Jascheks Reise - Erdmann Kühn - E-Book

Jascheks Reise E-Book

Erdmann Kühn

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Beschreibung

Jaschek, allein reisender Familienvater in den besten Jahren, gerät bei seiner Urlaubsfahrt nach Südfrankreich in einen Strudel scheinbar absurder Ereignisse, die dazu führen, dass sein Urlaub ganz anders verläuft als ursprünglich geplant: Seine Bankkarte funktioniert nicht mehr, er nimmt ein geheimnisvolles Tramper-Pärchen mit, verlässt illegal die Autobahn und findet sich schließlich in einer Arrestzelle in Montpellier wieder, wo man ihn in Zusammenhang mit zwei Mordfällen in Biarritz und Nordspanien bringt. Durch diese Anschuldigungen sieht sich Jaschek unvermittelt mit seiner eigenen Vergangenheit konfrontiert. Immer mehr Erinnerungen tauchen auf an eine wunderbare Reise nach Frankreich, Spanien und Portugal, die er 29 Jahre zuvor als junger Mann unternommen hat. Diese Erinnerungen lassen ihn nicht mehr los, verändern ihn, wecken seine Neugier und Sehnsucht. Er möchte gerne herausfinden, was damals wirklich geschah ...

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Jascheks Reise

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Jascheks Reise

Ein Reisekrimi als Roadmovie

Jaschek, allein reisender Familienvater in den besten Jahren, gerät bei seiner Urlaubsfahrt nach Südfrankreich in einen Strudel scheinbar absurder Ereignisse, die dazu führen, dass sein Urlaub ganz anders verläuft als ursprünglich geplant: Seine Bankkarte funktioniert nicht mehr, er nimmt ein geheimnisvolles Tramper-Pärchen mit, verlässt illegal die Autobahn und findet sich schließlich in einer Arrestzelle in Montpellier wieder, wo man ihn in Zusammenhang mit zwei Mordfällen in Biarritz und Nordspanien bringt.

Durch diese Anschuldigungen sieht sich Jaschek unvermittelt mit seiner eigenen Vergangenheit konfrontiert. Immer mehr Erinnerungen tauchen auf an eine wunderbare Reise nach Frankreich, Spanien und Portugal, die er 29 Jahre zuvor als junger Mann unternommen hat. Diese Erinne­rungen lassen ihn nicht mehr los, verändern ihn, wecken seine Neugier und Sehnsucht. Er möchte gerne herausfinden, was damals wirklich geschah ...

Erdmann Kühn

Erdmann Kühn ist in Berlin geboren und aufgewachsen und hat in Köln Kunst und Musik studiert. Er lebt im Rheinland, arbeitet als Lehrer und in der Lehrerfortbildung. Er ist Musiker, Chorleiter, singt, komponiert, arrangiert und schreibt.

Neben „Jascheks Reise“ sind von Erdmann Kühn erschienen: „Am Tag, als er sein Spiegelbild grüßte- Ein Lehrer verschwindet", „Himmel und Erde – Vaters Tagebücher 1926 – 1946“ und die drei Bücher der Friedel-Trilogie: „Der Junge auf der Schaukel - eine Berliner Kindheit“

„Abschied von Berlin“

„Mein Kopf, der ist ein Zimmer“. Mehr über den Autor auf www.erdmannkuehn.jimdo.com

Du machst Gesicht, Jung, mein Lieber, mein Lieber!Fernando, Odeceixe/Portugal

In deinem Kopf, Jaschek, da ist alles drin. Und wenn du den benutzt, dann kommen erstaunliche Dinge ans Tageslicht. Die Bilder waren in deinem Kopf, Jaschek.Pagnol, Marseille

Madeleine

Hinterher ist man immer klüger. Hätte er doch bloß nicht an diesem blöden, potthässlichen Autobahnrasthof bei Dijon angehalten! Der Sprit hätte bestimmt noch bis zur nächsten Tankstelle gereicht. Aber er hat schlechte Erfah­rungen gemacht. In einer längst vergangenen Zeit, in der er noch jung, übermütig und voller Gottvertrauen war. Einer Zeit, in der er ständig mit irgendeiner leer gefah­renen Schrottkarre an den unmöglichsten Orten gestran­det war. Er hat einfach Panik davor, irgendwo ohne Sprit liegen zu bleiben. Und dann auch noch im Ausland. Die Tankanzeige ist noch nicht bei Null, aber sie blinkt schon. Also nichts wie raus und nachgetankt.

