Jenseits der therapeutischen Beziehung - Jochen Peichl - E-Book

Jenseits der therapeutischen Beziehung E-Book

Jochen Peichl

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Beschreibung

Die therapeutische Beziehung zwischen Klient und Therapeut gilt als wichtiger Faktor für die Wirksamkeit einer Psychotherapie. Darüber hinaus gibt es weitere bedeutende Wirkfaktoren, die bisher in ihren Zusammenhängen untereinander wenig reflektiert sind – beispielsweise in der Hypnotherapie, aber auch in der Teiletherapie oder bei der Arbeit mit dualer Aufmerksamkeit wie in EMDR. Jochen Peichl vermittelt in diesem Buch einen prägnanten Überblick, der für die Beobachtung und Reflexion der eigenen Praxis von großem Wert ist. Kompakt und verständlich stellt er neue Befunde und Erkenntnisse u. a. aus der Gedächtnis- und der Hirnforschung vor, die das Wissen über Wirkhypothesen in der Psychotherapie grundlegend erweitern. Neben der "korrigierenden emotionalen Neuerfahrung" betreffen sie z. B. sogenannte Default-Modus-Netzwerke, Erinnerungsupdates und die Nutzung dualer Aufmerksamkeit bei der Konfrontation mit belastenden Ereignissen. Auch für die hypnotherapeutische Traumatherapie ergeben sich wichtige Einsichten in die Lenkung von Aufmerksamkeit, wenn es darum geht, eine gemeinsame therapeutische Realität zu konstruieren.

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Jochen Peichl

Jenseits der therapeutischen Beziehung

Was wirkt in Hypnotherapie und hypnotherapeutischer Teiletherapie?

2023

Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:

Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)

Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)

Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)

Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)

Dr. Barbara Heitger (Wien)

Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)

Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)

Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)

Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)

Dr. Roswita Königswieser (Wien)

Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)

Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)

Tom Levold (Köln)

Dr. Kurt Ludewig (Münster)

Dr. Burkhard Peter (München)

Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)

Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)

Dr. Rüdiger Retzlaff (Heidelberg)

Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)

Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)

Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)

Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)

Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)

Jakob R. Schneider (München)

Prof. Dr. Jochen Schweitzer † (Heidelberg)

Prof. Dr. Fritz B. Simon (Berlin)

Dr. Therese Steiner (Embrach)

Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin † (Heidelberg)

Karsten Trebesch (Berlin)

Bernhard Trenkle (Rottweil)

Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)

Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)

Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)

Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)

Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)

Prof. Dr. Jan V. Wirth (Meerbusch)

Themenreihe »Hypnose und Hypnotherapie«

hrsg. von Bernhard Trenkle

Reihengestaltung: Uwe Göbel

Umschlaggestaltung: B. Charlotte Ulrich

Umschlagfoto: © Richard Fischer • www.richardfischer.org

Redaktion: Uli Wetz

Satz: Drißner-Design u. DTP, Meßstetten

Printed in Germany

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Erste Auflage, 2023

ISBN 978-3-8497-0498-8 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-8457-7 (ePUB)

© 2023 Carl-Auer-Systeme Verlag

und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

Alle Rechte vorbehalten

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Carl-Auer Verlag GmbH

Vangerowstraße 14 • 69115 Heidelberg

Tel. +49 6221 6438-0 • Fax +49 6221 6438-22

[email protected]

