge an Kleidung in ihrem Schrank. Viele Teile warf sie achtlos auf den Boden, um sie war es nicht schade. Doch bei einigen Kleidern und Accessoires zögerte sie. Die feine Handtasche, die sie zu ihrem ersten Rendezvous dabeigehabt hatte? Das federbesetzte Stirnband, das vor drei Jahren in Paris der letzte Schrei gewesen war? Oder die abgewetzten Ballerina-Schühchen, die sie an ihre früheste Jugend erinnerten? Waren sie es wert, dass man sie in Ehren hielt? Oder waren sie nur Ballast, wenn sie demnächst ihre Reise in eine strahlendere und freiere Zukunft antrat?

Denn das stand für sie fest: Als Ehefrau von Henrique Almeida Campos wäre endlich Schluss mit der ewigen Bevormundung durch ihre Mutter. Vorbei wäre es dann mit der Eingezwängtheit, den erdrückenden gesellschaftlichen Zwängen, denen sie hier im Elternhaus unterworfen war. Schließlich lebten sie nicht mehr auf einer Kaffee-Fazenda zur Zeit der Sklaverei, sondern in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts! Die Zeiten hatten sich geändert – und ihre Eltern hatten es nicht bemerkt. »Wohlbehütet« mochten manche das Leben nennen, das Ana Carolina hier in Rio führte. Sie selber empfand es als unerträglich altmodisch und eingeengt.

Vielleicht lag es am Alter ihrer Eltern. Dona Vitória wurde demnächst sechzig Jahre alt, Don León war sogar über siebzig Jahre. Die beiden waren in Ana Carolinas Augen einfach zu betagt, um eine 23-jährige Tochter zu haben. Es ließ sich leicht ausrechnen, dass Dona Vitória ihre Tochter bekommen hatte, als sie schon 37 Jahre alt gewesen war. Das war einfach unanständig! Leute in diesem Alter sollten keine Kinder mehr in die Welt setzen, schon gar nicht, wenn sie bereits zwei Söhne hatten.

Ana Carolinas Brüder waren mehr als zehn Jahre älter als sie und hatten längst eigene Familien gegründet. Der Kontakt zu ihnen war nicht sehr eng gewesen, der Altersunterschied war einfach zu groß. Dennoch liebte Ana Carolina die beiden; den älteren, Pedro, mehr noch als den zweiten, Eduardo. Manchmal verbrachte sie ein paar Tage bei Pedro und seiner Familie, die in São Paulo lebten, und jedes Mal genoss sie die Freiheiten, die sie dort hatte. Pedro fand nichts dabei, wenn sie Kleider mit riesigem Rückenausschnitt trug, und seine Frau Francisca bot ihr sogar Zigaretten an. »Moderne Frauen rauchen nun einmal«, fand Francisca, »es ist ein Zeichen unserer Gleichberechtigung.«

Ihre schrecklich altmodischen Eltern dagegen verboten Ana Carolina sowohl den Tabakkonsum wie auch das Tragen allzu offenherziger Mode. Sie erlaubten ihr eigentlich gar nichts, was Spaß machte. Sie meckerten herum, wenn ihre Tochter Alkohol trank, sie hatten an den meisten ihrer Freunde etwas auszusetzen, und sie lehnten jeden ihrer Berufswünsche ab.

»Du kannst nicht Pilotin werden, Liebling.«

»Eine junge Dame deiner Herkunft muss kein Geld verdienen.«

»Eröffne doch einen literarischen Salon oder versuche dich als Künstlerin.«

»Erinnern wir uns doch bitte einmal an das letzte Mal, da du der Welt deine Unabhängigkeit beweisen wolltest …«

»Du kannst reisen, Tennis spielen und dich all deinen persönlichen Interessen widmen, so viel du willst.«

»Wer will denn freiwillig arbeiten gehen? Und als was? Willst du etwa Gouvernante werden oder gar Tippmamsell?«

