Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Es hatte durchaus Vorteile, tot zu sein. Sem leugnete das nicht. Er brauchte sich um viele Dinge nicht mehr kümmern. Doch kann ein Geist die Zukunft verändern? Ein Zauberer. Eine Gewöhnliche. Und ein Geist. Die Geschichte über eine ungewöhnliche Freundschaft geht zu Ende. Grandioser Abschluss der "Sem" - Tetralogie
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 167
Veröffentlichungsjahr: 2021
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Semual Khan und das Rad der Zeit (Band 1)
Japhet Morsus und das Buch ins Leben (Band 2)
Helga Ham und das Medaillon von Sevilla (Band 3)
Peter Mühlhauser-Trois, Jahrgang 1983, ist diplomierter Gesundheits- und Krankenpfleger und lebt mit seinem Sohn in der Nähe von Graz. Die „Sem“-Tetralogie ist seine erste Romanreihe. Neue Projekte befinden sich bereits in Arbeit.
Jede Reise hat ein Ende, aber die Erinnerung daran ist unvergänglich.
Autor unbekannt
Sem
Helga
Japhet
Sem
Japhet
Helga
Japhet
Helga
Sem
Helga
Japhet
Helga
Japhet
Helga
Japhet
Sem
Helga
Morsus
Japhet
Morsus
Helga
Sem
Jans Logbuch oder die Arche Bojan
Sem
Japhet
Helga
Sem
Japhet
Sem
Morsus
Sem
Helga
Sem
Japhet
Sem
Helga
Sem
Helga
Sem
Morsus
Japhet
Sem
Japhet
Morsus
Japhet
Sem
Helga
Zwanzig Jahre später
Es hatte durchaus Vorteile, tot zu sein. Sem leugnete das nicht. Er brauchte sich um viele Dinge nicht mehr kümmern. Essen, Trinken, Schlafen, Waschen, Zähneputzen. Alles kein Thema. Seine Zähne blieben ohne Pflege gesund, seine Kleider sauber, auch wenn er sich im Dreck wälzte.
Verschlossene Türen stellten kein Hindernis dar. Er konnte einfach hindurch spazieren.
Trotzdem ...
Nach fast einem Jahr hatte er sich immer noch nicht daran gewöhnt, ein Geist zu sein.
Kein Wunder, dass Helga mit der Situation überfordert war. Schließlich wusste sie es erst seit ein paar Minuten.
»Ich verstehe das nicht, ich habe an deinem Grab geweint« sagte sie.
»Das war okay. Ich bin tot.«
Sie schüttelte den Kopf. »Und dennoch kann ich dich sehen, mit dir reden, dich ... Okay, berühren kann ich dich nicht, aber das heißt nicht, dass ich nichts gespürt habe, als ich dir in die Arme gefallen bin.«
»Eigentlich bist du zu Boden gefallen«, mischte sich Japhet ein.
Helga blitze ihn giftig an. »Warum hast du nichts gesagt?«
»Ähm, das wollte ich, aber ...«
»Das meinte ich nicht«, sagte Helga. Sem wusste genau, was sie meinte. Sie hätten ihr früher erzählen müssen, was los war.
»Es ist meine Schuld«, sagte er. »Japhet wollte dir schreiben, aber ich habs ihm verboten.«
»Warum?«, fragte sie.
»Du hättest ihm nicht geglaubt. Nicht ohne mich zu sehen. Es dauerte schon ewig, Japhet zu überzeugen, kein Hirngespinst zu sein. Und er ist ein Zauberer.«
»Also sooo lange hab ich auch nicht gebraucht«, sagte Japhet.
»Ach nein? Wie waren noch gleich deine Worte: Verschwinde, verschwinde, hau ab, du bist nicht echt, nicht echt.«
Japhet wurde rot.
Helga starrte an die Decke. »Vielleicht hast du recht.« Sie trat näher an Sem. Taxierte ihn. Von oben nach unten, von unten nach oben. »Erklärst du es mir jetzt?«
»Es ist ... es war, als weigerte sich ein Teil von mir, ins Licht zu gehen«, sagte Sem.
»Du hast das Licht gesehen?«, fragte Helga.