     Es regnet in Strömen. Dabei ist angeblich Hochsom­mer. Aber davon spürt er nichts. Das entscheidende Kri­terium dafür, ob wirklich Sommer ist, ist doch, ob man die Socken aus hat. Er hat sie an. Auf der ganzen Fahrt hat er von Eifel, Lothringen, Burgund kaum etwas gese­hen, nur Regen, Nebel und die kratzenden Bewegungen des Scheibenwischers auf der Frontscheibe. Er schlägt den Kragen seiner Jeansjacke hoch und steigt aus. 95 Oktan? 98 Oktan? Verflixt, immer die gleiche Schwierig­keit. Warum steht da nicht Super? Aber Normal gibt’s ja nicht bei französischen Autos. Also muss 95 Super sein, was auch immer dann 98 sein soll. Er tankt den alten Fiesta voll. Dann durch den Regen rüber zur Kassiererin im Glashäuschen. „Trois!“ Er hasst lange Sätze, beson­ders auf Französisch. Er liebt die französische Sprache und lauscht gerne ihrer Melodie und Dramatik. Aber beim Sprechen hat er eine schwere Zunge und einen ziemlich eingeschränkten Wortschatz. Bestellen, bezahlen - das geht, aber für richtige Unterhaltungen und ganze Sätze ist sein Französisch zu schlecht. Leider.

     Auf der Anzeigetafel erscheint der Betrag: 53,42 €. Er reicht seine EC-Karte durch das Glas und wartet darauf, seine Geheimzahl eintippen zu können. Ab und zu über­fällt ihn heißkalt aus dem Nichts die Befürchtung, er würde irgendwann einmal am Schalter stehen und die Nummer wäre aus seinem Hirn getilgt. Nein, er weiß sie noch. Beruhigend. Aber der Apparat streikt anscheinend. Das blasse Mädchen hinter dem Glas murmelt „Désolée!“ und beginnt die Prozedur von vorne. Nach dem dritten vergeblichen Versuch erklärt sie ihm etwas auf Franzö­sisch, das nur bedeuten kann, dass seine Karte nicht funktioniert. Er kramt in seinem Portemonnaie, bekommt aber nur etwas mehr als 40 Euro zusammen. Er hat zu Hause völlig vergessen, seine Bargeldkasse aufzufüllen und sich ganz auf seine Karte verlassen, die bisher immer reibungslos funktioniert hat. Das blasse Mädchen sagt weitere wohltönende Dinge, die er nicht versteht und hantiert noch einmal mit seiner Karte, reibt den Magnet­streifen vorher an ihrem Sweatshirt blank. Wieder ohne Erfolg. Jetzt zuckt sie mit den Schultern, das Lächeln ist inzwischen aus ihrem Gesicht verschwunden. Auch bei ihm breitet sich langsam Nervosität aus. Wie soll es jetzt weitergehen?

Aus dem regengrauen Hintergrund des Tank-Kiosks hat sich eine Gestalt gelöst, die näher kommt. „You have any problem?“ fragt eine weibliche Stimme in wunder­schönem französischen Englisch. Jaschek schaut zur Seite und sieht einen roten Lockenkopf mit lustig blitzenden Augen. Er erklärt, was sein Problem ist. Die junge Frau strahlt: „That’s no problem!“, zieht einen Zehn-Euro­schein aus ihrer Jeans und reicht ihn Jaschek herüber. Der bedankt sich vor Verlegenheit und Freude auf Englisch und Französisch gleichzeitig, bezahlt seine Tankrechnung beim blassen Kassenmädchen, das jetzt auch wieder strahlt, und fragt seine Retterin, wie er das wieder gut­machen könne. „Oh, my friend and I have to be in Sète tonight and need a lift. Can we go with you?“

     Das wiederum ist für Jaschek gar kein Problem, er fährt ja allein und freut sich über nette Gesellschaft, die ihn bis zum Mittelmeer wachhalten wird. Was ihn kurz­zeitig etwas irritiert, ist die Tatsache, dass der Freund bei Jascheks Fiesta steht und auch das Gepäck schon vor dem Kofferraum aufgebaut hat. Aber beide, die Locken­frau und ihr Freund, sind von einer so entwaffnenden Freundlichkeit, dass Jascheks Bedenken schnell verflie­gen. Madeleine, so heißt die Frau, setzt sich zu Jaschek nach vorn. Julio, ihr Begleiter, teilt sich die Rückbank mit seinem Seesack und Jascheks Gitarre. Madeleine und Ju­lio sind ausgesprochen amüsante, anregende und auf­merksame Konversationspartner - wie geschaffen, um Ja­schek die lange Fahrt auf der Autobahn in den Süden zu verkürzen. Die Kilometer scheinen dahinzufliegen und seine Stimmung wird immer gelöster und fröhlicher.

