Jedermannfluch - Manfred Baumann - E-Book

Jedermannfluch E-Book

Manfred Baumann

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  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Das berühmte Jedermann-Spiel der Salzburger Festspiele - ein großartiges Spektakel. Der Tod erscheint auf der Bühne, holt den reichen Lebemann. Doch bald darauf zeigt sich der Tod schon wieder. Dieses Mal in der Wirklichkeit. Eine junge Schauspielerin aus der Jedermann-Gesellschaft wird brutal ermordet. Erneut muss Kommissar Merana in der von versteckten Geheimnissen durchdrungenen Welt der Festspiele ermitteln. Da schlägt der Tod wieder zu …

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Seitenzahl: 308

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Manfred Baumann

Jedermannfluch

Meranas achter Fall

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2020

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Bogdan Sonjachnyj / shutterstock.com

ISBN 978-3-8392-6584-0

VORSPIEL

1. Szene, Gegenwart

Jetzt habet allsamt Achtung, Leut!

Und hört, was wir vorstellen heut!

»Jeeedeermaaaann!«

Der geröchelte Schrei zappelte über die Köpfe der Zuschauer hinweg, schwirrte nach vorn, erreichte den aufgestellten Theaterwagen. Heiterkeit machte sich breit in der dicht gedrängten Besucherschar. Einige wandten sofort den Blick nach hinten. Von wo kam denn dieser wunderlich röchelnde Schrei? Es hörte sich an, als litte der Rufer unter eklatanter Heiserkeit. Köpfe wurden gereckt, Kleinkinder an Schultern gefasst und in die Höhe gestemmt. Da! Einige der hochgelupften Kinder streckten die Arme aus. Sie hatten den schrulligen Rufer entdeckt. Mitten unter den Zuschauern. Er stand neben einem Baum. Der Kerl mit der struppeligen Frisur formte erneut die Hände zu einem Trichter vor dem Mund.

»Jeeedeermaaaaaaaaann!« Jetzt erschallte der Ruf in einer völlig anderen Tonlage. Nicht mehr heiser, sondern ulkig gesäuselt. Die Stimme erinnerte irgendwie an eine jammernde Sirene.

»Was soll das?« Ein zorniger Schrei war zu hören. Er kam von vorne. Alle, die nach hinten äugten, rissen schnell die Köpfe nach vorne, schauten belustigt zum großen Theaterwagen, der vor dem stattlichen Gebäude stand. Mit lautem Knall flog die Kulissentür auf. Heraus stapfte eine Frau. Sie war sichtlich erbost. Offenbar war sie gerade beim Ankleiden gestört worden. Mit der Rechten hielt sie eine elegante Jacke umklammert. Die Linke nestelte an ihrem Bauch. Sie versuchte fieberhaft, den unteren Rand ihrer viel zu weiten silberfarbenen Bluse in die schlecht sitzende Bügelfaltenhose zu stopfen. Gleichzeitig schickten ihre weit aufgerissenen Augen zornige Blicke in Richtung Zuschauer. Unversehens ließ sie das chaotische Blusenstopfen sein. Die frei gewordene Hand fuchtelte wild durch die Luft.

»Habt ihr mich nicht verstanden? Ich fragte, was das soll. Wer schreit hier?«

»Äh … ich.« Aus der jammernden Sirene war ein klägliches Piepsen geworden. Wieder rissen viele der Besucher rasch die Köpfe nach hinten, nahmen den wuschelköpfigen Typen erneut ins Visier. Er stand immer noch neben dem Baum. Er hielt mit gespielter Schüchternheit die Hand in die Höhe.

»Ich war das. Jeeedeermaaann.« Erneut röchelte er. Die Frau auf der Bühne drohte ihm mit ausgestrecktem Zeigefinger.

»Bist du des Wahnsinns? Falsches Stück, falscher Text! Völlig falsche Stadt!« Sie hielt plötzlich in ihrer fuchtelnden Bewegung inne, schaute nach links, dann nach rechts. Sie musterte übertrieben prüfend die Umgebung.

»Na ja, so ganz völlig falsch wohl auch nicht.« Mit einem Mal war ihr Tonfall gefällig.

Den Zuschauern, die sie eben angeschnauzt hatte, wandte sie sich jetzt mit einem strahlenden Lächeln zu.

»Also die Stadt, finde ich, die passt schon so halbwegs. Was meint ihr?« Zustimmung wurde laut, freudige Ja-Rufe. Einige begannen zu jubeln, andere klatschten.

»Also gut, nehmen wir die Stadt, in der wir sind. Aber …« Schon änderte sich ihre behagliche Miene. Die linke Faust zischte durch die Luft, drohte in Richtung des Mannes.

»Aber dein komplett schwachsinniger Text ist hier völlig fehl am Platz!« Betont langsam hob sie die rechte Hand in die Höhe, präsentierte mit elegantem Schwung ihre modisch stilvolle Jacke. Sie schlüpfte in das Kleidungsstück. Jede Bewegung sollte die Eleganz ihrer Erscheinung unterstreichen.

»Also …« Auffordernd reckte sie das Kinn in Richtung des Mannes. Zugleich wies sie mit der Linken in weit ausladender Bewegung zur Front der Theaterkulisse.

»Mein Haus hat ein gut’ Ansehen.

Alles ist stattlich. Wohin ich auch schau.

Bin vornehm und reich!« Sie breitete die Arme aus, deutete eine Verbeugung an.

»Denn ich bin …«

Ihre Augen schossen auf den Wuschelköpfigen zu. Der zuckte zusammen. Dann legte er betont lässig die Hände an beide Seiten des Mundes. Gleich darauf fegte sein Ruf über den Platz. Nun war es ein deutlich hörbarer Schrei. Laut. Mächtig.

