Jedes Ich ist viele Teile - Jochen Peichl - E-Book

Jedes Ich ist viele Teile E-Book

Jochen Peichl

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  • Herausgeber: Kösel
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2010
Beschreibung

Wieder ein Ganzes werden

Unser Ich besteht aus vielen Teilen. Vor allem bei traumatisierten Menschen sind einige dieser Teile mit vielfältigem Leid verbunden. Jochen Peichl zeigt, wie die Beschäftigung mit den abgespaltenen Teilen hilft, sich selbst besser zu verstehen, diese Teile wieder zu integrieren und damit Verletzungen der Seele zu lindern.

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Seitenzahl: 166

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Copyright © 2010 Kösel-Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Umschlag: Kaselow Design, München
Inhaltsverzeichnis
 
Einleitung
 
Kapitel 1 – Wer bin ich, und wenn ja... wie viele?
Das Selbst – ein geschlossenes Ganzes oder ein Bündel von Anteilen?
Unsere verschiedenen Teile
 
Kapitel 2 – Wie und warum entstehen Selbst-Anteile?
Die normale Differenzierung unserer Persönlichkeit
Einige Informationen über unser Gehirn
Gedanken zur normalen Selbst-Entwicklung
Unsere neurotischen Seiten
Die Entstehung des Selbst-Bildes
Dissoziation I
Wie entsteht »Erleben«?
Die Bildung von Selbst-Anteilen während des Traumaerlebens
 
Kapitel 3 – Die Regulation unangenehmer Gefühle
Die Entwicklung von Selbstregulation und Selbstfürsorge
Selbstverantwortung übernehmen
Achtsamkeit, Selbstachtung und positive Gefühle im Alltag
Auf der Suche nach mehr Selbstwert
Was tun bei erhöhter Stressbelastung?
 
Kapitel 4 – Innere Kinder
Wie entstehen »Innere Kinder«?
Schöne innere Kind-Erinnerungen
Wenn es an schönen inneren Kind-Erinnerungen mangelt
 
Kapitel 5 – Schwierige Innere Kinder und Innere Jugendliche
Dissoziation II
Die drei Grundprinzipien der Teile-Arbeit
Was braucht mein innerer Kind-Zustand?
Innere Kinder und ihre Grenzen
 
Kapitel 6 – Die idealen Eltern
Die verinnerlichte Mutter
Selbstliebe
 
Kapitel 7 – Der Tanz von Gegenwart und Vergangenheit
Mieses Karma heute oder: Man sollte sich seine Eltern besser aussuchen
Wie die Gegenwart die Vergangenheit beeinflusst
Traumatische Netzwerke: wie Raubtiere, immer sprungbereit auf der Lauer liegend
 
Kapitel 8 – Hilfe, ein Teil von mir ist süchtig
Wenn etwas aufhört, muss etwas anderes beginnen
Wie könnte Veränderung passieren?
Eine kleine Selbstübung
 
Ausklang
Anhang
ALLES IST EINS, UND ALLES IST VERSCHIEDEN.
 