»Ich stand praktisch schon drinnen. Als ich die Stimmen meiner Eltern hörte. Sie haben mir zugewunken und dann geschrien, ich solle umkehren.«
Helga sah Sem in die Augen. »Dann erinnerst du dich wieder an deine Eltern?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Ich dachte es, aber dann habe ich deine Stimme gehört. Und die von Japhet. Das Licht verschwand und ich war wieder hier.«
»Dann weißt du immer noch nicht, wer der Mann war, der dich getötet hat?« Sie klang aufgebracht. Als wollte sie etwas loswerden, das unter ihrer Zunge brannte.
»Warum fragst du das jetzt?«, fragte Sem.
»Ich habe ihn wiedergetroffen«, platzte Helga heraus.
»Was?«, rief Japhet. Sem starrte sie an. Der Mann, der für seinen Tod verantwortlich war, lebte noch? Der war doch mit dem Traktor in einen Fluss gestürzt und ertrunken.
»Er kam vor ein paar Monaten in meine Schule«, erzählte Helga. »Hat sich dort als Lehrer ausgegeben. So gut verkleidet, dass ich ihn nicht erkannt habe.«
»Hä!?«, machte Japhet.
»Glaub mir, du hättest ihn auch nicht erkannt. Mit dieser Perücke, der dunklen Brille und dem falschen Schnauzer.«
»Was wollte er von dir?« Sem hatte nie verstanden, warum sich ein Mann als sein Vater ausgegeben und ihn vergiftet hatte. Monatelang hatte er sich darüber den Kopf zermartert. Kannte Helga endlich die Antwort?
Sie sah ihn entschuldigend an. »Ich weiß nicht, warum dich dieser Mann umgebracht hat. Er hat es mir nicht verraten.«
Sem seufzte. »Was ist passiert?«
»Er wollte auch mich töten.«
Sem blieb der Mund offen stehen. Sein Tod hatte etwas mit seiner Vergangenheit zu tun. Irgendetwas musste er getan haben, um den Zorn des Mannes auf sich zu ziehen. Doch warum jetzt auch Helga? Wie passte sie in das Bild? Was hatten sie gemeinsam?
»Wollte er dich auch vergiften?«, fragte Japhet.
»Zuerst schon.«
»Was soll das heißen?«
»Er war sehr einfallsreich. Am Ende hat er mich in sein Auto gesperrt und es auf Gleise geparkt. Dann kam der Zug.«
Sem und Japhet starrten sie an. »Und das hast du überlebt?«
»Ich hatte Hilfe. Ein Junge aus der Schule. Jan.«
»Jan?« Sem entging nicht, dass Helga rot anlief.
Sie griff schnell zu ihrem Medaillon und hielt es Japhet vor die Nase. »Erinnerst du dich daran?«
Japhet runzelte die Stirn. »Das habe ich dir geschenkt, als wir in der Stadt waren. Was ist damit?«
»Hat mir einen Wunsch erfüllt.«
Sem tat einen Schritt nach vorne. »Sag das nochmal!« Er starrte auf das Medaillon.
Japhet griff danach und klappte es auf. Ein kleines verblasstes Foto von Helgas Familie fiel heraus und segelte zu Boden.
»Pass auf!« Helga bückte sich, um es aufzuheben. »Es funktioniert bei jedem nur ein Mal.« Helga war anzusehen, dass sie noch mehr Wünsche gehabt hätte. Auch Sem fielen ein paar ein. Zuallererst würde er wissen wollen, wer er eigentlich war. Doch als Geist würde er das Medaillon nicht benutzen können.
»Und das ist wirklich wahr?«, fragte Japhet, den Blick immer noch auf das Medaillon gerichtet. Er wandte sich an Sem. »Und ich dachte unser Schuljahr war aufregend. Hey, was hältst du davon, wenn ich mir wünsche, dass du wieder ein Mensch wirst.«
»Das geht nicht«, sagte Helga, ehe Sem darüber nachdenken konnte. »Es kann keine Toten wiedererwecken.«
Sem ließ sich nicht anmerken, wie enttäuscht er war. »Was denn sonst?«, fragte er deshalb schnell.
Die Tür ging auf und Rafik stürzte in die Bibliothek. Sem sprang hinter eines der Bücherregale.
Rafik starrte einen Moment darauf und runzelte die Stirn.
»Ist was?«, fragte Japhet.
»Yeah, einen Moment dachte ich ...« Rafik schüttelte den Kopf. »Nee, unmöglich.« Er wandte sich an Helga. »Pater Pius will endlich mit der Zimmeraufteilung beginnen.«
»Ist doch noch gar nicht spät«, maulte Japhet.
