Japhet Morsus - Peter Mühlhauser-Trois - E-Book

Japhet Morsus E-Book

Peter Mühlhauser-Trois

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Beschreibung

»Ich bin nun mal ein Zauberer. « »Ja leider.« »Zauberer sind also so furchtbar?« »Das habe ich nicht gesagt.« Aber gedacht. Japhet bohrte Sem den Zeigefinger in die Brust. »Fragt sich nur, was du dann von mir willst?« Seine Stimme war fest und kalt. »Und ich dachte wir wären Freunde.« In dieser fantastischen Fortsetzung von Semual Khan wird die Freundschaft zwischen Sem und Japhet auf eine harte Probe gestellt. Kann Sem verhindern, dass Japhet zu Morsus wird? Band 2 der spannenden "Sem" - Tetralogie!

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Seitenzahl: 186

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Der Autor

Peter Mühlhauser-Trois, Jahrgang 1983, ist diplomierter Gesundheits- und Krankenpfleger und lebt mit seinem Sohn in der Nähe von Graz. Japhet Morsus ist sein zweiter Roman, der dritte Teil befindet sich bereits in Arbeit.

Die Erinnerung ist der beste Freund und der schlimmste Feind des Menschen.

Gilbert Parker

Inhaltsverzeichnis

Zu spät

Der Junge ohne Vergangenheit

Vino vero

Marek

Swetlanas Geburt

Von Katzen und Mäusen

Erinnerungsfetzen

Die Schuleinteilung

Spencer Spectable

Nomen est omen

Tommas und Richard

Stalldienst

Eigentümliche Ermittlungen

Böse Zauber

Das Versteck

Hectors Happy Meal

Späte Rache

Der Streit

Herr seiner Sinne

Nichts mehr so wie früher

Das Gadbet

Die goldene Münze

Eine seltsame Bitte

Der Angriff

Die Weiße

Das Buch ins Leben

Die Suche nach der Wahrheit

Gnomi

Unschönes Wiedersehen

Auf Leben und Tod

Ausradiert

Asche und Staub

Quid pro quo

"Leseprobe aus Peter Mühlhauser-Trois: HELGA HAM und das Medaillon von Sevilla

Damals

Happy Birthday, Sem

Zu spät

»Sucht!«, befahl Morsus seinen Männern, als ob er Hunde losschickte. Solange sie gehorchten, blieben sie am Leben. Sie verschwanden im Haus; einer nach dem anderen.

Sehr brav.

Mit verschränkten Armen folgte er ihnen über die Schwelle der Eingangstür.

Eine Fliege schwirrte träge auf ihn zu und hinterließ eine weiße Spur, wie Flugzeuge am Himmel. Die Luft in eine gallertige Masse zu verwandeln, war die beste Möglichkeit jemanden aufzuhalten. Klatsch. Das Insekt landete reglos vor seinen Füßen. Er trat darauf und verteilte den Kadaver über den Fußboden. Genauso würde es den Personen ergehen, die er im Haus vermutete. Niemand widersetzte sich ihm ungestraft. Die Erlöser sollten das eigentlich wissen, und Morsus‘ Männer würden jeden gottverdammten Winkel im Haus durchkämmen, um sie zu finden.

Ob sie hier tatsächlich ihr Unwesen trieben? Sein Instinkt sagte ihm, dass es so war. Und seinem Instinkt konnte er trauen.

Morsus schnippte mit den Fingern und die Luft war wieder klar; er hatte ihr lange genug den Sauerstoff entzogen. Keiner konnte so lange den Atem anhalten. Oder doch? Gmaf vielleicht, Erlöser bestimmt nicht.

Auf dem Boden vor ihm lag eine Frau - keine Gmaf, nur die Haushälterin. Ihre Augen standen weit offen. Dämliches Weib. Hatte nichts Besseres zu tun gehabt, als aus dem Fenster zu glotzen. Morsus stupste mit der Schuhspitze den leblosen Körper an. Er hatte sie sofort getötet, als sie seine Ankunft bemerkte, doch ihr Schrei hatte die Bewohner gewarnt; das Überraschungsmoment war vorbei.

Hoffentlich hatte sich die Luft schnell genug zusammengezogen und alle im Haus bewegungsunfähig gemacht. Zu ärgerlich, wenn einem die Flucht gelungen wäre.

