Jarmy und Keila - Isaac Bashevis Singer - E-Book

Jarmy und Keila E-Book

Isaac Bashevis Singer

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Beschreibung

»Eine wunderbare, wunderbare Welt, diese schrecklich schöne Welt von Isaac Bashevis Singer!« Henry Miller

»Es kam selten vor, dass eine Frau, die schon in drei Bordellen gearbeitet hatte, noch heiratete … Es war ein Omen für alle Warschauer Huren, nicht die Hoffnung aufzugeben, ein Zeichen, dass die Liebe noch immer die Welt regierte.«

Warschau 1911: Keila – die bereits mehrere Stationen in Bordellen hinter sich hat – findet in Jarmy, dem Ex-Häftling, ihre große Liebe. Das junge Ehepaar sehnt sich nach einem Leben außerhalb des jüdischen Gettos, in dem der Alltag von Armut und der Angst vor Pogromen geprägt ist. Dieser Traum scheint plötzlich zum Greifen nahe: Max, ein alter Bekannter, will in Amerika das große Geld machen – das Paar soll ihm dabei helfen. Keila soll junge Mädchen für die Bordelle in der Neuen Welt anwerben. Max selbst fühlt sich zu Jarmy hingezogen, dem er schon früher näherkam. Es entfaltet sich eine verhängnisvolle Dreiecksbeziehung. Da tritt der schüchterne und unerfahrene Bunem in ihr Leben, der sich auf ein Leben als Rabbiner vorbereitet. Für Keila, die er glühend verehrt, ist er bereit, mit allen Konventionen des Schtetls zu brechen. Werden die beiden in Amerika ihr Glück finden?

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Isaac Bashevis Singer

Jarmy und Keila

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Christa Krüger

Mit einem Nachwort von Jan Schwarz

Suhrkamp Verlag

Erster Teil

Erstes Kapitel

1.

In Wirklichkeit hieß er Jeremia Eliezer Holtzman, aber am Krochmalna-Platz, wo man nicht genug Geduld für lange Namen hatte, nannte man ihn nur Jarmy und hängte ihm den Spitznamen Stachel an. Seine Frau Keila Leah Kupermintz wurde wegen ihrer feuerroten Haare die Rote Keila genannt. »Stachel« kam von den stacheligen Kletten, mit denen die Jungen in Warschau am neunten Aw Passanten bewarfen. Verfing sich so eine Klette in einem Bart oder im Haar eines Mädchens, konnte man sie nur schwer wieder lösen. Jarmy Stachel stichelte gern bei seinen Kumpanen und den Frauen, mit denen er sich einließ.

Mit zweiunddreißig hatte Jarmy Stachel im Pawiak-Gefängnis schon vier Strafen wegen Diebstahl abgesessen (er war ein Meistertaschendieb). Auch wegen Mädchenhandel war er mehrere Male eingebuchtet worden. Die Rote Keila war neunundzwanzig und hatte bereits drei Bordelle von innen gesehen – eins in der Krochmalna, eins in der Smocza, eines in der Tamka-Straße. Ihr erster Lude war Itsche Einauge persönlich gewesen. Jarmy war im Ganoventreff in der Krochmalna-Straße auf Keila gestoßen. Nachdem er einen Tag und eine Nacht lang mit ihr zusammen gewesen war, nahm er sie mit zu einem Rabbi im Revier, in die Stavskystraße, und heiratete sie. Anders als andere Rabbiner fragte dieser aus der Stavskystraße nicht nach, warum Paare, die zu ihm kamen, heiraten oder sich scheiden lassen wollten. Er nahm einfach die drei Rubel Gebühren und füllte die nötigen Papiere aus.

Es war 1911, sechs Jahre nach der Revolution. Die Streiks und die Bombenleger hatten das Ihre getan und dem Zaren Nikolaus eine Verfassung abgezwungen, aber die erste Duma hatte sich schon wieder aufgelöst und die zweite und dritte waren gewählt. In Russland wie in Kongresspolen stritten sich die Parteien. Die Schwarzhunderter in Russland hetzten zu Pogromen auf, und die Nationaldemokraten in Polen verlangten den Boykott jüdischer Waren. Junge Juden gingen zu Hunderttausenden heimlich über die Grenze nach Galizien und Preußen und schlugen sich weiter übers Meer nach Amerika durch, um dort ihr Glück zu suchen. In jiddischen Zeitungen hatten die Politiker den Balkan schon seit Jahren mit einem Pulverfass verglichen. Sie sagten Krieg voraus, nicht nur zwischen Serbien, Bulgarien, Montenegro und der Türkei, sondern sogar zwischen Russland und Deutschland. Dr. Herzl war tot, aber die Zionisten hielten trotzdem ihren jährlichen Kongress ab. Sozialisten schrieben in ihren Aufrufen, der Zionismus sei eine eitle Fantasterei, und die jüdischen Arbeiter sollten lieber zu Hause für den Sozialismus kämpfen, statt von einem Land zu träumen, das zur Hälfte eine Wüste und außerdem von Arabern bewohnt sei. Der Sultan Abdülhamid würde ihnen niemals ein verbrieftes Recht auf Einwanderung geben.

Aber im Ganovennest in der Krochmalna Nummer 6 lasen sie keine Zeitungen und kümmerten sich nicht um Politik. Wohl erinnerten sie sich an den Anschlag der Sozialisten auf die Unterwelt, als die Rebellen in die Bordelle stürzten, die Huren verprügelten, das Bettzeug auseinanderrissen, Augen grün und blau schlugen und Rippen brachen. Aber das war lange her. Eine Menge Randalierer waren nach Sibirien verbannt, etliche in der Zitadelle erhängt worden, und eine ganze Reihe von ihnen hatte den »Blutigen Mittwoch« nicht überlebt.

Jarmy konnte die jiddische Zeitung lesen. Er stammte aus Piaski, der Stadt der Diebe. Eine Weile hatte er an einer Jeschiwa in Lublin gelernt. Wenn einer aus seiner Bande den Eltern schreiben oder einen Brief nach Brasilien schicken musste, kam er zu Jarmy, der den Brief auf Jiddisch und die Adresse auf Russisch abfasste. Jarmy kaufte sich die Zeitung jeden Morgen, las aber nur die Fortsetzungsromane »Die blutbesudelte Frau«, »Die betrogene Dame« und andere solche Geschichten. Oft las er Keila daraus vor oder beschrieb ihr, was inzwischen passiert war. Keilas grüne Augen leuchteten, wenn sie die Einfälle des Autors hörte. Sie sagte dann:

»Fabelhaft, was die Schreiber sich ausmalen. Die können Berge versetzen.«

»Alles Quatsch, die sitzen da mit dem Stift in der Hand, diese Traumtänzer, und bauen Luftschlösser. Die können gar nix, nicht mal einer Katze einen Knoten in den Schwanz machen.«

»Das kommt davon, dass sie diese Tora studieren«, sagte Keila. »Vergraben sich in den dicken Gemaras und wetzen ihren Verstand …«

»Stimmt. Haskele Glasbruch war gut im Studieren. Wenn einer kam und ihn um Rat fragte, hat er sich die Stirn gerieben wie ein Rebbe«, sagte Jarmy. »Hat alle die Russkis in Polen an der Nase rumgeführt. Seine Finger waren so lang, dass er einmal sogar dem Polizeichef eine goldene Uhr geklaut hat.«

»Haben sie ihn erwischt?«, fragte Keila.

»Er hat sie von sich aus zurückgegeben. Hat gesagt: ›Eure Exzellenz, bitte sehr, hier ist Ihre Uhr‹. Den Bonzen hätte fast der Schlag getroffen.«

Jarmy und Keila schliefen nicht nur gern miteinander, sondern schwatzten auch mit Freude zusammen. Sie blieben in ihrer Wohnung in der Krochmalna-Straße 8 halbe Nächte lang wach und redeten. Die Rote Keila hatte Millionen Geschichten auf Lager, und Jarmy zehnmal so viel. Keila war vor zwanzig Jahren aus der Provinz in die Stadt gebracht worden und hatte sich seitdem nicht aus Warschau hinausbewegt. Weiter als bis Praga oder Pelcowizna war sie nicht gekommen. Jarmy Stachel dagegen war viel gereist. Eine Weile hatte er auf Bahnfahrten dümmliche Mitreisende beim Würfeln und anderen Glücksspielen abgezockt. Eine Zeit lang hatte er in Mława Leute, die nach Amerika wollten, über die Grenze geschmuggelt. Auch hatte er Konterbanden nach Preußen und weiter nach Russland verschoben. Beinahe wäre er mit einer Schiffsladung Prostituierter in Brasilien gelandet. Er steckte mit allen Mädchenhändlern und Safeknackern Polens unter einer Decke. In seinem Kalender hatte er sich die Daten aller Jahrmärkte in Russland notiert.

Keila himmelte ihn an: »Jarmele, ich bin die glücklichste Frau auf der Welt! Nur um eines bitte ich Gott – dass mein Glück nicht vergeht. Ich stecke immer was in die Almosenbüchse und bete, dass du mir gesund bleibst.«

»Keila, dich würde ich nicht hergeben, und wenn jemand mir dein Gewicht in Gold bieten wollte«, antwortete Jarmy.