     „Hey, Jaschek, is that your real name?“

     „I’m only Jaschek, everybody calls me so.“

     „It sounds not very German.“

     „My grandfather’s father came from Poland.“

Jaschek weiß bald alles über Madeleines fünf Brüder und Julios Weltreisen und erzählt ihnen von seiner Arbeit als Redakteur und von seinem Freund Schorsch, der schon im Ferienhäuschen am Herault auf ihn wartet. Madeleine versteht es immer wieder, das Gespräch in Gang zu hal­ten. Sie hat eine glockenhelle Stimme, die nie schrill wird, sondern sich angenehm und leicht in Jascheks Gehör­gänge schmeichelt. Mehrmals ertappt sich Jaschek dabei, der Melodie ihrer Stimme zu lauschen und dabei den Inhalt zu vernachlässigen. Madeleine scheint das zu be­merken und fragt nach: „Hey, Jaschek, are you sure you’re listening to me?“

     „I’m listening to every single word you say, Made­leine. But sometimes I listen to your melody and then I miss some words. Sorry!“

     „You’re listening to my melody? That’s funny, Jaschek!“

Hier mischt sich Julio von hinten ein: „If Jaschek is listen­ing to your melody, you might as well sing!“

     Jaschek schmunzelt, Madeleine blinzelt fragend zu ihm hinüber und fängt direkt an zu singen, einfach so, was ihr gerade in den Sinn kommt. Bald fällt Julio von hinten mit einem sanften Bariton ein und Jaschek summt den Bass dazu. Bei einem Lied kann er sogar mitsingen, das hat er früher mit seinen Kindern im Urlaub oft gesungen: „Un kilo­mètre à pied, ça use, ça use, un kilomètre à pied, ça use le solier ...“

     Jaschek ist glücklich und in bester Ferienlaune. Der Regen hat, wie so oft hinter Lyon, inzwischen aufgehört, die Abendsonne bescheint die provenzalischen Berge, Burgen und Dörfer und verzaubert sie mit ihrem rot-goldenen Licht. Gleich klumpenweise fällt der Alltags­stress und die Anspannung der letzten Monate von Jaschek ab und löst sich wie das schlechte Wetter in der Abendsonne in Wohlgefallen auf. Er genießt diese Fahrt Kilometer für Kilometer, von ihm aus könnte sie immer so weitergehen. Wie lange ist das her, dass er das letzte Mal Tramper mitgenommen hat? Jahrzehnte bestimmt! Es gibt ja kaum noch welche. Und dann gleich so ein Glücksgriff! Zwei junge Leute, die eine so ansteckende Art von Fröhlichkeit ausstrahlen, dass man wie verwan­delt wird. Jaschek fühlt sich schon auf der Hinfahrt zu seinem Urlaub vollständig erholt.

     Madeleine dreht jetzt das Autoradio an. Jaschek fragt sie, ob sie nach „travel information“ suche und überlegt, was Stau wohl auf Englisch heißt. Madeleine lacht ihr kleines, übermütiges Lachen und sagt: „You need travel information?“

     Dabei blitzen ihre Augen hell auf. „Ask me, I give you travel information: The sun is shining, the view is fantastique, and on the ‘Autoroute du Sud’ there is a little German car on its way to the big ocean with a very nice and good-looking German driver called Ja­schek“ - jetzt zieht sie die Nase kraus und versucht, ihre Stimme ganz tief zu machen - „who has a very dark voice.“

     Jaschek merkt, wie er rot anläuft. In seinem Alter, mit über 50, bekommt man nicht mehr allzu oft Kompli­mente. Genauer gesagt, so gut wie gar nicht mehr. Wenn man mal absieht von so seltsamen Bemerkungen wie: Man hätte sich ganz gut gehalten für sein Alter. Sein ehe­mals dunkelbraunes Haar ist inzwischen silbern, das gibt ihm immerhin etwas Seriöses, okay. Aber um die Hüften hat sich ein kleiner Rettungsring abgelagert, den seine Frau Jule liebevoll „Hüftgold“ nennt. Auch sein Bäuch­lein verrät, dass er gerne gut isst und trinkt. Beim Baden zieht er sein T-Shirt erst immer ganz zum Schluss aus, weil ihm Hüftgold und Bäuchlein peinlich sind. Aber das sieht Madeleine ja jetzt nicht, alles ist schön verpackt unter dem weiten T-Shirt.

