Jenseits der Sonnenfinsternis - Christel Görres-Strohmeier - E-Book

Jenseits der Sonnenfinsternis E-Book

Christel Görres-Strohmeier

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Beschreibung

»In Kriegszeiten wurde ich mit Orden überhäuft, wenn ich unschuldige Menschen niedermetzelte; in Friedenszeiten sollte ich als Mörder gelten, weil ich einen niederträchtigen Vergewaltiger tötete? Recht und Unrecht; Schuld und Sühne; Sünde, Reue und Buße: leere Worte, die mein abgestumpftes Ich nicht mehr einordnen konnte.« Das waren die letzten Zeilen im Abschiedsbrief des Oberfeldwebels Franz Schmitz, bevor er sich in Köln am 21. Februar 1933 auf dem Dachboden seines Hauses erhängte. Spannend und mitreißend lässt die Autorin im I. Buch der Trilogie das Leben von zwei deutschen Familien aus Ost und West milieugerecht lebendig werden. Facettenreich wird ihre wechselvolle Geschichte während der Kaiserzeit, des Ersten Weltkrieges, der Wirren der Weimarer Republik und der Machtergreifung Hitlers beleuchtet.

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Seitenzahl: 280

Veröffentlichungsjahr: 2011

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Gewidmet den Vätern, Gatten und Söhnen,

die voller patriotischer Überzeugung in einen

menschenverachtenden Krieg zogen.

Gewidmet den Familien, die mit den traumatisierten

Heimkehrern leben mussten.

Inhalt

Prolog

1

Cöln-Ehrenfeld

2

Templin, Uckermark

3

Cöln-Ehrenfeld

4

Templin, Uckermark

5

Cöln-Ehrenfeld

6

Hamburg

7

Cöln-Ehrenfeld

8

Prenzlau

9

Vor Lüttich

10

Templin, Uckermark

11

Neuve Chapelle, Frankreich

12

Cöln-Ehrenfeld

13

Westfront, Frankreich

14

Templin, Uckermark

15

Sivry bei Verdun, Frankreich

16

Köln-Ehrenfeld

17

Templin, Uckermark

18

Köln-Ehrenfeld

19

Röddelin, Uckermark

20

Köln-Ehrenfeld

21

Berlin

22

Köln-Ehrenfeld

23

Templin, Uckermark

24

Köln-Deutz, Messehalle

Prolog

Zu Köln-Ehrenfeld geschrieben, am 21. Februar 1933

Abschiedsbrief des Oberfeldwebels Franz Schmitz an die Mutter seiner geliebten Kinder

Liebste Maria!

Wenn Du diese Zeilen liest, werde ich in den Freitod gegangen sein, um meinem schuldbeladenen Leben ein Ende zu setzen. Gleichwohl möchte ich diese Welt nicht verlassen, ohne Dir die Beweggründe für meinen Selbstmord begreiflich zu machen, den die katholische Kirche als eine ihrer vielen Todsünden anprangert.

Vor jenem bestialisch geführten Krieg anno 1914, in dem ich vier unbeschreiblich entbehrungsreiche Jahre von Dir und unseren Kindern getrennt blieb, genoss ich das Dasein eines glücklich-zufriedenen Gatten und Vaters. Als ein streng nach den Lehren der katholischen Kirche Lebender zog ich mit Dir acht Kinder in unserer geliebten Heimatstadt Köln im christlichen Glauben auf.

Im Schicksalsjahr der deutschen Mobilmachung trieb uns die Generalität, als willfähriger Vasall unseres Kaisers Wilhelm II., immer wieder erbarmungslos in den bluttriefenden Rachen eines flammenden Infernos, welches seinen Höhepunkt – mit einer bis dato nie geführten Waffenperfektion – in der Hölle von Verdun fand, in der Abertausende von Menschen unerbittlich als Kriegsmaterial en gros verheizt wurden.

Gleich allen anderen, zog auch ich voller Enthusiasmus und vaterländischem Patriotismus in barbarische Gemetzel, wo wir mit einer gnadenlosen Unmenschlichkeit menschliche Wesen – unbescholtene Väter, Brüder, Gatten –, die uns zuvor nie ein Leid zugefügt hatten, auf das Skrupelloseste verstümmeln oder abschlachten mussten.

Nachdem das deutsche Kaiserreich seine schmachvolle Niederlage eingestanden und der Kaiser abgedankt hatte, ertrug ich – so wie viele meiner entwurzelten Kameraden – widerstandslos und hilflos ausgeliefert in französischer Gefangenschaft jegliche Repressalie, Erniedrigung und brutale Folterung. Physisch und psychisch demoralisiert, kehrte ich als halb verhungerter Krüppel, innerlich abgestorben und zu keiner menschlichen Regung mehr fähig, nach Hause zurück.

Weder die aufopferungsvolle Pflege noch die mir bedingungslos entgegengebrachte Liebe der Familie konnte mein verfinstertes Gemüt aufhellen. Von einem liebenden Gatten und treusorgenden Vater mutierte ich zu einem menschlichen Scheusal, das seine Familie, Verwandten und Bekannten auf das Niederträchtigste beschimpfte und verfluchte. Die gesamte Welt sollte für jenes Unrecht, das mir zugefügt worden war, leidvoll büßen.

Übermächtige und unbeherrschbare Wutattacken sowie ein reichlich konsumierter Alkohol machten es mir unmöglich, nach dem Krieg in die Realität zurückzufinden. In Kriegszeiten wurde ich belobigt und mit Orden überhäuft, wenn ich unschuldige Menschen massenweise niedermetzelte; in Friedenszeiten sollte ich als Mörder gelten, weil ich einen niederträchtigen Vergewaltiger tötete?

Schuld und Sühne; Recht und Unrecht; Sünde, Reue und Buße: leere Worte, die mein abgestumpftes Ich nicht mehr einordnen konnte, die im Strudel meines unwirklich gewordenen Seins versanken.