»Jeeedeerfrauuuu!«

Das Lachen der Zuschauer schäumte auf wie eine große Welle. Einige in den ersten Reihen stimmten in das Geschehen mit ein und begannen ebenfalls zu rufen.

»Jederfrau! Jederfrau!«

Die Darstellerin auf der Bühne quittierte das Geschehen mit einer makellos weltgewandten Verbeugung.

»Na also, es geht doch!« Dann wandte sie sich schnell um, denn in der immer noch weit geöffneten Kulissentür war eine weitere Person erschienen. Erneut eine Frau. Sie erwies sich als Leiterin des Sekretariats auf Chefinnenetage und zugleich als Hausmanagerin, wie sich im Dialog bald herausstellte.

Gut 200 Besucher und Besucherinnen hatten sich an diesem sonnigen Spätnachmittag auf dem prächtigen Gelände vor dem schlossartigen stattlichen Gebäude des Gwandhauses in Salzburg-Morzg eingefunden. Sie alle wollten das Spektakel der Theatertruppe erleben. Darunter auch viele Kinder. Im hinteren Drittel des Zuschauer­bereichs war eine junge Frau auszumachen. Sie war erst knapp vor Beginn der Darbietung gekommen. Ihre Präsenz war auf gewisse Weise attraktiv. Einige der Umstehenden warfen immer wieder einen schnellen Blick in ihre Richtung. So als wollten sie abchecken, woher ihnen die reizvolle Erscheinung bekannt sein könnte. Selbstverständlich nahm Isolde Laudess das neugierige Verhalten der Umstehenden wahr. Ab und zu quittierte sie einen der Blicke mit einem Lächeln. Gleichzeitig versuchte sie, sich auf die Theaterszenen zu konzentrieren. Die quirlige Ariana in der Hauptrolle der Jederfrau machte sich gar nicht so schlecht, wie sie immer wieder feststellen musste. Weitaus besser jedenfalls als Isolde Laudess es erwartet hatte. Gut, in manchen Momenten war Arianas Spiel eher wenig überzeugend, kam viel zu übertrieben zur Geltung. Das gekünstelte Lachen erinnerte Isolde bisweilen eher an eine aufgebrachte Ziege als an die Erscheinung einer schwerreichen Powerfrau der besseren Gesellschaft. Aber vor allem die Dialoge mit der arroganten Gestalt der Tödin bekam Ariana hinreichend witzig hin. Das merkte man auch an den Reaktionen der Zuseher. Es wurde viel gelacht, immer wieder auch herzlich applaudiert. Natürlich hätte sie selbst die Szenen weitaus spektakulärer über die Bühne gebracht. Nicht nur in der Begegnung mit der Tödin, sie hätte den gesamten Auftritt von Anfang an eindrucksvoller hinbekommen. Das stand für Isolde unzweifelhaft fest. Aber sie war dennoch immer wieder vom Spiel der etwas pummeligen, aber durchaus erfrischenden Ariana angetan. Zweimal ertappte Isolde sich sogar bei einem zustimmenden Lachen. Ursprünglich hatte sie den Besuch des Straßentheaters schon viel früher ins Auge gefasst. Aber das wäre sich mit ihren eigenen Terminen bisher nicht ausgegangen. Zum Glück hatte das Spektakel rund um den Theaterkarren heute schon um 16 Uhr begonnen. So passte es ideal in Isoldes Zeitplan.

»Ei Jederfrau, ist so fröhlich dein Mut?«

»Spar dir das hochgestochene Gequatsche, Tödin.« Ariana schwenkte auf der Bühne des Theaterkarrens eine Champagnerflasche. »Lass uns darauf saufen, dass der Aufsichtsrat keinen blassen Schimmer davon hat, was wir geschäftlich so treiben.«

Sie gab die übersprudelnde Flasche ihrer Mitspielerin weiter. Die Tödin nahm einen kräftigen Schluck, dann rief sie:

»Aufsichtsrat, winke, winke.

So viel Kohle, pinke, pinke!

Drum ist klar, ich vertrau

jeden Tag auf Jeeeedeeerfrau!«

Wieder grölte ein Teil der Besucher ausgelassen mit.

Die Stimmung war ausgezeichnet, wie Isolde feststellen musste. Und das hielt an.

Der Schlussapplaus gebärdete sich enthusiastisch. Isolde beteiligte sich zwar nicht am ausgelassenen Jubel, aber sie klatschte immerhin mit. Ein wenig zumindest.

»Isolde!« Der Ruf ertönte hinter ihrem Rücken. Sie hatte gewartet, bis etwa ein Drittel der Besucher den Platz geräumt hatte. Nun war sie bereits in Richtung Morzger Straße unterwegs.

»Isolde!«

Langsam wandte sie sich um. Der junge Mann trug noch sein Auftrittskostüm, mit dem er sich zu Beginn des Spektakels den Zuschauern präsentiert hatte.

»Hi, Cyrano.«

Er hatte das Eröffnungslied auf der Laute gar nicht so schlecht hinbekommen, wie Isolde festgestellt hatte. Der Heraneilende pflanzte sich breitbeinig vor ihr auf. Alles an ihm wirkte abweisend. »Wie kannst ausgerechnet du es wagen, hierher zu kommen? Schaust dir unsere Vorstellung an, als sei nichts gewesen.«

Sie musterte ihn mit kaltem Blick. Dann krähte sie kurz auf, drehte sich um und stolzierte davon.

»Eine wie du hat hier nichts verloren.« Auch wenn ihm klar war, dass sie ihn nicht mehr hören konnte, zischte er ihr verächtlich hinterher. »Lass dich ja nie wieder in der Nähe unseres Theaterwagens blicken!«

Die Uhr an ihrem Handgelenk zeigte 17.22 Uhr. Langsam lenkte Isolde ihre Schritte zurück in Richtung Stadt. Von da an hatte sie noch genau acht Stunden und 19 Minuten zu leben. Aber das wusste sie nicht.