»So eine Liebe wie unsere hat die Welt noch nicht gesehen«, wisperte Keila.

Wohl wahr; allerdings hatte das Paar eine Abmachung: Falls Jarmy der Sinn nach einer anderen Frau stand oder Keila Lust auf einen Mann hatte, sollten sie sich keinen Zwang antun, sondern ihren Wünschen folgen. Jedoch unter einer Bedingung: nichts geheim halten und sofort danach dem anderen alles, was passiert war, genau beschreiben. Beide hielten sich strikt an die Abmachung.

In ihren zweieinhalb Ehejahren war Jarmy nur selten fremdgegangen und nur, wenn er außerhalb der Stadt zu tun hatte. Und in dieser Woche hatte Keila zum ersten Mal mit Itsche Einauge im Hospital an der Czysta-Straße geschlafen, wo er liegen musste, nachdem ihn ein Ganove fast erdolcht hätte. Itsche Einauge hatte die Strippen gezogen, um ein Zimmer für sich allein zu ergattern. Als Keila ihn am Krankenbett besuchte und ihm einen Käsekuchen mitbrachte, verlangte Itsche, verwundet, verpflastert und verbunden wie er war, sie solle ihn um der alten Zeiten willen tun lassen, was er nötig habe.

Trotz Krankheit und Fieber zerrte er sie in sein Bett und brauchte für das Ganze kaum länger als eine Minute, denn außen an der Tür wartete schon eine Krankenschwester, die nur noch ein paar Worte mit dem Pförtner wechselte. Als Keila Jarmy in der Nacht erzählte, was geschehen war, überschüttete er sie mit Küssen und sagte begeistert:

»Keilachen, das war eine gute Tat. Mein Glückwunsch.«

»Hinterher hab ich die ganze Nacht geheult«, sagte sie.

»Warum denn? Du bist doch nicht scheinheilig und tugendsam, und bin ich etwa selbstgerecht?«

»Ach Jarmele, für dich wollte ich rein sein, aber er hat mich mit einem Ruck ins Bett gerissen, und eh ich mich wehren konnte, war's schon passiert. Dann hab ich ihm ins Gesicht gespuckt.«

»Dazu hattest du kein Recht. Itsche Einauge könnte dein Vater sein.«

»Bist du denn nicht eifersüchtig?«

»Ganz und gar nicht.«

Jarmy drängte Keila, ihm alles genau zu beschreiben – bis ins Einzelne. Er hakte immer wieder nach. Es erregte ihn heftig, er war wie gebannt, ganz außer sich. Und wahr ist, dass Keila genauso reagierte, als Jarmy ihr seine Abenteuer mit einer Köchin in Kaliz und der Frau eines Zimmermanns in Lodz gestand.

In dieser Nacht sprach Jarmy darüber, dass Itsche Einauge nachgelassen habe. Er sei nicht mehr der Alte, und wenn er das Krankenhaus verlasse, sollten sie ihn einladen, ein paar Tage oder Wochen bei ihnen zu wohnen, bis er sich erholt habe, und es wäre eine Ehre, wenn er die Einladung annehme.

»Er war dein Erster, vergiss das nicht«, sagte Jarmy.

»Jarmele, das habe ich schon vergessen, alle habe ich vergessen. Ich bin wieder als Jungfrau zu dir gekommen.«

»Eine beglaubigte Jungfrau mit Dokumenten zum Beweis … Sei nicht blöd, dann kannst du absahnen …«

Am nächsten Sabbat nach dem Essen wanderten Jarmy und Keila wieder ins Hospital zu Itsche. Jarmy hatte für den Patienten eine Schachtel Pralinen, eine Dose Kaviar und auch noch Blumen gekauft. Als die beiden mit den Geschenken die Straße entlanggingen, folgten ihnen Blicke aus allen Fenstern und von jedem Balkon. Keila war mittelgroß mit hohem Busen, schmaler Taille und rundlichen Hüften, sie hatte schlanke Fesseln und kräftige Waden. Eigentlich waren Keilas Hüften knabenhaft schmal, aber sie polsterte ihre Figur mit Kissen aus. Die Sonne schien auf ihr krauses rotes Haar, so dass die Locken wie Feuerzungen leuchteten. Jarmy war größer als sie und immer noch schlank wie ein Junge. Er hatte eingefallene Wangen, große schwarze Augen, die etwas ungleich erschienen, und eine Nase, die manchmal gerade aussah und manchmal gebogen wie ein Vogelschnabel wirkte. Sein vorspringendes Kinn hatte eine Kerbe.

Mann und Frau bewegten sich anmutig wie Tänzer. Jarmy trug einen neuen Anzug, eine geblümte Krawatte mit einer Perlennadel, braune Schuhe und eine Melone. Keila hatte ein gelbes Kleid mit Seitenschlitzen angezogen, gelbe Schuhe mit goldenen Schnallen und dünnen hohen Absätzen und einen mit Kirschen und Blumen dekorierten Hut. Um den Hals trug sie ein Medaillon an einer Kette. An ihren Ohrläppchen baumelten Perlenohrringe. Beide Handgelenke waren mit Armbändern bedeckt. Alle wussten, wohin das Paar ging – zum einäugigen Itsche, der Keilas Erster gewesen war und der sie später an Heiml Holzklotz aus der Potocka weitergereicht hatte. Damals hatte Itsche Einauge etwas mit der Dicken Reitzele angefangen, die aber erst mit ihm zusammenleben wollte, wenn er die Rote Keila in ein anderes Revier abgeschoben hätte.

2.

Als Jarmy und Keila diesmal ins Hospital kamen, war Itsche Einauges Zimmer voll mit seinen Komplizen. Obwohl es verboten war, den Patienten schwer verdauliches Essen mitzubringen, hatten sie für Itsche gehackte Leber mit Hühnerfett, Tscholent, Pudding, Gefilte Fisch, Knisches, dazu Wein, Wodka und Kognak im Gepäck. Eine Puffmutter hatte dem Patienten ein Dutzend Rosen überreicht.

Alle waren da – Schmul Schmand, der Lange Leibusch, Mordkele Feuerbrand, Shaya Schläger und die Dicke Reitzele, die jetzt mit einem Lastwagenfahrer zusammenlebte, der fünfzehn Jahre jünger war als sie. Sogar ein Polizist aus dem 7. Bezirk machte einen Krankenbesuch bei Itsche, der mit der Polizei auf gutem Fuß stand. Die suchte jetzt nach Berele Fettwanst, dem Ganoven, der Itsche das Messer in den Hals gerammt hatte. Dass Itsche den Anschlag überlebt hatte, galt als Wunder vom Himmel. Nicht nur die Polizei, auch Itsches Kumpel kämmten ganz Warschau auf der Suche nach Berele Fettwanst durch. Er war schon so gut wie tot, denn es war beschlossene Sache, dass er umgelegt würde, sobald man ihn hatte.

Der einäugige Itsche (er war blind auf einem Auge, und über die linke Wange zog sich eine schartige Narbe) lag jetzt mit verbundenem Hals im Bett. Er war ein schwergewichtiger Kerl mit riesigen Pranken, die einem Ochsen die Kehle zudrücken konnten, mit einer breiten Nase, einem dichten schwarz-grauen Haarschopf; das eine Auge war von einer schwarzen Augenklappe bedeckt, das andere hatte den strengen entschlossenen Blick des geborenen Anführers. Was wären die Krochmalna-Straße, der Platz und das Ganovennest in Nummer 6 ohne Itsche? Er hatte überall seine Hand im Spiel. Allerdings gehörte er bereits zur älteren Generation, und inzwischen war eine neue Sorte von Taschendieben, Erpressern, Zuhältern und Schiebern herangewachsen, Ganoven, die bereit waren, für ein paar Groschen zu töten und ihre Freiheit zu riskieren. Aber noch war die ältere Generation stark genug, diese Neuen von den Fleischtöpfen fernzuhalten.

Es ging das Gerücht, Itsche habe im Hospital unter seinem Kissen oder unter der Matratze eine Pistole versteckt. Er hatte viele Freunde, aber auch eine gute Portion Feinde. Die Wahrheit war, dass Itsche sich mit allerhand Aktivitäten zwar viel Geld verschafft, aber in all den Jahren nichts auf die hohe Kante gelegt hatte. Er war sehr freigiebig und bereit, jedem zu helfen. Er spendete sogar Synagogen, Waisenhäusern und Talmud-Tora-Schulen Geld. Wenn ein guter Ganovenbruder ins Gefängnis ging, schickte Itsche ihm Päckchen und unterstützte seine Frau.