Der Klerus, unsere Domherren, Vertreter der göttlichen Macht, segneten jene Waffen, die auf Befehl der weltlichen Macht den Nächsten töten sollten, den ich – wie mich selbst – zu lieben angehalten war. Mit dem Verlust des Glaubens in die Institution Kirche verlor ich auch meine eigene Identität; all das, was zuvor mein lebensbejahendes, charakterfestes und tief religiöses Wesen ausgemacht hatte.

Allein der gerechte Herr lässt sich nicht durch frömmelnd-widersprüchliche Worte der schwadronierenden Geistlichkeit irreführen. Denn nur die Taten – im guten wie im schlechten Sinne – zählen. In ständig wiederkehrenden Albträumen ließ er mich die von mir verübten Gräuel erneut durchleben, die mich auf einer beständigen Gratwanderung zwischen Mord- und Selbstmordgelüsten wandeln ließen, sodass jenes apodiktische Urteil meiner gerechten Strafe jetzt heißen muss: Tod durch Erhängen.

Nachdem dieser Brief beendet sein wird, werde ich mich mit jener Peitsche erhängen, die ich schon beim geringsten Anlass gegen die mir Anvertrauten erhob und mit der ich sowohl meine Tochter Magdalene als auch meinen Sohn Heinrich in den Selbstmord und meinen Jüngsten aus dem Hause trieb.

Einsam, von Gott und der Welt verlassen, stehe ich auf dem Dachboden unseres Anwesens. Vor meinen Augen verschwimmen die einzelnen Lettern des Briefes, den mein Vater im Januar 1907 verfasste, bevor auch er seinem Leben ein Ende bereitete. »Die Wahrheit über mein verruchtes und sündiges Dasein« heißt die zweimal unterstrichene Überschrift einer Lebensbeichte, in der er meiner Stiefmutter seine unfassbaren Schandtaten offenbarte.

Man sagt, dass vor dem geistigen Auge eines Sterbenden sein ganzes Leben abläuft. Möge der Herr Gnade walten lassen, indem er mir auch jenes Wunderbare zeigt, dass ich mit Dir und unseren geliebten Kindern erleben durfte.

Vergebt mir.

Franz Schmitz

1

Cöln-Ehrenfeld

5. August 1909

»Wenn wir den Grafen Zeppelin um elf Uhr mit seinem Luftschiff in Bickendorf bei der Landung sehen wollen, musst du dich sputen!« Cecilia stand ungeduldig vor ihrer acht Jahre älteren Cousine Maria und drehte aufgeregt deren mit Federn und Blumen geschmückten überdimensionalen Wagenradhut in ihren Fingern.

»Cilli, drängle nicht so!« Seufzend wandte sich Maria seitlich zum Facettenspiegel des im Jugendstil gehaltenen Schlafzimmerschrankes und betrachtete mit gekrauster Stirn die leichte Rundung ihres Bauches, die sich unter dem langen, schmalen Rock aus weißem Leinen abzeichnete. »Es ist kurz nach neun Uhr und Franz hat versprochen, uns zur Luftschiffhalle zu chauffieren.« Achselzuckend verzichtete sie diesmal darauf, die veilchenblaue Taillenschärpe über dem modischen – um die Knie eng geschneiderten – Humpelrock zu gürten.

Bewundernd schaute Cecilia auf ihre nach der neuesten Mode gekleidete Verwandte, die mit geübten Griffen die roten Haare ihrer mondänen Kurzschnittfrisur in Form zupfte, welche sie – wie die Stars der aufstrebenden Filmindustrie – als Zeichen der Gleichberechtigung in Familie und Gesellschaft naturgetreu nachgeahmt hatte. »Hoffentlich weißt du das Glück zu schätzen, einen so fortschrittlichen Mann geheiratet zu haben …«, sie stellte sich mit heruntergezogenen Mundwinkeln neben Maria, betrachtete angewidert ihre aschblonde, zu einem Knoten aufgesteckte Großmutterfrisur und fuhr ärgerlich fort: »… der dir alle Wünsche von den Lippen abliest und für dich sogar die Mitgliedschaft im kürzlich gegründeten Cölner Frauenclub unterschrieben hat.«

Maria streifte die schenkellange Leinenjacke über, befestigte ein künstliches Veilchenbukett am Revers, streichelte ihrer 18-jährigen Cousine sanft über die zorngeröteten heißen Wangen und beschwichtigte sie mit den Worten: »Morgen werde ich deine Eltern von der bequemen Handhabung der neuen Heißluftmaschine bei einem Kurzhaarschnitt überzeugen.« Sie wuchtete das 1,8 Kilogramm schwere Elektrogerät – den Namen Fön hatte das AEG-Werk vorsorglich schützen lassen – von der eichenen Kommode, hielt es mit verkrampften Händen vor ihren tief in die Stirn reichenden Fransenpony und versuchte mit der 90 Grad heißen Luft die Schweißperlen des Gesichtes zu trocknen. »Cilli, ich bin schon wieder schwanger!«, konstatierte sie plötzlich völlig zusammenhanglos, derweil sie seufzend die neueste Errungenschaft zur Seite legte.

Geräuschvoll sog Cecilia die Luft ein. »Das wäre dann das achte Kind!«, rief sie erschüttert und fuhr mit leiser Stimme fort: »Hoffentlich werden es keine Zwillinge wie bei der ersten oder gar Drillinge wie bei der vorletzten Niederkunft.«

»Mal den Teufel nicht an die …«

»Weiß Franz es schon?«

»Nein, nur die Schwiegermama. Sie will es ihm erzählen, wenn er gleich die kleine Sofie bei ihr abliefern wird. Die Zwillinge, die Drillinge und Heinrich sind bei den Palms-Pänz. Gemeinsam hoffen sie, von deren Dachterrasse einen Blick auf den Zeppelin erhaschen zu können.«

Marias Schwiegermutter imitierend, senkte Cecilia ihren glockenreinen Sopran um eine Oktave. »Kinder sin ein Jeschenk Jottes«, ahmte sie naturgetreu den Cölner Dialekt der besten Freundin ihrer Mutter nach. »Wir nehmen die Kinderschen so, wie der jute Herrjott sie uns jibt!« Kokett verbarg sie ein Grienen hinter der vor den Mund gehaltenen Hand.