»Die Lady hätte nicht sterben müssen«, rief Morsus. Seine Stimme hallte von den Wänden der Eingangshalle wider. »Zeigt euch und ich verschone eure Leben.« Er lächelte.

Zwei Männer traten vor und verbeugten sich.

»Im Erdgeschoss ist niemand.«

»In den oberen Stockwerken auch nicht.«

Morsus kniff die Augen zusammen. »Tatsächlich?« Für einen Moment war nur das Ticken der Wanduhr zu hören. »Und ihr seid euch vollkommen sicher?«

Die beiden suchten sofort weiter.

Diese Dilettanten. Hier ist jemand. Ganz bestimmt. Er konnte sie ... Er konnte sie riechen!

Morsus wanderte zum Esszimmer. An einem großen, runden Tisch aus Eichenholz standen drei Stühle, ein vierter lag umgekippt am Boden. Als er sich bückte, um unter das Tischtuch zu sehen, fiel ihm eine Haarsträhne ins Gesicht. Morsus blies dagegen, doch sie klebte fest. Genervt strich er sie mit dem Handrücken weg. Die Schweißausbrüche, die ihn überkamen, wenn er seine Kräfte einsetzte, gingen ihm mächtig auf den Zeiger.

Wurde er alt? Er war Mitte vierzig, in der Blüte seines Lebens. »Kommt raus, kommt raus«, flüsterte er. Gemächlich schritt er zu einem antiken Bücherregal, musterte es. Dante, Cervantes, Shakespeare, die Bibel, Hesse, Dickens, Twain, Tolstoi, Dostojewski, Proust, Melville, Freud, Wells, Carroll, Kafka, Doyle, Mitchell, Stoker, Defoe und drei Bücher über Okkultismus. Letztere waren die einzigen, die abgegriffen aussahen. Leichtgläubiges Volk!

Plötzlich riss er die Augen auf. Aufgeregt klatschte er in die Hände. »Hier her!« Seine Männer tauchten einer nach dem anderen hinter ihm auf. »Dieses Bücherregal«, sagte er gefährlich ruhig. »Wer von euch Nichtsnutze hat es untersucht?« Niemand rührte sich. »WER?«

Wie er dieses Pack doch hasste. Zu nichts zu gebrauchen. Er sollte sich eine Armee aus Zauberer zusammenstellen. Seinesgleichen. Doch dafür waren sie viel zu wenige. Er brauchte jeden Einzelnen auf seinem Posten.

»Das, ähm, war dann wohl ... ähm, ich«, stotterte ein beleibter Mann mit Glatze. Schweiß perlte auf seiner Stirn.

Morsus nickte, während er auf den Boden zeigte. »Sehen Sie diese Kratzer?«

»Ja«, antwortete der Mann.

»Und was schließen wir daraus?«

Der Glatzkopf schluckte. »Dass das Ding bewegt wurde?«

»Richtig«, sagte Morsus, ohne ihn anzusehen. Er ballte eine Faust und öffnete sie wieder. Ein glühend heißer Feuerball schwebte über seiner Handfläche.

»Es ... es tut mir leid, Herr.«

»Aber nicht doch«, sagte Morsus. Egal ob ihm der Mann die Kratzer absichtlich verschwiegen hatte oder nicht, für Verräter und Stümper hatte er keine Verwendung. Er drehte sich um und schleuderte den Feuerball direkt auf die Brust des Mannes. Dieser schrie, dann löste er sich in eine dunkle Wolke aus Rauch auf. Morsus wich einen Schritt zurück, um seinen weißen Anzug nicht zu versengen. »Lasst euch das eine Lehre sein. Und nun zu diesem vermaledeiten Regal. Könnte wohl jemand ...«

Drei Männer in ausgewaschenen schwarzen Jeans traten augenblicklich vor und stemmten sich dagegen. Doch es bewegte sich nicht vom Fleck.

»Wartet«, sagte Darnel. Ein dunkelhäutiger Mann, und der einzige hier, den Morsus beim Namen kannte. »Das dritte Buch in der dritten Reihe.«

Robert Smith Beckett, Sonne über Atlantis. »Was ist damit?«, fragte Morsus. Ihm war weder der Autor noch der Titel bekannt.