Blaise Pascal: Gedanken
Einleitung
»Der erste Satz in einem Buch ist der wichtigste, habe ich irgendwo gelesen, er darf nichts Langweiliges und Überflüssiges enthalten. Gut gelungene Anfangssätze sollen den Leser anregen, ihn neugierig machen und in das Buch hineinziehen; er soll an den Sätzen wie an Widerhaken hängen bleiben, es sich zwischen den Zeilen bequem machen oder geschockt den Atem anhalten, bis er fast platzt, und dann weiterlesen bis zum bitteren Ende.«
So spricht mit einem etwas fordernden und antreibenden Ton seit Wochen eine innere Stimme in mir, immer wenn ich zu den ersten Seiten meines Buches zurückkehre und über die richtige Einleitung nachdenke. Dieser Teil meines Selbst ist ein guter alter Bekannter, den ich jetzt nach Jahren der Auseinandersetzung meist etwas scherzhaft »Meinen Perfektionisten-Jochen« nenne.
Es gibt aber noch ganz andere Stimmen, die sich ungefragt zum Buchanfang äußern wollen und die ganze Szene auf meiner inneren Bühne dramatisch, aber auch abwechslungsreich gestalten.
»Schön, schön – aber das hier ist kein Roman, keine Sammlung von Kurzgeschichten oder gar ein Krimi. Es ist eine Art Sachbuch über die Verletzungen der Seele, über das, was Menschen Menschen antun können, oder ganz einfach ausgedrückt: eine Art Ratgeber für Menschen mit schwierigen Inneren Kindern. Geschnörkselte Anfänge sind hier völlig fehl am Platze«, sagt ein anderer Teil in mir, der sich »Der große Realist« nennt.
Unterschlagen möchte ich Ihnen, liebe Leser, aber nicht meinen Teil »Jochen: berufsmäßiger Dauerskeptiker« mit markanten Bedenkenfalten auf der Stirn, der jammert, das ganze Projekt »wird eh niemand interessieren und ist die Mühe und das Papier nicht wert, auf dem es geschrieben ist – finanziell der Superflop«.
Nicht gerade ermutigend, denke ich und lausche auf eine weitere Stimme, die, vom totalen Gegenteil überzeugt, mit etwas theatralischer, silberheller Tonlage Marke »Désirée Nick« versucht, mich wieder aufzubauen. Sie meint, ich werde »es mit dem Buch ganz bestimmt in die Spiegel-Bestsellerliste schaffen. Das Haus auf den Palm Jumeirah Islands in Dubai und die Jacht gleich neben Boris Becker können wir eigentlich unbedenklich jetzt schon vorbestellen«.
Oh Gott, kennen Sie das auch, das ständige Gequatsche im Kopf, die inneren Dialoge und das Hin und Her der Meinungen und diese kränkbaren Empfindlichkeiten der zu kurz gekommenen Inneren Kinder? Dann sind Sie hier richtig!
Ich hoffe, ich habe Sie mit diesem kurzen Einblick in mein Seelenleben nicht verschreckt. Aber das mit den inneren Dialogen, mit den inneren Stimmen ist ganz normal und nichts Verrücktes. Vielleicht ist es Ihnen auch schon einmal aufgefallen: Wir sprechen innerlich ständig mit uns selbst – und häufig sind wir auch gar nicht unsrer Meinung, wenn anscheinend immer zwei oder mehr Herzen in unsrer Brust schlagen. Manchmal mahnt uns eine innere Stimme zu mehr Disziplin, macht uns Vorwürfe, kritisiert uns oder erinnert uns an wichtige Sachen oder Ähnliches – und selten, dass uns eine innere Stimme lobt.
 