»Du darfst meiner verehrten Schwiegermama nicht höhnen; das ist unschicklich!« Marias Versuch, auf die gelungene Persiflage ihrer Cousine ernsthaft zu antworten, schlug fehl. Verhalten kichernd begann sie: »Die Ärmste hat den …«, einen Augenblick zögernd, bekreuzigte sie sich hastig, ehe sie mit ernster Miene fortfuhr: »… Freitod ihres Mannes vor zwei Jahren noch immer nicht verwunden.«

»Bei allen Heiligen!«, rief Cecilia voller Entsetzen und schaute sich ängstlich nach allen Seiten um. »Nimm das gotteslästerliche Wort in diesem erzkatholischen Cöln nicht in den Mund. Schließlich ist Selbstmord eine Todsünde. Im Familien- und Verwandtenkreis wurde von einem tragischen Unfall gesprochen, nachdem sich dein Schwiegervater vor die Elektrische geworfen hatte.« Entnervt atmete Cecilia tief durch, ehe sie, in Erinnerungen schwelgend, entrückt weitersprach: »Ich denke so gerne an meinen zehnten Geburtstag zurück, als Onkel Ägidius unserer Familie Billetts zur Jungfernfahrt in der ersten elektrischen Cölner Ringbahn schenkte, die er so enthusiastisch als einen großen technischen Fortschritt bezeichnete.« Sie schlug die Augen nieder und flüsterte: »Jenes Schienenfahrzeug, vor das er sich sechs Jahre später …«

»Ich erinnere mich genau!«, fiel Maria ihr aufgewühlt ins Wort. »Ich war zum vierten Mal guter Hoffnung, und nach dieser immensen Aufregung kam ich am nächsten Tag mit Sofie nieder.« Sie senkte die Stimme und wisperte: »Aber sei unbesorgt. Schwiegermama Anna verbrannte zu jener Zeit sofort den Abschiedsbrief des Unglückseligen. Dabei jährte sich ihre zweite Ehe mit Ägidius gerade zum sechsten Mal, als er in den Freitod ging. Oma Anna konnte selbst keine Kinder bekommen. Deshalb nahm sie damals Ägidius’ Sohn überglücklich in die Arme und ist meinem Franz nicht nur die beste Mutter, sondern unseren Kindern auch die liebste Oma der Welt. Zum zweiten Mal musste diese herzensgute Frau einen Gatten begraben und keiner konnte sie seinerzeit in ihrer unermesslichen Trauer trösten. Auch Franz hat seit jenem verhängnisvollen Tag niemals mehr über seinen in Todsünde verschiedenen Vater gesprochen. Der Skandal in der Erzdiözese wäre zu groß gewesen.«

»Pst, sei still!« Cecilia hielt den Zeigefinger vor den Mund, horchte aufmerksam die Treppe hinunter und setzte ihrer Cousine hastig den riesigen Hut auf den Kopf. »Ich glaube, Franz kommt die Stiege herauf.« Mit geröteten Wangen blickte sie auf Marias schneidigen Mann, der plötzlich lachend im Türrahmen stand. Mit der verzehrenden Kraft ihrer schwärmerischen Jugend schaute sie auf die pomadige schwarzbraune Frisur des heimlich Angebeteten, die er à la Stummfilmstar Rudolph Valentino trug und die ihm – genau wie seinem berühmten Idol – den Spitznamen Pomadenhengst eingebracht hatte.

»Ist die holde Weiblichkeit zur Abfahrt bereit?« Voller Galanterie küsste Franz den Damen die entgegengestreckten zarten Hände. »Klein Sofie ist jetzt nebenan in bester Obhut. Oma Anna wird sie bis zum Zapfenstreich mit Leckereien aus dem umfassenden Angebot unseres exquisiten Feinkostgeschäftes vollstopfen. Uns wurde die Erlaubnis zum Amüsement bis zum späten Abend erteilt.« Zärtlich nahm er seine Frau in die Arme, flüsterte verschwörerisch ein »Freue mich als bibelfester und gottgläubiger Katholik auf den neuen Erdenbürger« in ihr Ohr, zwickte voller Übermut Cecilia verstohlen in den Allerwertesten und freute sich königlich darüber, dass sich die zartrosa Wangen der hektisch Atmenden in tiefstes Purpur verfärbten. »Der neue 1909er-Opel steht fahrbereit vor der Villa. Da wir zu dritt vorne sitzen müssen, werde ich meine angeheiratete und zur jungen Frau erblühte Verwandte während der Fahrt eng an mich pressen müssen«, neckte er die Cousine seiner Frau und nickte selbstzufrieden, als Cecilia mit einem spitzen Aufschrei aus dem Schlafgemach flüchtete.

»Herr Franz Schmitz!«, tadelte Maria ihren immer zu Scherzen aufgelegten Gatten und bekämpfte mit einer erzwungenen Ernsthaftigkeit ihr aufkeimendes Lachen. »Schäm dich! Musst du sie denn immer in Verlegenheit bringen? Du wirst dich gleich bei ihr entschuldigen!«

»Einem werdenden achtfachen Vater missgönnst du aber auch das allerkleinste unschuldige Vergnügen.« Übertrieben schmollend reichte er seiner Gattin den Arm. »Jedoch werde ich, damit der warme Augusttag einer der schönsten werden soll, deiner Aufforderung im Verlauf des Tages vielleicht nachkommen.«

Vergnügt stiegen sie die Treppe hinunter und staunten lachend über Cousine Cecilia, die es sich, stolz aufrecht sitzend, im blank geputzten Opel-Cabriolet – das blinkend im Sonnenschein vor der Hofeinfahrt stand – auf dem Mittelplatz des Dreisitzers bequem gemacht hatte.