»Wir finanzieren dir ein Leben in Luxus. Was willst du mehr? Du bist undankbar!«

Das waren die Kommentare, die Ana Carolina meist zu hören bekam. Es seien Liebe und Fürsorglichkeit, hatte Pedro ihr einmal zu erklären versucht, die aus den elterlichen Verboten sprächen. Aber Ana Carolina kam es so vor, als sei es eher Neid auf ihre Jugend sowie die Möglichkeiten, die sich Frauen heutzutage boten – sofern ihre Väter oder Ehemänner sie unterstützten. Ana Carolina hätte durchaus Medizin studieren oder einen Pilotenschein machen können, wenn ihr Vater sich für sie eingesetzt hätte. Ohne seine Einverständniserklärung jedoch ging gar nichts. Selbstbestimmung war anscheinend etwas, das den ärmeren Frauen vorbehalten war. Oder mussten Köchinnen, Krankenschwestern und Lehrerinnen etwa auch die Genehmigung eines Mannes vorlegen, um ihren Beruf ausüben zu können? Bestimmt nicht.

Wütend riss Ana Carolina ein langes Seidenkleid aus ihrem Schrank. Es war schwarz, eng geschnitten, schulterlos und auch zwei Jahre nach der Anschaffung noch immer sehr gewagt. Weg damit! Dieser blöde Fummel hatte sie ein Vermögen gekostet – und beinahe auch noch ihren guten Ruf. Es erfüllte sie bis heute mit Scham, dass ihr erster und einziger Versuch, auf eigenen Beinen zu stehen, so kläglich gescheitert war. Wie war sie jemals auf den irrsinnigen Gedanken gekommen, irgendetwas vor ihrer Mutter geheim halten zu können?

Als sie ihr Literaturstudium begann, als eine der ersten Frauen Rios, war ihr schnell klargeworden, dass die akademische Welt sie nicht im mindesten reizte. So hatte sie sich auf die Suche nach einer Arbeit als Pianistin gemacht, denn Klavier spielen konnte sie als höhere Tochter mit einschlägiger Erziehung durchaus gefällig. Sie hatte tatsächlich eine Stelle ergattert, wo man es mit den Formalitäten nicht so genau nahm und man ihr den mageren Lohn wöchentlich in bar auszahlte, allerdings nicht als Klavierspielerin, sondern als Garderobiere in einem illegalen Kasino. Sie arbeitete ausschließlich während der Matineen, in der Zeit also, die sie angeblich an der Fakultät verbrachte. Fast ein halbes Jahr lang war es gutgegangen. Dann hatte ein Besucher sie als die Tochter von Dona Vitória identifiziert und sein Wissen sogleich gewinnbringend an die berühmte Millionärin weitergereicht. Ana Carolina war von ihrem wutentbrannten Vater hinter ihrem Garderobentresen hervorgezerrt worden, während ihre Mutter alles unternahm, um den unvermeidlichen Gerüchten Einhalt zu gebieten.

Und der Mann, der Ana Carolina erkannt und verpfiffen hatte, wunderte sich, warum ihm fortan nur noch Pech im Leben beschieden war.

 

Dennoch war Ana Carolinas Leben auch ohne eine erfüllende Arbeit nicht ereignislos. Gehörte man zu den oberen Tausend, hatte man alle Hände voll zu tun, um seinen gesellschaftlichen Verpflichtungen nachzukommen. Es galt Diners zu organisieren und zu Kammermusikabenden einzuladen. Man spielte Tennis und Bridge, man besuchte Lesungen oder Technik-Ausstellungen und ließ sich regelmäßig bei den Empfängen der anderen reichen Leute sehen. Die Damen überboten einander in ihren Wohltätigkeitsbemühungen. Vor allem aber wetteiferten sie darin, wer modisch die Nase vorn hatte: Es wurden Unsummen für die neuesten Magazine aus Paris ausgegeben, und ganze Armeen von Schneiderinnen taten nichts anderes, als die abgebildeten Kreationen zu kopieren. Die Mutigsten ließen sich sogar knappe, geringelte Badeanzüge nähen, in denen sie sich und ihre bis zur Mitte der Oberschenkel nackten Beine an den herrlichen Stränden der Hauptstadt zeigten. Noch immer zog man in einem solchen Badeanzug die nicht immer wohlwollenden Blicke der anderen Ausflügler auf sich.