     Jaschek lächelt und antwortet: „But he’s not alone in his little red German car, there also are a nice young man with black curls and the prettiest French girl you can imagine. She has a sweet voice which makes your heart singing all the time ...“

     Madeleine strahlt ihn an und gibt ihm einen dicken Kuss auf die rechte Wange. Jaschek läuft zum zweiten Mal rot an, während Madeleine zwitschert: „Oh yes, singing!“ und den Senderknopf des mittelalterlichen Ra­dios weiterdreht, bis sie gefunden hat, was sie sucht: „Ella elle l’a - dü dü di dü, dü di dü, Ella elle l’a“ singt sie aus vollem Hals mit France Gall zusammen. Julio und Jaschek bilden dazu den Background-Chor.

Kurz hinter Montpellier macht Madeleine den Vorschlag, von der Autobahn abzufahren und auf der Landstraße weiter bis Sète zu fahren. Dort soll Jaschek die beiden ab­setzen, damit sie mit der Fähre nach Marokko übersetzen können. Jaschek würde dann von dort aus noch etwa eine halbe Stunde brauchen, bis er beim Ferienhaus sei­nes Freundes ist. Den kleinen Schlenker nach Sète macht er natürlich gerne, weil er Madeleine nicht nur zehn Euro schuldet, sondern jeden erdenklichen Gefallen tun wür­de, Hauptsache, sie bleibt hier noch ein bisschen neben ihm im Auto und zwitschert. Julio scheint es gewohnt zu sein, sich diskret im Hintergrund zu halten. Er zeigt jedenfalls keine Anzeichen von Eifersucht. „Blöder Ge­danke, bloß weil er Sizilianer ist, muss er ja nicht sofort ein Messer zücken, wenn seine Freundin mich küsst!“ murmelt Jaschek vor sich hin.

     „Dit-moi, what did you say?“ flötet Madeleine.

     Jaschek wird zum dritten Mal rot und stottert, er habe „bloß laut gedacht“.

     Um abzulenken, fragt er, wie weit es bis zur nächsten Ausfahrt ist.

     „Wir fahren nicht an der Ausfahrt raus, das ist zu teuer!“ verkündet Madeleine fröhlich. Gleich käme rechts eine große Baustelle, und eines der Baustellentore sei abends meistens nicht abgeschlossen. Sie hätten diese kleine Abkürzung schon öfter benutzt und dabei viel Geld gespart, denn die Autobahngebühren seien doch wirklich unverschämt hoch. Das findet Jaschek auch, aber er weiß nicht recht, ob er sich auf dieses Spiel ein­lassen soll, dafür ist er eigentlich etwas zu alt und zu ängstlich. Da fällt ihm siedend heiß ein, dass er ja kein Geld dabei hat und seine Karte streikt. Er  m u s s  sich darauf einlassen, er hat gar keine andere Chance!

     Alles geht gut so weit: An der besagten Stelle fährt er langsam rechts auf den Standstreifen hinüber, Madeleine hält Ausschau nach dem Tor. Da ist es! Jaschek stoppt und stellt die Warnblinker an. Sein Herz klopft bis zur Halsschlagader. Julio springt aus dem Auto und öffnet das Tor, das tatsächlich unverschlossen ist. Jaschek lenkt sein Auto mit zitternden Händen hindurch und wartet dann auf Julio, der das Tor wieder schließt und ins Auto hüpft. Jaschek schaut sich noch einmal um. Kein Auto ist stehen geblieben. Der Verkehr rauscht in beiden Richtun­gen ganz normal vorbei. Sein heftig hüpfendes Herz be­ruhigt sich langsam wieder. Langsam fährt er auf dem sandigen Baustellenweg weiter, Madeleine dirigiert ihn. Nur noch da vorne um die Ecke, dann sind sie schon auf der Landstraße. Jascheks Hände zittern immer noch ein bisschen. Madeleine lacht: „Poor Jaschek, don’t be afraid! It’s not illegal, you just have no money!“

     Um ihn zu trös­ten, legt sie ihre linke Hand auf seine rechte, die sich ans Lenkrad klammert. Jaschek lächelt tapfer zu ihr hinüber, fährt um die Kurve - und da stehen sie, mit Blaulicht!

Madeleine schreit „Zut!“ und ist blitzschnell aus dem noch ausrollenden Auto gesprungen. Julio versucht das gleiche hinten mit dem Seesack, stolpert aber und bleibt neben dem Auto liegen. Im Nu sind die beiden Flics da, kaum hat Jaschek den Motor ausgeschaltet und die Handbremse gezogen, hat schon einer mit gezückter Pis­tole die Tür aufgerissen und schreit Jaschek an. Der versteht kein Wort, hebt aber vorsichtshalber beide Arme nach oben und klettert vorsichtig wie in Zeitlupe aus sei­nem Wagen. Der andere Polizist hat inzwischen Julio, der immer noch am Boden liegt, Handschellen angelegt und rennt in die Richtung, in der Madeleine verschwunden ist. Auch Jaschek werden jetzt die Arme auf den Rücken gerissen, das tut höllisch weh, und mit einem hässlichen metallischen Klick schnappen die Handschellen zu.