»Nein, aber wenn er beim nächsten Hustenanfall draufgeht, ist das deine Schuld.« Er drehte sich um und ging.
Sem trat durch das Bücherregal. »Das war knapp. Wir müssen besser aufpassen.«
»Zunächst einmal müssen wir ihm folgen«, sagte Helga.
Sem nickte. Er streckte Japhet den Kopf entgegen. »Wenn du so freundlich wärst.«
Japhet zog ihm das Halsband über den Schädel. Kurz bevor Helga kam, hatte er es ihm umgelegt.
»Nicht doch«, stammelte Helga, als er sich vor ihren Augen auflöste.
»Ohne Halsband ist Sem unsichtbar«, erklärte Japhet beiläufig, als sie in die Meranhalle liefen.
»Habe ich bemerkt«, sagte Helga.
Sie hatte keine Ahnung, ob ihnen Sem folgte. Wahrscheinlich, denn Japhet drehte sich mehrmals zu ihm um. Konnte er ihn trotzdem sehen, weil er ein Zauberer war? Oder lag es an etwas anderem?
In der Meranhalle hatten sich bereits sämtliche Kinder eingefunden und mehrere Reihen gebildet. Helga und Japhet stellten sich dazu und warteten auf Pater Pius‘ Rede.
»Wie ich sehe, sind wir vollzählig«, sagte er in diesem Moment. »Schön, dass ihr alle von den Internaten zurückgekehrt seid.«
Wohin sollten sie sonst gehen? Sie konnten über die Sommerferien nicht dortbleiben.
»Wenn ihr nichts dagegen habt, will ich gleich mit der Zimmereinteilung beginnen.« Pater Pius fuhr sich unentwegt über seine Kutte. Schweiß perlte auf seinem blauen Gesicht. Er sah von Mal zu Mal schlechter aus.
»Ihr werdet in diesem Sommer enger zusammenrücken müssen als in den letzten Jahren, da wir sehr viele Neuzugänge hatten. Zudem können zwei Zimmer aufgrund Schimmelbefall nicht belegt werden.«
Das Murren setzte augenblicklich ein. Vor allem Albine kippte bei dem Wort Schimmel fast um. Helga stupste sie von der Seite. »Wird schon nicht so schlimm sein«, sagte sie, da sie wusste, dass Albine unter Hypochondrie litt.
»Ruhe.« Pater Pius unterdrückte einen Hustenanfall und klatschte in die Hände. »Ihr werdet nicht wegen der zwei Monate zum Streiten anfangen.« Er wartete, bis es still war, und begann dann mit der Zimmereinteilung.
Helga horchte auf, als er ihren Namen nannte - zusammen mit Patricias Namen.
Toll! Reichte es nicht, sie ihm Adele Baumgartner Internat um sich zu haben? Japhet nickte ihr aufmunternd zu. War er auch schon aufgerufen worden? Und wo schlief Sem? Musste der überhaupt schlafen? Da fiel Japhets Name. Pater Pius steckte ihn mit Hector in ein Zimmer.
Helga riss die Augen auf.
Sie musste sich verhört haben!
Hector! Der dabei war in Nicks Fußstapfen zu treten. Nick hatte Japhet jahrelang gequält.
Was dachte sich Pius dabei? Die würden sich gegenseitig umbringen! Sie schielte zu Japhet. Der biss die Zähne zusammen.
»Vielleicht ...«, sagte sie, doch Japhet wandte sich ab.
»Das war‘s fürs Erste. Ihr könnt gehen«, sagte Pater Pius. »Wir sehen uns beim Mittagessen. In sauberen Klamotten«, fügte er hinzu.
Selbstverständlich, denn die Direktoren der einzelnen Internate waren wie immer auch eingeladen, mit ihnen zu speisen.
Die Versammlung löste sich auf. Helga wartete einen Moment, dann fragte sie Japhet: »Ist Sem hier?«
»Nicht so laut«, zischte Japhet, nickte dann aber. »Steht neben mir.«
Helga kniff die Augen zusammen.
»Bemüh‘ dich nicht. Ohne Halsband ist es unmöglich ...«
»Dann lass uns irgendwo hingehen, wo ...«
Pius‘ Hand landete auf Helgas Schulter. »Ich würde gerne unter vier Augen mit dir sprechen.«
Sie runzelte die Stirn. Warum das denn? Was konnte der Schulvorsteher von ihr wollen?
