Old Love - Isaac Bashevis Singer - E-Book

Old Love E-Book

Isaac Bashevis Singer

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Beschreibung

»In der Literatur sind alte Menschen und ihre Gefühle vernachlässigt worden. Die Romanschriftsteller haben uns niemals gesagt, dass in der Liebe, wie auf anderen Gebieten, die Jungen erst Anfänger sind und dass die Kunst des Liebens mit dem Alter und mit der Erfahrung reift«. Isaac Bashevis Singer

Von dieser Kunst des Liebens weiß keiner so lebendig zu erzählen wie Isaac Bashevis Singer. In seinen achtzehn Geschichten über Lust, Leidenschaft und Eifersucht zeigt er, dass Liebe kein Alter kennt.

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Seitenzahl: 451

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Die amerikanische Originalausgabe, die dieser Übersetzung zugrunde liegt, erschien erstmals 1979 unter dem Titel Old Love bei Farrar, Straus and Giroux, New York.

Isaac Bashevis Singer

Old Love

Geschichten

Aus dem Amerikanischen von Ellen Otten

Suhrkamp

Übersicht

Cover

Informationen zum Buch

Titel

Inhalt

Impressum

Hinweise zum eBook

Inhalt

Cover

Sperrvermerk

Titel

Inhalt

Vorwort

Eine Nacht in Brasilien

Jochna und Schmelke

Die Beiden

Die Seelenreise

1

2

3

4

5

Elka und Meir

Eine Party in Miami Beach

Zwei Hochzeiten und eine Scheidung

Ein Käfig für den Satan

1

2

Bruder Käfer

1

2

Der Junge kennt die Wahrheit

Es gibt keine Zufälle

1

2

3

Nicht am Sabbat

Das Tresorfach

Der Verräter Israels

Tanchum

Das Manuskript

Die Macht der Finsternis

Der Autobus

Glossar

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Vorwort

Obwohl die Geschichte Old Love (deutscher Titel Späte Liebe) schon in dem Band Leidenschaften, meiner letzten Sammlung von Erzählungen, erschienen ist, habe ich mich entschlossen, ihren Titel für diesen Band zu benutzen. Die Liebe alter oder im mittleren Alter befindlicher Menschen ist ein Thema, das mehr und mehr Raum in meinen Arbeiten einnimmt. In der Literatur sind alte Menschen und ihre Gefühle vernachlässigt worden. Die Romanschriftsteller haben uns niemals gesagt, daß in der Liebe, wie auf anderen Gebieten, die Jungen erst Anfänger sind und daß die Kunst des Liebens mit dem Alter und mit der Erfahrung reift. Ferner glauben viele junge Menschen, daß die Welt durch plötzlichen Wechsel der gesellschaftlichen Ordnung und durch blutige und erschöpfende Revolutionen gebessert werden kann, wogegen die meisten älteren Menschen gelernt haben, daß Haß und Grausamkeit niemals etwas anderes als Haß und Grausamkeit hervorbringen. Die einzige Hoffnung der Menschheit ist Liebe in jeglicher Form und Äußerung – die Liebe zum Leben ist die Quelle aller Liebe, die, wie wir wissen, mit den Jahren wächst und reift.

Mein Dank gilt allen Lektoren, die meine Arbeit begleitet haben, wie auch vielen Lesern, die mir schreiben und mich in meiner schöpferischen Arbeit ermuntern. Wenn ich auch weder die Zeit noch die Kraft habe, ihnen persönlich zu danken, so lese ich doch alle Briefe und mache Gebrauch von wichtigen Anregungen.

I. ‌B. ‌S.

Eine Nacht in Brasilien

Ich hatte noch nie etwas von dem Mann gehört, aber in einem langen Brief, den er mir aus Rio de Janeiro schrieb, stellte er sich als jiddischer Schriftsteller vor, der »in der heißen Wüste Brasiliens verloren und zermahlen worden« sei. Sein Name war Paltiel Gerstendrescher. Einige Monate nach dem Brief kam eines seiner Bücher an. Es war in einem Verlag erschienen, der sich ›Myself Publications‹ nannte, war auf grauem Papier gedruckt, und die Buchdeckel waren wahrscheinlich auf dem Transport verdrückt worden. Es war eine Mischung von Autobiographie und Essays über Gott, die Welt, den Menschen und die Planlosigkeit der Schöpfung, geschrieben in einem schwülstigen Stil und mit ungewöhnlich langen Sätzen. Das Buch wimmelte nur so von Druckfehlern, und einige Seiten waren vertauscht. Der Titel war ›Bekenntnis eines Ungläubigen‹.

Ich blätterte es durch und schrieb dem Verfasser eine kurze Danksagung. Damit begann eine Korrespondenz, die aus drei oder vier unglaublich langen Briefen von ihm und einigen Zeilen von mir bestand, in denen ich mich entschuldigte, nicht früher und ausführlicher geschrieben zu haben.

Ich weiß nicht, wie es geschah, aber Paltiel Gerstendrescher hatte herausgefunden, daß ich im Begriff war, auf eine Vortragsreise nach Argentinien zu gehen, und jetzt fing er an, mir Expreßbriefe und sogar Telegramme zu schicken, in denen er mich bat, ein paar Tage in Rio de Janeiro zu verbringen. Damals benutzte ich keine Flugzeuge, und zufällig war vorgesehen, daß das argentinische Schiff, mit dem ich fahren sollte, zwei Tage in Santos liegen würde, zwölf Tage nach der Abfahrt aus New York.

Das Schiff war fast leer, und jemand vertraute mir an, daß dies seine letzte Fahrt von New York aus sei. Ich hatte eine Luxuskabine zu ermäßigtem Preis bekommen, und im Speisesaal hatte ich einen Weinkellner für mich allein, wenn ich, nur um ihm irgend etwas zu tun zu geben, einen Schluck Wein trank.

In jenem Frühjahr – Frühling in Brasilien und Herbst in New York – wurde der Atlantik von einem Wirbelsturm gepeitscht, mit heftigem Regen und Sturmböen. Das Schiff schlingerte bedenklich. Tag und Nacht ging die Warnsirene. Wellen schlugen gegen den Schiffsrumpf wie ungeheure Schmiedehämmer. In meiner Kabine hatte ich meinen Schlips über den Spiegel gehängt, er vollführte jetzt akrobatische Kunststücke. Die Zahnbürste klirrte ununterbrochen gegen das Glas. Das Schiff konnte den Fahrplan nicht einhalten, und ich telegrafierte an Paltiel die neue Ankunftszeit, die aber auch nicht eingehalten werden konnte.

Als wir endlich in Santos anlegten, war niemand da, mich in Empfang zu nehmen. Das Schiff sollte nur vierundzwanzig Stunden im Hafen bleiben. Ich versuchte, vom Hafen aus zu telefonieren, aber ich bekam keinen Anschluß. Einmal meldete sich jemand, aber er sprach nur portugiesisch, das ich nicht verstand. Aus irgendeinem Grund brachte ich es nicht über mich, Paltiel Gerstendrescher zu enttäuschen. Der Ton, in dem er über diesen meinen Besuch geschrieben hatte, ließ spüren, daß er all seine Hoffnungen darauf gesetzt hatte. Nach kurzer Überlegung bestieg ich einen Bus nach Rio und nahm dann ein Taxi zu der angegebenen Adresse. Es stellte sich heraus, daß es eine lange Fahrt war, weit vor die Stadt hinaus, und der Fahrer hatte Mühe, den Weg zu finden. Die schmale Straße war voller Löcher und Mulden und teilweise von großen Pfützen überflutet.

Ich klopfte an einem Haus, das fast eine Ruine war; eine Frau öffnete die Tür. Zu meiner Überraschung erinnerte ich mich an sie aus Warschau – Lena Stempler, eine unbekannte Schauspielerin, Sängerin und Rezitatorin. Sie malte auch. Ich war ihr im Schriftsteller-Klub begegnet. Damals war sie eine junge brünette Frau und die Geliebte des bekannten Schriftstellers David Hescheles, der später unter den Nazis umkam. Lena war, schon lange bevor ich Warschau verlassen hatte, aus meinem Gesichtskreis verschwunden. Im Schriftsteller-Klub verbreitete man allerlei üble Nachrede über sie. Es hieß, sie habe sich von drei Männern scheiden lassen und habe sich einem Theaterkritiker angeboten, wenn er eine gute Kritik über sie schreiben würde. Jemand hatte mir auch gesagt, sie sei syphilitisch. Wie ich sie jetzt vor mir sah, war ich überrascht von ihrer immer noch mädchenhaften Figur. Ihr kurzgeschnittenes Haar war schwarz, aber es zeigte die Glanzlosigkeit des gefärbten Haares. Durch das Make-up hindurch sah man die Fältchen. Lena hatte eine Stupsnase, hellbraune Augen und einen breiten Mund mit weit auseinanderstehenden Zähnen. Zwischen ihren Lippen steckte eine Zigarette. Sie trug einen Kimono aus leichtem Stoff und hochhackige Hausschuhe.