     Beide Männer werden in das Polizeiauto gebracht, in dem es dermaßen stickig ist und nach Schweiß stinkt, dass Jaschek übel wird. Während der Polizist sein Auto inspiziert und alles Gepäck aus dem Inneren hinaus in den Sand wirft, flucht Julio in einem fort und schüttelt immer wieder den Kopf. Plötzlich hält er inne, schaut zu Jaschek hinüber und sagt: „I hope she is fast enough. They should not catch her!“

     Jaschek nickt zustimmend und fängt wieder an zu zittern, gleichzeitig ist ihm hundeübel vor Angst und vom Schweißgeruch. Der Flic hat nach einer Weile anscheinend erfolglos sein Reise­gepäck durchwühlt, schleppt nun den Seesack heran und fragt Julio, ob das seiner wäre. Julio bejaht. Während der Polizist den kompletten Inhalt in den Sand kippt und darin herumwühlt, fragt Jaschek leise seinen Nachbarn: „Is there anything illegal in there?“

     „Oh, not really. Only drugs, lots of medicine and stolen passports...“

     Auf Jascheks entsetzten Blick hin lächelt er beschwich­tigend und flüstert: „Sorry, it was a joke! No drugs.“

     Jascheks Gesicht ist jetzt kalkweiß, er muss würgen und übergibt sich, bevor er ohnmächtig auf seinem Sitz zusammensackt.

Als er wieder zu sich kommt, liegt er auf der Seite vor dem Polizeiwagen im Sand. Sofort erkennt Jaschek, wo der beißende Schweißgeruch herkommt: Der zweite, dicke Polizist ist zurück, steht direkt neben Jaschek, und stinkt erbärmlich. So erbärmlich, dass es sogar den schar­fen Geruch von Kotze auf Jascheks Klamotten übertönt. Der Dicke scheint sehr wütend zu sein und tritt auf Julio ein, der ebenfalls auf dem Boden liegt, ein Stück weiter weg von Jaschek. Julio scheint das nicht allzu viel auszu­machen, ja er zwinkert Jaschek sogar zu und formt mit seinen Lippen den Namen „Madeleine“ und spitzt dann den Mund, als wolle er pfeifen. Jaschek versteht sofort: Madeleine ist dem Dicken davongeflogen, das macht den so wütend, und wahrscheinlich auch die Tatsache, dass der Polizeiwagen vollgekotzt ist.

Montpellier

Jaschek lässt alles über sich ergehen: Fingerabdrücke, Fo­tos, Fragen und Aufforderungen, die er meistens nicht versteht und mit: „Je suis Allemand. Je ne comprends pas!“ beantwortet. Englisch spricht man hier nicht oder man will es nicht sprechen. Wer nicht Französisch kann, hat ein Problem. So ist das eben, wenn man in Frankreich straffällig wird, denkt Jaschek. Er fühlt sich fast willenlos, wie ein Automat. Oder besser wie ein Schauspieler, der den schlechten Film, in dem er spielt, nicht so richtig versteht. Sein Handy hat man ihm abgenommen, der Akku ist wahrscheinlich sowieso leer. Man hat ihn schließlich in eine dunkle Einzelzelle gesteckt, die stark nach Desinfektionsmittel riecht. Das übertüncht etwas den säuerlichen Geruch seines T-Shirts und tröstet ihn ein wenig: Hier tut man etwas für die Hygiene!

     Er legt sich auf die Pritsche und versucht zu schlafen. Dies gelingt ihm nicht, ständig kreisen die Gedanken in seinem Kopf wie ein Fliegenschwarm: Wie ist er bloß hier hineingeraten in diese Polizeizelle in Montpellier? Und wie kommt er hier wieder heil heraus? Wie kann er seine Unschuld beweisen? Sind Madeleine und Julio Krimi­nelle? Haben sie versucht, gefälschte Pässe und Medizin nach Marokko zu schmuggeln? Wozu? Und was hat er damit zu tun? Er muss dringend nach Hause telefo­nieren. Und er muss versuchen, seinen Freund Schorsch zu erreichen, der wird hierher kommen, der kann gut Französisch, der ist Rechtsanwalt, der kann ihm aus dieser fürchterlichen Situation heraushelfen.