»Nehmen Sie es!«

Morsus zog es heraus und ein kaum vernehmbares Klicken folgte. Wie eine Tür schwang das Bücherregal einen spaltbreit auf und gab den Weg zu einem Geheimgang frei.

Morsus nickte. Endlich ein Gmaf, der zu etwas nützlich war, der sich für die richtige Seite entschieden hatte. Darnel hatte sich als wahrer Glücksgriff erwiesen. Leute wie er waren selten. Morsus kannte nur ein einziges Mädchen, das ebenfalls über hellseherische Fähigkeiten verfügte. Albine. Doch er hatte sie seit seiner Schulzeit nicht mehr gesehen.

Morsus zwängte sich durch die Öffnung und trat auf ein Mosaik aus kleinen Steinen. »Mir nach!« Die Verräter mussten hier irgendwo sein.

Dunkelheit umhüllte ihn, als er den Gang entlanglief. Seine Leute folgten ihm wie ein Haufen Trunkenbolde. Einer von ihnen fiel sogar auf die Knie, während sich ein anderer beim Versuch auszuweichen an der Wand die Ellenbogen abschrammte. Sogar zum Laufen waren sie zu blöd. Am Ende des Ganges blieb Morsus ruckartig stehen.

Ein Junge sprang in eine Pfütze am Fußboden und versank. Ein alter Mann stand daneben.

Morsus kannte ihn. Kein Erlöser. Kein Gmaf. Schlimmer!

»Aragin!« Mit einer einzigen Handbewegung schleuderte er ihn durch die Luft an die Wand. Der kleine Mann rutschte die Mauer hinunter. Sein gehörnter Helm hinterließ tiefe Spuren im Sandstein, und die Erde unter seinem Körper färbte sich so rot wie sein Bart.

Morsus lief zu dem Wasserloch im Boden, das sich langsam schloss. Er starrte hinein, zu dem Jungen, der nach unten sank, stieß seine Hand in die Öffnung. Sie wurde feucht. Mehr nicht. Er schaffte es nicht, den Körper des Jungen zu fassen. Das Loch wurde immer enger und Morsus konnte seine Hand gerade noch herausziehen, ehe der Boden wieder eine ebene Fläche bildete.

»Verdammt.« Morsus starrte auf den flachen Gegenstand - ein Zahnrad mit einer goldenen Münze. Er lag an der Stelle, an der eben noch das Loch gewesen war. Morsus hob ihn auf. Was zum Teufel war das? Er wirbelte herum und zeigte auf Aragin, der in seinem eigenen Blut lag. »Bringt ihn zu mir«, herrschte Morsus seine Leute an.

Zwei Männer stürzten sich auf den Mann, packten ihn an seinem Mantel und schleiften ihn vor Morsus‘ Füße. Er hatte sich in den letzten Jahren nicht verändert. Immer noch das gleiche faltige Gesicht wie zerknülltes Papier.

Aragin öffnete die Augen, sah sich benommen um und schielte zu der Stelle, wo der Junge verschwunden war.

Morsus folgte seinem Blick. »Was hast du getan?«

Aragin biss die Zähne zusammen.

»Sprich!«

»Den Teufel werde ich tun.«

Morsus lächelte. »Du widersetzt dich meinen Befehlen?« Er kniff die Augen zusammen, von denen böse Zungen behaupteten, sie seien so dunkel wie seine Seele. Was wussten die Gewöhnlichen schon von ihm? Nichts!

Er packte Aragin am Kragen. »Was ist das?« Er hielt ihm das Zahnrad vor die Nase, klopfte auf die goldene Münze. »Und wer war der Junge, der darin verschwunden ist?«

Jetzt war es Aragin, der lächelte. Ein Lächeln, das Morsus eiskalt den Rücken hinab lief. Längst vergessene Erinnerungen aus seiner Kindheit durchfluteten ihn.

Aragin antwortete betont langsam. »Dein Untergang.«

Der Junge ohne Vergangenheit

Es war nicht das Töten, das ihn faszinierte. Es war die Jagd.

Er kletterte einen Ast höher und spähte durch die Blätter zur Lichtung. Nichts. Merkwürdig. Dabei war er sich so sicher gewesen.