Als sie mich sah, spie sie die Zigarette aus, lächelte mit einem Ausdruck, der mir andeutete, sie wisse mehr über mich, als ich ahne, und sagte: »Ich bin Mrs. Gerstendrescher. Das ist unerwartet, was?« Und sie küßte mich. Ihr Atem roch nach Tabak, Alkohol und irgend etwas Fauligem. Sie nahm mich am Arm und führte mich in einen riesigen Raum, der alles zugleich zu sein schien – Wohnzimmer, Eßzimmer, Schlafzimmer und Atelier. Da war ein Tisch, mit Tellern und Gläsern gedeckt, und eine breite Couch, die bei Tag als Sofa und bei Nacht als Bett diente. An den Wänden hingen ungerahmte Bilder. Auf dem Boden lagen Haufen von Büchern und Stapel des ›Bekenntnisses eines Ungläubigen‹.

Lena sagte: »Paltiel ist nach Santos gefahren, um Sie dort zu treffen. Sie haben sich verfehlt. Er hat angerufen. Ich hoffe, Sie erinnern sich noch an mich. Wir haben kaum miteinander gesprochen, aber ich habe Sie jeden Tag im Schriftsteller-Klub gesehen. In Rio habe ich öfters Ihre Sketche öffentlich gelesen. Ich habe Paltiel in Brasilien geheiratet. Wir sind jetzt schon acht Jahre zusammen. Ziehen Sie doch Ihre Jacke aus. Hier ist es so heiß wie in der Hölle.«

Lena zog an meinem Ärmel und nahm mir die Jacke ab. Danach lockerte sie meinen Schlips. Sie machte viel Wesens um mich, fast wie eine Verwandte, und war dabei von einer Angriffslust, die mir gar nicht recht war.

Sie stellte ein paar Erfrischungen auf einen kleinen Tisch – einen Krug mit Limonade, eine Flasche Likör, einen Teller mit Plätzchen und eine Schale Obst. Wir nahmen in Korbsesseln Platz, aßen und tranken, und ab und zu machte Lena einen Zug an ihrer Zigarette. Sie sagte: »Wenn ich Ihnen erzählen würde, daß Paltiel Ihrem Besuch entgegensah wie dem des Messias, so wäre das keine Übertreibung. Er hat seit Jahren ununterbrochen von Ihnen geredet. Wenn ein Brief von Ihnen kommt, wird er wild. Er ist ganz verrückt mit Ihnen, und er hat mich auch ganz verrückt gemacht. Wir sind beide in einer Zwickmühle. Alles ist gegen uns hier – das Klima, die hiesige jüdische Gemeinde und unsere Nerven.

Paltiel ist ein Genie, wenn es sich darum handelt, sich Feinde zu machen. Wenn man sich hier nur mit drei oder vier der Gemeindemitglieder verzankt, dann ist man schon so gut wie exkommuniziert. Und ich bin seinetwegen auch geächtet. Wir würden beide verhungern, wenn ich nicht von meinem geschiedenen Mann eine kleine Rente bekäme. Wollten Sie die ganze Geschichte hören, müßten Sie tagelang hier sitzen. Paltiel war ein phantastischer Liebhaber. Ganz plötzlich wurde er impotent. Und ich bin von einem Dibbuk besessen.«

»Von einem Dibbuk?«

»Ja, von einem Dibbuk. Warum sehen Sie so verängstigt aus? Sie schreiben doch dauernd über Dibbuks. Offenbar sind die für Sie nur Erfindungen, aber sie existieren wirklich. Alles, was Sie heraufbeschwören, ist Wahrheit. Auch in Ihnen sitzt ein Dibbuk, aber Sie erkennen ihn nicht. Das ist auch besser. Ihr Dibbuk ist schöpferisch, aber meiner will mich quälen. Wenn er mich am Leben läßt, dann nur, weil man eine Leiche nicht mehr quälen kann. Starren Sie mich nicht so an. Ich bin nicht verrückt.«

»Was macht er denn mit Ihnen?«

»Er tut genau das, was Sie in Ihren Geschichten beschreiben. Ich hatte ein bißchen Geld gespart und habe alles für Psychiater und Psychoanalytiker ausgegeben. In Brasilien sind das rare Vögel – und außerdem sind sie noch dritt- oder zehntklassig. Aber wenn man dabei ist zu ertrinken, dann ergreift man noch einen zehntklassigen Strohhalm. Hier ist Paltiel.«

Die Tür öffnete sich, und ein kleiner Mann kam herein, der einen kurzen Regenmantel und einen mit Plastik bezogenen Hut trug, einen Regenschirm in der einen und eine Mappe in der anderen Hand. Ich hatte ihn mir groß vorgestellt, vielleicht wegen seines langen Namens.

Als er mich sah, schien er verblüfft. Damals erschienen Fotos von mir nur selten in Zeitungen und Zeitschriften. Er stand da und maß mich von unten nach oben, sogar von der Seite. Ein ärgerliches Lächeln erschien auf seinem spitzen Gesicht. Er hatte eine hohe Stirn, eingefallene Wangen und ein eckiges Kinn.

»Da sind Sie also«, sagte er. Sein Ton ließ spüren, Sie sind zwar nicht, wie ich Sie gern hätte, aber ich muß die Tatsachen akzeptieren, wie sie nun einmal sind. Er fügte gleich hinzu: »Lena, heute ist für uns ein Feiertag.«

Wir aßen eine vegetarische Mahlzeit, tranken Papayasaft und starken brasilianischen Kaffee, und als Nachtisch servierte Lena einen Kuchen, den sie mir zu Ehren gebacken hatte.

Sie öffnete die Tür zu einem großen, überwachsenen Hof hinter dem Haus. Der Regen hatte am Tag vorher aufgehört, und der Abend war erfrischend mit tropischen Düften und einer Brise vom Ozean. Die Sonne wendete sich nach Westen, ein Stück glühender Kohle, und verwandelte die Reste der Sturmwolken in ein feuriges Rot. Lena schaltete das Radio ein und hörte den Nachrichten zu, und ich spitzte die Ohren und lauschte dem Gesang der Vögel, die am Abend hergeflogen waren, um sich für die Nacht auf den Zweigen der Bäume niederzulassen. Einige blieben, wo sie gelandet waren, andere flogen hin und her, von Baum zu Baum, schlugen mit den Flügeln und machten ein rasselndes Geräusch. Ich hatte noch nie Vögel dieser Farben außerhalb der Gefangenschaft gesehen. Die Kraft der Schöpfung war hier noch ungestört am Werk.

Paltiel sprach zu mir über Literatur, über seine eigene Arbeit. »Ein Schöpfer sollte auch ein Kritiker sein«, sagte er, »aber die Kritik darf erst später kommen. Meine Schwierigkeit ist, daß mich, noch ehe ich drei Worte geschrieben habe, schon Fragen überfluten über das, was meine Feder ausdrücken will, und schon vor dem Schreiben beginne ich mich zu rechtfertigen und alles zu beschönigen. Sie haben mich in einem Ihrer Briefe gefragt, warum ich so lange Sätze bilde und so viele Kommentare in Klammern setze. Das ist meine kritische Natur. In Wirklichkeit ist die Analyse die Krankheit des Menschen. Adam und Eva aßen vom Baum der Erkenntnis, sie wurden Kritiker und Analytiker und erkannten, daß sie nackt waren. All die heutigen Arbeiten, die über Sex geschrieben wurden, haben nur eine Epidemie von Impotenz erzeugt. Die Volkswirtschaftler haben sich in die Weltwirtschaft eingemischt und haben in jedem Land Inflation hervorgerufen. Und ebenso ist es bei den sogenannten reinen Wissenschaften. Ich glaube nicht an all die Teilchen der Atome, die sie unentwegt entdecken … Das menschliche Gehirn hat der Natur seine eigenen Verrücktheiten aufgedrängt, oder die Natur hat selbst vom Baum der Erkenntnis gegessen und ist verrückt geworden. Wer weiß? Es kann sein, daß Gott sich mit der Psychoanalyse eingelassen hat und daher …«

»Paltiel, ich kenne deine Theorien bereits«, unterbrach Lena. »Ich möchte lieber hören, was unser Gast zu sagen hat.«

»Nein, fahren Sie nur fort. Es ist interessant«, sagte ich.