     Nachdem er diese Gedankenkette einige Dutzend Male durchgegangen ist, schläft er schließlich vor Er­schöpfung ein. Er wird geweckt, als ein Mann die Türe aufschließt und ihn mit „Bonjour Monsieur!“ begrüßt. Das erste freundliche Wort, das er hier hört. Jaschek er­widert den Gruß und setzt sich auf seiner Pritsche auf. Der Mann stellt sich als Kommissar Rozin vor und spricht sehr langsam und freundlich, wiederholt, was Ja­schek nicht versteht und hilft ihm sogar ab und zu mit ein paar Brocken Englisch auf die Sprünge. Er fragt nach Madeleine und Julio und Jaschek versucht, so gut es geht, ihm auf Französisch und Englisch die kurze Geschichte ihres Zusammentreffens zu erzählen.

     Jaschek ist manchmal nicht sicher, ob der Kommissar wirklich alles versteht, aber Rozin lässt sich nichts an­merken und wird auch nicht ungeduldig, wenn Jaschek länger für seine Erklärungen braucht. Jaschek hat den Eindruck: Dieser Mann hat Verständnis für meine Situation, der glaubt nicht, dass ich irgendetwas mit kriminellen Ma­chenschaften zu tun haben könnte. Nur das Ende scheint ihm gar nicht zu gefallen: Warum Jaschek denn um Him­mels Willen die Autobahn verlassen habe, ohne zu bezah­len? Das fragt er mehrmals. Jascheks Antwort, er habe kein Geld gehabt, sein letztes Geld habe er beim Tanken in Dijon ausgegeben, will er nicht so recht glauben. Ob er denn nicht gewusst habe, dass dieser Piazza - so heißt Julio anscheinend mit Nachnamen - 5000 Euro in großen Scheinen bei sich gehabt habe? „Wie sollte ich das denn wissen, ich habe ihn doch gar nicht gekannt! Man erzählt doch einem Fremden nicht sofort, wie viel Geld man da­bei hat!“

     Bei der Verabschiedung verspricht Rozin, ihm ein „petit déjeuner“ und ein Telefon vorbeibringen zu lassen, damit er seine Familie verständigen kann. Eine Viertel­stunde später öffnet sich die Tür erneut, ein Polizist bringt ihm ein halbes Baguette, eine Schale mit Milch­kaffee und ein Telefon. Jaschek darf unter Aufsicht fünf Minuten zu Hause anrufen. Seine Frau Jule ist schon ar­beiten, aber sein jüngster Sohn ist noch da, er hat den Bus zur Schule verpasst. „Tim, du musst mir helfen. Dein Vater sitzt hier in Montpellier in Untersuchungshaft und braucht dringend die Handynummer von Schorsch, da­mit der herkommt und mich hier rausholt!“

     Er staunt, wie sein Sohn reagiert: „Im Gefängnis? Echt? Ist ja geil!“

     Und nach einer kurzen Bedenkpause: „Klar, Papa, ich mach das schon, keine Sorge, ich find die Nummer heraus und rufe Schorsch an. Wo sagst du, sitzt du?“

     Jaschek fragt den Aufseher nach der Straße und gibt die Information weiter. „Tim, ich muss Schluss machen, ich verlass mich auf dich!“

     „Mach dir keine Sorgen, Papa. Jetzt hab ich auch ‘ne vernünftige Erklärung, warum ich zu spät zur Schule komme. Ciao, bleib tapfer!“

     „Nein Tim, nicht weitererzählen ...“ - aber da hat sein Sohn schon aufgelegt. Jaschek hofft, dass Tim die Verbin­dung zu Schorsch schnell herstellen kann, hat aber ein gutes Gefühl dabei und tunkt erst einmal sein Baguette in den Milchkaffee. Der ist nur noch mäßig warm, tut aber trotzdem gut.

Zwei Stunden später steht Schorsch in der Tür, die bei­den umarmen sich innig und ausdauernd. Jaschek vergießt vor Erleichterung und Freude ein paar Tränen und Schorsch stammelt nur: „Dass ich so was erleben muss, mein Freund Jaschek im Gefängnis - das gibt’s doch gar nicht!“ Jaschek erzählt ihm haarklein die ganze verzwickte Geschichte und Schorsch hört ihm kopf­schüttelnd zu.

     „Schade, dass du mir diese Madeleine nicht vorstellen willst, mein Lieber, wo hast du die denn versteckt?“ scherzt Schorsch und kommentiert abschließend: „Das ist ja mal ein richtiges Abenteuer, leider aber auch eine richtige Scheiße, in die du dich da reingeritten hast!“

     Schorsch erzählt seinem Freund, er habe sich als An­walt schon angemeldet und eine kurze Unterredung mit Rozin gehabt, er habe den Eindruck, dass der die Ange­legenheit schnell und unbürokratisch über die Bühne bringen wolle. Natürlich werde er um eine Geldstrafe nicht herumkommen und sich für weitere Nachfragen und Ermittlungen zur Verfügung halten müssen. Schließ­lich gehe es um Geldwäsche, Drogen und um eine Bande von Schleusern, die Marokkaner mit gefälschten Papieren nach Frankreich holen würden - und da seien die Fran­zosen sehr empfindlich. Aber er müsse jetzt den Termin am Nachmittag beim Haftrichter mit Anstand hinter sich bringen und dann würde er doch sehr hoffen, ihn danach in sein Ferienhaus mitnehmen zu können. Das Auto wür­den sie dann später nachholen, das würde erst einmal nach allen Regeln der Kunst auseinander genommen.