2. Szene, vier Monate davor

Daß ich mir wahrlich machen mag

so heut wie morgen fröhliche Tag.

Das Kribbeln in seinem Körper wurde stärker. Auch seine Hände begannen zu schwitzen. Er hielt die Augen starr auf den Bildschirm gerichtet. Das Notebook hatte er vor wenigen Minuten auf seinem vollgeräumten Schreibtisch platziert. Die herunterzählenden Ziffern schimmerten grell, pulsierten vor einem schreiend roten Hintergrund. Er hatte sich vor zwei Tagen erstmals auf dieser Seite eingeloggt. Schon damals war der Countdown gelaufen. Dazwischen hatte er sicher an die zehn Mal kontrolliert, ob sein Zugang zu dieser geheimen Seite nach wie vor passte. Ignaz hatte ihm zwar mehrmals versichert, dass er ihm die richtige Kombination gegeben hatte und dass die Codes keinesfalls geändert würden. Dennoch war er auf Nummer sicher gegangen, hatte es mehrmals überprüft. Seine Kehle brannte. Er schluckte. Der Hals fühlte sich trocken an.

03.29, 03.28, 03.27 … Er sprang vom Stuhl auf. Der Blick zum Bildschirm machte klar, dass ihm noch genug Zeit blieb, um sich eine Cola aus der Küche zu holen. Er setzte sich in Bewegung. Er hatte genau elf Sekunden gebraucht, wie er feststellte, als er mit Flasche und Glas zurückkehrte. 03.15, 03.14, 03.13. Es war ihm immer noch nicht klar, wie sie das Spektakel umsetzen würden. Ignaz hatte auch keine genauen Daten zum investierten Aufwand gewusst. »Aber ich rechne schon damit, dass rund 10.000 User aus verschiedenen Ländern Zugang zur Race-Seite erhalten«, hatte er mehrmals betont. Yannick hatte die Zahlen überschlagen. Wenn die Vermutung seines Kumpels stimmte, kam bei der geforderten Teilnahmegebühr von 25 Euro rund eine Viertelmillion Euro zusammen. Daraufhin hatte er, ohne zu zögern, den Spieleinsatz beglichen und seinen Tipp abgegeben. Sechs Fahrer waren insgesamt im Rennen. Auf den Sieger der Rennstrecke warteten 60.000 Euro. Gut, es gab natürlich einige Kosten für den betriebenen Aufwand. Aber die würden vermutlich nicht allzu hoch, wie Yannick einschätzte. Immerhin blieb genug über, dass man als Mitspieler übers Internet ordentlich abräumen konnte. Sieben mal 10.000 Euro würde man am Schluss unten jenen verlosen, die auf den richtigen Sieger getippt hatten. Yannick hatte natürlich auf Ignaz gesetzt. Was anderes kam gar nicht in Frage. 01.36, 01.34, 01.33. War die Anzeige plötzlich größer? Waren die pulsierenden Ziffern in den vergangenen Sekunden angewachsen? Er stürzte rasch den Rest der Cola hinunter. Fast wäre ihm dabei das Glas entglitten, so sehr schwitzte er inzwischen. Nervös schrammte er sich mit den nassen Handflächen über die Oberschenkel. Der Stoff der Jeans fühlte sich rau an. Er hatte die Hose schon mehr als drei Jahre. Er zog sie fast jeden Tag an. Wann hatte er sie zuletzt gewaschen? Vor drei Monaten? Wenn er tatsächlich bei diesem verrückten Wettspiel gewinnen sollte, könnte er sich Hunderte neue Jeans kaufen. Oder ein paar der ausgefallenen schrägen Designeranzüge, die er kürzlich gesehen hatte. 00.11, 00.10, 00.09, 00.08 … Er begann zu keuchen. Erneut fegte er mit den Händen über den rauen Stoff der schmutzigen Jeans. Seine Augen starrten auf den Bildschirm. 00.03, 00.02, 00.01. ZERO. Statt der Null als Ziffer flackerten feiste grellgrüne Buchstaben auf. ZERO. Die Schrift zerstob, schien zu explodieren. Schon folgte das nächste Wort. WELCOME. Auch diese flirrende Schrift löste sich spektakulär auf. Gleich darauf war ein Realbild zu erkennen. Yannick sah eine schwach erleuchtete Fläche. Es mochte sich dabei um eine Art großer Parkplatz handeln oder etwas Ähnliches. Ein Insert wurde sichtbar. VIENNA. »Wow!«, entfuhr es ihm. »Das ist ja irre.« Die starteten den ersten Teil des Rennens tatsächlich in Wien. Wo die drei Rennabschnitte tatsächlich stattfinden würden, hatte Ignaz selbst nicht gewusst. Die Fahrer erhielten die Startkoordinaten erst ganz knapp vor Beginn. Yannick beugte sich nach vorn, versuchte es mithilfe der Maus. Vielleicht konnte er dadurch die Intensität des Screens erhöhen. Denn bis jetzt war wenig auf dem gezeigten Bild auszumachen. Gut, er hatte ohnehin nicht erwartet, dass er hier eine TV-Übertragung in der optischen Qualität eines Formel-Eins-Rennens bekommen würde. Er war schon erstaunt, dass die Betreiber tatsächlich für den Start eine Kamera aufgestellt hatten. Sie mussten gewiss äußerst vorsichtig sein, durften nur in aller Heimlichkeit agieren. Noch mehr galt das für die Fahrer. Immerhin handelte es sich um illegale Straßenrennen.