Inhalt

Einleitung

1 Die therapeutische Beziehung: Alles oder nichts oder …?

1.1Fräulein Anna O. und die Methode des »Aberzählens«

1.2 Korrektive emotionale Erfahrung

1.3 Korrigierende Erfahrung bei Paul Watzlawick und Giorgio Nardone

1.4 Emotionales Berührtsein als ein Schlüsselelement

1.5 Die Rekonsolidierung des Gedächtnisses

1.6 Die Seppelhose

2 Wirkfaktoren in der Psychotherapie aus hypnotherapeutischer Sicht

2.1 Methoden- und störungsspezifische Techniken vs. allgemeine Wirkfaktoren

2.2 Das Intersubjektivitätskonzept

2.3 Wirkkonzepte der Hypnotherapie

2.4 Wirkkonzepte in der hypnotherapeutischen Teiletherapie

3 Wirkfaktoren in der Psychotherapie aus systemischer Sicht

4 Dauerhafte Veränderung durch Rekonsolidierungsprozesse

4.1 Anti-Symptom-Position und Pro-Symptom-Position

4.2 Kernkonzepte der Kohärenztherapie und Gedächtnisrekonsolidierung

Kernkonzepte

Das symptomverlangende Schema

4.3 Eine Brücke zur Teiletherapie: der »Anteil«, der das Symptom erzeugt

4.4 Wie entsteht Veränderung in Kohärenzmodell?

4.5 Identifizierung von widersprüchlichem Wissen

4.6 Wie kann dieser destabilisierte, dekonsolidierte Zustand im Langzeitgedächtnis gefördert werden?

Die Nebeneinanderstellungs-Erfahrung

5 Wirkfaktor: Nebeneinanderstellungs-Erfahrung

5.1 Die Phase des Umlernens – die »Tilgungsphase«

5.2 Die Botschaft des symptomassoziierten Ich-Zustandes

5.3 Die Nebeneinanderstellungs-Erfahrung und die Auflösung des Schemas

5.4 Das Ein-Personen-Rollenspiel: Ablauf

5.5 Mehr zur Nebeneinanderstellungs-Erfahrung

Beispiel: die Absorptionsmethode

5.6 Ist das alles nicht eine korrektive emotionale Neuerfahrung?

6 Was wirkt in der hypnotherapeutischen Traumatherapie?

6.1 Traumatischer Hochstress und Dissoziation in Persönlichkeits-Anteile

6.2 Synthese, Präsentifikation, Personifikation und Co.

6.3 Traumabearbeitung und Wirkungfaktoren: Was wirkt denn da?

6.4 Wirkfaktor: Lenkung der Aufmerksamkeit

7 Enaktive Therapie und Konstruktivismus: die Konstruktion einer gemeinsamen therapeutischen Realität

7.1 Allgemeine oder nichtspezifische Wirkfaktoren in der enaktiven Therapie von Ellert Nijenhuis

7.2 Eine gemeinsame Umwelt hervorbringen

7.3 Aufbau eines Begegnungsraumes

Wie sieht nun der Veränderungsprozess aus?

7.4 Das allgemeine Handlungsmodell

8 Duale Aufmerksamkeit als genereller Wirkfaktor

8.1 Duale Aufmerksamkeit im EMDR

Was genau passiert im Moment der doppelten Aufmerksamkeit?

8.2 Duale Aufmerksamkeit in der Teiletherapie – das »Verhäkerln« von Mustern

9 Die Verbindung zwischen Defaultmodus-Netzwerk und Wirkfaktoren

9.1 Was ist das Default-Mode-Netzwerk?

9.2 Weniger Ich-Bezogenheit und mehr Entropie

Ausblick

Literatur

Über den Autor

Einleitung

Vielleicht haben Sie ja gerade noch einmal den Titel dieses Buches gelesen und auf das Titelblatt geschaut, bevor Sie nun hier auf der Seite angekommen sind und haben gedacht: Was soll das sein: »hypnotherapeutische Teiletherapie«? Vermutlich können Sie etwas gedanklich mit »Teiletherapie« verbinden, haben eine Weiterbildung in Ego-State-Therapie oder Struktureller Dissoziations-Therapie gemacht oder einem anderen Teileverfahren und arbeiten damit in der psychotherapeutischen Praxis. Aber der von mir kreierte Oberbegriff »hypnotherapeutische Teiletherapie«? Eine erste Antwort darauf finden Sie in Abbildung 1.

Abb. 1: Die Familie der hypnotherapeutischen Teilemodelle

Ich habe in meinem Buch Ego-States, Seiten, Parts & Co.: Modelle der Teiletherapien (2023) die in der Abbildung genannten Therapieschulen mit ihren unterschiedlichen und gemeinsamen Theorien und Konzepten vorgestellt und angemerkt, dass alle sich mehr oder weniger auf den Grundsatz der Multiplizität in Bezug auf die Persönlichkeit eines Menschen beziehen. Die einen bieten Erklärungsmodelle ausschließlich für den Bereich der Therapie mit Traumafolgestörungen (TSDP und Enaktive Therapie), die anderen, wie die Ego-State-Therapie, versuchen sich in einer grundsätzlichen Theorie der menschlichen Seele.