All diese Dinge tat auch Ana Carolina. Sie kümmerte sich außerdem hingebungsvoll um die Gestaltung des Interieurs im elterlichen Hause. Auf ihre Anregung hin waren die wuchtigen Tropenholzmöbel aus dem vergangenen Jahrhundert auf den Dachboden geschafft und durch modernere Stücke ersetzt worden. Der neue Einrichtungsstil, der erst viele Jahre später den Namen »Art déco« erhalten sollte, war für die Hitze Rios wie geschaffen, denn die klaren Linien und die kühle Schnörkellosigkeit wirkten sich auf den Betrachter wie eine frische Brise aus.

 

Ana Carolina hatte gedankenlos ein Kleidungsstück nach dem anderen aus ihrem Schrank gezerrt und auf den Boden geworfen, als sie plötzlich innehielt. Sie bückte sich und hob ein Kleid auf, um es genauer zu betrachten. Sie hatte es im letzten Sommer gekauft, aber nur einmal getragen. Nachdem eine Freundin es negativ kommentiert hatte – »du siehst ja aus wie ein Giftfrosch« –, war ihr die Lust daran vergangen. Jetzt aber gefiel ihr das grasgrüne Stück wieder. Es sah fröhlich aus und dank seines eleganten Schnittes durchaus nicht albern. Spontan schälte sie sich aus ihren Sachen und zog das neu entdeckte Kleid an. Wie hübsch, dachte sie. Die frische Farbe hob ihre Stimmung merklich. Warum trug sie nicht öfter bunte Kleidung? Immer nur gedeckte Töne, Mauve und Beige und Grau – da musste man ja schwermütig werden. Dieses Kleid würde sie heute anbehalten. Es war wie geschaffen für den netten kleinen Ausflug, zu dem Henrique sie nachher abholen würde.

Aber welche Schuhe trug sie dazu? Sie wühlte in ihrem Schuhschrank, warf sofort einige Paar auf den großen Kleiderhaufen und entdeckte schließlich ein Paar schwarze Sandalen, die gut zu dem Kleid passen würden. Dazu ein schwarzes Samtband um den Hals, und fertig wäre ein wunderbares Sommer-Ensemble, das ihr schwarzes Haar und die grünen Augen perfekt zur Geltung bringen würde. Versöhnt mit sich und der Welt drehte sie sich ein paarmal vor dem großen Spiegel, bevor sie sich auf den Weg nach unten machte. Sie hatte Lust, sich so ihrem Vater zu zeigen und sich ein Kompliment von ihm anzuhören. Darin war er der Beste.

Im Erdgeschoss traf sie zunächst auf das Hausmädchen, dem sie Anweisung gab, sich um die aussortierten Kleider und Schuhe zu kümmern. Sie könne damit nach Gutdünken verfahren, solange sie keine Tanzkleider in der Küche trug. Und sie möge bitte auch die anderen Dienstboten bedenken. Das, so dachte Ana Carolina, wäre eigentlich ihre eigene Aufgabe gewesen. Mariazinha würde sich die besten Sachen schnappen und die anderen mit ein paar abgetragenen Leibchen abspeisen. Aber im Augenblick war es ihr egal. Außerdem würde sich später sicher eine Gelegenheit finden, etwa beim Ausrangieren von Toilettenartikeln, bei der sie den anderen den Vortritt lassen konnte.

»Was für einen erfrischenden Anblick du heute bietest!«, rief ihr Vater, als er sie in der Tür seines Schreibzimmers erblickte. Er legte die Zeitung beiseite, schob seine Lesebrille auf den Kopf und drehte sich auf seinem Kontorstuhl zu ihr hin. Er gab einen kleinen Pfiff von sich, wie er sonst nur von Arbeitern zu hören war und der bei einem Don León ein wenig unziemlich anmutete. Aber Ana Carolina freute sich darüber und machte sogar noch eine kleine Pirouette, damit er sie von allen Seiten bewundern konnte.

