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In ihrer Kindheit waren Ruth und Jenny unzertrennliche Freundinnen, doch dann verließen die Eltern von Ruth das idyllische Cornwall und zogen nach Toronto. Viele Jahre später - Jenny ist untröstlich über den Tod ihres Mannes und ihrer kleinen Tochter - treffen sich die Frauen überraschend im Zug. Doch Jenny steht ein Schock bevor. Als Ruth aussteigt und von einem jungen Mann auf dem Bahnsteig begrüßt wird, stockt ihr der Atem. Ruths Sohn Adam ist das Ebenbild ihres verstorbenen Mannes!
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Seitenzahl: 696
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Über das Buch
Über die Autorin
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DANKSAGUNG
In ihrer Kindheit waren Ruth und Jenny unzertrennliche Freundinnen, doch dann verließen die Eltern von Ruth das idyllische Cornwall und zogen nach Toronto. Viele Jahre später – Jenny ist untröstlich über den Tod ihres Mannes und ihrer kleinen Tochter – treffen sich die Frauen überraschend im Zug. Doch Jenny steht ein Schock bevor. Als Ruth aussteigt und von einem jungen Mann auf dem Bahnsteig begrüßt wird, stockt ihr der Atem. Ruths Sohn Adam ist das Ebenbild ihres verstorbenen Mannes!
Sara MacDonald wurde in Yorkshire geboren und bereiste mit ihren Eltern schon früh die ganze Welt. Sie machte eine Schreibausbildung und arbeitete für das Fernsehen und am Theater, bevor sie heiratete und mehrere Jahre im Ausland verbrachte. Mittlerweile lebt Sara MacDonald mit ihren beiden Söhnen in Cornwall und widmet sich ganz dem Schreiben.
Sara MacDonald
JENSEITS DESSOMMERS
Roman
Aus dem Englischen vonVeronika Dünninger
beHEARTBEAT
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
»be« - Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment
Deutsche Erstveröffentlichung
Für die Originalausgabe:© 2007 by Sara MacDonaldTitel der englischen Originalausgabe: »Come Away With Me«Originalverlag: HarperCollinsPublishers, London
Für die deutschsprachige Ausgabe:© 2008 by Bastei Lübbe AG, KölnTextredaktion: Andrea KalbeUmschlaggestaltung: Jeannine Schmelzer unter Verwendung von Motiven © shutterstock: llaszlo | Helen Hotson | Jannis Tobias Werner | EkaterinaP | Paul Nash
eBook-Erstellung: Urban SatzKonzept, Düsseldorf
ISBN: 978-3-7325-3458-6
www.be-ebooks.de
www.lesejury.de
Zum Gedenken anNikki, meine Cousine, die einen Raum erhellt hat.
Für Jackie und Pete bei Redcoats.
Für Toby, Nicola und Phoebe(die Wicke).
Auf Wasser schreiben
Einzelner weißer Gänsekielwas du schreibst
sanft treibend aufder seidigen Oberfläche des Wassers
deine Spur zeichnendzwischen Flüssigkeit und Luft
hinter dir zurücklassend einenAbdruck von Bewegung
die Andeutung einer Botschaft?Mehr gehört zum Schreibenals Worte.
FEBRUAR 2006
Adam spürte, wie die Härchen in seinem Nacken kribbelten. Die vertraute albtraumhafte Angst war wieder da. Er umklammerte fest seine Angelrute. Die Wälder erhoben sich aus der Bucht hinter ihm, dunkel und dicht. Er wusste, dass es dort oben war, ihn beobachtete, er konnte es spüren.
Vor einem Augenblick, als er sich umwandte und nach seiner Jacke griff und zu den Bäumen hochsah, hatte er gesehen, dass die Schatten sich verändert hatten, und er wusste, dass die dunkle Gestalt dort oben, wo Licht gewesen war, irgendjemand, irgendetwas war, was ihn beobachtete. Und wartete. Wartete, bis er auf dem Weg an ihm vorbeimusste, bevor es sich auf ihn stürzen würde.
Er begann, seine Angelschnur einzurollen, die Ohren gespitzt, ob vielleicht irgendwelche Leute vorübergingen, denn dann könnte er rasch auf den Weg hochrennen und hinter ihnen her zurück zum Cottage laufen. Im Augenblick gab es keine Anzeichen dafür, dass noch irgendjemand anders draußen auf dem Weg an der Bucht war. Die Biegung des Uferlandes lag verlassen da, allein mit den Lauten der Brachvögel, ihren dünnen, trillernden Rufen, und einem Reiher, der auf einem Bein stand, und dem Nebel, der auf ihn zurollte und die Sonne verdeckte, während die Flut unaufhaltsam näher rückte.