Yannick war klar, dass man den Usern, die via Internet am Wettspiel beteiligt waren, in jedem Fall den Start bieten wollte. Und er erwartete sich auch ein Realbild für die Zieldurchfahrt. Dabei hoffte er stark, dass Ignaz dann einen der ersten vier Plätze belegte. Denn zwei der sechs Piloten würden am ersten Tag ausscheiden. Zwei weitere dann beim zweiten Abschnitt. Und schließlich würden die verbliebenen zwei Fahrer sich im dritten Teil um den lukrativen Gesamtsieg matchen. Und Yannick hoffte sehr, dass Ignaz dann der Sieger wäre und die 60.000 kassierte, die er sich so sehr wünschte. Er hatte Yannick auch erklärt, warum er das Geld unbedingt brauchte. Diesen Grund fand Yannick lächerlich. Einfach absurd. Völlig unnütz verschwendete Kohle. Aber Ignaz hatte nicht einmal zugehört, als er versucht hatte, auf ihn einzureden. Er hatte nur in die Tasche gegriffen und ihm den Zettel mit den Zugangscodes für die Teilnahme im Internet in die Hand gedrückt.

10.000 Euro? Das konnte man bei diesem Spiel gewinnen? Ignaz war sofort begeistert gewesen. Doch schon am nächsten Tag waren in ihm die ersten Zweifel aufgestiegen. Sollte er wirklich die geheime Seite aufrufen und sich am Spiel beteiligen? Immerhin handelte es sich bei diesem Rennen mitten im öffentlichen Straßenverkehr um ein völlig illegales Unternehmen. Auch jetzt regten sich leichte Zweifel. Doch er schob sie schnell beiseite. Es war kurz vor zwei Uhr morgens. Das Rennen würde gleich beginnen. Wie viele Verkehrsteilnehmer waren um diese Uhrzeit noch unterwegs? So gut wie keine. Also alles halb so wild. Schlagartig wurde plötzlich die Darstellung am Bildschirm vor ihm heller. Irgendwo auf diesem Gelände befand sich wohl ein großer Scheinwerfer, der nun das Areal ausleuchtete. Das sah tatsächlich nach einem großen Parkplatz aus. Von irgendeinem Supermarkt vermutlich, schätzte Yannick. Und jetzt waren auch die Autos zu erkennen. Alle sechs standen nebeneinander. Das Fahrzeug ganz rechts außen war Yannick vertraut. Das war der dunkelblaue Bolide von Ignaz. Mit rund 200 PS unter der Haube. Vielleicht waren es inzwischen auch schon 230. Denn Ignaz, der verrückte Hobby-Automechaniker, bastelte ja ständig daran herum. Mehr als 250 waren es sicher nicht. Denn die waren bei diesem Rennen nicht erlaubt. Jetzt kam Action in die dargestellte Szene. An den Boliden flammten die Scheinwerfer auf. Schweres Dröhnen war zu vernehmen. Und dann ging es los. Alle Autos starteten gleichzeitig, rasten mit Höllentempo über das Gelände. In der Ferne waren ganz schwach die Umrisse eines lang gezogenen Gebäudes zu erkennen. Plötzlich setzte sich die Kamera in Bewegung, folgte den Autos. Sie ist wohl an einer Drohne montiert, kam es Yannick in den Sinn. Er bekam mit, wie die Fahrzeuge das Ende des Areals erreichten und im spektakulären Kurvenschnitt nach links abbogen. Offenbar gelangte man an dieser Stelle auf die öffentliche Straße. Wenn Yannick es richtig mitbekommen hatte, dann war der dunkelblaue Bolide als Zweiter über die Abgrenzung des Platzes geschossen. Gut so, Ignaz, drück aufs Gas. Zeig’s ihnen!

3. Szene, Gegenwart

Wohlauf, antreten

in fröhlichem Tanz.

Schalmeien, Drommeten,

wir sein hier gebeten

zu Fackeln und Glanz

und kommen mit Tanz.

Vor allem achtete sie auf die Bewegung ihrer Füße. Nur keine allzu großen Schritte vollführen, während sie von ihrem Partner im Kreis herumgewirbelt wurde. Bei der letzten Vorstellung war ihr Zacharias tatsächlich auf den linken Fuß gehüpft. Der Darsteller des Dünnen Vetters hatte sich nach der Vorstellung sofort bei ihr entschuldigt. Aber den leichten Bluterguss an der mittleren Zehe spürte sie immer noch. Zacharias schickte ihr ein verschmitztes Lächeln zu. Immer wieder warf er einen schnellen Blick nach unten. Nein, heute würde der Dünne Vetter seiner Partnerin beim Einzugstanz ganz sicher nicht auf die Zehen steigen. Isolde quittierte sein Lächeln. Aus den Augenwinkeln registrierte sie links von ihr weit oben die eindrucksvolle Erscheinung, die sie jedes Mal aufs Neue fesselte. Sie konnte gar nicht anders. Bei jeder Vorstellung warf sie immer wieder einen schnellen Blick hinauf: Festung Hohensalzburg. Die Fassade leuchtete in voller Pracht, auch wenn sie von ihrem Platz aus nur ein kleines Stück davon sehen konnte. Natürlich kannte sie die Burg, waren ihr die alten Mauern, die Türme und Zinnen auf dem Festungsberg wohl vertraut. Sie war hier geboren, lebte seit 26 Jahren in dieser Stadt. Aber es war schon etwas sehr Besonderes, sich mitten in ihrer Heimatstadt auf einem der eindrucksvollsten Plätze wiederzufinden. Auf dem Domplatz vor der majestätisch prächtigen Kulisse des Doms auf der »Jedermann«-Bühne zu stehen, ringsum die Energie der Stadt zu spüren und zugleich inmitten von wunderbaren Kollegen vor einem begeisterten Publikum zu agieren. Und dabei auch noch die Faszination der Festung hoch über ihnen wahrzunehmen. Zacharias fasste sie an den Hüften, hob sie kurz hoch, begleitete sie dann rasch zu ihrem Platz an der lang gezogenen Tafel, während die Musiker die Schlussakkorde durch die Weite des Domplatzes erklingen ließen. Isolde griff nach dem Weinpokal, hob ihn ein wenig in die Höhe, trank aber nicht. Denn gleich war sie an der Reihe.