Die Anregung, dieses Buch zu schreiben, bekam ich von meinen Patienten in der Klinik für Psychotherapie und Psychosomatik am Klinikum Nürnberg, wo ich jetzt seit fast 20 Jahren arbeite. »Schreiben Sie das doch mal auf, was Sie uns da in der Gruppe erzählt haben, damit wir es noch mal nachlesen können«, wurde ich immer wieder gebeten.
Aber das, was ich aufgeschrieben habe und Sie nun in Händen halten, ist kein weiterer platter Lebenshilfeführer, sondern ist für alle Menschen gedacht, die bereit sind, sich mit sich selbst intensiver zu beschäftigen. Fragen an das eigene Ich/Selbst und das Leben zu stellen, die Seele oder unseren Biocomputer hinter der Stirn einmal genauer unter die Lupe zu nehmen und sich mit der Tatsache zu beschäftigen: Wir sind nie allein, immer in Gesellschaft unserer inneren Anteile – somit sind wir alle im besten Sinne »etwas multipel«.
Seit dem Aufbau einer Therapiestation für Frauen mit traumatischen Erfahrungen in der Kindheit und/oder im Erwachsenenleben im Jahre 1994 am Nürnberger Klinikum weiß ich, dass hilfreiche Traumatherapie zwei gleich wichtige Dinge umfassen muss: zum einen eine Vermittlung von Wissen zu Fragen wie »Was ist und wie entsteht eine traumatische Erfahrung? Welche Folgen hat diese Erfahrung für meine Seele und meinen Körper? Wie kann ich mir das erklären, was ich da in mir spüre und fühle?«, zum anderen eine schonende, nicht erneut traumatisierende Aufarbeitung der Erlebnisse nach einer Phase ausreichender Stabilisierung.
Deshalb spielt die Weitergabe von praktischem Wissen an Patienten bei uns in der Klinik eine wichtige Rolle. Man nennt das in der stationären Traumatherapie etwas hochgestochen »Psychoedukation« – also Schulung über psychologische Fragen. Als Erstes habe ich dabei gelernt, dass fast alle Menschen mit für sie unerklärlichen Beschwerden des Körpers und der Seele nach einer Traumaerfahrung glauben, mit ihnen stimme etwas nicht und bestenfalls seien sie nur verrückt geworden. Häufig ist die Scham, darüber zu reden, sehr groß und führt in das Verstummen und den inneren und äußeren Rückzug. Dabei ist es entlastend, von einem Fachmann zu hören: »Alle die von Ihnen genannten Beschwerden sind ganz normal, Sie sind nicht verrückt, die Situation war verrückt, der Sie ausgesetzt waren.«
Zu wissen, warum ich so bin, wie ich bin oder warum ich so und nicht anders auf ein einmaliges oder wiederholtes Traumaereignis reagiere, entspannt und beruhigt betroffene Menschen mit vielen Fragezeichen und ängstigenden Knoten im Kopf. Aus dieser Erfahrung habe ich angefangen, meine Unterrichtseinheiten und Gespräche mit Betroffenen aufzuschreiben und als eine Art Ratgeber zur Verfügung zu stellen. Dabei ist der Begriff »Ratgeber« gar nicht so ohne: Vom noch harmlos klingenden Substantiv Rat-Geber ist es kein weiter Schritt zu den »Rat-Schlägen« und die sorgen als sogenannte ungebetene Ratschläge schnell für Missstimmung. Diesen Knatsch meint »Volkes Mund«, wenn er reimt: »Ratschläge sind auch Schläge« oder »Gut gemeint ist oft das Gegenteil von gut«.