Wenn ich das ganze Feld, das ich in dem oben genannten Buch ausgemessen habe, noch einmal überblicke, dann lassen sich alle Theoriekonzepte einer großen Überschrift zuordnen: Sie sind alle Variationen von hypnotherapeutischen Teilekonzepten und bekennen sich auch explizit in ihren Therapiestrategien zum hypnotherapeutischen Ansatz und namentlich zu Milton Erickson.

Was ich aber in dem erwähnten Buch nicht weiter verfolgt habe, war die Frage nach den Wirkfaktoren, nach den allgemeinen und speziellen Wirkkonzepten, die bei diesem hypnotherapeutischen Teileansatz und den einzelnen Mitgliedern der Großfamilie eine Rolle spielt.

Warum mich das interessiert und mich veranlasst hatte, dieses vor Ihnen liegende Buch zu schreiben? Da gibt es zwei Antworten.

Zum einen hat mich auf die unschuldige Frage »Was wirkt eigentlich in der Psychotherapie?« die immer gleiche Antwort, es sei (nur) die »psychotherapeutische Beziehung«, zunehmend »genervt« – oder, politically correct: erstaunt. Vor allem mein psychoanalytischer Innenteil gab sich bis dato damit immer zufrieden – war diese Antwort doch unhinterfragter Konsens in der Community. Aber je mehr in den letzten Jahren mein hypnotherapeutischer »Ego-State« an Bedeutung gewann, desto lauter wurden die inneren Widersprüche: Da muss es doch noch mehr geben als nur Beziehung! Auf der Suche nach einer Antwort ließ mich die Lektüre der Fallgeschichten von Milton Erickson und Giorgio Nardone nicht mehr los, die mich anzog, aber auch mit ihren »skurrilen« Therapievorschlägen irgendwie erschreckten.

Und ein zweiter Punkt: Bei Short u. Weinspach (2007, S. 165) las ich ein Zitat, das Milton Erickson (laut Rossi 1986) zugeschrieben wird:

»Die hypnotische Technik dient einzig und allein dazu, ein günstiges Setting zu kreieren, in dem es möglich wird, Klienten so zu instruieren, dass sie ihre eigenen Verhaltenspotenziale in vorteilhafter Weise nutzen können.«

Daraus lernte ich: Die Konstruktion eines Settings und die »Instruktion« des Klienten sind bedeutsam – sicher ist dafür die therapeutische Beziehung auch wichtig, aber es braucht für einen Erfolg wohl mehr als nur empathisches Begleiten. Spätestens 2018 bei dem Vortrag von Anne M. Lang bei der MEG-Jubiläums-Tagung über Milton Erickson als »Wirklichkeitserzeuger durch Kommunikation« begann sich auf meiner inneren Bühne ein zunehmend schärfer geführter Kampf um die Lufthoheit über »richtig« und »falsch« in der Therapeutenhaltung1 abzuzeichnen. An folgender Fallgeschichte, die Anne Lang vortrug, schieden sich damals meine inneren Geister:

Die Zahnlücke

Eine 21-jährige Frau glaubte wegen ihrer Zahnlücke zwischen den Schneidezähnen keinen Mann finden zu können. Sie plante, sich deswegen zu suizidieren. Erickson stellte fest, dass einer ihrer Kollegen, den sie häufig am Trinkbrunnen im Büro traf, sich offensichtlich für sie interessierte. Als Hausaufgabe sollte sie üben, durch besagte Zahnlücke gezielt mit Wasser spritzen zu können. Schließlich motivierte Erickson die Klientin, den jungen Mann auf diese Weise gezielt anzuspritzen und dann wegzurennen. Der Mann verfolgte sie kurz und schoss am nächsten Tag mit einer Wasserpistole auf sie, lud sie zum Essen ein, und am Ende gründeten sie eine Familie.2

Sie werden jetzt vielleicht sagen, das ist ja noch harmlos, Erickson hat noch viel heftigere Interventionen gemacht, und dann folgt meist die spektakuläre Geschichte von dem Studentenpaar, das einnässte, nie darüber redete und von Erickson angewiesen wurde, abends ins Bett zu pinkeln und darin zu schlafen usw.