Seid allesamt willkommen sehr,

Erweist mir heut die letzte Ehr.

War Xaver heute schneller dran in seiner Sprechweise? Wollte er aufs Tempo drücken? Sie hatte keine Zeit, den Gedanken zu Ende zu bringen. Sie musste zusammen mit den anderen aus der Tischgesellschaft eine erschrockene Miene aufsetzen. Und dann kam ihr Satz.

Das ist ein sonderlicher Gruß.

Langsam stellte sie, wie von der Regie vorgesehen, den Weinpokal zurück auf den vollbeladenen Tisch.

Potz Maus, mein Vetter Jedermann,

Wie grüßt Ihr uns, was ficht Euch an?

Simon als Dicker Vetter agierte so wie immer. Ausgestopfte Wampe nach vorn und ein leichtes Krähen in der Stimme. Jetzt kam Senta. Isolde schaute schnell zu ihrer Schwester. Auch das war ganz im Sinne der Inszenierung. Auch alle anderen, immer noch einen Ausdruck leichter Verstörtheit im Blick, beobachteten die Buhlschaft.

Was ist dir, was schafft dir Verdruß?

War Senta auch bei den vorigen Malen so nahe an Xaver herangetreten? Isolde konnte sich nicht erinnern. Senta legte dem »Jedermann«-Darsteller sogar die Hand an die Wange. Nein, das hatte sie auch bei den Proben nicht gemacht. Senta Laudess, die gefeierte Mimin auf allen großen deutschsprachigen Bühnen, musste wieder einmal eine darstellerische Extratour reiten. Gut, das würde Isolde jetzt auch machen. Sie griff nach dem Weinpokal und setzte ihn an den Mund. Es war ihr egal, ob das zur Szene passte. Sie tat es einfach. Was sollte schon passieren? Sie war ohnehin nicht lange auf der Bühne. In wenigen Minuten hatte sie noch einen zweiten Satz zu sagen. »Gehört ein Absud in den Wein von Nieswurz, Veilchen oder Hanf.« Das war es dann gewesen mit ihrem sprachlichen Beitrag zum groß angelegten »Jedermann«-Spiel. Aber sie genoss es, auf dieser Bühne mit dabei zu sein. An der großen Festtafel zu sitzen, Teil dieses wunderbaren Ensembles zu sein, zugleich Teil der mit Leben erfüllten Stadt. Bei jeder Vorstellung fühlte sie sich glücklich, eingebettet in diese einmalige Atmosphäre. Bald würden sie wieder zu singen anheben, alle miteinander. Darauf freute Isolde sich auch. Und sie genoss es auch jedes Mal aufs Neue, wenn plötzlich die Glocken zu läuten begannen. Im Spiel war es vorgesehen, dass nur Jedermann das rätselhaft anmutende Geläute hören konnte.

Was ist das für ein Glockenläuten?

Mich dünkt, es kann nichts Guts bedeuten.

Die anderen aus der Tischgesellschaft reagierten dann entsprechend verwirrt, taten lautstark ihre Verwunderung kund. Leider hatte Isolde für diese eindrucksvolle Szene von Seiten der Regie keinen der vorgegebenen Sätze bekommen. Sie durfte nicht einmal »Was Glocken, was wird von Glocken geredt?« sagen. Diesen ohnehin nicht weltbewegenden Satz hatte man nicht ihr anvertraut, sondern ihn Bianca gegeben. Nach dem Glockengeläut würde dann der erste der unheimlichen »Jedermann«-Rufe zu hören sein. Weitere würden unvermittelt darauf folgen. Die Rufe kamen direkt aus der Umgebung. Ein zusätzlich beeindruckendes Indiz dafür, dass die Stadt ringsum Teil dieses dramatischen Spiels war. Auch auf die bisweilen unheimlich anzuhörenden Rufe freute Isolde sich. Und schließlich würde Samuel Yannos in seinem ebenso schlichten wie furchterregenden Kostüm langsam auftauchen, als käme er direkt aus dem Eingang des alten Doms hinter ihnen. Allen würde es schlagartig klar sein, den Rollenfiguren auf der Bühne genauso wie den Zuschauern auf der Besuchertribüne. Sie alle würden es wissen, dass ER jetzt da war. Jetzt offenbarte sich der Tod mitten unter ihnen. Ihre Schwester Senta würde auch dieses Mal keinen lang gezogenen hysterischen Schrei ausstoßen. Vorgesehen wäre es schon. Aber Senta wollte das nicht. Dass sie sich hier völlig anders gebärdete, hatte sie sich bei den teils hitzigen Proben vom Regisseur erstritten. Sie würde mit einem kurzen Lachen abtreten. Und das langsam. Fast alle aus der Tischgesellschaft würden ihr folgen. Die würden schon kreischen. Isolde würde auch im großen Pulk davonstürmen. Alle weg. Nur Jedermann würde zurückbleiben, zusammen mit dem Tod.

4. Szene, vier Monate davor

Wie unsere Tag und Werk auf Erden

vergänglich sind und hinfällig gar.