Mit diesem Buch möchte ich Sie nicht schulmeisterlich belehren oder mit wohlgemeinten Lebensweisheiten erschlagen, sondern Ihnen Informationen liefern, Wissenswertes zu einzelnen Forschungsfragen verständlich aufbereiten, lösungsorientierte Anregungen geben, um sich selbst aus einer neuen Perspektive zu betrachten. Der Themenschwerpunkt des Buches sind all die Probleme, die mit psychischer, physischer und/oder sexueller Traumatisierung in der Lebensgeschichte und deren seelischen Folgen zu tun haben. Das ist mein Spezialgebiet und damit habe ich mich nun über 30 Jahre als Psychotherapeut in Klinik und Praxis beschäftigt. Da ich mich als Neurologe und Psychotherapeut schon immer für das Gehirn interessiert habe, werde ich versuchen, alles, was ich Ihnen berichte, auch vor dem Hintergrund der aktuellen Hirnforschung zu erklären – so komplex wie nötig, so verständlich wie möglich.
Das ist der eine Teil, sozusagen der Sachteil meiner Botschaft, der andere Teil richtet sich direkt an Sie als Opfer von erlebter und erlittener Gewalt und rücksichtsloser Grenzverletzung. Ich möchte Ihnen Anregungen geben, Sie ermutigen und auch anleiten, um aus einer momentanen Sackgasse herauszukommen und auszuprobieren, Dinge nicht nur anders zu sehen, sondern auch anders zu machen. Trotzdem ist dies kein Buch zur Selbsttherapie, indem Ihnen ein Psycho-Fitnessprogramm vorgeschrieben wird mit dem Ziel der Selbstheilung in zwölf Stufen. Im Idealfall ist es eine Art Begleitbuch, wenn Sie schon in einer Therapie mit dem Schwerpunkt Traumabearbeitung sind, oder einfach ein Informationsbuch für Menschen, die an ihren inneren Widersprüchen, Zerrissenheiten und Konflikten leiden.
Viele Dinge sind bewusst allgemein formuliert und lassen auf diese Weise viel Spielraum für Ihre persönliche Interpretation – nehmen Sie sich immer nur so viel davon heraus, wie Sie glauben, für sich selbst gebrauchen zu können. Denn: Ratschläge werden von uns allen als unangenehm empfunden, wenn sie dem Empfänger einen Mangel unterstellen. Das ist nicht meine Absicht. Als Anhänger des hypnosystemischen Denkens glaube ich eh daran, dass Sie all die Stärken und Ressourcen in sich haben, die Sie brauchen, um sich zu verändern. Sie müssen nur Ihr intuitives Wissen nutzen, um die im Unbewussten schlummernden Kräfte zu entfalten.
Durch meinen Umgang mit Menschen, die die Erfahrung traumatischer Grenzüberschreitung in der Kindheit, Jugend oder auch im Erwachsenenalter machen mussten, habe ich einiges gelernt, was mir in vielen weiteren Gesprächen geholfen hat, den Menschen vor mir im Gespräch besser zu verstehen und auch zu erfühlen – dafür möchte ich mich an dieser Stelle bei allen, die meinen Weg gekreuzt haben, bedanken. Andere sahen meine Verständnismodelle, vor allem die Arbeit mit dem Inneren Kind, als hilfreich und empfanden dieses Denkschema als einleuchtend und für sie weiterführend. Dies alles möchte ich Ihnen in diesem Buch weitergeben und Sie damit zum Nachdenken anregen.
Hauptziel vor allem anderen ist es, Ihnen wieder das Gefühl, den Gedanken zu geben, Sie können etwas in und an Ihrem Leben verändern, Ihnen das Wissen zu vermitteln, dass Sie mehr sind als nur jemand, der in einer Sackgasse steckt. Im Zen-Buddhismus gibt es den klugen Satz: Wenn ich feststelle, dass ich traurig bin, dann bin ich mehr als meine Traurigkeit. Damit dieses »Sich-neben-sich-Stellen«, »Sich-Beobachten« und »Sich-mal-von-außen-Betrachten« besser gelingt, hier in diesem Buch ein paar grundlegende Gedanken.
Um aus der Erstarrung wieder in die Bewegung zu kommen, braucht es zuerst aber einmal eine neue und damit zusätzliche Perspektive. Damit fangen wir an – gleich hier in der Einleitung.