Als Jarmy und Keila im Türrahmen standen, machten die anderen ihnen Platz. Itsche hob eine Hand zur Begrüßung. Er hatte die Rote Keila gegen die Dicke Reitzele eingetauscht, aber den Tausch später bereut. Als die Rote Keila Jarmy Stachel heiratete, schickte ihr Itsche fünfzig Rubel und ein Hochzeitsgeschenk. Es kam selten vor, dass eine Frau, die schon in drei Bordellen gearbeitet hatte, noch heiratete, und dazu einen gebildeten Mann, einen Halbintellektuellen wie Jarmy Stachel. Es war ein Omen für alle Warschauer Huren, nicht die Hoffnung aufzugeben, ein Zeichen, dass die Liebe noch immer die Welt regierte, auch wenn man bis zum Kinn im Sumpf versank. Manchmal kam es vor, dass ein Zuhälter sich in eine Hure verliebte und sie aus dem Bordell herausholte, doch dann ging er mit ihr nach Amerika oder sogar Südafrika, und man sah die beiden nie wieder. Aber Jarmy Stachel und die Rote Keila waren in der Krochmalna-Straße geblieben. Sie kamen jeden Tag zum Karten- oder Dominospiel oder um den neusten Klatsch zu hören in das Ganovenquartier. Jarmy Stachel war kein ganz ehrbarer Bürger geworden. Illegale Aktivitäten reizten ihn immer noch, und die Bande traute ihm und Keila unbedingt.

Nach dem, was Itsche Einauge der Roten Keila angetan hatte, als sie ihn im Spital besuchte, hatte er Angst, Jarmy sei nun sein Feind. Keila hatte ihm schwören müssen, nichts zu verraten. Er fürchtete sogar, Keila würde nicht mehr viel von ihm halten, nachdem er sich so schwach gezeigt und an der Frau eines Freundes vergriffen hatte. Als er aber sah, dass das Paar ihm Geschenke brachte, fiel Itsche ein Stein vom Herzen, wie man so sagt.

Er roch an den Blumen, bat Keila, die Pralinenschachtel zu öffnen, und wollte eine Praline kosten – alles, um zu zeigen, wie sehr er ihren Besuch zu schätzen wusste. Er forderte das Paar auf, sich zu ihm auf die Bettkante zu setzen, und die anderen machten ihnen Platz.

Schon seit Monaten hatte die Bande im Ganovenquartier Pläne geschmiedet, die sie selbst für Fantastereien hielt, für Luftschlösser sozusagen. Jarmy Stachel hatte ihnen von einer Gang in Amerika erzählt, die sich die Schwarze Hand nannte – Teil der Mafia, die wer weiß wie lange in Italien agiert hatte und dann ins reiche Amerika ausgewandert war. Die Schwarze Hand, das waren keine schlichten Diebe … sie schickten Drohbriefe an amerikanische Millionäre: »Soundso viel Geld her oder eine Kugel in die Birne.« Als Unterschrift eine schwarze Hand. Gelegentlich kidnappte die Gang einen Reichen und verlangte Lösegeld für die sichere Rückkehr des Opfers. Jarmy Stachel hatte diese Artikel in der Warschauer jiddischen Zeitung gelesen, die sie von einer Zeitung in New York übernommen hatte.

Jarmy trug sich noch mit einem anderen Plan – einen Tunnel zum Kellergewölbe einer Bank zu graben und den Tresorraum leer zu räumen –, auch diesen Einfall hatte er aus der Zeitung. Itsche Einauge, der ein praktischer Mensch war, sagte von Anfang an, das sei ein Hirngespinst, ohne Hand und Fuß. Warschau sei nicht New York oder Chicago. Wenn man hier anfing, einen Tunnel zu graben, erfuhren es die Russen noch in derselben Minute. Außerdem seien die harten Typen in Warschau Großmäuler, die ihren Miezen gleich alles ausplaudern würden, und Frauen hätten nicht nur lange Haare, sondern auch lange Zungen und könnten kein Geheimnis für sich behalten.

Und auch noch einen dritten Plan machten sie: einen Postzug aufhalten und ausrauben. Das war kein aus Amerika eingeführtes Projekt – es war schon hier in Polen durchgeführt worden, in der Zeit, als die Sozialisten zu einer Organisation mit Namen Proletariat gehört hatten. Säckeweise Dukaten wurden damals gestohlen – das ließ sich doch wiederholen, oder? Wenn man einen eisernen Barren quer über die Gleise legte, musste der Zug anhalten. Der Postwagen wurde von höchstens zwei oder drei Männern bewacht. Wenn man den Zug nachts in einem Wald anhielt, würde die Polizei nicht so schnell davon erfahren. Mit zwei, drei Wachmännern war leicht fertig zu werden, und wenn man kein Blutvergießen wollte, konnte man sie fesseln und knebeln.

Aber Itsche hatte etwas dagegen. Die Zeiten für so einen Handstreich seien vorbei. Die Sozialisten waren eine politische Partei gewesen. Sie hatten Mut gehabt, hatten versucht, den Zaren abzusetzen. In ihrer Bande waren lauter Söhne reicher Männer, Offiziere, sogar Generäle. Trotzdem waren viele von ihnen erwischt und gehenkt worden. Die Brüder aus der Krochmalna- und aus der Smocza-Straße hatten weder genug Waffen, noch konnten sie Bomben bauen. Nu, und wo wollten sie sich hinterher mit ihren Dukatensäcken verstecken? Und wie das Geld aufteilen? Er, Itsche Einauge, habe lange genug im Kittchen gesessen. Er wolle sein letztes Stündlein nicht im Knast und nicht am Galgen baumelnd erleben. Deshalb zerschlug er die Pläne einen nach dem anderen. Er war mit den wöchentlichen Schutzgeldern zufrieden, die er von den Bordellen und von den Kaufleuten erpresste, die zahlten, damit ihnen nicht die Läden angezündet oder das Mehl, die Kurzwaren und Textilien mit Wagenschmiere übergossen wurden. Am Ende redeten die Gauner auf dem Platz und in der Bierhalle von Nummer 17 offen über die großartigen Pläne.

Jetzt, im Hospital, drehte sich die Unterhaltung wieder darum, dass man etwas tun müsse, was ganz Warschau auf den Kopf stellte und außerdem einen Riesenreibach einbringe, aber wieder stellte Itsche sich taub. Haskele Glasbruch war tot. Seit den Unruhen von 1905 wimmelte es in Warschau von Polizisten, Geheimagenten und schlichten Spitzeln. Jeder Hausmeister hatte der Polizei noch die geringste Kleinigkeit zu melden. Wenn drei Schuster zusammen ein Bier trinken wollten, wurde es der Staatsmacht hinterbracht.

Itsche sagte: »Kinder, heutzutage könnt ihr keinem trauen. Wie meine Mutter selig zu sagen pflegte: ›Aus Schnee kann man keinen Käse machen‹.«

Nach einer Weile verzogen sich die anderen, und nur Jarmy Stachel und die Rote Keila blieben. Dann traf es sich, dass Keila auf den Ort musste, den selbst der Zar allein aufsucht, und Jarmy sagte:

»Itschele, Keila hat mir alles erzählt. Du musst dich nicht schämen. Schließlich sind wir beide Männer und keine Kinder. Du hattest sie vor mir. Du bist für sie wie ein Vater. Wenn es dir nur zusagt.«

Itsche war einen Moment sprachlos.

»Wenn man so lange im Bett liegt, kocht das Blut. Ich hatte ihr gesagt, sie soll den Mund halten.«

»Zwischen uns soll es keine Geheimnisse geben, das hatten wir uns geschworen.«

»Nu, du bist ein wahrer Bruder. Komm, geben wir uns die Hand drauf.«

Und Itsche Einauge quetschte Jarmys Hand mit so viel Kraft, dass der fast vor Schmerz stöhnte.

»Mann bist du stark! Die Pestilenz soll dich fressen«, sagte Jarmy als Kompliment.

»Manchmal ist mir, als wär mein Ende nah.«

»Itsche, wenn du entlassen wirst, komm zu uns. Wir nehmen dich auf wie einen Vater.«

»Was? Womit hab ich das verdient? Jarmele, du wirst es noch weit bringen. Vergiss nicht, dass irgendwann mal ein Itsche auf dieser Welt war.«

Als Jarmy und Keila sich auf den Weg zum jüdischen Ganovenquartier zwischen Eisenstraße und Gnojna machten, wurde es schon langsam dunkel. Der Platz und die Häuser auf ihrem Weg sahen aus, als würde hier nur Gesindel wohnen, aber in Wirklichkeit war die Gegend voller frommer Juden, achtbarer Matronen, Synagogen, chassidischer Lehrhäuser, Chederim, sogar Jeshiwot. In den Lehrhäusern wurde der Sabbat gefeiert, und wenn man an den Toren vorbeikam, hörte man Juden die Lieder zum Ausgang des Sabbat singen. Frauen saßen an offenen Fenstern und rezitierten »Got fun Avrom«.