Er sog die Luft ein, filterte sie. Mit acht Jahren hatte er entdeckt, dass er das konnte. Heute, sechs Jahre später, war er ein Profi darin. Pflanzen, Tiere, Menschen, alle rochen anders. Mehr noch. Veilchen waren nicht gleich Veilchen, Kuhfladen nicht gleich Kuhfladen. Im näheren Umkreis konnte er so gut wie jeden Geruch auf wenige Meter lokalisieren. Und er hatte sich nicht getäuscht. Hier irgendwo. Der Geruch war noch frisch. Wo versteckte es sich? Vielleicht hinter den Buchen da vorne?

Laub raschelte. Aha! Er hangelte sich vom Baum und raffte seine Sachen zusammen; einen Ranzen mit Messern und Pfeilen. Den Bogen hängte er sich im Laufen um den Hals. Nicht selten war ihm ein Hase oder ein Reh entkommen, weil er zu lange gewartet hatte. So ein Fehler durfte ihm heute nicht passieren. Schließlich ging es um weit mehr als einen Hasen.

Dieses Biest hatte ihm seine ganzen Vorräte weggefressen. Ein Wildschwein. Er würde es finden, jagen, töten. Doch zwei Mal schon hatte ihm das Wetter ein Schnippchen geschlagen und jedweden Geruch verwischt.

Aller guten Dinge sind drei, sagte er sich, fegte die Zweige beiseite und stand plötzlich dem Wildschwein gegenüber. Er konnte es nicht fassen. Wie es da lag. Suhlend im Schlamm. Ohne sich zu bewegen. Seine Beute. Endlich. Ein prächtiges Exemplar. Die Hauer würde er behalten. Für seine Sammlung. Doch was im Moment viel wichtiger war. Fleisch! Wie es wohl schmeckte? Ob der Unterschied zum Hausschwein groß war? Er leckte sich die Lippen. Egal. Vögel, Hasen, Eichhörnchen hatte er satt. Behutsam legte er einen Pfeil in seinen Bogen und spannte die Sehne.

In diesem Moment durchbrach ein Blitz die Baumkronen. Das Tier erschreckte sich, zuckte mit dem Kopf und trabte davon, geradewegs zwischen zwei Kiefern hindurch.

Woher zum Teufel kam der Blitz? Der Himmel war wolkenlos. Er lockerte die Spannung des Bogens und blinzelte. Das ging nicht mit rechten Dingen zu! Er raffte erneut seine Sachen zusammen, hing sich den Bogen um und folgte dem Schwein. Es war zum Verrücktwerden.

Zu allem Überdruss stolperte er auch noch über ein Geflecht aus Wurzeln. Der Bogen drückte in seine rechte Flanke.

»Scheiße!« Das würde bestimmt einen Bluterguss geben. Er richtete sich auf und sah sich um. Beinahe hätte er laut aufgelacht. Schon wieder war das Schwein entkommen.

Leises Keuchen.

Irgendetwas bewegte sich links von ihm. Unweit entfernt. Das Wildschwein? Der Geruch war ihm fremd. Und passte nicht hierher. Er schlich zu der Baumgruppe, die ihm die Sicht versperrte, und spähte hindurch. Was zur Hölle ...

Kein Schwein. Sondern ein Junge. Aber wie ...

Er klappte den Mund auf. Weiße Haut. Goldenes Haar. Endlos lange Wimpern. Dazu dieser süßliche Geruch von ... Vanillekipferln? Ein Engel? War dieser mit dem Blitz auf die Erde gekommen? Er schüttelte den Kopf. Als ob es Engel wirklich gäbe. Andererseits gab es auch Zauberer. Warum also keine Engel?

Weil es auch keinen Gott gibt!

Ob sich dieser Kerl auch hier im Wald versteckte? Genauso wie er? Robust sah er ja nicht gerade aus. Eher zerbrechlich. Krank?

Bevor er sich weitere Fragen stellen konnte, war das Wildschwein wieder da. Und gemächlich trottete es auf den Jungen zu. Ohne Scheu. War denn das zu fassen? Vor ihm war es immer weggerannt, aber vor dem Jungen da ...

Jetzt hatte der das Vieh auch entdeckt und erschrak. Er rutschte über den Erdboden bis an einen Baum. War das eine Blutspur? Ja, definitiv. Blut lief aus seinen Hosenbeinen. Und das nicht wenig. Schnüffelnd folgte das Wildschwein der Spur.

Ah. Auf die Idee, es zu ködern, hätte er auch kommen können. Er schüttelte den Kopf. Laaaangweilig.