Ich blickte zu den Fenstern hin. Einen Augenblick zuvor war es noch Tag gewesen; ganz plötzlich war es Nacht geworden, als ob ein himmlisches Licht erloschen war. Die Luft im Zimmer war von Mücken, Fliegen und Bremsen erfüllt. Aus den Rissen in den Wänden und dem Fußboden krochen große Käfer.

Lena sagte: »Das Leben hier ist so üppig, man kann dem nicht mit Netzen beikommen. Ich habe im Gymnasium gelernt, daß Materie nicht durch Materie dringen kann, aber das galt für Polen, nicht für Brasilien.«

»Erzählen Sie mir von Ihrem Dibbuk«, sagte ich.

Lena warf einen fragenden Blick auf Paltiel. »Wo soll ich anfangen? Wenn du willst, daß wir ihm gegenüber offen sind, dann müssen wir ihm die Wahrheit sagen.«

»Schon gut, erzähle es ihm«, sagte Paltiel.

»Die Wahrheit ist, daß wir beide verflucht oder verzaubert sind – nennen Sie es, wie Sie wollen«, sagte Lena nach einigem Zögern. »Paltiel kam aus Kanada hierher. Meinetwegen ließ er sich von seiner Frau scheiden und verließ zwei Kinder. Wir begegneten uns in New York. Er wollte schreiben, wollte nicht Anwalt sein. Er kam zu einer jiddischistischen Tagung nach New York. Ich hatte, wie man sagen könnte, das Glück, vor dem Holocaust hierherzukommen, aber ich war in Warschau nicht glücklich und bin es hier auch nicht. Sie erinnern sich an mich aus Warschau. Ich bin in einem Haus aufgewachsen, in dem Polnisch gesprochen wurde, nicht Jiddisch. Ich ging nach Warschau, um eine polnische Theaterschule zu besuchen, nicht um beim jiddischen Theater herumzuhängen. Ihr Freund David Hescheles machte mich zu einer Jiddischistin. Wahrscheinlich hat man im Schriftsteller-Klub furchtbare Dinge über mich erzählt. Ich war von Anfang an dort ein Fremdkörper, und ich blieb es bis zum letzten Tag. Die Männer waren alle hinter mir her, und ihre Schlampen verachteten mich, wie sie eine Spinne verachten. Was David Hescheles mir angetan hat, wie er mich gequält hat, das werde ich lieber nicht sagen, denn er ist schon in der anderen Welt, ein Opfer menschlicher Grausamkeit. Nur eines – er wollte mein Liebhaber nur sein, wenn ich verheiratet wäre. Verrückt, nicht? Ihm gefiel vor allem der Gedanke, die Frau eines anderen Mannes zu besitzen. Zweitens hatte er Angst, daß ich, wäre ich allein, mich nach jemand anderem umsehen könnte. Sich selbst gestand er jede Freiheit zu, aber mir gegenüber brannte er vor Eifersucht. Er manipulierte die Dinge so, daß, wenn er merkte, daß ich einen Mann geheiratet hatte, er die Scheidung arrangierte und einen anderen Mann für mich fand. Wie und unter welchen Umständen ich nach Südamerika kam, ist ein eigenes Kapitel. Ich kam hier als physisches und psychisches Wrack an, und kaum war ich hier, heiratete ich wieder – dieses Mal angeblich aus freien Stücken, in Wirklichkeit aber, um ein Stück Brot und ein Dach über meinem Kopf zu haben. Mein neuer Ehemann war vierzig Jahre älter als ich. Zu der Zeit traf ich Paltiel und machte eine andere Frau unglücklich.«

»Lena, du schweifst ab«, sagte Paltiel.

»Na und? Wenn ich abschweife, so schweife ich eben ab. Du fängst an über Jehupetz zu schreiben und endest in Boiberik, aber mir gestattest du nicht, zur Sache zu kommen. Wegen deiner wilden Abschweifungen druckt Parness deine Sachen nicht mehr.«

»Lena, dies alles hat nichts mit Parness zu tun.«

»Wenn das so ist, dann halte ich meinen Mund, und du kannst reden.«

»Tatsache ist, daß sie sich in den Wahn gesteigert hat, daß David Hescheles zu ihr kommt, sie kitzelt, zwickt, herumstößt und sie würgt. Er hat sich in ihrem Leib eingenistet. Sie wissen aus meinem Buch, daß ich kein Atheist bin. Ein wirklich Ungläubiger läßt alle Möglichkeiten zu, sogar Ihre Dämonen und Kobolde. Wenn es im zwanzigsten Jahrhundert einen Hitler und einen Stalin geben kann und andere Barbareien, dann ist alles möglich. Aber selbst Sie werden zugeben, daß nicht jeder Fall von Hysterie einem Dibbuk zuzuschreiben ist. Die Nonnen, die in der Woche des Leidens Christi Stigmata produzierten, waren nicht von einem Dibbuk besessen. Selbst der Papst würde das zugeben …«

»Erst gestern hast du gesagt, unser Haus sei ein Spukhaus, und was ich durchmache, könne man nicht auf natürliche Weise erklären«, unterbrach ihn Lena. »Das waren deine eigenen Worte.«

»Es ist unmöglich, alles erklären zu wollen – selbst warum ein Apfel vom Baum fällt oder warum ein Magnet Eisen anzieht und nicht Butter.«

»Du hast gesagt, nur unser hoher Gast wäre imstande, den Dibbuk auszutreiben.«

»Ich habe das gesagt, weil ich weiß, daß du ihn verehrst, liebst und was sonst noch. Ich bewundere ihn auch, und ich wäre im siebten Himmel, wenn er hierbleiben und sich meine Sachen anschauen würde. Aber dein Dibbuk ist nichts anderes als Hysterie.«

Lena sprang von ihrem Stuhl auf. Sie stieß ein Weinglas um und fing es im Fallen auf. Sie streckte einen rotlackierten Finger aus und sagte: »Paltiel, kaum warst du eingetreten, habe ich eine Veränderung in dir bemerkt. Was hast du erwartet – daß unser Gast mit einer Krone auf dem Kopf herumläuft? Gewiß, ich hätte es auch gern, wenn er bei uns bliebe, aber da er das nicht kann, so ist das eben mein Pech. Du kannst ihn ja bitten, dein Manuskript mit aufs Schiff zu nehmen und zu lesen. Er hat noch sechs Reisetage vor sich. Aber mich kann er nicht mitnehmen. Ich wünschte, er könnte es. Du weißt, daß ich hier ersticke.«

»Du bist ein freier Mensch. Das habe ich dir vom ersten Tag an gesagt.« Und dann sprachen sie portugiesisch miteinander.

Ich war da an ein Paar geraten, das sich in einem Dauerstreit befand – einem Streit, der sich über Jahre hinzieht und das Paar schamlos macht. Die wenigen Stunden, die ich hier verbracht hatte, ließen mich die Lage erkennen. Paltiel Gerstendrescher war ein Intellektueller, kein Künstler. Er sprach korrektes Jiddisch, sogar idiomatisches, aber ihm fehlte die Mentalität des Jiddischisten. Wahrscheinlich war er als Kind nach Kanada gekommen. Er gehörte zu der Art von Menschen, die sich selbst in eine fremde Umgebung exilieren, sich einen Beruf aussuchen, für den sie ungeeignet sind, und häufig auch noch einen ungeeigneten Partner. Das gleiche galt für Lena. Selbst das Haus, in dem sie lebten – in einer gottverlassenen, nichtjüdischen Nachbarschaft –, war ungeeignet für sie. Sie hatten sich von dem einzigen Kreis, durch den sie ein Auskommen hätten finden können, abgewandt, darüber hinaus hatte sich Paltiel in Versuche eingelassen, mit der Sprache zu experimentieren, sich ausgeklügelte Wortspiele und Manieriertheiten gestattet, von denen er kaum erwarten konnte, daß sie den jiddischen Leser interessieren könnten, und die unübersetzbar waren.