Seine Tochter, dachte León nicht zum ersten Mal, sah der jungen Vita verblüffend ähnlich. Abgesehen von der Augenfarbe und dem etwas dunkleren Hautton glichen sie einander wie Zwillinge. Doch das konnte er Ana Carolina natürlich nicht sagen. Sie wäre entsetzt, wenn man sie mit ihrer Mutter verglich.

»Komm her, Schatz, und erzähl deinem größten Verehrer etwas Erbauliches. Ich habe die Nase voll von all diesen Hiobsbotschaften in der Zeitung.«

»Ach, papai, du weißt genau, dass ich hier nichts erlebe, geschweige denn etwas Erbauliches. Der Höhepunkt des Tages wird ein kleiner Ausflug auf den Corcovado sein, zu dem Henrique mich gleich abholt.«

»Oh, und ich hatte mir schon eingebildet, du hättest dich für mich so schön gemacht.«

»Gefällt es dir? Juliana hat mich einen Giftfrosch genannt, als ich das Kleid das letzte Mal trug.«

»Du siehst hinreißend aus. Und Juliana sagt solche Dinge nur, weil sie selber eine Giftschlange ist. Eine hässliche noch dazu.«

»Du findest sie hässlich? Das kann ich nicht glauben. Die meisten Männer liegen ihr zu Füßen.«

»Es muss an ihrer Oberweite liegen. Oder an ihrer Dummheit. Oder daran, dass sie so gemein ist. Oder an allen dreien zusammen. Erstaunlicherweise mögen viele Männer diese Kombination.«

»Warum gibst du deine Weisheiten erst jetzt preis, da ich kurz davorstehe zu heiraten? Ich hätte ein wenig dümmlicher dreinschauen und ein bisschen garstiger zu den Männern sein können.«

»Hätte es etwas geändert?«

»Nein«, sagte Ana Carolina. »Wahrscheinlich hätte Henrique sich auch dann in mich verliebt.«

»Ich freue mich, dass er mein Schwiegersohn wird.« Und das tat León wirklich. Andere Burschen, die draufgängerischer und heißblütiger als Henrique waren, hätten bestimmt seine Eifersucht geweckt. Junge Männer, die mehr dem jungen León ähnelten. So einen Bräutigam hätte er sich für seine Tochter nicht gewünscht, wusste er doch aus eigener Erfahrung, wie groß die Reibung und wie tief die Enttäuschungen gewesen wären. Henrique war perfekt für Ana Carolina. Er war klug, tüchtig, ehrlich und von ausgesuchter Höflichkeit. Er würde seine Tochter glücklich machen.

»Hast du das gehört? Ich glaube, da kommt er schon.« Ana Carolina lief zum Fenster und sah auf die Auffahrt, wo Henrique gerade seinen »Ford mit Schnurrbart«, wie man das T-Modell landläufig nannte, abstellte. Sie riss das Fenster auf und begrüßte ihn rufend und winkend.

»Offen gestanden«, meinte ihr Vater, »wenn du so laut quakst, hast du schon eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Frosch.«

Lachend ging Ana Carolina aus dem Raum, um in der Halle ihren Verlobten in Empfang zu nehmen.

»Meine Liebe, du siehst bezaubernd aus. Ist das Kleid neu?«, begrüßte er sie.