Warum-Fragen

An erster Stelle steht für mich die Frage nach dem »Warum?« meiner Vergangenheit. Viele Patienten erzählen mir in der Klinik, wenn sie nur wüssten, warum das heute so ist und was es mit der Kindheit zu tun hat, dann ginge es ihnen besser. »Warum hat mein Vater das getan?«, »Warum hat meine Mutter mich nicht so geliebt, wie ich es gebraucht hätte?« Warum, warum und warum. Wenn wir Warum-Fragen an unsere Vergangenheit stellen, suchen wir Begründungen für das Handeln, Fühlen und Denken von uns und von anderen, wir suchen nach Rechtfertigungen.
»Warum haben Sie eine so starke Wut auf Ihren Vater bekommen?«, »Warum hat er das getan?« – diese affektive Prozessfrage führt vom persönlichen Erleben meiner Gefühle weg und hin zu einer vernunftmäßigen Suche nach Gründen für die Gefühle. In dieser Suche ist die Vorannahme versteckt, dass – wenn wir uns nur gut genug anstrengen und nachdenken – wir eine richtige Antwort finden, die uns auf einen Schlag alles erklärt. Sorry, aber diese Fragen führen zu nichts, außer zu Antworten, die man glauben kann oder auch nicht.
Eigentlich richtige und gut belastbare Gründe für etwas, was passiert – zum Beispiel: Wenn ich ein Ei fallen lasse, klatscht es auf den Küchenboden -, gibt es nur in sogenannten kausal-logischen Systemen, das heißt in überschaubaren Systemen mit Ursache und Wirkung, in denen das Wenn-Dann – wenn ich das tue, dann passiert das – vorherrscht. Aber Menschen an sich, ein Team auf einer Intensivstation im Krankenhaus, eine Organisationseinheit bei der Stadtverwaltung sind multikausale, offene Systeme. Und da ist es meist schwierig, Ereignisse und auf ihnen basierende Folgeereignisse als Ursache-Wirkungs-Prinzipien zu definieren. Die Frage, wer mit einem Streit angefangen hat, ist für viele Konflikte im Regelfall nicht lösbar – auch nicht in Familien.
Damit wir uns recht verstehen: Die eigene Vergangenheit zu kennen und zu verstehen ist wichtig, um sich selbst besser zu verstehen. Es kann ganz wesentlich sein, die Verantwortung für Grenzüberschreitungen, körperlichen und seelischen Missbrauch an die zurückzugeben, die immer wieder versucht haben und noch versuchen, sich davon zu entlasten, indem sie den Opfern die Schuld zuschieben.
Auch wenn Ihnen das eben Gesagte zu den Warum-Fragen einleuchten mag, fällt es uns allen trotzdem nicht leicht, darauf zu verzichten, immer wieder genau und überprüfbar wissen zu wollen: Warum ist das so, wie es ist? Es ist einfach ein menschliches Bedürfnis, sehr vielschichtige Zusammenhänge unseres Lebens auf die Eindeutigkeit wie beim Münzenwerfen (Kopf oder Zahl) oder auf Äpfel oder Birnen zu reduzieren. Ich sehe darin einfach den weiterführenden Wunsch, wieder Kontrolle über das eigene Leben bekommen zu wollen beziehungsweise die Ursachen für schlechte Stimmung, für mieses Karma zu erfahren, um etwas in der Zukunft verändern zu können. Also sei’s drum: Warum-Fragen sind zwar eigentlich sinnlos, aber ein erster Schritt, der uns in Bewegung bringen kann.
Das ist das eine... aber, so sagen die Gestalttherapeuten, dies reicht nicht aus! Erwachsen werden und erwachsen sein bedeutet, selbst die Verantwortung für sein Leben zu tragen. Die Verantwortung auf früher zu verweisen, hilft letztlich nicht bei der Bewältigung von Problemen. Deshalb werden in der Gestalttherapie Warum-Fragen durch Wie-Fragen ersetzt. Denn mit der Antwort auf die Frage Wie? bekomme ich das Geschehen in den Griff. Ich werde mir dessen bewusst, was ich tue. Dann kann ich wählen: alles so lassen, wie es ist, oder etwas verändern. Statt zu fragen, »Warum bin ich so gehemmt?«, frage ich: »Wie (wo und wann) hemme ich mich selbst?« und: »Wie (wo und wann) kann ich anfangen, eine Änderung meines Verhaltens zu probieren?«1
Warum-Fragen sind rückwärtsorientierte Fragen nach dem Schuldigen oder Verursacher und sind nie frei von einem leichten Vorwurf – für eine erste Phase der Therapie können sie trotzdem wichtig sein; Wie-Fragen sind letztlich zukunftweisende, lösungsorientierte und Selbstverantwortung stärkende Fragen: »Wie machen wir es in Zukunft besser?«