Gut und schön, aber warum sollten Mann und Frau ihre eigensten Interessen so gründlich sabotieren? Und was hatten sie von mir erwartet und von einem Besuch, der höchstens einen Tag dauern würde? Für einen Augenblick glaubte ich, mit ihnen über ihre Situation sprechen zu müssen, aber ich wußte, daß es schon zu spät war. Lenas Worte über ihren Dibbuk hatten meine Neugier gereizt, aber obwohl Hysterie selbst aus Übertreibung und Lügen besteht, wußte ich, daß ihre Hysterie völlig künstlich war – ein literarischer Dibbuk, den sie vielleicht einer meiner Geschichten entnommen hatte. Das wirkliche Opfer hier war Paltiel, sagte ich mir. Er hielt den Kopf gesenkt und hörte sich Lenas Klagen verlegen an. Von Zeit zu Zeit warf er mir einen mißtrauischen Blick zu. Es war ganz offensichtlich, daß er sich, vom ersten Augenblick unseres Treffens an, in mir getäuscht sah, aber meines Wissens hatte ich kein Wort gesagt, das ihm hätte mißfallen können. Es konnte nur mein Aussehen sein. In meiner Verlegenheit versuchte ich festzustellen, welche Farbe seine Augen hatten. Sie waren nicht blau oder braun oder grau, sondern gelb und standen weit auseinander. Wäre ich in Amerika in eine solche Situation geraten, ich glaube, ich wäre einfach aufgestanden und gegangen. Aber in einem fremden Land, weit weg von einer Stadt, gab es kein Entkommen.

Paltiel stand auf. »Gut«, sagte er auf jiddisch, »ich gehe.« Und schon hatte er die Tür hinter sich geschlossen.

Ein Weilchen sprach Lena portugiesisch, dann bemerkte sie ihren Fehler und brach in Lachen aus. Sie sagte: »Ich bin so durcheinander, daß ich nicht mehr weiß, was mir geschieht.«

»Wohin ist er mitten in der Nacht gegangen?«

»Keine Angst, er geht nicht verloren. Beim Anblick meines vernachlässigten Gartens könnten Sie den Eindruck bekommen, daß wir in einem Dschungel leben. In Wirklichkeit sind wir nur ein paar Schritte von der Straße entfernt und höchstens zwanzig Kilometer von Rio. Er tut das nicht zum erstenmal. Jedesmal wenn ich ihm die Wahrheit sage, läuft er davon. Er hat da eine alte Witwe in Rio, die die Rolle seines Beschützers spielt. Sie ist auch seine einzige Leserin, und er geht zu ihr, sein Schicksal zu beklagen. Er hält einen Wagen an, und man nimmt ihn mit. Hier ist nicht New York. Die Leute hier fürchten sich nicht, jemanden mitzunehmen, besonders so ein Männchen.«

»Hat er etwas mit ihr?« fragte ich.

»Ob er mit ihr was hat? Nein. Vielleicht. Gebe Gott, daß es so wäre und er mich in Ruhe ließe.«

»Wer wird mich nach Santos bringen, falls er nicht zurückkommt?«

»Ich werde Sie hinbringen. Ich habe einen Fahrplan und alles andere. Machen Sie sich keine Sorgen. Das Schiff wird nicht ohne Sie abfahren. Wenn sie sagen vier Uhr nachmittags, dann fahren sie nicht vor zehn Uhr abends ab. Das ganze Leben in diesen Ländern besteht daraus, daß sie alles auf morgen verschieben, auf den Tag danach, auf das nächste Jahr. Ich sehe Ihnen an, daß Sie mehr über meinen Dibbuk wissen wollen. Ja, mein Dibbuk ist David Hescheles. Er hat mir Qualen verursacht, während er lebte, und jetzt, wo er tot ist, will er mich um die Ecke bringen. Nicht etwa plötzlich, wohlgemerkt, sondern langsam. Die einzige Zeit, in der er mich in Ruhe gelassen hat, waren die paar Jahre, die ich mit meinem ehemaligen Mann, dem Alten, verbrachte. Auf den war er offenbar nicht eifersüchtig. Aber seit ich mit Paltiel zusammen bin, läßt er mich nicht in Ruhe. David Hescheles erklärt mir ganz offen, daß er mich in sein Grab zerren werde, obwohl gar kein Grab vorhanden ist. Es gibt nur ein Häufchen Asche.«

»Spricht er zu Ihnen mit seiner Stimme?«

»Ja, mit seiner Stimme, aber ich bin die einzige, die ihn hören kann. Manchmal macht er Geräusche, die auch Paltiel hört, aber er würde es nicht zugeben. Er spielt den Rationalisten, fürchtet sich aber vor seinem eigenen Schatten. Er hat Hescheles' Erscheinung unsere Kellertreppe hinuntergehen sehen. Er hat ihn Türen zuschlagen und Wasserhähne mitten in der Nacht aufdrehen hören. David Hescheles hat sich in meinem Magen niedergelassen. Ich habe immer Gymnastik gemacht und hatte einen ganz flachen Bauch, fast wie ein Mann. Ganz plötzlich stand ich eines Morgens auf mit einer riesigen Schwellung dort. Es ist sein Kopf, sein Kopf. Schauen Sie mich nicht so an. Paltiel und die hiesigen Ärzte sagen alle das gleiche: eine Neurose oder ein Komplex. Wenn man auf dem Röntgenbild nichts sehen kann, dann existiert es nicht. Aber ein Kopf hat sich in meinem Magen niedergelassen. Ich kann seine Nase, seine Stirn, seinen Schädel fühlen. Wenn er spricht, bewegt sich sein Mund. Solange er dort unten ist, ist es erträglich, wenn er aber wütend wird, bewegt er sich weiter nach oben, auf den Hals zu. Dann kann ich nicht atmen. Früher, zu Hause, habe ich öfters gehört, wenn man jemandem etwas Böses getan hatte und er starb, dann kehrte seine Leiche zurück und erdrosselte einen. Aber ich habe ihm nichts Böses getan. Er hat mir unrecht getan. Zuerst hielt ich das für eine Altweibergeschichte – Volksbrauch. Ich will ganz ehrlich zu Ihnen sein: wenn mir jemand erzählen wollte, was ich Ihnen jetzt erzählen werde, würde ich ihm raten, ins Irrenhaus zu gehen. Wenn Sie wollen, können Sie den Kopf mit Ihren Händen fühlen.«

Einen Moment lang kam kindische Angst über mich, zugleich mit dem Widerwillen, ihren Leib zu berühren. Ich hatte nicht das geringste Verlangen nach dieser Frau. Ich erinnerte mich daran, was man mir erzählt hatte – daß sie an einer Geschlechtskrankheit leide. Ich würde sicher impotent bei ihr sein. Ich suchte nach einem Vorwand, aus dieser Intimität herauszukommen, aber ich schämte mich meiner Furcht. Zum erstenmal war mir etwas angeboten worden, das die Forscher auf dem Gebiet der Psychologie physischen Beweis nennen. Ich sagte: »Ihr Mann könnte zurückkommen und …«

»Nur keine Angst. Er wird nicht zurückkommen. Er ist zweifellos zu ihr gegangen. Und selbst wenn er käme, würden Sie keine Unannehmlichkeiten bekommen – wir sind beide entschlossen, Ihnen die Wahrheit zu zeigen. Ich habe eine Idee. Draußen haben wir eine Hängematte. Es ist eine dunkle Nacht. Wir haben keine Nachbarn. Die Moskitos werden uns überfallen, aber hier gibt es keine Malaria. Außerdem haben wir ein Netz darüber. Kommen Sie!«

Lena nahm mich beim Arm. Sie berührte einen Schalter, und alle Lichter gingen aus. Sie öffnete die Tür zum Garten und eine Hitzewelle kam mir entgegen wie aus einem Ofen. Der Himmel schwebte tief über uns, dicht besät mit den südlichen Sternbildern. Die Sterne schienen so groß zu sein wie Trauben in einem kosmischen Weinberg. Grillen sägten unsichtbare Bäume mit unsichtbaren Sägen. Frösche quakten mit menschlichen Stimmen. Aus den Bananenstauden, den wilden Blumen und dem Dickicht von Gras und Blättern stieg eine brennende Hitze auf, die meine Kleidung durchdrang und mein Inneres wie eine heiße Kompresse wärmte. Lena führte mich durch das Dunkel, als sei ich blind. Sie erwähnte die Tatsache, daß Eidechsen und Schlangen hier herumkröchen, aber keine giftigen.