Jarmy und Keila kamen beide aus anständigen Familien. Jarmys Onkel in Mysoka war zwar ein Dieb gewesen, aber sein Vater ein frommer Jude, ein achtbarer Mützenmacher. Er hatte Jarmy in den Cheder und dann sogar in eine Jeschiwa nach Lublin geschickt. Keilas Vater war der Synagogendiener in der Synagoge der Schneider in ihrer Heimatstadt gewesen. Am Sabbat – besonders am letzten Abend, bevor die ersten drei Sterne am Himmel zu sehen waren – wurden Keila und Jarmy immer schweigsam und trübsinnig. Beider Väter und Keilas Mutter lagen schon auf dem Friedhof. Ganz gleich, wie tief Keila im Sumpf versank, sie versäumte nie, Kerzen zum Gedenken an ihre Eltern anzuzünden. Irgendwo hatte sie einen Bruder und zwei Schwestern, die nichts mehr von ihr wissen wollten, denn sie waren ehrbare Leute. Jarmy hatte eine alte Mutter und einen Bruder. Aus der Gosse, wie man so sagt, stammten weder Jarmy noch Keila. Keila gab gern damit an, dass ihr Großvater in einer Gemara gelesen habe, die lang und breit wie ein ganzer Tisch war. Manchmal, wenn Jarmy auf der Straße einen Chederschüler mit einem heiligen Buch unter dem Arm traf, hielt er ihn an und stellte ihm Fragen zum Pentateuch. Er wusste sogar noch die erste Seite der mittleren Ordnung der Mishna auswendig. Er hielt sich für einen Ketzer und sagte oft, es gebe keinen Gott, aber Keila glaubte an Gott, Dämonen, böse Geister und den bösen Blick.

Als das Paar nun zur Nummer 8 kam, hingen schon drei Sterne über den Blechdächern. Der Mond schwamm zwischen den Wolken, und Keila sagte:

»Eine gute Woche wünsche ich dir, Jarmele.«

»Eine gute Woche, ein gutes Jahr!«

»Möge es eine Woche mit Glück sein«, sagte Keila.

»So Gott will.«

Glück konnten Jarmy und Keila brauchen. Seit ihrer Heirat hatte Keila keinen Groschen verdient. Womit auch? Seit Jarmys letzter Transaktion war ebenfalls schon viel Zeit vergangen. Früher hatte er keine Angst vor Risiken gehabt, für einen möglichen Profit hatte er alles aufs Spiel gesetzt. Aber seit seiner Hochzeit mit der Roten Keila war er fast zum Feigling geworden und hatte Angst, seine Freiheit zu riskieren. Er wusste ganz genau, dass Keila nichts anderes übrigbliebe, als wieder ins Bordell zu gehen, falls er im Kittchen landete. Er hatte sich an pünktliches Essen und frühe Schlafenszeiten gewöhnt, an sauberes Bettzeug, saubere Hemden, saubere Unterhosen und hausgemachte Mahlzeiten wie damals in Wysoka. Wenn er sich nur vorstellte, wieder hinter Gittern zu sitzen, von Wächtern geprügelt zu werden, im Gefängnis klebriges Brot und fettige Suppe essen zu müssen, wurde ihm eiskalt. Jarmy empfand jetzt sogar Mitleid mit seinen Opfern – meist Halbverarmte, die sich für jedes Kleidungsstück, jedes Hemd, für die paar kümmerlichen Rubel krumm gearbeitet hatten. Gelegentlich redete er mit seinen Kumpanen im Ganovennest darüber, und sie lachten ihn aus:

»Jarmy, du bist ein sentimentaler Weichling geworden.«

»Ich bin kein Heiliger«, verteidigte er sich. »Aber wenn schon Schweinefleisch, dann richtig, so dass es dir vom Munde trieft …«

Er musste dringend ein Ding drehen, das ordentlich Geld brachte. Er träumte von allen möglichen wunderbaren Fischzügen und lebte inzwischen von seinem restlichen Bargeld. Keilas Notgroschen hatte er so gut wie verschleudert. Er wahrte den Schein, wie man so sagt, und gab oft mehr aus, als er sich leisten konnte, zum Beispiel für die teuren Geschenke, die er Itsche Einauge an diesem Tag ins Hospital mitgebracht hatte. Aber seine engen Freunde wussten, dass all das eine Täuschung war.

An diesem Sabbatabend war ein Theaterbesuch geplant. Gespielt wurde ein Stück aus Amerika, »Uncle Sam«, und Jarmy hatte Plätze in den vorderen Reihen für einen Rubel pro Karte gekauft. Aber vorher mussten sie zu Hause noch schnell eine Kleinigkeit essen, die letzte Sabbat-Mahlzeit, den Abschied von Königin Sabbat, wie sie genannt wurde. Ein Brotrest vom Sabbat wurde aufgetischt, dazu gab es einen Fischschwanz, einen halben Hering mit Heringsmilch und eine Schüssel Dickmilch, die Keila als gute Hausfrau am Freitag selbst im Eisschrank bereitgestellt hatte.

Jarmy sagte immer, Keila hätte auch für den Zaren persönlich kochen können. Sie wusste genau, wo man im Janasz-Basar die Schnäppchen finden konnte. Statt perfekte Eier für eine Kopeke das Stück zu kaufen, erwarb sie Knick- oder Kalkeier, die fast nichts kosteten. Statt teurer Filets für zwanzig Kopeken das Pfund, nahm Keila Hühner- und Gänseköpfe, Schenkel, Innereien und Mägen, die ganz billig waren, und kochte daraus Ragouts und Suppen, die – in Jarmys Worten – Mahlzeiten für Königinnen waren. Nun ja, aber wenn man von Bargeld lebte, konnte man ein Vermögen verputzen. Jarmy und Keila überlegten ernsthaft, nach Nordamerika oder Buenos Aires auszuwandern, aber das hätte sehr viel Geld gekostet. Ohne einen Penny dort anzukommen, hieß außerdem, dass man sofort vierzehn Stunden pro Tag in einer Fabrik Hosen bügeln musste. In diesem Jahr herrschte auch in New York eine Depression. Briefe trafen ein, die von langanhaltenden Streiks sprachen und von Arbeitern, die hungerten und in Mülltonnen nach Essensresten suchten. Nach Buenos Aires kam man am besten mit lebender Ware, nicht mit leeren Händen.

Jarmy wusste, was niedere Arbeit ist. Sein Vater hatte ihn zu einem Schneider in die Lehre gegeben, aber statt das Handwerk zu lernen, musste er dort Nachttöpfe leeren und das Baby hüten. Nicht einmal Brot hatten sie ihm gegeben. Obwohl der jüngste Erlass aus St. Petersburg eine Verkürzung der Arbeitswoche vorschrieb, malochten die Arbeiter immer noch vom Morgengrauen bis zur Abenddämmerung, hatten nur Lumpen statt Kleider, wohnten in Kellern und keuchten sich die Lungen und das Leben aus dem Leib.

Jarmy und Keila aßen schnell, damit sie rechtzeitig ins Theater aufbrechen konnten und ohne Kutsche oder Pferdebahn auskamen. Aber als sie aus dem Haustor traten, war es schon zu spät für den Fußweg in die Abazhna-Straße. In der Kutsche lehnten sie sich zurück, und Jarmy sagte:

»Die vierzig Kopeken machen den Kohl auch nicht fett. Es ist sowieso schon alles beim Teufel …«

»Von vierzig Kopeken kann man einen ganzen Tag leben«, belehrte ihn Keila.

Am Sabbat war der Platz mehr oder weniger verlassen. Die Läden waren geschlossen. Die Berufsverbrecher, die Pflastermaler und die ehrlichen Verkäufer von Kichererbsen, Limonade, Kartoffelplätzchen, scharfen Limabohnen und gerösteten Kastanien – alle ruhten am Sabbat. Am Freitagabend kamen nicht mal die Huren heraus, um sich vor den Toren Kunden zu holen. Aber sowie die Lampen wieder angingen und die Juden den Sabbat ausklingen ließen, war der Platz so dicht besetzt mit Menschen wie ein Mohnbrötchen mit Mohnkörnern. Aus der Menge stieg ein Brausen auf. Durch die offenen Fenster tönte Grammophonmusik: Duette aus amerikanischen Operetten, Solos von Kantoren, Melodien aus dem »Gebetsschal«. Ein suggestiver populärer Schlager sagte:

Ein Geheimnis soll es sein,

nicht groß, nur klein,

ein Doktor weiß, was er tut,

wie gut!

Jarmy drängte den Kutscher, schneller zu fahren, weil er nicht ankommen wollte, wenn der erste Akt schon halb vorbei war, aber die Menge ließ sie nicht durch. Außerdem brach der unvermeidliche Großbrand aus, und die Feuerwehr kam scheppernd und klingelnd, gefolgt von einem Krankenwagen. Aus einem Parterrefenster schossen Rauch und Flammen. Der Vorreiter, der vor dem klappernden Löschfahrzeug ritt, um vor falschem Alarm zu warnen, musste den galoppierenden Pferden mit der Peitsche einen Weg durch die Menschenmenge verschaffen. Es war jedes Mal ein Wunder, dass in dem Getümmel keine Menschen zertrampelt wurden. In den anderen Straßen kam man auch nicht schneller voran.