Ich finde, das mit der direkten Suggestion, dem posthypnotischen Auftrag und der Handlungsanweisung an den Klienten, das ist schon ein ehrenwertes Thema in der Hypnotherapie. Wer sich dafür interessiert, dem empfehle ich Giorgio Nardone und sein Buch über Pirouetten im Supermarkt. Strategische Interventionen (2007) und vor allem Gunther Schmidts Vorwort dazu. Schmidt fragt sich darin – und das kann er sich auch bei Erickson und seinen oft heroischen Fallgeschichten fragen –, warum tut Nardone das, was er tut, und wie wirkt das auf uns? Schmidt schreibt:

»Bei vielen der hier beschriebenen Fallbeispiele wird man sich fragen, wie Giorgio Nardone KlientInnen dazu bringt, solch ungewöhnliche, teilweise völlig absurd erscheinende Interventionen umzusetzen. Es würde mich auch nicht verwundern, wenn sich manche LeserInnen irritiert zeigen und sein Vorgehen womöglich als manipulativ, zynisch, unempathisch bewerten und es als abwertend gegenüber den KlientInnen betrachten« (Nardone 2007, S. 9).

Genau – ehrlich gesagt, ging es mir genauso. Durch Schmidts Erklärungen und Rechtfertigungen für die Interventionen Nardones – »hilfreiche Täuschungsmanöver und Tricks etc.« (ebd.) – war ich dann irgendwie wieder eingefangen, und mein kluger Hypno-Anteil gab auf der inneren Bühne wieder den Ton an, und für die anderen Therapeuten-Anteile hieß es »Klappe halten«.

Aber in allen autoritären Regimen schwelen die Konflikte und Oppositionsstimmen im Untergrund weiter – so auch bei mir auf und hinter der Bühne. Ich beobachtete das innere Grummeln, und langsam stieg eine Frage aus dem Dunkel des Mittelhirns ins Licht des präfrontalen Denkhirns: Was wirkt denn da in der Psychotherapie überhaupt? Und vor allem jenseits der stereotypen Antwort: na klar, die therapeutische Beziehung.

Ich tat das einzig Richtige, was ich von Noni Höfner, geschätzter Kollegin von der »Provokativen Therapie«, gelernt hatte: Bei einer Tagung in den 90ern mit Frank Farrelly in Mannheim sagte sie über ihr persönliches Unwissen und ihre Unkenntnis zu einem Therapiethema: »Wenn man neugierig ist und von etwas noch nicht viel versteht, dann sollte man dazu ein Buch schreiben.«

Gesagt – getan: Das Ergebnis liegt vor Ihnen.

Was ich jetzt vor Ihnen ausbreiten werde, erhebt nicht den Anspruch, eine weitere akademische Arbeit zur Publikation in einem hoch angesehenen Journal zum Thema »Wirkfaktoren in der Psychotherapie« zu sein. Es ist meine persönliche Spurensuche und eine Auswahl der Wirkmechanismen, die ich neben der therapeutischen Beziehung für bedeutend halte.

Noch ein Satz in eigner Sache zum Thema »Teilekonzepte«

Vielleicht werden Sie bei der Lektüre bemerken, dass ich die Termini »Ego-State« und »Ego-State-Therapie« hier in diesem Buch versuche zu vermeiden, um Teile, Seiten der Persönlichkeit zu benennen – ich sage eher neutral »Teil« oder »Anteil«. Mit der Wortschöpfung »hypnotherapeutische Teiletherapie« wollte ich für mich einen Ort außerhalb der Denkschulen definieren, die in ihren Konzepten vom Gedanken der Multiplizität ausgehen, ohne mich auf eine Schulrichtung wie Ego-State-Therapie, TSDP oder Enaktive Therapie festzulegen. Für meine Arbeit nutze ich von allem »das Beste« und kombiniere es pragmatisch. Ich kenne die Vorteile der einen Theorie und die Nachteile der anderen.

1»Therapeut« und »Klient« werden von mir als Rollenbegriffe verwendet und können beiden Geschlechtern angehören.