Auf dem Schiff hatte mir jemand den Scherz erzählt, daß in der Nacht wieder nachwächst, was die Regierung während des Tages gestohlen hat. Mir kam es jetzt so vor, als hörte ich in die Wurzeln Säfte eindringen, die sich in Mangobäume, Bananenstauden, Papayas und Ananas verwandelten. Lena neigte die Hängematte, so daß ich mich hineinlegen konnte, und gab ihr einen spielerischen Stoß. Dann schlüpfte sie neben mich. Sie öffnete den Kimono, der ihren nackten Körper bedeckte, nahm meine Hand und legte sie auf ihren Leib. Sie machte das alles schnell, mit dem Geschick eines an Seancen gewöhnten Mediums. Tatsächlich fühlte ich etwas in ihrem Bauch, das hervorstand und länglich war. Es begann unterhalb der Brüste und dehnte sich bis zu den Schamhaaren aus. Lena führte meine Hand nach oben. Sie lenkte meinen Zeigefinger auf eine kleine Beule und fragte:

»Fühlst du die Nase?«

»Die Nase? Nein. Ja. Kann sein.«

»Sei nicht so ängstlich. Ich bin keine Hexe. So wie du über Dibbuks schreibst, muß ich annehmen, daß du an solche Mysterien gewöhnt bist.«

»An Mysterien kann man sich nicht gewöhnen.«

»Du bist wirklich noch ein Junge. Vielleicht liegt darin deine Stärke. David Hescheles ist wütend auf mich, nicht auf dich. Er mochte dich. Er lobte immer dein Talent. Ich suchte nach Gelegenheiten, dich zu treffen, aber du bist vor den Frauen geflohen wie ein Chassid. Als ich hier in Brasilien anfing, deine Sachen zu lesen, konnte ich nicht glauben, daß du wirklich der Verfasser bist.«

»Manchmal glaube ich es selbst nicht.«

»Fühl seine Stirn. Du wirst nicht viele solche Gelegenheiten haben.«

Lena hob meine Hand, und ich berührte eine spitze Brustwarze. Ich zog meinen Finger zurück, damit sie nicht denken sollte, ich wolle sie erregen. Trotz der seltsamen Umstände sagte ich mir, daß weder David Hescheles – dieser Zyniker, er soll in Frieden ruhen! – noch seine Seele irgend etwas mit diesem Spiel zu tun hatte. Lena litt an einem Tumor, oder vielleicht war es die Folge lange geübter Selbsttäuschung. Wenn man etwas nur stark genug will, dann kann man die Muskeln trainieren, alle möglichen Kunststücke und Verdrehungen auszuführen. Aber warum sollte sie dies so unbedingt wollen?

»Was sagst du jetzt?« fragte Lena.

»Wirklich, ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll.«

»Sei nicht so nervös. Paltiel wird nicht zurückkommen. Ich habe den Verdacht, er hat den Streit mit mir nur angefangen, damit ich mit dir allein sein kann.«

»Warum sagst du das?«

»Warum? Weil er halb verrückt ist und weil wir beide in einer dunklen Ecke gefangen sind – physisch, geistig, in jeder Weise. Ich habe Ehemänner gehabt und ich weiß Bescheid. Wie groß auch immer eine Liebe gewesen sein mag, es kommt eine Krise, die genauso rätselhaft ist wie die Liebe selbst – oder wie der Tod. Man liebt den andern noch, aber man muß sich trennen, oder ein anderer Mensch tritt auf und veranlaßt eine Richtungsänderung. Ich werde dir etwas sagen, aber fasse es nicht falsch auf – in unseren Phantasien warst du dieser Mensch.«

»Ach, aber unglücklicherweise muß ich morgen sehr früh fort. Ich habe meine eigenen Schwierigkeiten. Warum habt ihr euch so weit weg von allem und jedem niedergelassen?« fragte ich und änderte meinen Ton. »Paltiel ist ein hochintelligenter Mann; er hat ein großes Wissen. In New York könnte er leicht Professor werden. Eure Aussichten wären dort viel besser.«

»Ja, du hast recht. Aber hier habe ich das Haus. Ich bekomme eine Unterstützung von meinem früheren Mann. Dieses Haus wäre schwer zu verkaufen. Außerdem gehört es nicht mir allein. Er würde mir das Geld auch nicht nach New York schicken. Paltiel ist vollkommen apathisch geworden. Er sitzt Tag und Nacht und schreibt diese Romane, in denen es keine einzige interessante Figur gibt. Er versucht ein jiddischer Joyce zu werden, oder etwas Ähnliches. Ich höre, daß das jiddische Theater in New York im Begriff ist unterzugehen.«

»Ja, leider.«

»Manchmal wünschte ich, der Dibbuk sollte in meinen Hals aufsteigen und mich erledigen. Ich bin zu müde, um noch einmal von vorne zu beginnen – besonders da es nichts zu beginnen gibt. Ich bin reif für den Tod, habe aber nicht den Mut zu handeln. Lach mich nicht aus, aber ich träume immer noch von der Liebe.«

»Das tue ich auch. Ich habe das auch von kranken und alten Leuten gehört, buchstäblich einen Tag vor ihrem Tod.«

»Was hat das für einen Sinn? Ich liege im Bett, niedergedrückt von Sorgen, und phantasiere von einer großen Liebe – etwas Einmaliges, das wahrscheinlich nicht existiert. Ob mich mein Dibbuk erdrosseln wird oder ob ich an einem Herzversagen sterben werde, eines ist sicher: ich werde mit diesem Traum sterben.«

»Ja, das ist wahr.«

»Wie verstehst du das?«

Ich wollte sagen, daß ich es nicht verstehen könne, statt dessen sagte ich: »Es sieht so aus, als ob Leben und Tod keine gemeinsame Grenze hätten. Leben ist die ganze Wahrheit, und Tod ist nichts als Lüge.«

»Wie meinst du das – daß wir ewig leben?«

»Das Leben ist der Triumphwagen Gottes, und der Tod ist nur der Schatten seiner Peitsche.«

»Wer hat das gesagt?«

»Ich weiß es nicht. Vielleicht ist es von mir. Ich plappere nur so vor mich hin.«

»Ich habe es dir gesagt – auch in dir sitzt ein Dibbuk. Sag deinem Dibbuk, er soll mich küssen. Ich bin nicht so häßlich oder so alt.«

Ich werde nichts mit ihr anfangen, beschloß ich. Diese Frau ist eine Lügnerin, eine Exhibitionistin und dazu noch verrückt. Ihr Mann zeigte sich mir gegenüber feindselig. Ich habe mit Leuten dieser Art zu tun gehabt. Eben haben sie dich noch vergöttert, und im nächsten Augenblick beschimpfen sie dich. Unweigerlich wollen sie irgendeine Gunstbezeugung, die genauso unmöglich und verrückt ist wie sie selber. Aber noch während ich diesen festen Entschluß faßte, nahm ich Lena in meine Arme. Ich hatte mich immer für Leute interessiert, die das Scheitern gewählt hatten, die in Schwierigkeiten geschwelgt und sich dem Betrug geopfert hatten. Jetzt küßte ich Lena, und sie biß in meine Lippen. Ich hörte, wie ich ihr Kosenamen gab und ihr sagte, daß unsere Begegnung schicksalhaft sei. Wir rollten in der Hängematte und mühten uns ab. Lena versuchte, uns mit dem Moskitonetz zu bedecken und es festzumachen. Plötzlich riß sich die Hängematte von dem Baum los, und wir fielen in einen Morast aus Nesseln, verfaulten Wurzeln und Schlamm. Ich versuchte aufzustehen, aber ich war in dem Netz verfangen. In diesem Augenblick stieß Lena einen furchtbaren Schrei aus. Moskitos hatten sich auf uns gestürzt, so dicht wie ein Schwarm Heuschrecken. Ich war schon oft von Moskitos gestochen worden, aber niemals von so vielen und mit solcher Grausamkeit. Es gelang mir irgendwie, mich zu befreien und Lena zu helfen aufzustehen. Wir versuchten ins Haus zu laufen, wurden aber durch Dornengebüsch, Zweige und stachliges Unkraut aufgehalten. Lena schrie noch immer. Erst jetzt bemerkte ich, daß sie nackt war und einen ihrer Schuhe verloren hatte. Ich versuchte nochmals sie aufzuheben, aber sie leistete Widerstand.