Probleme sind nicht alle gleich

Und dann gibt es da noch ein Problem mit den »Problemen«, die wir so im Leben erleiden. Es gibt Schwierigkeiten und Probleme, für die es lohnt, hilfreiche Lösungen zu finden, mit der Hoffnung und dem Ziel, dass sich die äußeren Umgebungsbedingungen und die inneren Reaktionsbereitschaften verändern, sodass das Problem in der Zukunft nicht mehr auftritt. In der Regel sind das Probleme, bei denen wir uns selbst ändern müssen und nicht die anderen. Wenn ich einen sitzenden Beruf ausübe und mittags mir gehaltvolles Kantinenessen reinschaufle und dabei immer dicker werde, dann ist ein Abo im Fitnessstudio oder Obst und Joghurt am Mittag eine wirklich sinnvolle Lösung meines Problems.
Aber viele Probleme, die wir mit unserer Vergangenheit und den dort auftauchenden wichtigen Bezugspersonen hatten und haben, sind auf diese Weise nicht zu lösen. Wünsche wie »Wenn meine Mutter mir heute endlich mal zuhören und zugeben würde, dass sie damals falsch gehandelt hat, als sie mich nicht genug vor dem Stiefvater schützte« oder »Ich möchte einmal spüren, dass meine jüngere Schwester nicht bevorzugt wird und ich immer nur die zweite Geige spiele« zielen darauf ab, die Vergangenheit nachträglich zu verändern. In vielen von uns gibt es kindlich gebliebene Teile, innere Stimmen, Innere Kinder, die sich nichts mehr wünschen, als dass das Tagebuch unseres Lebens noch mal umgeschrieben werden könnte. Verständlich, aber die Tinte auf diesen vergangenen Seiten ist schon lange getrocknet.
Was wir dagegen aktiv tun können, ist, die Vergangenheit aus der Perspektive der Gegenwart neu zu bewerten. Nicht dass man dem erlittenen Unrecht, der demütigenden Grenzüberschreitung, den Leidensjahren im Kinderheim usw. nun einen Sinn geben, dem einen höheren Wert beimessen sollte. Nein, das meine ich nicht. Für eine solche Sinngebung von persönlichem Leid, Plagen und Schicksalsschlägen als »höhere Prüfung« wie in der Bibel beim geschundenen Hiob bin ich nicht zu haben, das finde ich grausam und zynisch. Es geht mir um etwas anderes: Wenn mir die Dinge schon widerfahren sind und ich im Nachhinein nichts mehr verändern kann an der Vergangenheit, dann stellt sich die Frage, was ich daraus für mein weiteres Leben lernen kann. Wie wir ein Ereignis bewerten, trägt entscheidend dazu bei, welche Bedeutung dieses Ereignis im späteren Leben haben wird. Für was könnte es mich sensibilisieren und wie könnte ich das Ganze in einem größeren Rahmen neu bewerten? Dieses Neubewerten sollte dann nicht mehr aus der Opferrolle heraus erfolgen – das würde heißen: mehr vom Gleichen -, sondern aus einer erwachsenen Sicht, aus dem Blickwinkel eines/einer Überlebenden einer traumatischen Erfahrung.
Menschen, mit denen ich an deren Trauma gearbeitet habe, sagten mir am Ende unserer gemeinsamen Zeit, dass sie heute den »Wert« des traumatischen Ereignisses für ihre innere Reifung, für den Wunsch nach vertieften Beziehungen und einer höheren Wertschätzung des Lebens durchaus anerkennen können. Man spricht in diesem Zusammenhang von »posttraumatischer Reifung« oder »persönlichem Wachstum«.
ist das chinesische Schriftzeichen »Weiji« für »Krise«. Es ist zusammengesetzt aus dem Zeichen »wei« für »Gefahr« und »ji« für »Chance« oder »Gelegenheit«. Somit ist eine Krise nach chinesischem Verständnis eine »gefährliche Gelegenheit« – das klingt doch irgendwie ermutigend!
Alle Symptome und Probleme, die ein Mensch hat, seien es Migräneanfälle just am Wochenende, Ängste, über den Bahnhofsvorplatz zu gehen, vor anderen frei zu reden, ohne rot zu werden, oder Albträume und Flashbacks, haben gemeinsam, dass sie einfach passieren und uns nicht fragen, ob uns ihre Gegenwart passt oder nicht: Symptome entstehen ganz unwillkürlich, ganz gegen unseren Willen. Ein Symptom ist nach meiner Sicht ein Zeichen dafür, dass ein Grundbedürfnis eines Menschen nicht anerkannt und befriedigt ist. In dem Sinne sind unsere Symptome Warnhinweise unseres Organismus, besser auf uns zu achten, obwohl natürlich klar ist: Symptome sind meist lästig, schränken mein Leben ein und verbreiten schlechte Laune. Dennoch haben sie es verdient, auch mal aus einer anderen Perspektive betrachtet zu werden.
An dieser Stelle biete ich häufig ein Bild an: Bei den Symptomen ist es so wie mit einem Eisberg. Beim Eisberg sind durchschnittlich zwei Neuntel über Wasser, aber der viel größere Teil, nämlich sieben Neuntel, unter Wasser. Der sichtbare Teil des Problems, das sind die Symptome. Das Eigentliche ist aber unter der Wasseroberfläche verborgen. Wollte man die Symptome abschaffen oder einfach – Simsalabim – wegzaubern, dann wäre das so, als würde man mit einer riesig großen Machete den sichtbaren Eisberg wegschlagen. Und was passiert dann? Dann kommt von unten wieder Neues nach, und alles bliebe beim Alten. Wenn wir Symptome und Probleme also nicht abschaffen können, sollten wir sie als Hinweisschild betrachten, auf dem steht: Vorsicht, ein Teil von dir kommt gerade, hier, heute, jetzt zu kurz. Dieses Buch kann vielleicht dazu beitragen, daran etwas zu ändern und zu ersten Schritten ermutigen. Mehr zum Thema der versteckten Botschaft in den »lästigen« Symptomen finden Sie vor allem im siebten Kapitel dieses Buches.
 
Lassen Sie mich an dieser Stelle den kurzen Umweg über die Warum- und Wie-Fragen bis zum Wesen der Symptome und Probleme beenden und noch kurz auf die in diesem Buch verwendete Metapher des Inneren Kindes eingehen. Was ich damit meine, werde ich im nächsten Kapitel näher erläutern. Ich will aber schon an dieser Stelle darauf hinweisen, dass ich mit dem etwas inflationär gebrauchten Begriff »Inneres Kind« meine Schwierigkeiten habe. Warum das Konzept vom »Inneren Kind« seit einigen Jahren Ausverkauf hat