Belustigt grinsend belegte Franz den Platz auf der Fahrerseite. Schüchtern und mit dem tiefen Seufzer einer hoffnungslos Verliebten drängte sich Cecilia Schutz suchend an Maria, die schon den Beifahrersitz neben ihr eingenommen hatte.

»Dann wollen wir hoffen, dass den Pionieren der Luftfahrt ihr zweiter Versuch, den Zeppelin sicher im Cölner Luftschifffahrtshafen zu landen, gelingt«, resümierte Franz, während er den Motor des Opels mit lautem Getöse anließ. »Der Auftakt am Montag jedenfalls endete kläglich in einem Blitz- und Hagelunwetter mit einer Niederlage der modernen Luftschifffahrt bei Koblenz.«

»Warum?«, wollte Cäcilia wissen.

»Aufgrund der schwachen Dieselmotoren, die den Kampf gegen den starken Wind aufgegeben hatten, sah man sich gezwungen, einen dezenten Rückzug einzuleiten, damit man, trotz leichter Schäden, wieder heil auf dem Frankfurter Startgelände ankern konnte«, erwiderte Franz gut gelaunt. »Aber nun wird es Zeit, dass endlich der erste Zeppelin feierlich an unseren Festungskommandanten General von Sperling übergeben wird. Denn schließlich wurde auf höchsten Erlass Kaiser Wilhelms II. der Bickendorfer Butzweiler Hof zum Luftschifffahrtshafen ernannt.« Hinter der katholischen Pfarrkirche St. Maria Himmelfahrt und der neuen Volksschule des Architekten und Stadtbauinspektors Carl Moritz schlug er die Richtung zum Butzweiler Bauernhof ein.

»Warum ist es denn so still in der Unterrichtsstätte, Maria?«, fragte Cecilia, während sie im Vorbeifahren verwundert auf den verwaisten Schulhof zeigte.

»Aus Anlass der Landung des Grafen mit seinem Zeppelin II haben heute alle Cölner Pänz schulfrei bekommen.«

Gemächlich gondelten sie an sonnendurchtränkten Fluren vorbei, auf deren Äcker der Weizen und Roggen schon gemäht und gedroschen war, sodass man auf den Stoppelfeldern unzählige Strohgarben erblickte, die im mild wehenden Sommerwind trockneten und geheimnisvoll knisternde Geräusche von sich gaben. In den Gärten lugten die zuckerreifen, prallen Zwetschgen zwischen dem sattgrünen Blattwerk der Obstbäume hervor, bogen die Äste gen Boden und warteten ungeduldig darauf, gepflückt zu werden.

Cecilia schnupperte in Richtung einer kleinen, gepflegten Apfelplantage und sog geräuschvoll die linde Luft durch ihr zierliches Näschen. »In diesem Jahr kann man die Ernte sicherlich zwei bis drei Wochen vorziehen, da das Wetter heuer ungewöhnlich mild und sonnig ist. Das Aroma des James Grieve liegt unwiderstehlich in der jungfräulich-morgendlichen Luft«, schwärmte sie sachkundig und auch ein wenig hungrig. »Selbst der Duft des überreifen Klarapfels lässt darauf schließen, dass beide Sorten baldigst geerntet werden müssen!«

Cecilias Apfelgelüste wurden abrupt unterbrochen, als Franz plötzlich mit lautem Hupen eine Droschke überholte und die panisch aufgescheuchten Pferde dazu veranlasste, vom gemächlichen Trab in einen wilden Galopp zu springen. Der aufgebracht fluchende Fuhrmann konnte nur unter größter Kraftanstrengung den Zusammenstoß mit einem Trupp Wanderer verhindern, die sich mit Kind und Kegel per pedes auf den Weg zum Luftschifffahrtshafen nach Bickendorf gemacht hatten. »Und nun demonstriere ich euch, was die acht PS meines schnittigen Cabriolets leisten können!«, rief er stolz und umschloss fest mit beiden Händen das Lenkrad. Höchst belustigt ignorierte er Marias besorgte Protestlaute, als sie sich gezwungen sah, mit beiden Händen ihre riesige Kopfbedeckung festzuhalten, während er das Gefährt auf Höchstgeschwindigkeit beschleunigte.

Cecilia – die bis dato nur an Kutschfahrten gewöhnt war und zum ersten Mal in einem Automobil saß – quiekte jedes Mal kreidebleich auf, wenn Franz mit röhrender Hupe und lautem Geknatter ein Gespann nach dem anderen überholte und hinter sich ein Chaos von durchgehenden Pferden, aufgeschreckten Menschen und wütend bellenden Hunden zurückließ.

Weit vor Bickendorf verstopften unzählige Blech- und Pferdekarossen sowie große Menschenmengen die Straße zum Luftschifffahrtshafen. Sämtliche Fahnen waren gehisst und auf Balkonen und sogar Dächern standen todesmutig Menschen, die gebannt nach Norden blickten und voller Ungeduld auf die Ankunft des 136 Meter langen Luftschiffes warteten.

Franz parkte das heiß gelaufene Automobil unter einer altehrwürdig-knorrigen Eiche, deren dunkelgrünes Blattwerk ein gewaltiges Schatten spendendes Dach bildete. »Wir müssen zu Fuß weitergehen«, forderte er die Damen auf und öffnete ihnen galant die Wagentür. Während Cecilia leichtfüßig heraussprang, nahm er seine Gattin – gezwungenermaßen – auf die Arme, da die Enge ihres modernen Humpelrockes ein selbstständiges Aussteigen aus dem hohen Gefährt nicht zuließ.