Wow! Er hatte es kaum zu hoffen gewagt. Nichts hatte auch nur irgendwie darauf hingedeutet. Es hätte auch Graz sein können oder Innsbruck. Oder gar eine Stadt jenseits der Landesgrenze. München, Prag oder auch Udine. Doch jetzt war es unzweifelhaft klar. Er entnahm es dem deutlich sichtbaren Insert. Sie starteten die dritte Etappe tatsächlich in Salzburg! In Salzburg! Hier in seiner Stadt! Und Ignaz war noch dabei, er war im Rennen, im Finale! Das war überhaupt das allerbeste. Der verdammte Kerl hatte sich gestern auch in Linz durchgesetzt, war sogar als Erster über die Zielmarkierung gerast. Yannick beugte sich ein wenig nach vorn. Das Realbild, das ihm der Bildschirm zeigte, war noch sehr dunkel. Die schemenhafte Umgebung war kaum auszumachen. Natürlich würde in ein paar Sekunden wieder ein großer Scheinwerfer aufleuchten, und das Areal samt den Autos aus der Dunkelheit schälen. Das war davor auch so gewesen an den ersten beiden Stationen. Doch er wollte jetzt schon wissen, wo in Salzburg das Finalrennen gleich beginnen würde. Er strengte sich an, bis seine Augen zu brennen begannen. Aber er hatte keine Chance. Das am Bildschirm Gezeigte war einfach zu dunkel, zu undurchsichtig. Zum Glück dauerte es nicht lange. Dann flammte endlich der riesige Spot auf, schickte sein Leuchten über das Areal. Zugleich wurden die Frontlichter der beiden Fahrzeuge hell. Das Aufheulen der Motoren war zu hören. Und schon ging es los! Wo war das? Im Süden der Stadt, in der Nähe der Alpenstraße? Er vermutete es zumindest. Gleich würde er es wissen. Gleich würden die beiden Boliden aus dem Realbild verschwinden. Dann würden die beiden Markierungen auftauchen, ein blauer Punkte für Ignaz, ein gelber für dessen Konkurrenten. Die Punkte würden sich entlang der Linien bewegen, die einen simpel skizzierten Ausschnitt des Stadtplanes andeuteten, und zugleich würden die wichtigsten Straßenbezeichnungen aufleuchten. So war es in Wien gewesen, und auch gestern in Linz. Da! Der erste Name flackerte bereits auf. Alpenstraße. Er drosch sich jauchzend mit der flachen Hand auf den Oberschenkel. Er hatte es geahnt. Die beiden Boliden rasten tatsächlich in höllischem Tempo nach Norden, direkt in Richtung Stadtzentrum. Der gelbe Punkt lag in Führung. Das war deutlich zu erkennen. Umgerechnet waren das sicher mehr als zehn Meter Vorsprung. Komm Ignaz, lass dich in deiner eigenen Stadt nicht abhängen. Schneller, zeig’s dem verdammten Kerl! Das schaffst du schon! Sie waren sicher in Höhe Egger-Lienz-Gasse gestartet, oder auch erst in der Nähe des Wüstenrot-Gebäudes. Auf jeden Fall mussten sie so nicht direkt an der Bundespolizeidirektion vorbeirasen. Wäre ja noch schöner, wenn man gleich eine Polizeistreife mit Blaulicht hinter sich hätte, die auch noch per Funk Absperrungen auf der eingeschlagenen Route veranlasste. Der blaue Punkt holte auf, verringerte die Distanz. Plötzlich bog der gelbe Punkt scharf nach rechts. Karolinenbrücke leuchtete als Schriftzug auf. Alles klar. Jetzt ging es über die Salzach. Dann würden die beiden Boliden sich wohl links halten und über die Imbergstraße weiterrasen. Genau so geschah es. Yannicks Hände begannen wieder zu schwitzen. Komm, Ignaz, steig aufs Gas! Was würde an der Staatsbrücke passieren? Würden die beiden nach links biegen und tatsächlich auf die Altstadt zudonnern? Das wäre ein Hammer! Aber vielleicht würden sie doch geradeaus weiterpreschen in Richtung Landestheater. Mein Gott, war das spannend! Fast nicht zum Aushalten. Dieses Mal hatte er sich keine Cola bereitgestellt, sondern gleich einen ordentlichen Bacardi. Er schraubte die Flasche auf, nahm einen kräftigen Schluck. Der gelbe Punkt war gleich an der Staatsbrücke. Und jetzt? Nein! Er bog nicht nach links, sondern setzte den Weg geradeaus fort. Yannick hatte es vermutet. Das war sicher die weitaus bessere Route für dieses spektakuläre Rennen als rüber in die Altstadt. Hier erwarteten sie mehr Geraden, weniger Kurven. Schwarzstraße. Jetzt würden sie sicher schon beim Landestheater sein. Leider gab es keine entsprechenden Ortsangaben von markanten Punkten neben der Route. Komm, Ignaz! Ab dem Mozarteum kannst du ihn packen! Zeig dem Scheißkerl, was ein echter Lokalmatador draufhat! Und tatsächlich, der blaue Punkt kam näher. Er scherte aus, überholte den gelben Punkt, setzte sich voran. Und erlosch! Yannick schnellte von seinem Stuhl hoch. Was war jetzt passiert? Auch wenn er wusste, dass es sicher nichts brachte, hämmerte er dennoch mit der Handfläche kräftig auf die obere Umrandung des Bildschirmes. Als gälte es, eine Art Wackelkontakt zu beheben.

RACE INTERRUPTED! Der Schriftzug erschien plötzlich bildfüllend. Flammte sogar mehrmals auf.

Was sollte das? Rennen unterbrochen? Igor hatte doch eben überholt, war in Führung gegangen. Was war mit dem blauen Punkt geschehen?

5. Szene, Gegenwart

Was? Keine Frist willst du mir geben?