Als wir schließlich das Haus erreichten und Licht machten, sah ich, daß wir beide von Stichen und von lebenden Moskitos bedeckt waren. Sie hatten sich wie Blutegel an uns festgesaugt. Wir fingen an, uns gegenseitig zu schlagen, um diese Parasiten zu töten, deren Blut noch vor einem Augenblick das unsere gewesen war. Wir sprangen in einem verrückten Tanz umeinander herum. Mein Hemd war mit Blut getränkt. Lena zog es mir aus und zerrte mich in das Badezimmer, in dem eine lange Badewanne stand, über der ein großer Kupfertank und eine Brause hingen. Sie ließ das Wasser laufen, und wir standen unter der Brause und hielten uns aneinander fest, um das Gleichgewicht zu halten. Lena öffnete ein Medizinschränkchen, nahm eine Flasche heraus und fing an, uns mit der Flüssigkeit einzureiben. In einem Spiegel sah ich, daß meine Gesichtshaut zur Hälfte abgeschält war. Noch immer jammernd, führte Lena mich ins Wohnzimmer, wo sie ein Laken aus einer Kommode zog, es über die Couch breitete und mich wie eine Leiche in ein Leichentuch einwickelte. Dann wickelte sie sich selbst in ein Leintuch. Sie beugte sich über mich und rief aus: »Gott liebt uns. Er hat die Strafe vor der Sünde geschickt!«

Sie warf sich mit einem Klagelaut über mich, und mein Gesicht war augenblicklich naß und salzig. Sie löschte das Licht, aber es ging sofort wieder an – Paltiel war zurückgekehrt.

Am nächsten Morgen brachte mich Paltiel mit einem Bus nach Santos. Lena mußte im Bett bleiben. Paltiel und ich sprachen kein Wort miteinander. Wir vermieden es, uns in die Augen zu sehen. Ich war so erschöpft, daß ich die meiste Zeit döste und mir der Kopf wieder und wieder vornüberfiel. Ich war zu benommen, um mich zu schämen. Ehe ich aufs Schiff ging, überreichte mir Paltiel zwei große Umschläge voller Manuskripte und sagte: »Wir haben beide von Ihrem Besuch profitiert: Ich habe einen Leser gewonnen und Lena einen richtigen Dibbuk.«

Ich hoffte, daß dies das Ende meines grotesken Abenteuers sein würde, aber als ich von meiner südamerikanischen Reise nach New York zurückkam, fand ich drei weitere Manuskripte vor und zwei Briefe von vierzig Seiten von Lena – einen auf jiddisch, den anderen auf polnisch. Lena verriet mir, daß ihre Liebe zu mir schon in Warschau begonnen hätte und daß sie Schwingungen und telepathische Botschaften über mein Kommen erhalten hatte, lange bevor Paltiel etwas von meiner Reise erfahren hatte. Ich versuchte zu lesen, was die beiden geschrieben hatten, aber Manuskripte und Briefe kamen so schnell hintereinander, daß mir klar wurde, ich würde keine Zeit mehr für irgend etwas anderes haben. Ich sah Lenas Briefe hier und da flüchtig an und erfuhr, daß die Witwe, die Gönnerin Paltiels, gestorben war, ihm eine beträchtliche Summe hinterlassen hatte und daß er es für die Veröffentlichung seiner Werke in ›Myself Publications‹ verwendete. Bald kamen diese Bücher an, in immer kürzeren Intervallen. Ich konnte die Sendungen einfach nicht mehr öffnen, aber das hielt sie nicht davon ab, mir noch lange Zeit Bücher und Briefe zu schicken. Einige Jahre später hörte ich, Lena sei an Krebs gestorben und Paltiel sei in eine Irrenanstalt gekommen. Ich mußte mich von dieser Menge Bücher und Briefe befreien. Ich behielt nur ein dickes Buch von Paltiel, das in einem abscheulichen Stil geschrieben war, verrückt, unlesbar, und ein paar Briefe von Lena – erschreckende Dokumente dafür, was Einsamkeit solchen Menschen antun kann und was sie sich selbst antun.

Jochna und Schmelke

Zeit seines Lebens hatte sich Reb Piniele Dlusker dem Chassidismus gewidmet. Er reiste zum Hof des Rabbi von Zanz, dem des Belzer Rabbis und dem von Trisk. Die Chassidim stritten mit ihm und behaupteten, ein Rabbi sei genug, aber Piniele sagte: »Wie kann eine Mutter ein Dutzend Kinder lieben? Warum leben reiche Leute in vielen Räumen? Warum hat der Zar viele Soldaten? Mein Vergnügen sind Wunderrabbis.«

Reb Piniele besuchte seine Rabbis an jedem Festtag, selbst zu Pessach, obwohl auch die eifrigsten Chassidim der Tradition nachlebten und den Sederabend bei ihren Familien verbrachten. In den ersten Jahren ihrer Ehe hatte seine Frau, Schprinza Pescha, sich dagegen gewehrt. Ihre Mutter hatte ihr sogar geraten, sich scheiden zu lassen. Es wäre beinahe dazu gekommen, als Schprinza Pescha ein Zwillingspaar an Scharlachfieber verlor, was sie als Strafe des Himmels dafür empfand, ihrem Piniele Kummer gemacht zu haben. Später verlor sie noch andere Kinder – durch Keuchhusten, Diphtherie, Masern –, bis Reb Piniele und Schprinza Pescha nur noch eine Tochter besaßen, Jochna, die sie nach einer Großtante von Schprinza genannt hatten.

Jochna wuchs als gesundes Kind heran. Sie schrie selten und lachte immer, wobei sich ihre Grübchen zeigten. Schprinza Pescha, die Ernährerin der Familie, führte einen Laden, in dem sie Stoffe am Meter und Kurzwaren – Sackleinwand, Futterstoffe, Garn und Knöpfe – verkaufte. Jochna wuchs sozusagen von selbst auf. Reb Piniele wollte, daß sein einziges Kind als fromme jüdische Tochter aufwachsen sollte, und als Jochna vier Jahre alt war, engagierte er die Frau eines Rabbis, die ihr das Alphabet beibringen sollte, später auch Gebete, und sogar ein paar Zeilen auf jiddisch zu schreiben. Aber Jochna war dafür nicht begabt. Sie aß viel und wurde schnell dick. Die anderen Mädchen spielten Fangen, Versteck und tanzten im Kreis, aber Jochna saß im Sommer vor dem Haus und machte Kuchen aus dem feuchten Sand. Ihre Mutter brachte ihr zu den Mahlzeiten fettes Fleisch, Grütze, Suppe, Honigbrot und Sabbatplätzchen, Jochna aß alles auf und verlangte immer noch mehr. Sie war so blond wie nichtjüdische Mädchen, ihr Haar so hell wie Flachs und ihre Augen so blau wie Kornblumen.

Mit elf Jahren wurde sie zur Frau, und Schprinza Pescha schenkte ihr einen kleinen Beutel mit einem Wolfszahn darinnen, der den bösen Blick abwehren, und einen Talisman, der die bösen Geister fernhalten sollte. Jochna hatte Brüste wie eine erwachsene Frau, und Schprinza Pescha ließ ihr von einer Näherin Leibchen und spitzenbesetzte Hosen machen.

Jochna konnte das Gebetbuch nicht lesen, aber sie hatte die Gebete, die man beim Aufstehen sagte, die Segenssprüche, die vor dem Essen gesprochen wurden, wie auch andere Danksagungen auswendig gelernt. Jochna liebte die Jüdischkeit. Sie bestand darauf, von ihrer Mutter am Sabbat in die Frauenabteilung der Synagoge mitgenommen zu werden, und wie die frommen Frauen sprach auch sie »Gesegnet sei Er und gesegnet sei Sein Name« und sagte »Amen«, wenn der Vorsänger in der Männerabteilung die Achtzehn Segenssprüche rezitierte. Sie hörte auch zu, wenn den Frauen, die das Alphabet nicht kannten, von dem Vorsteher die Gebete vorgesprochen wurden. Wann immer ein reisender Prediger die Stadt besuchte, ging Jochna zu seiner Predigt. Sie weinte, als er die Qualen in der Gehenna beschrieb: das Nagelbett, die Auspeitschungen durch die rächenden Dämonen und die glühenden Kohlen, über die die Sünder gerollt wurden. Ihre Augen glänzten, wenn der Prediger erzählte, wie im Paradies die gottesfürchtigen Frauen die Fußschemel ihrer Männer wurden und daß sie mit den Männern teilhaben durften an den Geheimnissen der Tora.