Die Droschke fuhr durch die Gnojna-Straße, querte die Graniczna, erreichte die Królewska und dann die Próżna und schließlich die Abazhna-Straße. Auf der Królewska fuhr sie ein Stück am Sächsischen Garten entlang, und Jarmy und Keila sogen den Duft der Kastanien ein, deren Äste über das Eisengeländer ragten. Juden in Kaftanen und ihre Frauen mit Perücken und Hüten, die den Park nicht betreten durften, aber auch frische Luft brauchten, saßen außen auf dem Zementsockel, in den das Geländer eingelassen war.

Gott sei Dank hatte das Stück ebenfalls mit Verspätung angefangen, und Jarmy und Keila fanden ihre Plätze, ehe der Vorhang sich hob. In derselben Reihe saßen einige Paare, die sie aus dem Ganovenquartier kannten. Sogleich bot einer der Männer Jarmy einen Beutel Knabbernüsse an, und eine Nutte schenkte Keila mit Mohnsamen bestreute Schokoladenwaffeln. Aber was sie jetzt auf der Bühne sahen, war so spannend, so vielfältig und farbenfroh, dass sie ganz vergaßen, sich für die Erfrischungen zu bedanken. Der Vorhang öffnete sich, und man blickte in den Salon eines New Yorker Millionärs, komplett mit vergoldetem Klavier, schicken Möbeln, Teppichen, Kronleuchtern und Kandelabern. Der Millionär mit Zylinder und Gehrock stellte seiner Frau eine frisch eingetroffene Immigrantin aus Polen vor – eine Dame, die einen Hut mit Straußenfedern und ein Gewand mit Schleppe trug. Die Immigrantin, jung, hübsch und unerfahren, war offensichtlich gerade erst mit dem Schiff angekommen. Der Millionär hieß Sam, und seine Frau war Bessie.

Sam zu Bessie:

»Bessie, Liebste, das ist meine Nichte Zirele aus Pinchev. Es war der letzte Wunsch meiner verblichenen Schwester Beile Gittel – möge sie Frieden im Paradies finden –, dass ich ihre einzige Tochter Zirele nach Amerika hole, um sie hier, wo ich sie im Auge behalten kann, aufzuziehen, als wäre sie mein eigen Fleisch und Blut. Da Gott uns nicht mit Kindern gesegnet hat, wird Zirele wie unsere Tochter sein. Von diesem Tag an bist du, Bessie, ihre Mutter und ich bin ihr Vater. Wir werden sie an der feinsten Universität einschreiben, sie wie eine Prinzessin kleiden und mit einem hübschen, gebildeten jungen Mann verheiraten, und in hundert Jahren oder noch später wird sie unser Vermögen erben, denn niemand lebt ewig, nicht einmal hier in dem Land, das Columbus entdeckt hat.«

Kaum hatte Sam seinen Text zu Ende aufgesagt, brach im Theater ein gewaltiger Applaus los, und Sam, Zirele und Bessie verbeugten sich tief vor dem Publikum. Als alles wieder still war, hob Bessie ihr Lorgnon und musterte Zirele noch einmal von Kopf bis Fuß.

»Sam, mein lieber Gatte, diese Rechnung hast du ohne den Wirt gemacht. Niemals lasse ich so eine Bestie wie deine unbeleckte Zirele in mein Haus! Wie sieht sie denn aus, sie ist ja ganz zerlumpt, schau sie dir doch an. Sie spricht nicht mal Englisch, bloß Jiddisch, diesen verfluchten Jargon. Nur über meine Leiche wird diese polnische Schlampe meine Tochter. Wenn du weißt, was gut für dich ist, Sam, dann schickst du sie auf der Stelle dahin zurück, wo sie hergekommen ist, oder mein Bruder, der Richter, wird euch beide in euren Schweinestall deportieren lassen, und du bist dann wieder das, was du vor dreißig Jahren warst – ein Schusterlehrling in Pinchev, ein Armer ohne ein Hemd zum Wechseln.«

Das Publikum schimpfte und zischte laut und wütend.

Jemand brüllte: »Alte Zicke!«

Und warf eine faule Kartoffel auf die amerikanische Dame.

3.

Zwischen dem ersten und zweiten Akt blieb Keila auf ihrem Platz sitzen, während Jarmy zum Rauchen hinausging. Jemand rief ihn beim Namen – eine piepsige Männerstimme, die ihm bekannt vorkam. Durch die Menge drängte sich ein haar- und bartloser kleiner Mensch in einem karierten Anzug, mit gelben Schuhen und einer golddurchwirkten Krawatte. Im breiten Krawattenknoten steckten drei Perlen, die aussahen wie die Vokalzeichen in der hebräischen Schrift. Der Mann stützte sich auf einen Stock mit goldenem Knauf. Wie die Stimme kam Jarmy auch das Gesicht bekannt vor, aber einordnen konnte er beide noch nicht.

»Wer würde denn einen Stock mit ins Theater nehmen?«, fragte er sich. »Warum hat er ihn nicht in der Garderobe abgegeben?«

Im selben Moment merkte er, dass der andere hinkte, und prompt fiel ihm ein, wer es war: der Lahme Max. Jarmy starrte ihn erstaunt an. Das war der Mann, mit dem er drei Monate im Arsenal-Gefängnis an der Długa-Straße abgesessen hatte, allerdings schon vor vier oder fünf Jahren. Er, Jarmy, hatte wegen Diebstahls gesessen und der Lahme Max, weil er versucht hatte, in der Landauer Bank einen gefälschten Hundert-Rubel-Schein umzutauschen. Damals hatte der Lahme Max blondes Haar und einen Schnurrbart gehabt, den er wie ein Paar Schläfenlocken drehte und mit Wachs in Form hielt. Obwohl er gut zehn Jahre älter als Jarmy war, waren die beiden in der Zelle so dicke Freunde geworden, dass Max sogar versucht hatte, ihn zu einer homosexuellen Beziehung zu überreden. Um die Zeit war Jarmy dann vom Arsenal in das Gefängnis an der Mokotow-Straße überstellt worden, und danach hatte er den Lahmen Max nicht mehr gesehen. Nach seiner Entlassung hatte er gehört, der Lahme Max sei ins Ausland gegangen, zweifellos nach Amerika. Wer den Ozean überquert hatte, galt als tot und wurde schnell vergessen. Aber da stand der Lahme Max dicht neben ihm und sprach mit einer piepsigen, halb vorwurfsvollen Stimme:

»Jarmy, du bist es! Du erkennst mich nicht, hä? Max, Max Levites bin ich, die Pest wünsch ich ihm an den Hals, dem Sohn deines Vaters!«

»Ja, ich erkenn dich«, erwiderte Jarmy. »Was ist mit deinem Haar passiert? Hast du es einem Perückenmacher verkauft?«

»Ich hab schon vergessen, dass ich mal Haare hatte«, sagte Max mit einem Lächeln, das einige wenige spitze Zähne freilegte. »Wenn man lange genug lebt, sieht man schließlich alles, sage ich immer. Verflucht soll ich sein, wenn ich nicht gerade heute an dich gedacht habe. ›Was wohl mit Jarmy ist?‹, habe ich mich gefragt. Ich dachte, sie hätten dir im Mokotow die Lunge aus dem Leib geprügelt, und du wärst längst eine Leiche. Aber wie heißt das Sprichwort? ›Stacheln welken nicht.‹ Gut siehst du aus, du Nichtsnutz, du Hurensohn, komm, geben wir uns die Hand.«

Max streckte ein schmales Händchen mit dünnen Fingern und langen, glänzenden Nägeln aus. An einem Finger trug er einen Ring mit einem riesigen Diamanten und einen Siegelring an einem anderen.

»Reich geworden ist er«, dachte Jarmy.

Laut sagte er:

»Wohin hat's dich denn verschlagen, hat dich der Teufel geholt? Verschwunden wie ein Stein im Wasser. Nach Amerika wärst du gegangen, hat es geheißen.«

»Amerika, eh? Alles ist Amerika. New York ist Amerika und Buenos Aires ist Amerika und Brasilien ist auch Amerika. In New York musst du Geld machen, damit du leben kannst, und in Brasilien ›machst du Amerika‹. Hast du von so einem Land schon mal gehört? Wenn hier Nacht ist, ist dort Tag, und wenn hier Winter ist, hast du dort Sommer.«

»Wo warst du? In Brasilien?«

»In Brasilien, in Argentinien, Uruguay, in New York, Chicago, sogar in Kalifornien. Überall ist es besser als hier bei den Russkis … Wo wohnst du? Immer noch in der Krochmalna? Ich bin mit der Droschke durchgefahren, und der Gestank war zum Ersticken. Rinnsteine voller Jauche. Als ich vorbeifuhr, hat ein Mädchen einen Eimer mit Dreckbrühe aus dem Fenster gekippt. Um ein Haar hätte sie mich getroffen.«

»Du bist wohl 'n feiner Pinkel geworden, wie?«

»Was machst du? Immer noch klauen?«, antwortete Max mit einer Frage.