Hand in Hand kämpften sie sich an übereilt zusammengezimmerten Bretterbuden, die Esswaren und erfrischende Getränke feilboten, an Karussells, schreienden Kindern und heftig debattierenden Menschen vorbei. Schubsend und stoßend arbeiteten sie sich durch die vielen Absperrungen, um das Aufsicht führende Militär davon zu überzeugen, dass ihnen durch ihre Einladungskarten das Recht eingeräumt wurde, bis vor die Luftschiffhalle zu gehen, wo die Honoratioren der Stadt und höchsten Offiziere schon voller Passion dem historischen Großereignis entgegenfieberten. Völlig erschöpft und in Schweiß gebadet standen sie plötzlich neben dem Dirigenten einer Militärkappelle, der dem Cölner Kinderchor leise pfeifend noch einmal die letzten Flötentöne zu dem Lied Zipp zapp Zeppelin beibrachte.

Plötzlich zuckten Maria und Cecilia, die ganz gerührt in die Betrachtung der festlich herausgeputzten und eifrig trällernden Kinderschar versunken waren, erschrocken zusammen, als laute Böllerschüsse donnerten und anhaltendes Geheul von Sirenen erklang. Am Himmel schwebte die riesige Zigarre, deren Durchmesser 13 Meter und Inhalt 15.000 Kubikmeter maß, über Ossendorf herein. Wie bei einem Schneeballsystem brachen zuerst die auf den Dächern befindlichen Cölner Bürger jubelnd in Hoch-Rufe aus. Dann setzten sich die begeisterten Hurras bei der Masse Mensch vor der Halle fort, die sich gemeinsam mit dem Luftschiffbataillon, den Offizieren und einigen Damen und Herren aus dem Publikum auf die Befestigungsseile stürzten, welche von den Mechanikern – 40 Meter über dem Boden schwebend – aus dem Korb zu ihnen heruntergeworfen wurden.

Nachdem sowohl der Oberbürgermeister wie auch der Kommandeur der Festung Cöln den alten Graf Zeppelin mit patriotischen Reden empfangen, die Musiker das Kaiserlied gespielt, der Bickendorfer Männergesangverein und der Cölner Kinderchor ihre Empfangslieder gesungen hatten, setzte das Karnevalslied von Willi Ostermann Et hät noch emmer, emmer jot jejange ein, das die Cölner Bevölkerung mit einer amüsierten Begeisterung lauthals mitsang.

Als man das Luftschiff in der Halle verankert hatte, kämpfte sich Franz – an jeder Hand eine Dame hinter sich herziehend – zu den Erfrischungsbuden durch und bestellte Flünz, Bier und Limonade. »Sobald wir die köstliche Blutwurst gegessen haben«, erklärte er mit vollem Mund, »wird sich unser Cabriolet dem Festzug-Autokorso anschließen, der den General der Kavallerie, Graf von Zeppelin, über die Ringe und am Cölner Dom vorbei zu seiner Unterkunft begleiten soll.«

Cecilia stürzte geschwind den letzten Schluck Limonade hinunter und hastete aufgeregt hinter Franz und Maria her, die sich energischen Schrittes einen Weg durch die Menschenansammlungen zu ihrer motorisierten Blechkarosse bahnten.

2

Templin, Uckermark

5. August 1909

»Hugo, was willst du damit sagen, dass du mich jetzt nicht mehr heiraten wirst?!« Fassungslos stand Käthe vor ihrem Verlobten. Dicke Tränen rannen über ihre geröteten Wangen und durchweichten den blau-weißen Kragen ihres bodenlangen Matrosenumstandskleides aus grobem Leinen.

»Ich ertrage das alles nicht mehr!«, nörgelte Hugo unsicher zurück, strich sich entnervt über das dunkel gewellte Haar und trat dabei unruhig von einem Bein auf das andere. »Sieh dich doch nur an. Vor einem halben Jahr hattest du einen Abort im fünften Monat, und noch immer trägst du diesen abscheulichen Umstandslumpen am Leib. Manchmal habe ich den Eindruck, dass du nicht mehr ganz bei Sinnen bist!«

»Aber wir haben doch kein Geld mehr. Alles wurde in die kleine neue Wohnung gesteckt«, klagte Käthe unter temporärem Schlucken. Verzweifelt blickte sie zuerst an sich herunter und dann geradeaus zum neu errichteten Eichwerder Tor, das seit geraumer Zeit die Kant- mit der Seestraße verband.

Hugo schaute an der alten Hausfassade aus roten Backsteinen zum vierten Stock hoch, in der ihre Mansardenwohnung lag, und murrte missmutig: »Fang jetzt bloß nicht wieder mit deinem nie enden wollenden Sermon darüber an, dass der Durchbruch in der alten Templiner Stadtmauer ein Segen für unser ungeborenes Kind sei, damit es später alleine von der Kantstraße mit seinen kleinen Trippelschrittchen in die Seestraße gehen könnte, um somit – für uns alle äußerst bequemlich – die noch im Bau befindliche neue Bürgerschule zu erreichen. Nimm endlich zur Kenntnis: kein Kind, deshalb keine Hochzeit und somit auch keine gemeinsame Wohnung. Oder glaubst du wirklich, dass uns der Vermieter unverheiratet in seinem ehrenwerten Haus wohnen lässt?«

»Deswegen müssen wir ja jetzt auch sofort vor den Traualtar treten und direkt wieder versuchen, ein Kind zu bekommen!« Käthe strich sich eifrig die tränennassen Strähnen ihres aschblonden Haares aus dem Gesicht und setzte hektisch die verrutschte Nickelbrille gerade. »Ich bin jetzt schon 22 Jahre alt und damit eine Spätgebärende, es eilt, weil …«

»Wir müssen nun – nachdem du das Kind verloren hast – überhaupt nichts mehr, und am allerwenigsten müssen wir jetzt heiraten«, unterbrach Hugo sie bärbeißig, »denn ich bin gerade erst 21 geworden, zum ersten Mal mündig, darf seit genau zwei Monaten über mich selbst bestimmen und …«

»So herzlos kann auch nur ein Zögling reden, der in dem Obdach Verein zur Erziehung sittlich verwahrloster Knaben am Prenzlauer Tor aufgewachsen ist«, unterbrach Käthe mit verhaltenem Zorn, indem sie sich gleichzeitig mühte, ihre unaufhaltsam rinnenden Tränen mit einem kleinen seidenweißen Taschentuch zu trocknen.