»Geht ihr schon bitte vor. Ich habe nach dem Abschminken noch etwas dringend zu erledigen. Ich komme dann später nach.« Sie verschwand hinter der Garderobentür. »Solistengarderobe. Frau Laudess«, war auf dem Schild am Eingang zu lesen. Isolde schnaubte kurz durch. Das war wieder typisch für ihre Schwester. Sich zuerst langmächtig beknien lassen, dann halbherzig zustimmen und dann in letzter Sekunde mit irgendeiner faulen Ausrede vermutlich doch kneifen. Ihr sollte es recht sein. Sie hatte ohnehin keinen Wert darauf gelegt, dass ihre Frau Schwester zu dieser improvisierten Feier mitkam. Aber Folker hatte es immer wieder versucht, hartnäckig bittend, bisweilen auch zuckermäulig schmeichelnd. Und schließlich hatte Senta sich offenbar erweichen lassen und zugesagt. Ja, sie würde an Folkers kleiner improvisierter Geburtstagsfeier teilnehmen. Gleich nach Ende des Auftritts. Die anderen großen Stars aus dem »Jedermann«-Ensemble waren noch drüben auf dem Domplatz. Doch für die Buhlschaft war die Vorstellung bald nach dem Erscheinen des Todes vorbei. Und für die Mitglieder der Tischgesellschaft auch. Also konnte sich Senta ihnen anschließen, wenn sie gleich zum »K+K« Restaurant aufbrachen. Falls sie überhaupt mitkam. Isolde war es verdammt egal. Auch sie würde nicht lange bleiben. Aber sie hatte es Folker und Bianca versprochen. Zwei weitere Kollegen aus dem Darstellerensemble der Tischgesellschaft würden ebenfalls dabei sein. Stars wie ihre Schwester verfügten natürlich über eine eigene Garderobe. Für die Darsteller der kleinen Rollen, also der Tischgesellschaft, genügten zwei größere Gruppenräume.

Isolde brauchte keine zehn Minuten. Dann war sie abgeschminkt und umgezogen.

Sie wartete auf die anderen. Gleich darauf zogen sie zu fünft los, verließen das Festspielhaus.

»Hey, heute ist gar nicht mehr so viel los in der Stadt!«, bemerkte Isolde und hängte sich bei Bianca und Folker ein. »Dabei ist es erst 22.30 Uhr vorbei.« Sie bogen in die Philharmoniker-Gasse ein. Keine zwei Minuten später waren sie schon am Mozartplatz. Der Waagplatz mit dem angestrebten Restaurant lag gleich dahinter.

»Nein, nicht schon wieder«, entfuhr es Isolde. Sie hielten gerade auf den steinumfassten Eingang im Erdgeschoss zu, als eine der beiden großen Holztüren aufschwang und zwei Leute herauskamen. Auch die beiden Personen hielten in der Bewegung inne, waren sichtlich überrascht.

»Was soll das, Isolde?« Die Stimme des jungen Mannes war scharf, er klang ähnlich gereizt wie schon am Nachmittag. »Reicht es nicht, dass du ungebeten bei unserer Vorstellung auftauchst? Spionierst du uns jetzt auch noch im Wirtshaus nach?«

Die junge Frau, es war Ariana, wie Isolde bemerkte, fasste ihren Begleiter am Arm. »Komm, Cyrano, lass es gut sein. Das bringt doch nichts!« Der andere wollte etwas einwenden, aber die junge Frau zog ihn einfach mit sich fort. Sie verschwanden in Richtung Judengasse. Isolde bemerkte die leicht irritierten Blicke ihrer Kollegen. »Hast du Zoff mit denen?«, wollte Bianca wissen.

»Ach, das sind, wenn man es so nennen will, Kollegen.« Sie machte mit der Hand eine abschätzige Bewegung. »Die gehören zum Salzburger Straßentheater. Wie man bemerkt hat, sind sie derzeit nicht gut auf mich zu sprechen. Darüber erzähle ich euch vielleicht ein anderes Mal mehr. Aber nicht heute. Jetzt wollen wir auf Folkers Geburtstag anstoßen.«

Sie ging voraus, die anderen folgten rasch nach, betraten ebenfalls das Restaurant. Der Kellner brachte sie zum reservierten Tisch. Er befragte sie sogleich nach den Getränkewünschen. An der Wand hing eine elegant gestylte Uhr. Sie zeigte 22.43 Uhr. Isolde hatte noch genau zwei Stunden und 51 Minuten zu leben. Aber das wusste sie nicht. Sie bestellte einen Aperitif mit Cranberry und einem kleinen Schuss Wodka.

6. Szene, Gegenwart

Hab immer doch in bösen Stunden

mir irgend einen Trost ausgfunden.

Der Kopf des langen Zündholzes flammte kurz auf, doch gleich darauf war er wieder verlöscht. Sie zog erneut die Schachtel auf, wählte ein anderes Streichholz. Dieses Mal klappte es. Ihre Hand zitterte zwar. Fast hatte es den Anschein, als vollführe die dreieckige Narbe auf ihrem Handrücken einen kleinen Tanz. Aber sie konzentrierte sich und schaffte es, den Docht der hellen Kerze auf der kleinen Anrichte zu entzünden. So wie jeden Abend. Die langsam pendelnde Flamme warf schmale Lichtstreifen auf das Bild, das neben der Kerze aufgestellt war. Es zeigte Gesicht und Oberkörper eines jungen Mannes. Er hatte dunkle Augen und ein schmales Lächeln. Einige Monate hatte eine schwarze Schleife die rechte obere Ecke geziert. Doch sie hatte das Band vor wenigen Tagen abgenommen und es gegen ein weißes getauscht. Sie rückte sich den gestreiften Ohrenfauteuil zurecht und nahm Platz. Dann hob sie das Glas mit dem Heidelbeerlikör. Sie hielt es zuprostend in Richtung Anrichte, wartete, bis das Licht der tänzelnden Flamme die lächelnden Augen auf dem Bild erreichten und aufhellten. Dann trank sie. In wohltuend langsamen Schlucken. Sie stellte das Glas wieder ab, lehnte den Kopf nach hinten. Ihre Augen ruhten auf dem Gesicht des jungen Mannes. So würde sie sitzen bleiben und still trauern. Bis in die Morgenstunden. So wie jede Nacht.