2Eine ausführliche Beschreibung des Falles findet sich Erickson 2018, S. 272 ff.

1 Die therapeutische Beziehung: Alles oder nichts oder …?

Stichworte: Die moderne Psychotherapie beginnt mit dem »Reden über die verpönten Erlebnisse«, mit dem sogenannten »Aberzählen« der Anna O. Aber nicht nur Reden wurde wichtig, sondern auch die Möglichkeit einer korrigierenden, emotionalen Neuerfahrung, eines emotionalen Berührtseins. Im letzten Abschnitt geht es um Veränderung durch den Prozess der Rekonsolidierung des Gedächtnisses.

Lassen Sie mich mit einem kleinen Quiz beginnen. Ich zitiere Ihnen nun ein paar Zeilen aus einer berühmten Krankengeschichte und möchte Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, zwei Fragen stellen:

1)

Können Sie erahnen, um wen und worum es da geht?

2)

Wann, glauben Sie, hat das ganze »Privattheater« stattgefunden?

Hier das Zitat:

»Es ist schwer, dem Ausdrucke aus dem Wege zu gehen, die Kranke sei in zwei Persönlichkeiten zerfallen, von denen die eine psychisch normal und die anderen geisteskrank war. Ich meine, dass die scharfe Trennung der beiden Zustände bei unserer Kranken ein Verhalten nur deutlich machte, das auch bei vielen anderen Hysterischen Ursache so mancher Rätsel ist. […] Aber so scharf die beiden Zustände getrennt waren, es ragte nicht bloß der ›zweite Zustand‹ in den ersten hinein, sondern es saß, wie die Patientin sich ausdrückte, mindestens häufig auch bei ganz schlimmen Zuständen in irgendeinem Winkel ihres Gehirns ein scharfer und ruhiger Beobachter, der sich das tolle Zeug ansah.«

Haben Sie auch an eine sogenannte Multiple Persönlichkeit gedacht? Wir schreiben das Jahr 1882, und der Fallbericht stammt von dem Wiener Arzt Josef Breuer (Freud u. Breuer 1990, S. 39). Diese Beschreibung der verschiedenen Persönlichkeitsanteile,

a)

eines psychisch normalen Teils

b)

eines geisteskranken Teils und

c)

eines inneren Beobachtens,

sind uns heute aus der hypnotherapeutischen Teiletherapie sehr vertraut. Mit dieser frühen Erfahrung mit Multiplizität möchte ich Sie nun einstimmen auf dieses Kapitel.

1.1Fräulein Anna O. und die Methode des »Aberzählens«

Für mich beginnt die moderne Psychotherapie mit den Studien über Hysterie (1985) durch Breuer und Freud. Ich hörte einmal, diese Studien seien das »Keimbuch« der Psychoanalyse, und der Versuch der Behandlung der Patientin Anna O. (Bertha von Pappenheim) durch Josef Breuer der Start in ein neues Verständnis der inneren Mechanik der Seele. Auch wenn die eigentlich psychoanalytischen Behandlungsverfahren des freien Einfalls und die Theorie der Verdrängung noch gar nicht entwickelt waren – Therapietechniken, die Freud erst später, nach der Trennung von Breuer, einführte –, so ist doch das innovative Verständnis von autobiografischer Lebensgeschichte und neurotischem Krankheitsgeschehen revolutionär. Die beiden Gründungsväter gingen von der Annahme aus, dass hysterische Symptome die Folge davon waren, dass ihre Klienten in den Momenten der realen Traumatisierung nicht in der Lage waren, ihre Gefühle auszudrücken. Zu dem Zweck, das zu heilen, wurde folgerichtig die kathartische Methode eingesetzt. Was war das Wirkprinzip dieses von Josef Breuer praktizierten Ansatzes der »Katharsis«?

Heute denken Sie vielleicht bei dem Begriff »Katharsis« an Klienten, die heftige Gefühle ausagieren, auf Kissen einschlagen oder sich auf dem Boden wälzen. Für den Anfang der Psychoanalyse ist das vermutlich ein Missverständnis, vielmehr geht es ums Erinnern und »Erzählen« und in der Folge um das Erleben der »eingeklemmten« Gefühle.