»Oh ja, eine Drillanstalt für Vollwaise, die 1891 Gott sei Dank unter neuer Leitung in die Röddeliner Straße vor die Tore Templins verlegt wurde …« Aufgewühlt und unfähig, den angefangenen Satz zu beenden, der grauenvolle Erinnerungen in ihm wachrief, versuchte Hugo weitere Worte zu finden: »Du hast ja überhaupt keine Ahnung, was ich als Kind alles erdulden musste.« Wiederum gingen seine Worte in einem heftigen Schluchzen unter. Mit dem Rücken gegen das rote Backsteingebäude gelehnt, rutschte er langsam an der unebenen Mauer herunter, während sich sein blütenweißes Hemd nach oben zog.

Bestürzt über den heftigen Ausbruch des Mannes, den sie über alles liebte, blickte Käthe, voll des stummen Entsetzens, auf die tiefen Wundmale, die sich um seine gesamte Taille zogen. Erschüttert kniete sie neben ihrem Verlobten nieder und strich ihm tröstend über die vernarbten Verletzungen.

3

Cöln-Ehrenfeld

4. Juli 1910

»Aber Cilli! Du wirst doch wohl auf gar keinen Fall die schneidigen Offiziere in ihren blau-weißen Paradeuniformen verpassen wollen?!« Verschwörerisch blinzelte Franz der Cousine seiner Frau zu.

Cecilias rosa Wangen verfärbten sich in tiefstes Rot, als sie wütend mit dem kleinen Fuß aufstampfte. »Du weißt genau, dass ich alles, was mit Krieg zu tun hat, auf das Tiefste verabscheue!« Verärgert gab sie sich Mühe, die siebenjährigen Drillinge, die sich auf dem Boden des großen Spielzimmers lauthals balgten, auseinanderzubringen. »Deshalb fahre ich nie und nimmer mit zum Neumarkt, nur um mir die Parade des 5. Westfälischen Infanterie-Regiments Nr. 53 anzusehen. Schließlich ist es das gleiche Regiment, in dem mein und auch dein Großvater dienten und bei Metz 1870 im Krieg gegen Frankreich fielen.« Aufgewühlt packte sie Josef und Johannes an den Krägen ihrer weiß-blauen Matrosenanzüge und schleifte die sich wild wehrenden Buben bis vor das elegante Jugendstil-Vertiko aus hellem Weichholz, dessen grün gefärbte Sprossenfenster laut klirrten, als Johannes wütend dagegentrat. »Es reicht doch wahrhaftig, wenn ich in der kleinen Textilfabrik von Onkel Friedhelm Knöpfe, Taillen- und Seitenhaken sowie Schulterklappen mit Kronenmotiv an die Waffenröcke nähe, die übrigens seit Kurzem nur noch in dieser grässlichen feldgrauen Farbe gefertigt werden. Nicht mehr so schön bunt wie ehemals, sondern unauffällig, als stünde ein neuer Krieg bevor.«

»Gemach, Cilli. Immerhin sind seit jenem Krieg fast 40 Jahre vergangen.« Franz nahm den am Boden liegenden, herzerweichend weinenden Jakob auf den Arm und blies besänftigend gegen dessen Stirn, auf der sich eine große blutunterlaufene Beule bildete.

»Es ist ja wirklich nett, dass du an mich dachtest, Franz«, Cecilia strich den neunjährigen Mädchen, die als zweieiige Zwillinge zur Welt gekommen waren und sich bei dem Lärm mit zugehaltenen Ohren über das Struwwelpeter-Buch gebeugt hatten, sanft über die goldblonden Haarschöpfe, »denn schließlich übernehme ich gerne die verantwortungsvolle Obliegenheit, die Pänz unter meine Obhut zu nehmen, während ihr euch amüsiert. Und mit Helene und Magdalene sowie dem braven Heinrich«, sie lächelte dem schwarz gelockten achtjährigen Knaben zu, der voller Hingabe mit den Puppen seiner großen Schwestern spielte, »werde ich einstweilen keine Schwierigkeiten haben. Wenn ihr die beiden Kleinsten mitnehmt, kann ich mich gänzlich auf die obstinaten Drillinge konzentrieren.«

»Ich danke dir von ganzem Herzen, Cilli«, atmete Franz erleichtert auf, da die Unterbringung der großen Kinderschar jedes Mal mit einer exorbitanten Kraftanstrengung verbunden war, wenn seine Stiefmutter sich ausnahmsweise einmal weigerte, über die Häupter der Enkel zu wachen. Er setzte den noch immer greinenden Jakob vor den kürzlich erworbenen englischen Jugendstilsekretär aus Eiche, öffnete behutsam dessen mit bunten Scheiben versehenen Schrankaufsatz, nahm eine Schiefertafel heraus und legte sie auf das herausgezogene Schreibpult.

Jakobs Tränen versiegten sofort, als der freundlich lächelnde Vater ihm ein Stück Kreide in seine gesunde linke Hand drückte, da er als schwächster der Drillinge mit einem verkrüppelten rechten Arm zur Welt gekommen war. Mit strahlenden Augen gab sich der Junge seiner Malleidenschaft hin.