7. Szene, Gegenwart

Wo bist du Tod, mein starker Bot? Tritt vor mich hin.

Der Schlag traf sie von der Seite. Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie taumelte, spürte das niedrige Geländer. Jetzt hatte sie noch genau siebeneinhalb Sekunden zu leben. Doch das wusste sie nicht. Das Handy fest in der verkrampften Rechten, versuchte sie, mit der Linken nach der kniehohen Querverstrebung zu fassen. Es gelang ihr nicht. Noch sechs Sekunden. Sie verlor das Gleichgewicht, kippte zurück. Ihr Rücken schrammte gegen etwas Hartes. Noch vier Sekunden. Sie donnerte hinunter, krachte auf den steinfesten Untergrund.

Drei. Zwei. Eins.

Dann war es vorbei.

Erster Tag

 

1

Er hob den Kopf, fuhr sich wohl schon zum 20. Mal mit der Linken in das zerwühlte Haar. Der Digitalwecker auf dem kleinen Beistelltablett zeigt auf kurz vor fünf. Sollte er sich noch länger im Bett von der einen Seite zur anderen wälzen, sich gedankenlos durchs Haar fegen, gelegentlich dabei das starke Gähnen unterdrücken, wie er es schon seit zwei Stunden praktizierte? Merana hielt kurz inne. Dann richtete er sich ein wenig auf. Nein. Er bestärkte seinen Entschluss, indem er mit dem Oberkörper Schwung aufnahm und sich dann mit einem jähen Ruck aus dem Bett schnellen ließ. Die Tür des Kleiderschranks stand halb offen. Er langte nach T-Shirt und kurzer Sporthose. In der Küche schnappte er sich ein Glas Wasser. Im Vorraum schlüpfte er in die Laufschuhe, dann verließ er das Haus. Die Luft fühlte sich frisch an. Er wandte den Kopf nach Osten. Der breite goldfarbene Streifen am Himmel leuchtete schon intensiv. In einer guten Viertelstunde würde die Sonne die ersten Strahlen über den Horizont schicken, schätzte er. Auch heute würde ganz Salzburg sich über einen weiteren herrlichen Sommertag freuen dürfen. So wie schon seit gut einer Woche. Langsam nahm er Tempo auf, hielt sich nach rechts. Er würde heute eine der längeren Routen wählen, wollte noch vor der Aigner Kirche in einen Feldweg einbiegen. Normalerweise startete er seinen Morgenlauf zwischen sechs und halb sieben. Heute war er eben schon eine Stunde früher dran. Die noch weit entfernten Baumreihen waren dicht belaubt. Aber Merana kannte zwei Stellen, durch die man den Blick frei hatte auf die Konturen der Stadt, vor allem auf die herrliche Silhouette der Festung.

Vor mehr als zwei Jahrzehnten hatte er seine enge Pinzgauer Heimat verlassen, um in Salzburg ein Studium anzufangen. Es hatte nicht lange gedauert, dann hatte er die Stadt bereits zu seinem Lebensmittelpunkt erkoren. Die Luft fühlte sich angenehm frisch an. Er begann, schneller zu traben. Wie oft hatte er dieses Panorama schon erblickt? Es war ihm nie alltäglich geworden. Er war jedes Mal aufs Neue fasziniert. Genauso wie beim Anblick des mächtigen Untersberges, der sich ihm auf der linken Seite bot. Wie ein großer Wächter sah er aus, der sanft sein breites felsiges Haupt zum Schutz der Stadt anhob. Plötzlich gewahrte Merana einen mittelgroßen Hund neben sich. Der gehörte wohl zu einem der Bauernhöfe oder einem der Privathäuser der näheren Umgebung. Eine ähnliche Rasse wie die von Wendy, stellte er fest. Nur das Fell war heller. Er dachte oft an die tapfere Hündin seiner Nachbarsleute. Wenn Wendy nicht gewesen wäre, würde Merana vielleicht gar nicht mehr über Feldwege laufen können. Wendy hatte ihm damals vermutlich das Leben gerettet. Sie hatte die Gefahr gewittert und war mutig auf den Rand des kleinen Wäldchens zugestürmt, das sich hinter seinem Haus erstreckte. Er hatte damals auf die dahinhetzende Hündin mit einer schnellen Bewegung reagiert. Dadurch hatte ihn die Kugel um Haaresbreite verfehlt. Und auch seine Nachbarin, die Wendys Namen rufend hinter dem Hund herlief, hatte nichts abbekommen. Leider hatte eine weitere Kugel dann die tapfere Wendy getroffen. Zum Glück war es nur ein Streifschuss gewesen. Auch diese Kugel war für den Kommissar gedacht gewesen. Die heimtückische Schützin wollte Merana davon abhalten, seine Ermittlernase noch tiefer in den damals aktuellen Fall zu stecken. Natürlich hatte der Kommissar weiter ermittelt und schlussendlich auch die Wahrheit ans Licht gebracht. Auch dank Wendy war ihm dies möglich gewesen, die ihm durch ihr Eingreifen vermutlich das Leben gerettet hatte. Der schnüffelnde Hund neben ihm hatte offenbar genug von seiner Gesellschaft. Er bog kläffend ab, hielt auf die Häusergruppe zu, die von der Kirche und den Gebäuden des alten Schlosses gebildet wurden. Wenn es sein Dienst erlaubte, würde er bald wieder Wendy abholen und sie mit nach Hellbrunn nehmen. Sie liebte es, zusammen mit Merana durch das Gelände der weit angelegten Parks zu traben. Er liebte es auch. Selbstverständlich hielt er Wendy dabei an der Leine.