Sie starrte Japhet an. Der zuckte die Schultern.
»Sofort!«, sagte Pater Pius.
Widerwillig ging sie mit.
Er führte sie in sein Büro. Schloss die Tür und zeigte auf eine Chaiselongue neben seinem Schreibtisch. Helga nahm auf dem gepolsterten Ungetüm Platz. Ihr wurde schlagartig bewusst, dass sie noch nie da gewesen war. Sie sah sich unauffällig um. Unglaublich. Das Büro entsprach so gar nicht ihren Vorstellungen. Pius war ein Sammler. Sämtliche Regale waren vollgestopft. Mit Lindefiguren von Karl May, Streichholzbriefchen, Steinen und tausend Bibeln. Am merkwürdigsten aber waren die Asterix-Hefte, die über seinem gesamten Schreibtisch ausgebreitet lagen und abgesehen von einem blauen Telefon für nichts anderes Platz ließen.
»Ich hörte, was im Internat passiert ist«, sagte er ohne Umschweife.
»Das war ...«
Pius brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen. Er knallte ihr eine Zeitung auf den Schoß. »Was hat dein Foto auf der Titelseite dieses Klatschblattes zu suchen?«
Helga verzichtete darauf, die Zeitung anzusehen. Sie kannte das Bild. Kannte die Lügen, die darin verzapft wurden.
»Das hat sich alles aufgeklärt«, sagte sie nur.
Pater Pius seufzte. »Ich muss also nicht damit rechnen, dass die Polizei hier auftaucht und unangenehme Fragen stellt?«
Sie zuckte die Schultern. »Glaube nicht.«
»Nach den Vorkommnissen im letzten Jahr kann sich das Kloster keinen weiteren Skandal leisten.«
Als könnte sie etwas dafür, dass Christopher verletzt wurde und Sem gestorben war.
»Ich will hier endlich wieder so etwas wie Normalität.«
Helga nickte. »Das wünsche ich mir auch.«
»Nun gut, dann gibt es nichts weiter zu sagen.«
Sie starrte ihn perplex an. Und dafür hatte er sie extra hierher mitgenommen? Helga stand auf und huschte aus dem Büro. Sie schlug den schnellsten Weg zur Meranhalle ein. Bis Mittag dauerte es nicht mehr lange und sie wollte unbedingt nochmal mit Sem sprechen. Sie bog um die Ecke und hätte fast Albine über den Haufen gerannt. Die stand vor dem Durchgang, der zu den Stallungen führte. Immer wieder schlug sie mit dem Kopf gegen die Wand. Die Haare sahen aus, als hätte sie sie mit einer Gabel frisiert, die sie in eine Steckdose gesteckt hatte.
»Alles okay?« Helga berührte ihre Schulter.
Albine fuhr herum und riss die Augen auf. Hinter riesigen Brillen glotzte sie sie an. Sie hatte dunkle Ringe um die Augen, als hätte sie seit Tagen nicht geschlafen. Die Pupillen waren trotz der dicken Brillengläser kleiner als sonst, dafür war ihre Netzhaut feuerrot.
»Hau ab!«, rief Albine.
»Was ist los?«
»Ich kann das nicht. Nein, ich will das nicht! Zwing mich nicht dazu. Bitte!«
Helga drehte sich im Kreis. »Redest du mit mir?«
»Lalalala«, schrie Albine. Sie hielt sich die Ohren zu.
Sie war schon immer eigenartig gewesen. Aber das hier war anders.
»Wenn ich dir irgendwie helfen kann ...«, sagte Helga.
Albines Singsang wurde nur noch lauter. Sie starrte an Helga vorbei. Fixierte einen Punkt hinter ihr. War da was?
Albine begann zu weinen. »Lass mich in Ruhe! Lasst mich doch alle in Ruhe!« Mit diesen Worten ließ sie Helga stehen, bog um die Kurve und weg war sie.
Japhet wartete, bis alle die Meranhalle verlassen hatten, dann ging er mit Sem die riesige Wendeltreppe nach oben. Jeder Schritt fühlte sich eigenartig an. Es war merkwürdig, wieder hier zu sein.
»Ist doch gut gelaufen«, sagte Sem plötzlich. »Die Sache mit Helga, meine ich. Sie hat es gut aufgenommen, mich wiederzusehen.«
Japhet drehte sich herum, vergewisserte sich, dass ihn niemand beobachtete. Keiner sollte hören, wie er Selbstgespräche führte.