Das Wildschwein blieb einen Meter vor dem Jungen stehen. Dieser drückte sich fest gegen den Baum.

Japhet spannte den Bogen und zielte auf den Keiler. Jetzt bist du fällig. Als er schoss, blickte der Junge in seine Richtung. Blaue Augen starrten ihn an.

»Japhet! Hallo, hörst du mir eigentlich zu?« Helga holte ihn zurück in die Gegenwart. Ausgerechnet jetzt. Wo die Bilder so schön waren, die Erinnerung so klar. Dabei hatte er die erste Begegnung mit Sem schon fast vergessen. Warum sie plötzlich auf ihn eingeströmt war? Er wusste es selbst nicht. Vielleicht lag es am Essen. Dem kalten Schweinebraten. Oder an Helgas letzter Bemerkung: Gut, dass unsere Flucht gescheitert ist. Wenn ich an ein Leben im Wald denke, ans Jagen ...

Dann würden sie jetzt nicht im CuraNaus‘ hocken, sondern auf irgendeinem Baumstumpf im Wald.

»Also, was sagst du?«, fragte Helga.

Japhet hatte keine Ahnung, wovon sie sprach. Bestimmt redete sie seit fünf Minuten, ohne Punkt und Komma. Kein Wunder, dass er sich ausgeklinkt hatte.

»Hab nicht aufgepasst.«

Sie tupfte sich mit einer Serviette den Mund ab. »Oh.«

Sem starrte auf die Zinken seiner Gabel.

Japhet musterte ihn irritiert. Hatte er irgendetwas verpasst? Er griff nach dem letzten Stück Karamellsplittertorte, das noch unberührt auf dem Kuchenblech lag, überlegte es sich im letzten Moment aber anders. Mit der flachen Hand klopfte er sich auf den Bauch. »Das war lecker.«

Ob man sie im Refektorium, dem Klosterspeisesaal, wo sie normalerweise aßen, bereits vermisste?

»Kannsch nich immer s schein.« Sem spülte den letzten Bissen der Nachspeise mit Apfelsaft hinunter.

»Man spricht nicht mit vollem Mund«, tadelte Helga.

Japhet rülpste »Ach.«

Helga schüttelte den Kopf. Ihr streng zurückgeflochtenes Haar rührte sich dabei keinen Millimeter. »Jungs«, sagte sie und rollte die Augen. Japhet konnte sich nicht vorstellen, dass es irgendwo auf dem Planeten einen Menschen gab, der größere Augen hatte. Sie waren fast so groß wie die der japanischen Zeichentrickfiguren, die sie gelegentlich im Fernsehen ansehen durften. Früher hatte er sie damit aufgezogen.

Doch dann war Sem aufgetaucht. Und hatte einen anderen Menschen aus ihm gemacht. »Ich kann es nicht fassen«, sagte Japhet.

»Was?«, fragten Sem und Helga wie aus einem Mund.

»Na, das hier. Alles.« Er sah von Helgas lädiertem Gesicht auf das leere Bett, das neben seinem und Sems fehl am Platz wirkte. Nichts erinnerte mehr an den Jungen, der darin gelegen hatte. Linus, ihr Zimmerkollege, hatte versucht, sie umzubringen. Nun war er verschwunden. Und niemand der anderen Kinder im Heim schien das etwas auszumachen. Wer interessierte sich schon für einen Freak? Dabei war er ihm gar nicht unähnlich gewesen. Nicht im Traum hätte er gedacht, dass Linus ein Zauberer sein könnte. Wie er!

Japhet stand auf.

»Was ist?«, fragt Sem. Japhet bedeutete ihm still zu sein, schlich zur Tür und riss sie auf. Zwei Körper purzelten ihm entgegen. Tim und Tom. Wer sonst?

»Lauscht gefälligst woanders!«, blaffte er.

Ha- ... haben wir nicht«, stammelte einer der beiden. Japhet konnte die Zwillinge nicht auseinanderhalten. Umständlich rappelten sie sich auf und huschten ins Zimmer.

»Wir wollten nur ...«

»Kann ich mir denken. Aber das könnt ihr vergessen. Verpisst euch!« Japhet schnappte sich ein Buch und zielte damit auf die Jungs.

»Das ist nur ausgeliehen«, rief Sem.