Als Jochna zwölf Jahre alt war, wurde sie von den Heiratsvermittlern belagert, die gute Partien anboten, aber ihr Vater, Reb Piniele, brachte einen Bräutigam aus Trisk mit, einen Jeschiwastudenten, einen Waisenknaben, der siebzehn Stunden am Tag lernte. Sein Name war Schmelke, und er war drei Jahre älter als Jochna. Er schlief und aß in einem Gasthaus. Das Paar würde sich erst an der Hochzeitsfeier sehen, wenn die Braut entschleiert wird, aber Jochna hatte ihn schon gern, noch ehe sie ihn gesehen hatte. Sie begann, einen samtenen Beutel für den Gebetsmantel zu besticken, mit Gold- und Silberfäden, wie auch ein Säckchen für die Gebetsriemen, ein Tuch, um das Sabbatbrot zuzudecken, und einen Behälter für die Mazze. Die Frau eines Rabbis kam, um sie zu unterrichten, wie die Tage nach ihrer Periode zu zählen waren, damit sie wußte, wann sie mit ihrem Mann schlafen durfte. Und auch wie sie die eheliche Reinheit durch die vorgeschriebenen Waschungen im Frauenbad zu erhalten habe. Jochna lernte es alles, und die Rebbezin lobte ihren Fleiß.

Schprinza Pescha bestellte eine Aussteuer für ihre Tochter. Es war nicht leicht, ihr etwas anzupassen, denn sie war aufgegangen wie ein Hefeteig. Die Schneiderlehrlinge scherzten, daß sie einen Busen wie eine Amme habe. Ihre Schenkel verglichen sie mit einem Metzgerblock. Aber sie hatte kleine Füße und ihr helles Haar hing bis zu den Hüften. Schprinza Pescha ließ es nicht an Wolle, Seide oder Satin fehlen, um Jochna zu verschönern.

Die ganze Stadt nahm an der Hochzeit teil, und Schprinza Pescha buk riesige Kuchen und kochte Kessel voll Fleisch und Suppe. Als Jochna in das rituelle Bad geführt wurde, spielten die Musikanten ein Schlaflied. Der Pöbel, der bei den Schenken herumlungerte, machte sich über alles lustig. Als die Badefrau Jochnas Haar abschnitt und ihren Kopf rasierte, brachen die jungen Frauen in dem Bad in Tränen aus, aber Jochna sagte: »Worüber weint ihr? Da Gott es befohlen hat, ist es gut und richtig.«

Am Abend der Hochzeit hob Schmelke den Schleier von Jochnas Gesicht. Sie blickte auf und war von großer Liebe zu ihm erfüllt. Er war klein, schmächtig, dunkel, mit schwarzen Schläfenlocken, die wie Hörner gedreht waren, und eingefallenen Wangen, die keine Spur von Bart trugen. Sein Kaftan hing zu lang und zu weit auf ihm. Die Pelzmütze war ihm über die dunklen Augen gerutscht, und er zitterte und schwitzte. Oh, wie verhungert er aussieht, mein Schatz, die Krone auf meinem Kopf, dachte Jochna. So Gott will, werde ich ihn auffüttern.

Unter dem Hochzeitsbaldachin trat Schmelke ihr auf den Fuß – ein Symbol dafür, daß er der Herr im Hause sein würde –, und Jochna fühlte einen Schauder ihren Rücken herunterlaufen. Sie hätte schreien mögen: »Ja, herrsche über mich, mein Herr! Tu mit mir, wie dein Herz begehrt!«

Nach dem Hochzeitstanz führten ihre Mutter und eine Tante Jochna in das Hochzeitszimmer. Beide Frauen forderten sie auf, sich ihrem Mann willig hinzugeben, da das erste Gebot der Tora heißt: Seid fruchtbar und mehret euch. Jochna entkleidete sich im Dunkeln und zog ein spitzenbesetztes Nachthemd an, das bis zu den Knöcheln ging. Sie legte sich in das Bett und wartete geduldig, bis Schmelke erscheinen würde. Eine nie vorher gekannte Seligkeit durchdrang ihre Glieder. Sie war eine verheiratete Frau. Sie trug eine Nachthaube auf dem Kopf und einen Ehering am Finger. Jochna betete zu Gott, er möge ihr ein Haus voll gesunder Kinder schenken, die sie dazu erziehen würde, Ihm zu dienen.

Nach einer Weile begleiteten Piniele und einer der Gemeindeältesten Schmelke in das Zimmer und schlossen die Tür. Jochna horchte auf jede Bewegung. Er war wie ein Huhn in den Käfig gelassen worden. Es war pechschwarz. Wie, überlegte sie, konnte sich ein Fremder hier ausziehen? Wie konnte er das Bett finden? Er stand da und murmelte etwas. Sie hörte, wie er gegen die Kommode stieß. Er wird sich verletzen – Gott behüte! – oder fallen, dachte Jochna zitternd. Sie flüsterte ihm zu, er solle seine Sachen über den Stuhl hängen. Er antwortete nicht. Sie konnte seine Zähne aufeinanderschlagen hören – er zitterte vor Furcht, der Arme.

Jochna vergaß, daß sie eine Braut war, die sich zurückhaltend benehmen mußte. Sie stand aus dem Bett auf und versuchte ihm zu helfen, aber er zuckte, als sie ihn berührte, und wich zurück. Allmählich beruhigte sie ihn mit Worten. Er zog seinen Kaftan, das rituelle Gewand aus und auch die Schuhe. Die ganze Zeit hörte er nicht auf zu murmeln. Sprach er ein Gebet? Intonierte er eine Beschwörung? Nach langem Zögern stieg er aus seinen Hosen, und sie führte, ja stieß ihn fast zu ihrem Bett. Jetzt warf er sich herum wie im Fieber. Jochna hätte gern geweint, aber sie hielt die Tränen zurück. Die Badefrau hatte ihr gesagt, daß nach dem Gesetz Mann und Frau im Bett zusammenkommen und sogar sich küssen und umarmen dürfen. Sie umschlang ihn mit ihren Armen und küßte seine Stirn, seine Wangen, seinen Adamsapfel. Sie drückte ihn an ihre Brust. Plötzlich hörte sie seine Stimme: »Wo ist mein Käppchen?«

Er mußte es verloren haben, und Jochna fühlte überall herum, auf der Bettdecke, auf dem Leintuch. Um nicht die Sünde zu begehen, ohne Kopfbedeckung zu sein, bedeckte er seinen Kopf mit beiden Händen.

»Oh, er hat eine heilige Seele«, sagte Jochna zu sich. »Was habe ich getan, daß ich einen solchen Heiligen verdiene?«

Sie stand aus dem Bett auf, um nach dem Käppchen zu suchen. Sie tappte im Dunkeln herum wie eine Blinde. »Vater im Himmel, hilf mir, das Käppchen zu finden!« bat sie. Im Geiste versprach sie achtzehn Groschen für ein wohltätiges Unternehmen. In diesem Augenblick trat sie auf etwas Weiches. Es war Schmelkes Käppchen. Jochna hob es auf und küßte es, als ob es eine Seite aus einem heiligen Buch wäre. »Schmelke, ich habe es.«

Sie konnte kaum glauben, daß sie den Mut hatte, all dies zu tun und ihn sogar bei seinem Namen zu rufen.

Schmelke setzte das Käppchen auf und fing an, zu Jochna in frommen Worten zu sprechen. Die Vereinigung von Mann und Frau, sagte er, diene dazu, heilige Seelen hervorzubringen, die am Thron der Herrlichkeit auf Reinigung warten, um wiederverkörpert die Gelegenheit zu haben, gute Taten zu tun. Er rief tugendhafte Frauen der Vergangenheit ins Gedächtnis. Obwohl Jochna die gelehrte Sprache, die er benutzte, nicht verstand, klang sie süß in ihren Ohren. Nachdem er geendet hatte, legte er sich auf sie. Die Badefrau und ihre Begleiterinnen hatten sie gewarnt, daß er ihr wahrscheinlich weh tun würde und daß sie diesen Schmerz mit Dankbarkeit und Freude annehmen müsse. Aber sie fühlte keinen Schmerz. Er war leicht wie ein Kind auf ihr. Bald verließ er ihr Bett und ging zu seinem eigenen, wie es das Gesetz vorschreibt. Als die Frauen im Morgengrauen kamen, fanden sie Blutspuren auf Jochnas Leintuch und nahmen es mit, um es beim Koschertanz vorzuzeigen.