Und wie jedes Mal, wenn Franz liebevoll über das kastanienbraune Haar des behinderten Sohnes strich, wanderten seine Gedanken zum verehrten Kaiser Wilhelm II., der mit einem verkürzten linken Arm zur Welt gekommen war. Aus Seiner Majestät ist schließlich auch etwas geworden, dachte er zuversichtlich. Dankbar küsste er der vor Verlegenheit errötenden Cecilia die Hände und winkte ihr beim Hinausgehen überschwänglich zu.

Kaum hatte Franz das Spielzimmer verlassen, strich sich Cecilia verträumt lächelnd über ihr verschossenes grünliches Hauskleid aus derber Baumwolle, schlug den bodenlangen Rock bis zur Wade hoch, um die Knopflöcher mit den dafür angebrachten Knöpfen zu verbinden, sodass man darunter das gleichfarbene Beinkleid sehen konnte. »So, leev Pänz!«, summte sie froh gelaunt und verschwand in gebückter Haltung hinter dem Vorhang des mit bunten Blumen bemalten hölzernen Puppentheaters. »Seid ihr auch alle da? Denn die Tante Cilli wird euch jetzt mit einer Kasperlevorstellung aufwarten.«

Die sechsköpfige Kinderschar setzte sich artig und mucksmäuschenstill auf die eichenen, im Jugendstil reich verschnörkelten und mit rotem Brokat bezogenen Stühle. Das aufwendige Muster des purpurnen Stoffes fand sich in den teuren Brokatvorhängen wieder, die vor den Fenstern des geräumigen Spielzimmers aus einer Höhe von drei Metern schwer bis auf den Boden fielen. Gebannt und mit strahlenden Augen sahen die Pänz der Aufführung entgegen.

*

Unterdessen wartete Franz seit geraumer Zeit im Automobil. »Maria? Maria!«, rief er immer wieder. Berstend vor Ungeduld saß er neben seiner Stiefmutter im Cabriolet und drückte gereizt mehrfach auf die Hupe. »Oma Anna und Sofie sitzen auch schon abfahrbereit neben mir. Wo bleibst du denn nur?«

»Ja, is dat denn möschlisch?! Jetzt aber mal janz ruhig, junger Mann!«, rief Oma Anna mit ihrer tiefen Altstimme den Ruhelosen zur Ordnung. Beruhigend strich sie der kleinen Sofie, die artig auf ihrem Schoß saß, über die Wange, weil das überlaute Röhren der Hupe die Dreijährige zutiefst erschreckt hatte. »All die jottjefällijen Kinderschen zu versorjen, dat tut sich nit von allein und …«

»Entschuldigt bitte!«, unterbrach Maria abgekämpft den angefangenen Satz ihrer verehrten Schwiegermutter, während sie überhastet mit dem Säugling auf dem Arm zur blank polierten Karosse rannte und sich erschöpft neben sie setzte. Mit einem Ruck zog sie die Autotür zu und stöhnte gequält: »Klein Benjamin musste neu gewickelt werden.«

Die Schwiegermutter nickte Maria verstehend zu, tastete nach ihrem Regenschirm und schaute bekümmert zum Himmel, der sich inzwischen gänzlich zugezogen hatte.

Franz atmete befreit auf, als er endlich den Motor in Gang setzen konnte. »Ich bitte die Damen, meine Nervosität zu verzeihen, aber ich möchte um keinen Preis die Parade der Kronensöhne anlässlich ihres 50. Jubiläums verpassen. Bestimmt werden sich viele Schaulustige einfinden und es könnte mich erhebliche Mühe kosten, für unseren Opel einen freien Abstellplatz zu finden. Nicht auszudenken, wenn wir die feierliche Zeremonie durch undiszipliniertes Zuspätkommen stören. Denn wie man verlauten ließ, soll sogar der Chef des Regimentes, die Schwester seiner Majestät Wilhelm II., Prinzessin Adolf zu Schaumburg-Lippe, persönlich zugegen sein.«

»Die Prinzessin von Preußen?«, fragte Maria erstaunt und blickte voller Begeisterung über Benjamins Glatzköpfchen in das Gesicht ihrer Schwiegermutter. »Ist das nicht aufregend, Oma Anna?«

»Aber sischer dat, Mariechen! Und wenn du dat Prinzessjen siehst, dann musst du mir dat Kleid von der juten Dame beschreiben. Denn ich werde nit über all die vielen Köpp von der jroßen Menschenansammlung luren können, weil ich viel zu klein bin.«

Mit einigen Fehlzündungen setzte sich der Opel schwerfällig in Bewegung, und als sie durch das Venloer Tor in die Venloer Straße einbogen, fing es an zu nieseln. Grimmig vor sich hin murmelnd hielt Franz am Straßenrand und zog unter schweißtreibendem Kraftaufwand das schwergängige Dach des Cabriolets über das Automobil. Kaum hatten sie den Hohenzollernring überquert und waren zum Rudolfplatz eingebogen, rutschte die feuerrot gelockte Sofie auf Oma Annas Schoß unruhig herum und verlangte nach eindringlicher Befragung, Pipi machen zu dürfen.

»Dunnerlittchen!«, entfuhr es Franz unbeherrscht, aufgebracht über die erneute Verzögerung.

Erschrocken zuckte Sofie zusammen und nahm eingeschüchtert die französische Chantilly-Spitze in den Mund, die das aus feinstem Baumwollmaterial gefertigte weiße Kleidchen säumte.

»Sofie, wir befinden uns hier mitten auf dem Rudolfplatz«, lenkte Franz sanfter ein, als ihm seine Stiefmutter einen bitterbösen Blick von der Seite zuwarf, »kannst du nicht noch zwei Minütchen einhalten, bis wir an der Apostelkirche vor dem Neumarkt einen Parkplatz …?«

»Augenblicklich wird der Herr Filius anhalten und dem natürlichen Bedürfnis eines Kleinkindes nachkommen!«, unterbrach Oma Anna ihren Stiefsohn mit ungewöhnlich schriller Stimme und zornesroten Wangen.