     „Prima, die Inspektion war eh schon lange fällig!“ flachst Jaschek und Schorsch grinst breit: „Er kann schon wieder lachen, das freut mich, bald haben wir dich hier raus. Ich muss jetzt erst einmal ein paar Telefonate mit französischen Kollegen tätigen und mich schlau machen, wie das hier in Frankreich so läuft. Hast du einen Wunsch, soll ich dir was mitbringen?“

     „Bring mir doch bitte ein sauberes T-Shirt mit, das hier stinkt!“

     „Das ist mir auch schon aufgefallen, dass du stinkst, aber ich wollte nicht unhöflich sein! Irgendwas zu essen?“

     „Danke, nein. Ich bin zu aufgeregt zum Essen. Mein Magen hat sich zu einem Klumpen zusammengezogen. Heute Nachmittag geht’s mir hoffentlich wieder besser, wenn dieser Alptraum hier vorbei ist.“

     „Da bin ich sicher! Kopf hoch, mein Lieber! Bis nachher!“

Als Jaschek wieder allein in seiner Zelle hockt, dreht sich alles in seinem Kopf: Geldwäsche - Drogen - gefälschte Papiere - Marokko - Schleuser - Haftrichter - und er mittendrin, ohne richtig zu wissen, wie er da eigentlich hineingeraten ist. Hätte er doch an dieser vermaledeiten Raststätte in Dijon nicht getankt! Hätte, hätte, hätte. Das nutzt jetzt auch nichts mehr. Und andererseits: Er hätte dann Madeleine und einige der fröhlichsten und unbe­schwertesten Stunden seines Lebens verpasst ...

     Mit diesen Gedanken und einem seligen Lächeln auf den Lippen fällt er in einen erst tiefen, dann traum­reichen Schlaf, in dem er sich an Bord eines kleinen roten Bootes wiederfindet, das ohne Sprit auf den Meeres­wellen treibt und so heftig hin- und herschaukelt, dass es umzukippen droht. Ihm ist schlecht und er beugt sich weit über die Reling. Dabei verliert er das Gleichgewicht und stürzt ins Wasser. Seine schweren Anziehsachen ziehen ihn wie Blei nach unten, seltsamerweise bleibt er ganz ruhig und denkt: Na schön, guckst du dich mal hier unten ein bisschen um! Alles erscheint ihm äußerst interessant, und ganz unten auf dem Meeresgrund winkt ihn eine wunderschöne Nixe, die eine erstaunliche Ähn­lichkeit mit Madeleine hat, mit der Hand herbei. Aber als er sie fast erreicht hat, verwandelt sich die Hand in eine Pistole und die schöne Nixe in einen dicken Polizisten, der nach Schweiß stinkt. Verärgert reißt Jaschek die Au­gen auf: Vor ihm steht der Dicke mit einem breiten, selbstgefälligen Grinsen und dünstet aus.

     Er winkt ihm mit der Hand, er solle ihm folgen und führt ihn durch dunkle Gänge. Dann flüstert er ihm ins Ohr: „Bonne chance, Monsieur!“ und schubst ihn mit einem gehässigen kleinen Lachen in das Besucherzim­mer, wo schon Schorsch wartet. Schorsch sieht überhaupt nicht glücklich aus, stürzt auf ihn zu und stößt hervor: „Irgendetwas stimmt hier nicht. Es scheint Indizien zu geben, die deine Haftentlassung unmöglich machen. Hast du mir irgendwas verschwiegen?“

     Jaschek erstarrt, denkt nach und schüttelt dann vehement den Kopf: „Nein, das würde ich doch nicht tun, Schorsch! Warum sollte ich dir denn was verschweigen, ich vertrau dir doch!“

     „Dann werden wir uns jetzt mal anhören, was der Haftrichter in der Hinterhand hat. Bitte rede du nur auf Deutsch, ich übersetze alles.“

Komplikationen

„Monsieur Jaschek, kannten Sie Mademoiselle Madeleine Guignebert?“

     „Nein, Monsieur, ich habe sie erst gestern Nachmittag kennengelernt, als ich sie und ihren Freund im Auto von Dijon nach Montpellier mitgenommen habe.“