»Wen kümmert’s? Hauptsache, es gefällt dir. Komm, lass uns im Salon eine kleine Erfrischung nehmen.«

»Gern. Aber viel Zeit haben wir nicht. Wir sollten in etwa einer Viertelstunde losfahren – auf dem Berg geht es drunter und drüber.«

Ana Carolina rief Rosa, das Mädchen, das gerade Dienst hier unten hatte, und trug ihr auf, Limonade sowie Gebäck zu bringen. Sie nahm neben Henrique auf dem Sofa Platz und gestattete ihm, ihre Hand zu nehmen. Natürlich hatte sie ihm bereits viel mehr als das gestattet, aber im Haus der Eltern wäre alles andere unschicklich gewesen. Wenig später betrat ihr Vater den Salon, erkundigte sich bei dem Schwiegersohn in spe nach dem Fortschritt des Baus sowie nach ein paar alltäglichen Banalitäten – »Was macht die Installation des Telefons? Hat der alte Vermieter die Kaution schon zurückgezahlt?« – und schlenderte dann ziellos umher, während er Henriques umständlichen Antworten lauschte. Man merkte ihm an, dass er die beiden höchst ungern in ihrer Zweisamkeit störte und nur blieb, weil er den jungen Mann nicht unterbrechen wollte.

»… als Dona Luisa mir verriet, dass Seu Filiberto gar nicht zur Bank gegangen war, sondern …«, führte Henrique weitschweifig aus.

»Wann ist das denn passiert?« León war stirnrunzelnd vor der Vitrine stehen geblieben.

»Das war vorgestern, kurz vor …«

»Das meine ich nicht.« León drehte sich zu seiner Tochter um.

Ana Carolina hielt seinem Blick stand, obwohl ihr Herz plötzlich schneller schlug. Ihr schwante schon, worum es ging.

»Was denn, pai?«, fragte sie so beiläufig wie möglich.

»Dieses Porzellandöschen. Es ist kaputt. Jemand hat es notdürftig repariert.«

»Oh nein!«, rief Ana Carolina aus und stand auf, um den Schaden zu begutachten. »Tatsächlich. Meine Güte, das ist schrecklich – ich weiß, wie sehr du daran hängst. Soll ich die Dienstboten zusammentrommeln, damit wir der Sache auf den Grund gehen können?«

»Nein, lass es gut sein. Darum kümmere ich mich.«

»Ich schätze, es war dieses nichtsnutzige Ding von Mariazinha«, behauptete Ana Carolina dreist. Sie fühlte sich trotz ihrer schäbigen Beschuldigung kein bisschen schlecht, sondern war im Gegenteil froh, dem blöden Mädchen seine fortdauernden Frechheiten einmal heimzahlen zu können.

In diesem Augenblick betrat Dona Vitória den Salon. Henrique erhob sich, verbeugte sich vor ihr und machte eine artige Bemerkung über ihr wundervolles Aussehen. Sie nickte ihm huldvoll zu, um gleich darauf zu ihrem Mann und ihrer Tochter vor die Vitrine zu treten.

»Was heckt ihr beiden denn hier aus?«

»Sieh nur, Mãe, das Döschen ist beschädigt!«, rief Ana Carolina in gespielter Verzweiflung. »Mariazinha, dieser dämliche Trampel, hat es wahrscheinlich abstauben wollen und dann herunterfallen lassen.«

Dona Vitória nahm das Stück in die Hand und betrachtete es nachdenklich. Einen unbehaglichen Moment lang senkte sich Schweigen über die kleine Runde, und Ana Carolina hätte wer weiß was dafür gegeben, die Gedanken ihrer Mutter lesen zu können. Dann nahm Don León seiner Frau behutsam das Porzellandöschen ab und setzte zu einer besänftigenden Rede an: »Hör mal, meu coração, wir könnten es professionell kitten lassen oder auch …«

»Was machst du denn für einen Aufstand wegen dieses blöden Tands?«, unterbrach ihn Dona Vitória ungehalten. »Das Versprechen, das daran hing, hast du ohnehin nie eingelöst, und ich bezweifle, dass wir es überhaupt je schaffen, nach Japan zu reisen.«

Ana Carolina und Henrique sahen einander betreten an.

»Ähm, wir müssen uns jetzt verabschieden. Die Pflicht ruft, die Pflicht ruft«, sagte Henrique bemüht fröhlich.

»Natürlich, lasst euch von uns nicht aufhalten«, erwiderte Dona Vitória. »Und genießt den Ausflug.« Sie drückte ihrer Tochter ein Küsschen auf die Stirn und gab Henrique die Hand.