»Nein, Rabbi bin ich geworden.«

»Nu, so geht's auf der Welt. Ganz wie die heiligen Bücher sagen – erinnerst du dich noch an das gute Buch?«

»Ja, ich weiß noch: Zwei Berge begegnen sich nicht, wohl aber zwei Menschen.«

»Ich glaub's nicht, er weiß es noch! Und wie gefällt dir das Stück, hä? Amerikanischer Kitsch. In Amerika haben die Leute darüber gelacht. Ein Kritiker dort hat es verrissen. ›Die reinste Klamotte‹ hat er es genannt. Zufällig war ich bei der Premiere in New York. Immer wenn ich nach New York komme, gehe ich schnurstracks ins Theater. Ich bin Jude geblieben, kein Goi geworden. Jiddische Wörter höre ich liebend gerne. Kauf ich mir die Zeitungen in Warschau, da sehe ich, dasselbe Stück wird hier auch gespielt. Denke ich: Na gut, schau ich mir's nochmal an. Drüben haben sie über den Mist gelacht, aber hier lecken sie sich die Lippen. Bist du allein im Theater?«

»Ich bin mit meiner Frau hier«, sagte Jarmy nach einigem Zögern.

»Verheiratet, was? Na ja, mein Glückwunsch. Wer ist sie? Eine von uns?«

»Keine Rebbizin.«

»Wo hast du sie gefunden? Im Puff?«

»Im Bethaus nicht.«

»Nu, immer noch derselbe alte Jarmy – einer von meinen Jungen. Glaub mir, es hat sich ausgezahlt, wieder nach Warschau zu kommen. Ich hab hier nichts am Laufen, aber weil ich schon in Paris war, dachte ich mir: ›Schau ich mal in Warschau vorbei.‹ Ist doch immer noch die alte Heimat, wie man so sagt. Wir kommen alle aus demselben Ritualbad … Ich hab hier auch Familie, in Warschau, in Radom und in den kleinen Städten um Lublin. Verheiratet ist verheiratet, jedes Ding hat seine Zeit. Du kannst tausend Weiber haben. Du legst sie flach, dann schickst du sie weg. Plötzlich hängt sich eine an dich, und du wirst sie nicht mehr los. Ist es nicht so?«

»Wie steht's mit dir?«, fragte Jarmy.

»Ich hab schon alles gehabt. Nicht eine, nicht zwei, nicht drei, sondern ganze vier. So lange die Sache gut steht, ist alles hübsch und fein. Aber sobald sie ihre Zähne und Klauen zeigen, schieb ich sie ab, direkt in die Hölle. Du musst wissen, wie man Schluss macht, sonst steckst du übel in der Klemme. Mit Küssen und Säuseln fängt es an, aber ehe du dich versiehst, wollen sie dich bei lebendigem Leib auffressen, wie diese Spinne, die ihren eigenen Mann verschlingt. Du bist also mit deiner Frau hier im Theater?«

»Ja, mit der Frau.«

»Komm, stell mich vor. Ich will sie dir nicht ausspannen, Gott behüte. Ich gebe dir sogar ein Hochzeitsgeschenk.«

»Ich brauche kein Geschenk.«

»Jetzt klingeln sie schon. Wo sitzt ihr? Ich bin in der ersten Reihe, ganz vorne. Nachher heben wir einen zusammen, du alter Schürzenjäger. Ah, als ich dich gesehen habe, da war's wie ein Feiertag für mich. Warum, weiß ich selber nicht. Nach dem zweiten Akt warte ich auf dich. Bring deine Frau mit.«

Die Menge strömte zum Eingang, und der Lahme Max humpelte auf seinen verkrüppelten Beinen voraus. Er rief irgendwas über die Schulter zurück, was Jarmy nicht verstand. Jarmy zog ein letztes Mal an seiner Zigarette und warf dann die brennende Kippe hinter sich, unter Missachtung der Schilder, keine brennenden Rauchwaren auf den Boden zu werfen. Ob er den Lahmen Max gern oder ungern wiedersah, war ihm nicht klar. Der Mann war offenbar zu Geld gekommen. Jarmy schämte sich vor Max, weil er keines hatte. Sicher, es stand ihm nicht auf die Stirn geschrieben, dass er pleite war, aber Leute wie Max konnte man kaum hinters Licht führen. Und wer war die Schlampe, die er aus alten Zeiten kannte? »Vielleicht wäre es besser, hier zu verschwinden und ihn zu versetzen?«, überlegte Jarmy.

Er machte sich schnell klar, dass er damit nicht durchkäme. Max wusste, wo der Ganoventreff war, und würde ihn dort finden. Es gab schon kein Zurück mehr.

Jarmy erreichte die siebte Reihe und seinen Platz neben Keila. Aber der Platz war besetzt, eine ältere Frau mit halb grau, halb blau gefärbtem Haar und einem Hut mit Straußenfedern saß da, so sehr ins Gespräch mit Keila vertieft, dass die beiden ihn gar nicht kommen sahen. Plötzlich blickte die Frau mit den Straußenfedern auf und rief: »Da ist er!«

Sie erhob sich, und ihr Hut mit all seinen Federn begann zu beben, als wollte er gleich davonfliegen. Die dicke Rougeschicht auf ihren Wangen konnte Runzeln und Falten nur notdürftig überdecken.

Sie sagte: »Jarmy, wie? Ich weiß, ich weiß alles. Ich kenne deine Frau schon länger als du. Die Welt ist klein, wie? Gesundheit, das ist das wichtigste. Keila ist wie eine Tochter für mich. Sie wird dir alles erzählen. Lasst uns in Kontakt bleiben! Komisches Stück, wie? Amerikanische Ware …«

Die Frau quetschte sich durch die Reihe zum Mittelgang. Hier war es nicht üblich, aufzustehen, um jemanden durchzulassen. Ein schwerer Parfümduft zusammen mit etwas Altem, Fauligem stieg Jarmy in die Nase. Fremde Knie pressten sich gegen seine.

Als er saß, sagte Keila: »Oh, Jarmy, kaum warst du weg, hat sie mich gesehen und kam schleunigst rüber. Sie fing an, mich abzuküssen, und ich konnte mich ums Verrecken nicht besinnen, wer sie war. Sie will nachher mit uns etwas essen gehen.«

»Wer ist das denn?«

»Eine aus der Potocka.«

»Deine Ex-Madam?«

»Ihre Schwägerin.«

Jarmy zögerte einen Moment.

»Ich bin auch über jemanden gestolpert; Keila, du kannst nirgendwo hingehen, ohne dass dich einer anspricht. Wir müssen ein für alle Mal weg aus Warschau«, sagte er in anderem Ton.

»Wen hast du denn getroffen?«, fragte Keila.

»Ich habe im Arsenal mit ihm in einer Zelle gesessen. Schon lange her, sechs Jahre vielleicht. Er ist nach Amerika gegangen oder weiß der Teufel, wohin. Plötzlich taucht er wieder auf.«

»Wer ist es?«

»Der Lahme Max.«

»Der Lahme Max ist in Warschau?«

»Was ist das? Du kennst ihn?«

»Er ist immer zu uns in die Potocka gekommen. Ja, ich kenne ihn«, sagte Keila, und die Worte blieben ihr im Hals stecken.

Jarmy erstarrte.

»Dein Lude?«

»Das nicht. Aber er kam gern, um Unsinn zu machen. Er ist ein Clown, ein Quatschkopf. Er hat nicht aufgehört, bis wir fast gestorben sind vor Lachen.«

»Hast du's mit ihm getrieben?«, fragte Jarmy mit zittriger Stimme.

»Nein. Ja. Vielleicht –«, stotterte Keila. »Warum fragst du mich so aus? Du weißt, was ich bin. Du hast selbst gesagt, was gewesen ist, das ist vorbei, und es macht dir nichts mehr aus.«

»Nein, nein, pssst.«

Der Vorhang ging auf. Jarmy spürte einen Kloß im Hals. Seine Ohren brannten.

»Was ist los mit mir?« fragte er sich.

Scham über seine jämmerliche Lage und über die Frau, die er geheiratet hatte, überkam ihn. »Ich muss weg von hier. Ans Ende der Welt will ich fliehen«, beschloss er. »Ach, ich muss sie sehr lieben, dass ich so eifersüchtig sein kann«, sagte er sich.

Er erinnerte sich an einen Witz, den ihm jemand erzählt hatte: Ein Mann hatte gewettet, er könne einen Pott Scheiße essen. Mittendrin fing er an zu spucken und zu würgen. Gefragt, warum, sagte er:

»Ich hab ein Haar drin gefunden ‌…«

4.