     „Dann verhält es sich mit Monsieur Piazza ebenso?“

     „Wenn Sie damit ihren Freund Julio meinen, ja, Mon­sieur.“

     „Haben Sie gesehen, was in dem Seesack war, oder haben Sie mit den beiden darüber gesprochen?“

     „Nein, Monsieur, wir haben über alles Mögliche ge­sprochen, aber nicht darüber.“

     „Dann wussten Sie also nicht, dass die beiden ge­fälschte Pässe, Medikamente und größere Geldmengen mit sich führten?“

     „Nein, Monsieur. Mademoiselle Madeleine half mir beim Tanken freundlicherweise mit einem Zehn-Euro­schein aus, ich hoffe, dass das kein Falschgeld war.“

     „Haben die beiden mit Ihnen oder in Ihrem Beisein über ihre weiteren Pläne gesprochen?“

     „Nein, Monsieur. Sie wollten nach Sète gebracht wer­den, und da sie mir ausgesprochen nett und vertrauens­würdig erschienen, wollte ich sie auch dorthin bringen. Was sie dort wollten, ist mir nicht bekannt.“

     „Warum halten Sie sich in Frankreich auf?“

     „Ich wollte meinen Freund Georg Krafeld in seinem Ferienhaus in Le Pouget besuchen, er sitzt hier vor Ihnen und kann das bestätigen.“

     „Sind Sie in Deutschland vorbestraft?“

     „Nein, Monsieur, ich stehe zum ersten Mal vor einem Richter.“

     „Sie wissen, dass Sie gegen Gesetze des französischen Staates verstoßen haben?“

     „Ja, Monsieur, ich habe mich leider dazu verleiten las­sen, die Autobahn durch eine Baustellenausfahrt zu ver­lassen.“

     „Warum haben Sie dies getan?“

     „Es tut mir aufrichtig leid, Monsieur. Ich hatte kein Bargeld mehr bei mir und meine EC-Karte hatte beim Tanken in Dijon nicht funktioniert. Das ist mir noch nie passiert. Ich hatte mein letztes Bargeld und die 10 Euro von Mademoiselle Madeleine beim Tanken ausgegeben und völlig vergessen, dass ich ja später noch die Auto­bahn bezahlen muss. Ich bin einfach nicht daran ge­wöhnt. In Deutschland gibt es keine Autobahngebühr.“

     „Woher wussten Sie von dem Baustellentor?“

     „Von Mademoiselle Madeleine, Monsieur. Sie gab mir den Tipp und ich war ihr sehr dankbar dafür, denn sonst hätte ich nicht gewusst, wie ich von der Autobahn wieder heruntergekommen wäre.“

An dieser Stelle guckt Schorsch ärgerlich zu Jaschek herüber und schüttelt den Kopf. Der Richter wiegt eben­falls bedenklich das Haupt und setzt nach: „Sie meinen also, Sie hätten keine andere Möglichkeit gehabt, als ille­gal durch eine Baustellenausfahrt zu fahren?“

     „Entschuldigen Sie, Monsieur, wenn das vielleicht missverständlich klang. Ich war in Panik, mir wurde erst in diesem Moment klar, dass ich ja gar nicht bezahlen konnte, und da ließ ich mich zu dieser Kurzschlusshand­lung verleiten, unglücklicherweise.“

     „Nun, Monsieur, Sie werden sich dafür verantworten müssen, denn es gab keinen Grund, sich so zu verhalten. In den anderen Punkten vertraue ich vorerst dem, was Sie hier dargelegt haben. Die Untersuchung Ihres Wa­gens hat keine Anzeichen dafür ergeben, dass Sie in die kriminellen Machenschaften der beiden anderen mit ver­strickt sind. Er kann morgen früh hier im Präsidium abgeholt werden.“

     „Danke, Monsieur, da bin ich aber außerordentlich er­leichtert. Dann kann mich Herr Krafeld heute mitnehmen nach Le Pouget?“

     „Das könnte er schon, wenn da nicht noch eine Sache wäre ...“

Und jetzt kommt es knüppeldick: Schorschs und Jascheks erleichtertes Lächeln versteinert in Sekunden, als der Haft­richter darlegt, warum Jaschek weiterhin in Untersu­chungshaft bleiben wird: „Monsieur Jaschek, beim Ab­gleich Ihrer Fingerabdrücke in unsrer Datei sind wir auf eine eindeutige Übereinstimmung gestoßen mit Finger­abdrücken, die bei einem ungeklärten Raubmord gesi­chert wurden, der vor 29 Jahren passierte. Haben Sie sich im Sommer 1982 in Frankreich aufgehalten?“