Außer Leanne und Carl, die ein paar Stufen vor ihnen Hand in Hand nach oben schlenderten, war niemand zu sehen. Gingen die immer noch miteinander? Er wartete, bis sie weg waren, dann sagte er: »Helga hatte ja auch ein Jahr Zeit, um über deinen Tod hinwegzukommen. Im Gegensatz zu mir damals.«
Schon auf der Fahrt zu der neuen Magierschule Zokling hatte Japhet immer wieder das Gefühl, Sems Anwesenheit zu spüren. Doch erst, als er dort angekommen war, hatte sich Sem das erste Mal zu Wort gemeldet. Mitten im Unterricht. Er wäre beinahe vom Stuhl gekippt, als ihm sein toter Freund die Antwort auf eine Frage des Lehrers zugeflüstert hatte.
»Ohne Halsband wäre es schwerer gewesen, Helga von deiner Existenz zu überzeugen.«
Sem nickte. »Gut, dass du es nicht weggeworfen hast.«
Japhet hätte nie gedacht, dass ihm das Ding noch einmal nützlich sein konnte. Er hatte es eingesteckt, nachdem es ihm gegen den Tiger geholfen hatte. Damals unterhalb des Klosters, auf der Suche nach Schätzen verstorbener Zauberer.
»Was Pater Pius wohl von Helga will?«
Japhet zuckte mit den Schultern. »Sie wird es uns bestimmt erzählen. Ausführlich!«
Sem grinste. »Und bis es so weit ist, sehen wir uns unser neues Zimmer an.«
»Du meinst mein Zimmer.«
Sem verdrehte die Augen.
Sie erreichten den Flur. Hier hatte sich nichts verändert. Außer dem riesengroßen Marienbild waren die Wände immer noch kahl, der Teppichboden abgelatscht und in den Blumentöpfen vor jeder Zimmertür stand das Wasser.
Japhet blieb kurz vor seinem alten Zimmer stehen, wo er mit Sem und Linus einst geschlafen hatte.
»Soll ich meinen Kopf durch die Tür stecken und nachsehen, wer da jetzt wohnt?«, fragte Sem.
»Bloß nicht. Das sieht voll gruselig aus.«
»War nur ein Vorschlag.«
Sie gingen weiter zu ihrer neuen Unterkunft; dem Zimmer von Christopher und den Zwillingen Tim und Tom.
»Da wären wir«, sagte Sem. Japhet griff nach der Türklinke.
»Willst du nicht anklopfen?«
»Sicher nicht. Das ist jetzt auch mein Zimmer.« Er öffnete die Tür.
Die Zwillinge lagen mit den Schuhen in einem Doppelbett, davor stand eine Liegecouch. Christopher hockte auf dem Tisch in der Mitte. Die Stühle fehlten, genauso wie die Nachtschränke.
Christopher stand auf, sagte aber nichts. Auch die Zwillinge glotzten ihn lediglich an.
»Was?«, fragte Japhet, als sie nach einer Minute immer noch schwiegen.
»Du b-b-bist gewachsen«, stellte Christopher fest. »U-und d-d-du siehst zuf-frieden aus. Diese Sch-schule scheint d-dir gut zu tun.« Christophers Stottern war nicht besser geworden. Dafür schien er seine Neurodermitis in den Griff bekommen zu haben. Die Handrücken waren nicht mehr zerkratzt.
»Ich fühle mich gut«, sagte Japhet.
Tim und Tom runzelten die Stirn. »Dann wirst du uns nicht in zwei Kröten verwandeln?«
Sem lachte.
Japhet warf seinem unsichtbaren Freund einen giftigen Blick zu. »Wer sagt das?«
»H-Hector«, sagte Christopher.
»Dann war er schon hier?« Hatte ja nicht lange gedauert, die anderen gegen ihn aufzustacheln. Dass er sich ausgerechnet mit dem Pickelgesicht ein Zimmer teilen sollte, hatte Pater Pius ja prima eingefädelt.
»Ich nehm an, d-d-du wirst m-meine Liegecouch haben wollen?«
Japhet ging darauf zu. »Klar.«
Sem stellte sich ihm in den Weg. »Denk an letztes Jahr. Als Richard und Tommas zu uns ins Zimmer gesteckt wurden. Du sagtest, dass unsere Betten tabu seien.«
Japhet schenkte ihm einen giftigen Blick, ging durch ihm hindurch und setzte sich auf die Couch.