Das Buch knallte an die Wand.

»Lauf, Tim!«, rief Tom seinem Bruder zu. Tim duckte sich an Japhet vorbei und die Zwillinge rannten, als wäre der Teufel hinter ihnen her. Weg waren sie.

»So machst du dir keine Freunde«, sagte Helga.

»Na und?«

»Wolltest du nicht netter sein?«

Japhet grinste. Wollte er? »Ich kann Lauscher nicht leiden.«

Helga seufzte, stand auf und schloss die Tür. »Du bist ein hoffnungsloser Fall.« Sie bückte sich, um das Buch aufzuheben. Mitten in der Bewegung hielt sie inne.

»Was ist?«, fragte Sem.

»Da ist was hinter dem Umschlag.« Sie wickelte ihn ganz von dem Sherlock Holmes Roman, den sich Sem von der Bibliothek ausgeborgt hatte, und kam damit zurück an den Tisch. Sie tippte auf den Buchrücken. Im Karton war ein Loch ausgestanzt und darin klemmte eine Münze.

»Wer hat die da versteckt?« Helga versuchte sie herauszukratzen, doch mit ihren abgenagten Fingernägeln schaffte sie es nicht. Schnell stopfte sie die Hände in ihre Taschen. Schämte sich wohl. Ob es ihr irgendwann gelang, sich diese hässliche Angewohnheit abzugewöhnen?

»Gib her!«, sagte Japhet, drehte das Buch herum und schlug fest darauf. Die Münze fiel auf den Tisch. Sie war aus Gold und in der Mitte war ein Loch. Wie die aus Japan. Oder China?

Sem massierte sich die Schläfe.

»Alles okay?«, fragte Japhet.

Sem nickte. Er hatte schon besser gelogen. Japhet konnte förmlich sehen, wie sich die Zahnräder in Sems Kopf bewegten.

Woran dachte er? Konnte er sich an irgendetwas erinnern?

Angeblich tauchten immer wieder mal Bruchstücke aus seiner Vergangenheit auf, konnte sie aber nie lange festhalten.

Plötzlich schnellte Sem nach vorne und legte die Hand auf die Münze. »Die gehört mir!«

»Ich will sie gar nicht«, sagte Japhet.

Helga runzelte die Stirn. »Ich auch nicht.«

»Dann ist ja gut.« Sem nahm die Hand vom Tisch, erhob sich vom Stuhl. »Ich muss ... wieder ins Bett.« Er schwankte leicht.

»Brauchst du Hilfe?« Helga reichte ihm den Arm und Japhet sprang neben Sem, um ihn zu stützen.

»Ich bin doch kein Baby.« Sem ignorierte die beiden und ließ sich auf die Matratze seines Bettes plumpsen. »Mir gehts gut.«

»Du warst zwei Tage lang mehr oder weniger bewusstlos«, erwiderte Japhet. »Also erzähl mir nichts.«

Doch Sem kuschelte sich ins Bett und schloss die Augen.

»Ich denke ich geh dann mal«, sagte Helga.

»Gute Nacht«, sagte Japhet.

Helga schloss leise hinter sich die Tür.

Plötzlich war es sehr still.

»Sem«, sagte Japhet, doch sein Freund atmete bereits ruhig. War er wirklich so schnell eingeschlafen? Japhet knipste das Licht aus, schlich zu Sem ans Bett und betrachtete dessen Gesicht im Schein des Mondes, der sanft durch das Fenster schimmerte. Seit ihrem ersten Aufeinandertreffen im Wald hatte sich Sem verändert. Waren seine blonden Haare dunkler geworden? Länger? Sie hingen ihm wirr über die Augen. Diesen blauen Augen. Normalerweise machte sich Japhet nichts aus Augenfarben, aber Sems waren wirklich einzigartig. Wie von einem Himmelsfalter, hatte Helga einmal gesagt. Da waren sie noch nicht mal befreundet gewesen. Wie lange kannte er ihn jetzt? Zwei, drei Monate? Ihm war als wäre es gestern gewesen. Der Tag an dem Sem in sein Leben geplatzt war, war in vielerlei Hinsicht merkwürdig gewesen. So merkwürdig wie die Szene eben. Japhet zog sein Shirt aus und warf sich ins Bett.