Die beiden verließen fluchtartig den Salon.

Als Henrique Ana Carolina in der Halle ihren Sonnenschirm reichte, hörten sie, wie etwas gegen die Wand geworfen wurde und klirrend zerbrach.

2

Meine Güte, fährt diese Blechkiste nicht schneller?« Ana Carolina warf ihrem Verlobten einen vorwurfsvollen Blick zu, bevor sie sich von ihm abwandte und sich dem vorüberziehenden Panorama widmete. Doch auch der atemberaubende Anblick des Zuckerhutes, der über der Bucht von Botafogo thronte, konnte sie nicht besänftigen. Der Streit ihrer Eltern, dessen Zeugen sie unfreiwillig geworden waren, hatte sie aufgewühlt. Und nun ließ sie ihre schlechte Laune an dem armen Henrique aus, der es nicht einmal zu bemerken schien. Vollkommen ernst beantwortete er ihre Frage, als habe sie ihn tatsächlich um eine Auskunft gebeten.

»Aber ja doch, diese Blechkiste, wie du mein T-Modell so abfällig nennst, fährt durchaus schneller. Sie schafft bis zu 55 Stundenkilometer. Doch ich bezweifle, dass du derartigen Geschwindigkeiten gewachsen wärst. Im Übrigen ist es eine sehr verkehrsreiche Strecke. Es wäre wirklich verantwortungslos, so zu rasen.«

Ana Carolina verdrehte die Augen. Das war wieder einmal typisch für Henrique. Es war erschreckend, wie wenig er sie kannte und verstand. Er hätte wissen müssen, dass sie hohe Geschwindigkeiten liebte, dass rasante Fahrten im Automobil ihren Kopf frei fegten und sie ein wunderbares Gefühl der Freiheit verspüren ließen. Immerhin wusste er von ihrer heimlichen Spritztour im nagelneuen Citroën B 12 ihrer Eltern, einem Gefährt, das es mit seiner windschnittigen Torpedo-Karosserie auf über 75 Stundenkilometer brachte. Und die war Ana Carolina gefahren, wenn auch nur auf einem sehr kurzen Abschnitt, der kaum Kurven aufwies. Es war wunderbar gewesen! Sie hätte ihrem Bruder Pedro auf Knien dafür danken können, dass er ihr ein paar Fahrstunden gegeben und ihr dieses kleine Abenteuer erlaubt hatte. Natürlich waren ihre Eltern weniger begeistert von dieser Eskapade, als sie davon erfahren hatten, so dass Ana Carolina fortan zu einem Dasein als Beifahrerin verdammt war.

»Ach bitte, Henrique, zeig mir doch mal, was in der Blechkiste steckt. Nachher kommt die schöne gerade Strecke auf der Rua das Laranjeiras, auf der um diese Uhrzeit nicht viel los sein dürfte. Da könntest du doch mal ein wenig Gas geben, oder?«

Henrique warf Ana Carolina einen kurzen skeptischen Blick zu, bevor er wieder nach vorn sah. Er war ein überaus vernünftiger Fahrer. Allerdings war er auch sehr verliebt, und die Schmollschnute seiner Verlobten hatte ihn schon immer zu unvernünftigen Handlungen verleitet.

»Na schön, ich werde mal sehen, was sich machen lässt.«

»Danke, querido.« Am liebsten hätte Ana Carolina ihn nun auch noch gefragt, ob er sie nicht mal ans Steuer lassen könne. Aber das sparte sie sich für die Rückfahrt auf. Wenn sie zu fordernd wurde, verschloss Henrique sich ihren Anliegen. Dosierte sie ihre Wünsche jedoch sparsam, konnte ihr zukünftiger Gemahl ihr kaum je einen abschlagen. Es würde eine harmonische Ehe werden, dachte Ana Carolina. Sie würde tun und lassen können, was sie wollte, wenn sie Henrique erst ein wenig bearbeitet hatte. Und das war alles, was sie sich von einer Ehe erhoffte.

Wer brauchte schon Liebe und Leidenschaft?