Überrascht blickten Maria und ihr Gatte auf die rundliche Dame mit den schlohweißen Haaren, die in ihrem Groll vergessen hatte, den Singsang des seltsamen Gemischs zwischen Hochdeutsch und Cölner Dialekt in ihrer dunklen Stimme erklingen zu lassen.

Sofort kam Franz der Aufforderung nach, stoppte mit kreischenden Bremsen abrupt auf dem belebten Platz, sprang aus dem Gefährt und öffnete galant den Regenschirm, als Oma Anna ausstieg.

Noch immer aufgebracht über das ungebührliche Benehmen des Stiefsohnes, zog selbige energisch den über die Waden reichenden schmalen Rock ihres dreiteiligen braunen Leinenkostüms gerade und riss Franz den Schirm aus der Hand. Schnurstracks eilte sie mit der Enkelin an der Hand zu einer am Straßenrand stehenden Buche, deren imposant grünes Laub tropfnass glänzte, und ließ ihren Stiefsohn wortwörtlich im Regen stehen.

Maria setzte den sechs Monate alten Säugling auf ihrem Schoß aufrecht, der trotz des Tumultes friedlich schlief, und lächelte ihrem Gatten zu. »Über den heftigen Ausbruch meiner verehrten Schwiegermama bin ich höchst erstaunt! Ich wusste nicht, dass die sanfte Mittvierzigerin zu solchen Ausbrüchen fähig sein könnte.«

»Seit dem …«, Franz stockte verunsichert und räusperte sich geräuschvoll, ehe er weitersprach, »… plötzlichen Todesfall in unserer Familie hat sie sich mir gegenüber völlig verändert. Sie wirft mir vor, dass ich die gleiche grässliche Stimme meines Vaters hätte, wenn ich es wage, auf unsere Kinder etwas lauter einzuwirken. Obwohl sie zu seinen Lebzeiten gemeinsam mit ihm die Meinung vertrat, dass Kindererziehung sogar der körperlichen Züchtigung bedürfe, um der Schrift des Alten Testamentes Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.«

Bestürzt fasste Maria fester um Benjamins Körpermitte. »Das würde ja bedeuten, dass dein Vater dich gezüchtigt hätte?!«, stellte sie erschüttert fest, hob plötzlich den Säugling in die Höhe, roch alarmiert an dessen rückwärtigem Ende und verdrehte die Augen gen Himmel.

»Nun sag bloß nicht, dass Benjamin ein großes Geschäft in die Hose gemacht hat?!«, seufzte Franz überfordert. »Bitte, Maria. Ein neues Windeln würde unsere Ankunft noch weiter verzögern. Wickel dem Kleinen das wollene Tuch um seine übel riechende untere Körperhälfte, denn wenn meine Stiefmutter …« Irritiert hielt er inne, half Oma Anna und Sofie, die gerade Hand in Hand die Straße überquert hatten, in das Automobil und warf seiner Gattin beschwörende Blicke zu.

»So, nachdem dat Itche sich erleichtert hat, jeht et jetzt auf jroßer Fahrt weiter.« Oma Anna hob Sofie auf den Schoß und zog die große weiße Schleife im roten Lockenkopf der Enkelin in Form. Stirnrunzelnd blickte sie zum Säugling, um den ihre Schwiegertochter bei der sommerlichen Hitze mehrfach eine dicke Wolldecke gewickelt hatte, und wollte nach einigem Zögern wissen: »Oder sollte der Botzendrießer eventuell wat Jrößeres in die Botz jemacht haben?«

»Nein, hochverehrte Frau Mama!« Mit einem energischen Schwung warf sich Franz auf den Fahrersitz und ließ den Motor an. »Der Hosenscheißer hat nicht in die Hose gemacht! Und selbst wenn, dann würden wir jetzt trotzdem weiterfahren!« Unter lautem Knattern schlug er die Richtung zum Neumarkt ein und fand vor dem katholischen Gymnasium an der Apostelkirche neben anderen Automobilen und Pferdekutschen eine Abstellmöglichkeit. Er schnallte den Kinderwagen aus braun-beigem Korbgeflecht vom Heck des Cabriolets und stellte das Gefährt mit den vier riesigen Speichenrädern auf die Straße.

Während Maria den Säugling vorsichtig in die Kissen bettete und Oma Anna sofort den Regenschirm schützend über Benjamin spannte, warf Franz verstohlen neidische Blicke auf einen beeindruckend eleganten Bugatti, dessen windschnittige Bauweise sein Autofahrerherz höherschlagen ließ. Mit Bedauern nahm er zur Kenntnis, dass die dunkelgrünen Ledersitze des offenen Zweisitzers durch den anhaltenden Nieselregen bald ruiniert sein würden, wenn sich der Besitzer nicht schnellstens darum kümmern sollte.

»Herr Schmitz, wo bleibst du denn?«, rief Maria, nahm die Hände von der hölzernen Schiebevorrichtung des Kinderwagens und schaute erstaunt auf ihren Gatten, der seine Blicke nicht von der schneidigen Limousine wenden konnte.

»Komme sofort!« Hastig rannte Franz hinter den Damen her, die schon eine großartige Baumallee passiert hatten, welche den gesamten Neumarkt von allen Seiten umschloss. Überwältigt blickte er auf die Soldaten des Regimentes, die mit ihren stattlichen Paradeuniformen bekleidet in der Mitte des Platzes standen. Als eine Militärkapelle das Deutschlandlied anstimmte, nahmen die Kronensöhne augenblicklich Haltung an.

4

Templin, Uckermark

20. August 1913

Voll zärtlicher Zuneigung betrachtete Hugo den schlafenden Säugling, der zufrieden im Weidenwäschekorb schlummerte. Ich sollte fürs Lenchen baldigst ein solides Bettchen zimmern, überlegte er. In Gedanken durchforstete er das übrig gebliebene Holz in seiner kleinen Werkstatt nach Brauchbarem.