Später an diesem Tag nahmen Schprinza Pescha und die anderen Frauen Jochna zu Besuchen bei den angesehenen Matronen der Stadt mit, die die Gäste mit Kuchen und Wein oder Mandelbrot und Kirschlikör willkommen hießen. Jochna warf einen Blick in den Spiegel. Wie anders sie aussah mit der mit Perlen und Bändern geschmückten Haube und in einem Kleid mit einer Schleppe! Ohne Haar kam ihr der Kopf seltsam leicht vor. Ihr Schädel war kühl. Eine verheiratete Frau darf es nicht wagen, ihren unbedeckten Kopf zu zeigen, um nicht die Lust fremder Männer zu erregen.

In den sieben Tagen, die auf die Hochzeit folgten, kamen jeden Abend Gäste zu Besuch, und Jochnas Vater, Reb Piniele, lud jeden zu einem Becher rituellen Weins ein. Schmelke saß neben seinem Schwiegervater, und von Zeit zu Zeit warf Lena durch die offene Tür einen Blick auf ihn – er sah so schmächtig und schüchtern aus wie ein Chederschüler. Die Männer sprachen über gelehrte Dinge mit ihm. Er antwortete kurz und mit leiser Stimme. Schprinza Pescha brachte ihm einen Appetithappen, Suppe, geschmortes Fleisch und Karotten, aber er ließ fast alles auf dem Teller, und seine Schwiegermutter schalt ihn und sagte, um die Tora zu studieren, muß man seine Kräfte erhalten.

Solange Jochna unverheiratet gewesen war, hatte sie keine Mädchenfreundschaften gehabt, aber jetzt kamen junge Frauen, um mit ihr über Haushaltsdinge zu diskutieren – wie man nähe, stopfe, stricke; wie man vorteilhaft einkaufe; wie man mit ›Nadelspitze‹ Bäume, Hirsche und Löwen herstellen kann. Die Frauen lehrten sie das Knöchelspiel, Wolf und Geiß und sogar das Damespiel. Sie bestanden darauf, von Jochna ihren Schmuck gezeigt zu bekommen und auch die Kleider, die sie zu ihrer Aussteuer erhalten hatte. Schprinza Pescha hatte ihrer Tochter all ihren Schmuck gegeben und hatte für sich nur ein Medaillon mit einem Zauberspruch behalten. Die jungen Frauen bewunderten Jochnas Schmuck, deuteten aber an, daß er altmodisch sei. Ihre Kette, das Armband, die Brosche, selbst die Ohrringe und Ringe seien zu schwer. Eine neue Mode hatte sich durchgesetzt – leichter Schmuck. Jochna nickte und lächelte. Was gab sie auf all die Nichtigkeiten? Ihr schönster Schmuck war Schmelke.

Die Hochzeit hatte an dem Sabbatabend nach dem Schawuotfest stattgefunden. Im Monat Elul begann Reb Piniele davon zu reden, daß er die Feiertage bei seinem Rebben verbringen werde – Rosch haschana mit dem einen, Jom Kippur mit dem anderen, Sukkot mit einem dritten. Er schlug Schmelke vor, ihn zu begleiten. Er wollte mit seinem Schwiegersohn, dem Gelehrten, Staat machen. Aber Schmelke machte Einwände. Schmelke hatte seinen eigenen Rabbi. Sein Vater – gesegnet sei sein Andenken! – war zu dem Rabbi von Warka gegangen. Als Schmelke nach einigem Zögern Reb Piniele sagte, er wolle Rosch haschana in Warka verbringen, schlug Reb Piniele einen Kompromiß vor. Zu Rosch haschana und Jom Kippur sollte Schmelke ihn nach Belz und Trisk begleiten, und Schmelke sollte dann weiter nach Warka gehen zu Sukkot. Und so wurde es verabredet.

Bei der Nachricht, daß Schmelke zu den Feiertagen fortgehen würde, hätte Jochna gern geweint. Die meisten jungen Ehemänner blieben während der Feiertage bei ihren Frauen. Aber eine jüdische Tochter mußte tun, was der Vater sagte und der Ehemann wünschte. Jochna fing an, die Sachen zusammenzusuchen, die Schmelke für die Reise brauchen würde: Hemden, Unterhosen, Socken, das rituelle Gewand mit den Schaufäden, Taschentücher. Um Sukkot herum wird das Wetter kühler, und Jochna sorgte dafür, daß er einen wollenen Rock und einen Mantel mitnahm. Was Jochna für Schmelke tat, machte Schprinza Pescha für Piniele. Schprinza Pescha war an Pinieles Reisen gewöhnt, aber Jochna sehnte sich schon nach Schmelke, noch ehe er fortging. Sie bat ihren Vater, auf ihn aufzupassen. Piniele antwortete: »Reg dich nicht auf, Tochter. Denen, die im Dienste Gottes reisen, geschieht nichts.«

Piniele und Schmelke fuhren im Wagen in ein Dorf in der Nähe der österreichischen Grenze, wo man ihnen half, sich über die Grenze zu schmuggeln. Die Grenzwächter waren im voraus bestochen worden. Einen Auslandspaß und ein Visum zu bekommen war zu teuer, und man mußte lange darauf warten. Die Russen, Preußen und Österreicher hatten Polen unter sich aufgeteilt, aber die russischen Chassidim besuchten österreichische Rabbis, und die österreichischen Chassidim besuchten ihre Rabbis in Rußland.

Nachdem die Männer fort waren, fingen Schprinza und Jochna an, alles für die Festtage vorzubereiten. Am Abend von Rosch haschana zündeten Schprinza Pescha und Jochna Kerzen in silbernen Leuchtern an. Danach sprach Schprinza Pescha einen Segensspruch über ein Glas Wein und schnitt das Rosch-haschana-Gebäck an, das die Form eines Vogels hatte. Mutter und Tochter aßen eine Schnitte mit Honig, einen Karpfenkopf und Karotten. Jochna erinnerte sich an die hebräischen Worte, die zu sprechen waren.

Am nächsten Morgen zog Jochna ein goldenes Kleid an und ein mit Edelsteinen besticktes Stirnband, und obwohl sie nicht lesen konnte, nahm sie in die Synagoge ein hebräisches Gebetbuch mit einer Kupferschließe und ein jiddisches, dessen Titel in Gold geprägt war, mit. Wenn Schprinza Pescha sich verneigte, hüpfte oder weinte, dann verneigte sich Jochna und hüpfte und weinte mit. So vergingen Rosch haschana und Jom Kippur. Alle Frauen wünschten Jochna ein gutes Jahr, das eine Beschneidungszeremonie einschließen würde.

In den Tagen vor Sukkot erhoben sich heftige Stürme. Ihre Stärke blies die Tannenzweige, die als Dach für die Laubhütten gedient hatten, fort, ließ Mauern einstürzen und verstreute Stühle und Tische ebenso wie die festlichen Dekorationen. Am Abend von Hoschana Rabba, dem siebenten Tag von Sukkot, erfüllte Donner die Luft, flammten Blitze am Himmel, und Regen, gemischt mit Hagel, floß in Strömen. Die ältesten Leute konnten sich nicht an einen Sturm von solcher Stärke zu dieser Jahreszeit erinnern. Das Wasser donnerte die Brückenstraße hinunter, und die Armen, die dort wohnten, mußten mit ihren Kindern höher gelegene Gebäude zum Schlafen aufsuchen, das Bethaus oder das Armenhaus. Windstöße ließen Dachschindeln durch die Stadt fliegen. Am achten Tag von Sukkot wurde es am Mittag so dunkel, als ob das Ende der Welt gekommen sei. Schprinza Pescha und Jochna hatten einige Frauen und Mädchen zu Simchas Tora eingeladen. Mutter und Tochter hatten große Töpfe mit Kohl, Sauerrahm und Rosinen, Gänsebraten und Kuchen und Torten vorbereitet, aber niemand konnte durch die Straßen waten. Bei den Behörden liefen schlechte Nachrichten aus vielen Städten und Dörfern ein. Die Flüsse San, Bug und Weichsel waren über die Ufer getreten. Ganze Herden waren ertrunken, die Flöße, die die Holzhändler auf den Weg nach Danzig geschickt hatten, waren auseinandergebrochen, und die Flößer waren ertrunken. Fromme Frauen sagten, daß die Katastrophe eine Strafe des Allmächtigen sei; die Verantwortung lag bei den Ketzern in den großen Städten wie auch bei den liederlichen Frauen, die ohne Kopfbedeckung herumliefen, nicht in das rituelle Bad gingen und Kleider mit kurzen Ärmeln, die ihr Fleisch sehen ließen, trugen.