Nachdem er seine Angelschnur gesichert hatte, verschloss Adam seine Blechbüchsen, nahm sein Fernglas und legte seine Habseligkeiten auf einem kleinen Stapel zusammen. Jetzt musste er sich langsam nach hinten umwenden, um nach seinem Rucksack zu greifen. Er zwang sich, einen Blick hoch in den Wald zu werfen. Der Schatten war verschwunden. Sein Weg war frei. Er warf seine Sachen in den Beutel, schnappte sich seine Rute und richtete sich in genau dem Augenblick auf, in dem die Sonne zwischen einem Nebelvorhang wieder hervorbrach.
Er trat einen Schritt auf den alten Schuppen am Pier zu, um den Weg dahinter zu erreichen. Er zuckte heftig zusammen, als er, halb geblendet von der Sonne, irgendetwas an der Wand des Gebäudes liegen sah. Er starrte in die Richtung. Es war eine Frau, auf einem Mantel zusammengerollt, die Knie bis zum Kinn hochgezogen, das Gesicht von wirrem Haar verdeckt. Sie sah winzig aus, wie ein Kind, die dünnen Arme um sich geschlungen, und sie war völlig reglos. Jenny.
Adam stand wie angewurzelt da. Er starrte auf sie hinunter, und Mitleid wallte in ihm auf, so heftig, dass er erschrak. Sein Herz verkrampfte sich, und seine Augen brannten beim Anblick eines leidenden Erwachsenen. Seine Angst verflog. Auf einmal begann alles einen seltsamen Sinn zu ergeben. Jenny hatte den Verstand verloren. Die Leute wurden manchmal verrückt, wenn etwas Schlimmes passierte.
Er sollte zurück zum Cottage laufen. Er sollte seine Mutter holen, aber er konnte sie doch nicht so hilflos liegen lassen, allein auf einem alten Mantel, wie ein Landstreicher. Er konnte es einfach nicht. Sie lag seltsam still. Er legte seine Angelrute hin, stellte seinen Rucksack auf den Boden und näherte sich zögernd, um sie zu berühren.
Sie war nicht tot. Ihr Fleisch war warm an seinen Fingern. Bei seiner Berührung regte sie sich und schlug die Augen auf. Adam zuckte ein wenig zurück. Er wusste nicht, was er sagen sollte.
Jenny, die ihn sah, versuchte sich aufzusetzen. Er sah, dass ihre Hände zitterten.
»Ist ja gut«, sagte er rasch. »Es ist alles gut.«
Sie starrte ihn an, als käme sie aus weiter Ferne.
»Adam.« Ihre Stimme war heiser, als hätte sie seit einer Weile nicht mehr gesprochen. Sie streckte eine Hand nach ihm aus. Adam konnte es nicht wirklich über sich bringen, sie zu ergreifen. Er konnte spüren, wie sein Herz in seiner Brust hämmerte. Er wollte loslaufen und Ruth holen. Er wusste sich keinen Rat mehr.
Jennys Hand fiel an ihrer Seite herunter. »Es tut mir leid«, flüsterte sie. »Es tut mir so leid, dass ich dich erschreckt habe.« Ihre Stimme war dumpf, ihr Gesicht düster.
Adam kauerte sich vor sie hin. »Warum … warum hast du mich verfolgt und dich im Wald versteckt? Das verstehe ich nicht.«
Jenny gab keine Antwort, und Adam sagte: »Ich werde Mum holen. Es wird alles gut werden. Wir sind in fünf Minuten wieder da.«
»Ich wollte mit dir reden, mit dir zusammen sein, mit dir allein …« Jennys Stimme verlor sich.
»Warum denn?« Adam war unbehaglich zumute.
»Du bist Tom so ähnlich. So ähnlich. Irgendwie dachte ich, du seist mein Sohn; ich sei deine Mutter.«
Jennys Augen blickten verletzt, und ihr Gesicht schien unter ihrer lockigen Mähne geschrumpft zu sein.
»Verzeih mir«, sagte sie. »Ich muss dabei sein, den Verstand zu verlieren. Ich wollte dich nicht erschrecken. Ich würde dir niemals etwas antun. Bitte glaub mir das.«
Er nickte. »Es geht dir nicht sehr gut. Es wird alles gut werden. Ich werde jetzt Ruth holen.« Er zögerte. »Könntest du mit zum Cottage kommen, wenn ich dir helfe?«
Jenny schüttelte den Kopf. »Adam, ich bin so erschöpft.«
Adam beugte sich vor und berührte ihre Hand. »Dann bleib hier, Jenny. Ich bin gleich wieder da.«
Er wandte sich ab und begann, den Weg hochzulaufen, der sich hinüber zu dem Cottage und seiner Mutter schlängelte. An der Biegung verlangsamte er sein Tempo, um Atem zu holen. Hinter sich hörte er das Geräusch aufgescheuchter Vögel, die sich lärmend aus dem Wasser erhoben und die Stille durchbrachen. Er wandte sich um. Jenny war aufgestanden und hatte ihren schweren Mantel übergeworfen. Sie watete entschlossen ins Wasser, schwebte schnell und schwarz der steigenden Flut entgegen.