Die Tür krachte gegen den Heizkörper und Hector zwängte sich mit einer Matratze ins Zimmer. Der Typ hatte an Gewicht zugelegt. Zehn Kilo, mindestens. Er ließ die Matratze fallen, betrat das Zimmer und scheuchte die Zwillinge vom Doppelbett. »Runter mit euch!« Er plumpste auf die Matratze, kaum, dass die beiden aufgestanden waren. Das Holz knirschte unter seinem Gewicht. »Hier werde ich schlafen.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Japhet.
»Willst du es haben?«, knurrte Hector.
Japhet schüttelte den Kopf und stand auf. »Das ist das Zimmer von Christopher und den Zwillingen. Wir schlafen auf den Matratzen.« Er sah zu Sem, doch obwohl er dessen Wunsch nachgekommen war, wirkte dieser nicht zufrieden.
Hector zeigte Japhet den Vogel.
Japhet atmete tief durch. »Steh von dem Bett auf!«
»Ich lasse mir von einem Spasti nicht sagen, was ich tun soll.«
Japhet ballte die Fäuste.
»Vergiss nicht, was du mir versprochen hast«, mahnte Sem ihn.
»Ist sch-schon okay«, murmelte Christopher und zerrte die Matratze ins Zimmer. »Ich sch-schlafe freiwillig auf d-d-diesem Ding hier.«
Hector grinste. »Brav.« Er tätschelte Christopher wie einen artigen Hund.
Japhet blitze Hector an. Hatte er vergessen, wozu er im Stande war?
»Da fällt mir ein«, sagte Hector und wandte sich an Japhet. »Freust du dich schon Direktor Hocke zu sehen? Er ist untröstlich, dass du nicht in die Os-Frango gekommen bist.«
Sem hob die Hände. »Lass dich nicht provozieren!«
Leichter gesagt als getan. Hätte Pius nicht rechtzeitig gemerkt, dass er ein Zauberer ist, wäre er statt nach Zokling dorthin gekommen. Zu Hocke. Zu Nick. B5. Und wie sie sonst alle hießen. Gerüchten zufolge sollten Jungs wie er dort richtig mies behandelt werden.
Hector fuhr sich über sein mit Pickel bedecktes Gesicht. »Stell dir vor, Nick will uns hier besuchen kommen. Ist das nicht großartig?«
Japhet ballte eine Faust. Was? Warum das denn? Er hatte gedacht, dass er den Widerling endlich los wäre. Ein für alle Mal.
»Er arbeitet jetzt am Hafen. Hocke hat ihm den Job verschafft«, erklärte Hector.
»Dann ist er noch nicht im Gefängnis?«, fragte Japhet. »Wundert mich. Jetzt, wo er für seine Taten zur Rechenschaft gezogen werden kann.«
Hector wuchtete sich auf die Beine. »Er wird aus dir Fischfutter machen, wenn er das hört.«
Japhet rückte mit seinem Gesicht ganz nah an Hectors. »Kannst es wohl gar nicht erwarten, ihm davon zu erzählen.«
»Japh!« Sem drängte sich zwischen sie. Japhet hasste es, wenn er das tat. Es sah aus, als stecke Sems halber Körper in Hector.
Japhet trat einen Schritt zurück. »Nur damit du es weißt.« Er starrte in Hectors kleine Schweinsäuglein. »Ich könnte dich mit einem einzigen Fingerschnippen außer Gefecht setzen.«
»Nicht«, flehte Sem.
Japhet konzentrierte sich und die Matratze ging in Flammen auf.
Hector sprang zurück, krachte mit dem Rücken an die Wand und schrie auf. »Scheiße, Mann.«
»Wenn du nicht willst, dass es dir genauso ergeht, lässt du uns alle in Ruhe. Mich, Christopher, die Zwillinge und die Betten hier. Verstanden?«
»Klar«, knurrte Hector.
Japhet löschte das Feuer und schob ihm die Matratze vor die Füße. »Die gehört dir.«
»Musste das sein?«, sagte Sem. »Du hast versprochen nicht zu zaubern.«
»Das habe ich sicher nicht!«, sagte Japhet.
»Du sollst dich wie ein Gewöhnlicher verhalten.«
»Sagt wer?«