Über die Fallgeschichte des Fräuleins Anna O. heißt es:

»Sie wird als der erste Fall geschildert, in dem es gelang, die Hysterie ›vollständig zu durchleuchten‹ und die Symptome zum Verschwinden zu bringen. Ihre Aussage, dass das Aussprechen ihr helfe, ihre Seele zu entlasten, entspricht der später als ›Katharsis-Theorie‹ bezeichneten Behandlungstechnik der Psychoanalyse. Freud bezeichnete sie deshalb als die ›eigentliche Begründerin des psychoanalytischen Verfahrens‹. Aufgrund dieser Fallgeschichte wurde die Aussage, ›der Hysterische leide größtenteils an Reminiszenzen‹, also traumatischen Erinnerungsinhalten, die durch Erzählen ›verarbeitet‹ werden können, erstmals formuliert.«3

Die Patientin Breuers bemerkte die Erleichterung, die ihr das »Aberzählen« von Erinnerungsepisoden brachte und sie selbst prägte dafür die seither berühmten Begriffe »chimney-sweeping« (»Kamin-Ausfegen«) oder »talking cure« (»Redekur«). Daraus schließe ich, dass Breuer und Freud glaubten, das Wirkprinzip der innovativen Therapie im »Aberzählen« gefunden zu haben – dem Reden über Gedanken, Erinnerungen und Erfahrungen, die Menschen auch damals schon belasteten, aber über die zu sprechen, ein gesellschaftliches Tabu war: über Missbrauch in der Familie und außerhalb, über Sexualität usw.

»Das systematische Erinnern« und »Aberzählen« der Anlässe, bei denen die hysterischen Symptome erstmals aufgetreten waren, entwickelte Breuer zu der bei Pappenheim erstmals angewandten therapeutischen Methode. Er habe zu seinem Erstaunen bemerkt, dass ein Symptom verschwand, nachdem die Erinnerung an das erstmalige Auftreten bzw. den Anlass »ausgegraben« worden war. Breuer beschrieb sein schließliches Vorgehen folgendermaßen: Am Morgen befragte er Pappenheim unter leichter Hypnose nach den Gelegenheiten und Umständen, unter denen ein bestimmtes Symptom aufgetreten war. Bei einem abendlichen Besuch wurden diese Episoden – teilweise über 100 – von Pappenheim systematisch in umgekehrter zeitlicher Reihenfolge »aberzählt«. War sie beim erstmaligen Auftreten und damit der »Ursache« angelangt, so zeigte sich das Symptom in verstärkter Form noch einmal, um dann »für immer« zu verschwinden«.4

Ob Josef Breuers Klientin nach dem Ende der Therapie geheilt war oder nicht – es bestehen erhebliche Zweifel in der Literatur zu diesem Fall (Jung 1925/1995, S. 10; Aldrich 1931/2014, S. 213) –, soll uns hier nicht weiter interessieren, aber die Frage »Was wirkt denn da?« lässt sich für diesen ersten Ansatz psychoanalytischer Therapie so beantworten:

Das Erinnern einer verdrängten Episode der Vergangenheit, die für die Symptomentstehung als Ersatzhandlung verantwortlich ist, und das Nacherzählen in einer geschützten persönlichen Beziehung. Die begleitende Gefühlsreaktion ist dabei wichtig, aber nicht primär.

»Sie [Breuer und Freud] glaubten, dass ein Mangel an affektiver Erregung zum Zeitpunkt eines Traumas die Erinnerung an das traumatische Ereignis über Jahre hinweg wachhält. Sobald diese Emotionen im therapeutischen Kontext erlebt, ausgedrückt und in Worte gefasst würden, wären sie geheilt« (Lane et al. 2015, S. 3).

1.2 Korrektive emotionale Erfahrung

Der psychoanalytischen Tradition Freuds folgend, bleibt das Erinnern und das Verstehen der Vergangenheit (Einsicht) bis heute ein wichtiges Agens des psychoanalytischen Verständnisses, was Veränderung in der Therapie bewirkt. Es war Sandor Ferenczi (1980a, 1988), der ein neues Element in die psychoanalytische Redekur einführte: emotionale Offenheit und Ehrlichkeit des Analytikers.