Den ganzen zweiten Akt über sagte Keila kein Wort. Auf der Bühne hatte Onkel Sam seiner Nichte Zirele als Mitgift einen Scheck über fünfzigtausend Dollar – so viel wie hunderttausend Rubel – gegeben, und Zirele hatte einen reichen jungen Mann namens Leslie geheiratet. Aber sie war nicht glücklich. Leslie trieb sich mit anderen Frauen herum und ging gern ins Kabarett, auf Bälle und Partys, während Zirele lieber in ihrem wunderschönen Haus oder im Garten blieb, Bücher las oder gute Werke tat. Sie schickte auch Geld und Bürgschaften an ihre Verwandten in Pinchev. Es kam schließlich so weit, dass die beiden jungen Eheleute sich völlig auseinanderlebten. Zur selben Zeit wurde Onkel Sams Frau Bessie krank, und kein Arzt konnte ihr helfen. Die Krankheit veränderte Bessie. Sie erkannte, wie eitel ihr falscher Stolz all die Jahre gewesen war, und Zirele wuchs ihr ans Herz. Bald verband die ehemaligen Feindinnen wahre Freundschaft. An diesem Punkt fiel der Vorhang, und Keila, die den ganzen Akt über angespannt und gedankenverloren dagesessen hatte, sagte:

»Du wirst sehen – wenn Bessie gestorben ist, lässt Zirele sich von Leslie scheiden und heiratet ihren Onkel.«

»Ja, sieht so aus«, stimmte Jarmy zu. »Ich geh noch eine rauchen.«

»Jarmy, ich möchte diesem Lahmen Max nicht begegnen«, sagte Keila.

»Warum nicht? Beißen wird er dich nicht.«

»Jarmy, ich möchte all das vergessen. Ich möchte einen einzigen Mann und einen einzigen Gott haben. Alles, was war, möchte ich ausradieren, als wäre es nie gewesen. Jarmele, lass uns weit weg gehen, irgendwohin, wo uns keiner kennt, so dass wir ganz neu anfangen können.«

»Kann sie Gedanken lesen oder was?«, fragte sich Jarmy.

Laut sagte er: »Was immer wir machen möchten, kostet Geld. Keine Knete haben ist wie keine Hände haben. Ich komm gleich wieder.«

Jarmy hatte auch keine große Lust, den Lahmen Max wiederzusehen, aber der stand schon mit einer Zigarre im Mund an der Garderobe und wartete offensichtlich auf ihn. Als er Jarmy sah, blitzten seine Augen, er nahm die Zigarre aus dem Mund und fragte:

»Wo sind eure Plätze? Ich möchte deine Frau kennenlernen.«

»Du kennst sie, und sie kennt dich«, sagte Jarmy.

»Ach wirklich? Wer ist sie? Wie heißt sie?«

»Keila. Die Rote Keila. Im Potocka-Puff hast du mit ihr rumgemacht«, zischte Jarmy. Einen Augenblick lang wurde Max' Gesicht ernst und starr vor Staunen.

Gleich darauf glitzerte Spott in seinen Augen, die länglich wie zwei Pflaumen waren: »Ach, das ist die Geschichte. Wenn das so ist, kann ich dir gleich doppelt gratulieren. Wir sind so gut wie Schwäger, brennen soll dein dreckiges Gedärm!«

»Solche Schwäger hab ich tausend Stück, du alter Lustmolch.«

»Ja, stimmt. Was sagt man dazu – die Rote Keila … Kann sein, du denkst, ich will dich foppen, aber irgendwie hab ich gerade an sie gedacht. Die Jahre gingen dahin, und ich hatte sie ganz vergessen. Und dann bin ich in einer Nacht plötzlich aufgewacht, und mein erster Gedanke war: ›Was wohl aus der Roten Keila geworden ist, das wüsste ich doch gern.‹ Vielleicht habe ich sogar von ihr geträumt. Ich muss nur die Augen zumachen, und gleich träume ich. Die Toten kommen zurück, und ich bin wieder auf dem Platz in Warschau, in der Potocka, in der Shuletz und was weiß ich wo noch. Wie ist denn alles gekommen, he? Schließlich war sie mal eins von Itsche Einauges Pferdchen. Sie hatte vielleicht ein Mundwerk! Wenn sie jemanden runterputzte, konntest du dich totlachen. Wenn sie einen dreimal verfluchte, kam der kaum mit heiler Haut davon. Da fällt mir ein, irgendjemand hat mal erwähnt, dass sie die Syphilis hatte und gestorben ist. Nu, das war ein Fehler, ein Fehler. In meinem Kopf geht alles drunter und drüber … nicht Keila, sondern Bella war's! Jetzt weiß ich's wieder genau – Bella Beilik, so hat sie geheißen.«

»Bella Beilik ist schon im Jenseits. Vor drei Jahren ist die abgekratzt, im Spital an der Swiętokrzyska.«

»Das muss es gewesen sein! Ich hab Keila mit Bella verwechselt. Hast du so was schon mal gehört? Komm, bring mich zu ihr. Ich kann nicht warten bis nach dem dritten Akt. Dich hab ich damals noch gar nicht gekannt, aber die Rote Keila hat schon die Puppen tanzen lassen. Wie alt mag sie sein?«

»Neunundzwanzig.«

»Mehr nicht? … Nu, soll sein.«

»Wenn sie älter ist, kann man's auch nicht mehr ändern …«

»Frauen werden nicht älter, immer nur jünger. Was treibst du jetzt eigentlich so? Das ist wirklich ein Wink des Schicksals. Wen habe ich sonst in Warschau, außer dir und Keila? Komm!«

Der Lahme Max hastete davon, und sein Stock mit dem goldenen Knauf flog vor ihm her wie durch Zauberei.

»Ein Krüppel ist er und hüpft wie ein Floh«, dachte Jarmy.

Keila war aufgestanden, wahrscheinlich, um zur Toilette zu gehen, und schon war Max bei ihr. Jarmy sah, wie er einen Arm um sie legte und sie küsste.

»Wie kommt es, dass ich nicht auf Itsche Einauge eifersüchtig bin, aber auf ihn?«, fragte er sich. Hass überflutete ihn, Hass auf Max, auf Keila und auf sich selbst.

Die beiden umarmten einander und wiegten sich, als wäre er ihr lange vermisster Bruder. Nach einer Weile stellte sich Jarmy dazu. »Diesen Kelch werde ich wohl bis zur bitteren Neige leeren müssen«, sagte er sich.

Er hörte Max rufen:

»Keila, jünger bist du geworden! Soll mich der Schlag treffen, wenn ich lüge. Wie ist das möglich? Mir scheint, Jarmy bekommt dir gut. Wir haben zusammen im Arsenal-Knast gesessen und sind wie Brüder. Dass er eines Tages dein Mann sein würde! Wirklich, das ist eine Geschichte für die Zeitung. Da ist er. Wir müssen feiern, wie Gott uns befohlen hat. Noch heute Nacht ‌… Ich kann nichts für Amerika – geht alles auf mich. Wie sagen die Chassidim? – ›Schröpft die Reichen …‹ Dass ich diese Reise gemacht habe, zeigt, dass es einen Gott geben muss. Ich bin zweiter Klasse gefahren und dachte: ›Was mache ich denn in Warschau? Außer zum Grab meiner Eltern gehen?‹ Ihr kennt ja den Spruch: Aus den Augen, aus dem Sinn. Man entfremdet sich, man vergisst. Ich habe sogar geschwankt, ob ich ins Theater gehen soll. Ein altes Stück, ich weiß, wie es ausgeht. Aber irgendwas hat mir gesagt, ich soll hingehen. Ich komme rein, und wen sehe ich? Jarmy Langfinger. Ich hatte schon daran gedacht, die Wagendeichsel umzudrehen und schleunigst nach Hause zu fahren, das schwöre ich. Ich habe Verwandte hier in der Nähe, aber irgendwie habe ich Angst, sie zu besuchen. Die Leute werden vor der Zeit alt. Sie lassen sich lange Bärte wachsen und sehen alle aus wie Heilige. Heute ist der Bart schwarz, morgen schon weiß. Hey, Jarmy, du magst doch Champagner.«

»Heute nicht.«

»Heute trinken wir Champagner! Wohin können wir gehen? Wisst Ihr ein nettes, gemütliches Lokal in der Nähe, wo ich unter Brüdern bin?«

»Eliezers Kneipe ist gemütlich.«

»An der Krochmalna?«

»Da gehe ich nicht hin«, sagte Keila.

»Warum nicht?«, fragte Jarmy.

»Das weißt du doch.«

»Nein, weiß ich nicht.«

»Was für ein Lokal ist das?«, fragte Max. »Ich habe schon vergessen, wo es ist.«

»In Nummer 17.«

»Ja, ja, ja. Wir nehmen eine Droschke und fahren direkt hin. Wen immer man da treffen kann, den möchte ich treffen. Wie geht es Itsche Einauge?«

»Itsche Einauge ist im Spital«, antwortete Keila.