»Nacht«, sagte er und drehte sich noch einmal zu ihm. Dem Jungen ohne Vergangenheit.

Als auch Japhet eingeschlafen war, leuchtete die Münze am Tisch auf und das Loch in der Mitte füllte sich mit Wasser. Auf der nassen Oberfläche tauchten zwei Gestalten auf.

Vino vero

Ein käsiger Mond tauchte die Mauern der Os-Frango-Ausbildungsstätte in fahles Licht. Nichts davon drang durch die zugenagelten Fenster ins Innere des einstigen Internates. Seinem heutigen Reich.

Morsus trieb Aragin im Dunkeln durch die unzähligen Gänge. »Weiter«, zischte er und stieß ihm die Hand in den Rücken.

Aragin fiel auf die Knie. »Aaargh.«

»Auf«, befahl Morsus, der den Weg auswendig kannte. Wie oft war er als Kind die Gänge entlang geschlichen, auf der Suche nach einem geeigneten Versteck, einem Schlupfwinkel? Doch nirgends war er vor den Lehrern sicher gewesen. Nie war er ihren Schlägen entkommen. Er ballte eine Hand zur Faust. Die Fingernägel bohrten sich ins eigene Fleisch.

»Willkommen in der Os-Frango-Ausbildungsstätte.« So hatte ihn Bruno Hocke empfangen. Der Direktor. Dieser Teufel hätte genauso gut sagen können: »Willkommen in der Hölle.« Vergitterte Fenster. Verschlossene Türen. Dazu Patrouillen und ein zweieinhalbmeterhoher Stacheldraht, der sich um das gesamte Gelände spannte. Nichts im Vergleich zum CuraNaus. Dort hatte er es wenigstens geschafft abzuhauen.

Doch Hocke und sein Zuchtstock, der an seinem Gürtel hing. Dagegen kam niemand an. Auch einige ältere Jungs hatten das Privileg Zuchtstöcke zu führen, Schläge auszuteilen.

»Nimm das, du Missgeburt!«

Morsus schüttelte die Worte ab, entspannte sich aber erst, als er die Empfangshalle betrat. Nur über den Hintereingang erreichte man sie. Den Haupteingang hatte er eigenhändig zugemauert. Wie befreiend das gewesen war. Der Ort durfte keine Macht über ihn haben.

Nie wieder!

Er spuckte auf den Sarg, der in der Mitte des Raumes auf einem Sockel stand. Frater Schrey, dem er Os-Frango verdankte, lag zuunterst in der Kiste, Bruno Hocke über ihm. Mögen sie auf ewig in der Hölle schmoren.

Morsus schob Aragin zum Sarg. »Rede! Oder willst du den Herren da drinnen Gesellschaft leisten?«

Aragin schwieg.

»Du wirst noch sprechen, glaube mir.« Morsus stieß ihn zu Boden und stellte den Fuß auf ihn.

Wo steckte Linus so lange? Normalerweise war er pünktlich. Im selben Moment hörte er Schritte. Ah, na endlich.

Ein dunkelhäutiger Mann, dessen Wampe über den Gürtel seiner Hose fiel, torkelte zu ihm. Sein Bauch hüpfte bei jeder Bewegung wie ein Gummiball auf und ab.

»Roland«, sagte Morsus.

»Stets zu Diensten.«

»Was ist mit Linus?«

Roland grinste. »Genüge ich dir nicht?« Er legte den Kopf schief, was bei dem Nacken, der sich in fetten Wülsten über den viel zu engen Kragen wölbte, grotesk wirkte. »Wen haben wir denn da?«

»Einen alten Freund. Wann kommt Linus?«

»Ich fürchte gar nicht. Frauenbesuch. Er war noch mittendrin, als ich in sein Schlafzimmer platzte und es klang nicht so als ...«

»Schluss!« So genau wollte er das gar nicht wissen. Dieser Halunke konnte sich auf was gefasst machen.

Roland kratzte sich den Schädel. Seine Kopfhaut glänzte unter dem soldatisch kurz geschorenen Haar. »Aber ich habe die Tinktur auch ohne seine Hilfe brauen können.« Er reichte Morsus eine kleine Flasche mit einer dunklen Flüssigkeit.

Morsus nahm sie am Hals und betrachtete sie. »Und die wirkt?«

»Hundertprozentig«, antwortet Roland.

Morsus nickte anerkennend.