»Was fehlt ihm?«

»Jemand hat ihn niedergestochen.«

»Wer? Oi, oi, oi, was ist das für eine Welt. In Amerika sind die harten Kerle alle Gojim. Ein paar Juden gibt es auch, aber die halten sich bedeckt. Drüben machst du keine Bewegung ohne Pistole. Ein Messer kommt denen altmodisch vor. Sowie die Gangster einen Streit anfangen, greifen sie nach ihren Knarren. Peng, peng! Und du bist nicht mehr der Boss. Wenn Krieg unter den Mafiosi ausbricht, vergeht kein Tag ohne ein paar Leichen. In Argentinien gibt es Messerstechereien nur aus einem Grund: Eifersucht. Der Spanier ist heißblütig. Ein Blick auf seine Frau, und du bist deines Lebens nicht mehr sicher. Das heißt solange die Liebe noch lodert. Kühlt sie sich ab, schicken sie ihre Dulcineas auf die Straße, da verkaufen sie sich für einen Peso. So nennt man das spanische Geld. Das Klima macht die Frauen vor der Zeit alt. Es ist zu heiß. Du gehst auf die Straße und siehst einen Baum voller Orangen. Die Hitze lässt das Blut in den Adern kochen. Das der Frauen auch. Der Spanier lässt seine Tochter nicht ohne einen Aufpasser aus dem Haus. Geht sie allein aus, kommt sie mit einem dicken Bauch zurück. Übrigens: Wenn du ein Bordell besitzt, kannst du ein Vermögen machen. Da drüben ist es keine Schande, zu einer Hure zu gehen. Alle gehen. Am Samstag sind die Häuser rappelvoll. Das Problem ist, dass die Nutten nicht lange frisch bleiben. Nach ein paar Jahren sind sie ausgebrannt, und du musst neue beschaffen. Dort drüben hättest du dich nicht so gut gehalten wie hier, Keila, meine Süße. Du bleibst ein paar Jahre, und dann kannst du dich zur Ruhe setzen.«

»Nicht für einen Sack Gold würde ich dahin gehen.«

»Ich rede von den Nutten, nicht von den Madams. Die Ware hinbringen ist das eine, die Ware sein ist was anderes.«

»Ich möchte ein menschliches Wesen sein, keine Ware.«

»Darüber reden wir noch. Wisst ihr was? Nehmen wir gleich jetzt eine Droschke. Der dritte Akt taugt nicht viel. Sie lässt sich von dem Scharlatan scheiden, Bessie gibt den Löffel ab, und Zirele heiratet den Onkel. Nichtjuden dürfen das nicht, aber unter Juden ist's erlaubt. Mit einem Onkel ist's koscher, aber mit einer Tante ist's tref. Was ist der Unterschied? Moses hat's so gewollt.«

»Ich möchte bis zum Ende bleiben«, sagte Keila.

»Na gut, sie klingeln auch schon. Wir sehen uns nachher.«

Max hastete zur ersten Reihe, und Jarmy sagte:

»Wie heißt der Spruch? Der Taube hörte, was der Stumme zum Blinden sagte: ›Sieh mal, wie der Krüppel rennt‹.«

»Jarmele, ich möchte nicht mit ihm in die Kneipe gehen.«

»Wie? Ich auch nicht, aber er klebt an mir wie Nisse. Vielleicht hat er einen Deal für uns auf Lager.«

»Was für einen Deal? Ich möchte, dass du bei mir bleibst und nicht, Gott behüte, in die Hände von Gojim fällst.«

»Was soll ich denn machen? Hausmeister werden?«

»Du musst gar nichts machen. Wir ziehen irgendwohin, und ich gehe arbeiten.«

»Was willst du arbeiten? Gänse hüten?«

»Für dich würde ich auch Dienstmädchen werden.«

»Unsinn. Wir haben uns schon daran gewöhnt, leicht und schnell an Geld zu kommen. Ich bin kein Schmarotzer, aber wenn er mir das Fahrgeld für Argentinien leiht, zahl ich's ihm mit Zinsen zurück.«

»Jarmy, von dem würde ich keinen Groschen nehmen.«

»So wie du dich ihm in die Arme geworfen hast, dachte ich, er hat dir wer weiß wie gefehlt.«

»Ich hab mich ihm in die Arme geworfen? Er hat sich von hinten an mich rangeschlichen wie ein Räuber. Und mich dann fast umgerissen. Jarmele, in den Sumpf will ich nicht wieder fallen!«, sagte Keila alarmiert.

»Komm, reg dich nicht auf, ich zwing dich zu nichts. Ah, der dritte Akt fängt an.«

5.

Auf dem Rückweg fuhr die Droschke am Alexanderplatz und an der gewaltigen Alexander-Newski-Kathedrale vorbei, die die Russen errichtet hatten. Dann bog sie in die Senatorenstraße ein, passierte den Bankplatz und die Żabia-Straße vor dem Eisernen Tor. Jedes Mal, wenn sie in eine neue Straße kamen, hüpfte der Lahme Max auf seinem Sitz und zeigte mit dem Finger, um deutlich zu machen, dass er sich erinnerte und wieder erinnerte. Zu seiner Zeit hatte die Gang geplant, eine Bank am Bankplatz auszurauben, aber daraus war nichts geworden. Das war keine Bank, sondern eine Festung. In Amerika machte man kein solches Theater um Banken. Dort war eine Bank wie ein Laden. Im Wiener Salon vor dem Eisernen Tor leuchteten jetzt alle Lampen. Dort wurde eine Hochzeit gefeiert. Die Krochmalna-Straße lag im Halbdunkel, aber Eliezers Kneipe war offen und gerammelt voll mit Stammkunden. Als sie eintraten, wehten ihnen Bier- und Wodkadunst und der Geruch von Knoblauch, Gänsebraten und gehackter Leber mit Zwiebeln entgegen. Es war noch früh, aber die Bäckereien in der Nachbarschaft schoben schon Bagels in den Ofen, und der Duft von Frischgebackenem hing in der Luft.

Alle waren da – Schmuel Schmand, Fettkloß Reitzele, Noah Schaufel, Shaya Schläger, Rickele Tank, Mordkele Feuerbrand, alle, die am Morgen schon einen Krankenbesuch bei Itsche Einauge gemacht hatten. Sie erkannten Max, und das Küssen, Rückenklopfen, Reden wollte kein Ende nehmen. Stühle wurden an den Stammtisch gestellt und Platz geschaffen für Jarmy, die Rote Keila und den Lahmen Max. Nun begann der Wirt Eliezer mit seiner blauen Schürze und bis zu den Ellbogen aufgekrempelten Ärmeln, Bier in Krügen und alle möglichen Köstlichkeiten aufzufahren, Mohnkuchen, Gänsebrust, Leberwurst und heiße Frankfurter mit Sauerkraut und Senf. Der Lahme Max hatte im Voraus Bescheid gesagt, dass alles auf seine Rechnung ginge.

Schmuel Schmand – groß, heiser, mit einem gewaltigen Bierbauch und einer bunten Weste, an der eine Uhrkette aus Silberrubeln baumelte, fragte: »Jarmy, wo hast du ihn gefunden?«

»Im Theater.«

»Nu, diese Nacht werden wir nicht schlafen. Kinder, heute ist ein Feiertag!«

Und er schlug mit der Faust auf den Eichentisch, dass alle Krüge und Teller tanzten.

»Wer möchte eine Zigarre?«, fragte der Lahme Max und begann, sie zu verteilen.

Schmuel Schmand, Zigarrenraucher seit Jahren, warf spöttische Blicke auf die Kumpane, die noch nie eine Zigarre angerührt hatten, jetzt aber gierig zugriffen, nur weil es sie umsonst gab. Sie wussten buchstäblich nicht, wie man die Rauchware anzündet. Er streckte zwei Finger aus, wählte wohlüberlegt, rollte die Zigarre zwischen den Fingern, hob sie sich an die Nase und sagte:

»Teufel, wenn das keine echte Havanna ist! Max, ich kann's gar nicht glauben!«

»Bloß Tabak, kein Gold.«

»Du musst ja in eine Goldgrube gefallen sein«, bemerkte der Lange Leibusch.

»Amerika ist ein reiches Land. Du musst nur wissen, wo die Leiche begraben liegt«, antwortete Max.

Jarmy hatte Keila zugeflüstert, sie solle sich nicht betrinken. Solange sie nüchtern blieb, benahm sie sich anständig. In letzter Zeit war das Pendel schon zu weit zur anderen Seite ausgeschlagen. Sie hatte sich in eine Art Hypochondrie gesteigert und zitterte bloß noch vor Angst, dass ihm, Jarmy, etwas zustoßen könnte. Wenn er, Gott behüte, nur nicht krank wurde oder falsch beschuldigt. Nur nachts im Bett wurde sie wieder so leidenschaftlich wie früher. Er, Jarmy, konnte jetzt dem Essen und Trinken auch nicht widerstehen. Der Schabbes war karg gewesen, und Keilas Abendbrot hatte kaum einen hohlen Zahn gefüllt. Das Spiel mit dem amerikanischen Reichtum hatte in Jarmy Hunger, einen Drang, etwas zu tun, geweckt. Er sah mit Sorge zu, wie Keila ein Glas Wodka nach dem anderen kippte und Branntwein mit Bier mischte. Alle tranken, alle aßen, alle redeten gleichzeitig, jeder wollte die anderen übertönen. Die Dicke Reitzele, für deren Hinterteil zwei Stühle nötig waren, versuchte zum Spaß, eine Zigarre zu rauchen, was ein gewaltiges Gelächter, Gebrüll und Applaus auslöste. Andere Kunden stürzten zum großen Tisch, und Max, hochrot und beschwipst, schrie, jeder solle essen, trinken und lustig sein, alles auf seine Kosten.