»Nein!«, schrie Adam und begann zurückzulaufen, mit hämmernden Beinen, während sein Atem schmerzhaft keuchend in seiner Brust ging. »Nein, Jenny, nein, nein, nein.«
AUGUST 2005
Rosie liegt zwischen uns, schlafend, ihr dickes kleines Gesäß in die Luft gereckt; die gekräuselten Füßchen nach oben gewandt wie das Innere von rosa Muscheln. Sie liegt eingezwängt in der Hitze zwischen Tom und mir, das Gesicht an Toms Arm gedrückt. Toms und Rosies Atemzüge heben und senken sich in demselben flachen Rhythmus. Schlafend sieht Rosie noch immer wie ein Baby aus; mit den dunklen Locken, die ihr am Kopf kleben, und den geröteten Wangen. Ich muss mich beherrschen, um meine Lippen nicht an diese weichen Wangen zu drücken.
Tom hat sich halb zu uns umgewandt, eine Hand unter seinem Kopf, die andere Hand auf seinem Oberschenkel, die Finger gespreizt, wie um Rosie zu schützen. Sein Gesicht ist im Kissen vergraben, sein kurzes Haar steht vom Kopf ab, und sein Gesicht ist feucht von der Hitze der Körper von uns dreien in einem einzigen Bett in einer schwülen Sommernacht.
Seine Arme und seine Brust sind nackt, braun gebrannt und breit. Seine Haut glänzt vor Gesundheit. Er ist durchtrainiert.
Das Fenster steht offen, um jeden Windhauch hineinzulassen, und ich betrachte ihn im gelben Licht einer Straßenlaterne, und mein Körper ist schlaff vor Verlangen nach ihm, von dem Drang, ihn ständig zu berühren. Ich liebe diese gestohlenen Augenblicke, diese stillen Nächte, in denen ich ihm beim Schlafen zusehe. Ich bewahre diese Nächte auf für die Zeit, wenn er wieder fort sein wird.
Es ist diese stille Stunde zwischen Nacht und Morgengrauen, wenn London für einen Augenblick innehält und ich mir in der Stille der Dunkelheit einbilden kann, das ferne Rauschen des Meeres zu hören und die Seemöwen, die in einen neuen Tag hinausschreien.
Es ist kein Heimweh, sondern der Luxus des Glücks. Das Wissen, dass ich, obwohl ich in einer Großstadt lebe, hier ein Leben mit dem Mann habe, den ich liebe. In einem Haus, das uns wie angegossen passt und das all die Leute enthält, die ich brauche, um zufrieden zu sein, um die Arbeit zu tun, die ich liebe. Es ist kein vollkommenes Glück, denn das ist ein Ding der Unmöglichkeit. Es gibt diese endlosen Abschiede, die unser Leben unterbrechen. Ich weiß nie, wo Tom ist oder wann er nach Hause kommen wird. Das sind die Schattenseiten.
Ich muss eingeschlafen sein, denn als ich aufwache, singen die Vögel, und Sonnenlicht strömt durchs offene Fenster. Ich höre, wie Flo langsam die zweite Treppe in das Nähzimmer im obersten Stockwerk hochsteigt. Was für ein wundervoller Tag war das, als sie zu uns stieß. Sie wird die Arbeitspläne für Montag überprüfen. Etwas später wird sie mit Tee für uns ins Zimmer kommen und empört ausrufen, dass Rosie schon wieder bei uns im Bett ist.
Ich dehne mich zufrieden und strecke dann einen Arm über Rosie aus und gleite mit einer Fingerspitze sanft über die Oberfläche von Toms Arm. Er ist so glatt wie ein Ballen Seide. Mein Haar fällt über Rosies Gesicht und kitzelt Tom, und sie regen sich beide.
Er gähnt, schlägt ein Auge auf, und als er sieht, dass ich ihn beobachte, lächelt er schläfrig und rollt sich auf den Rücken. Er ist unbewusst anmutig in seinen Bewegungen. Er erinnert mich an eine Katze.
Er dreht sich zu Rosie um, die sich an ihn gedrückt hat, und streicht ihr das Haar aus ihrem erhitzten kleinen Gesicht. Auf einmal sieht er mich an, mit seinen strahlend blauen Augen. Es ist ein seltener, sorgloser Augenblick, und ich bin ergriffen von seiner Verletzlichkeit.
Ich bin immer davon ausgegangen, dass unsere Liebe unausgewogen ist. Tom ist alles für mich. Ich bin wichtig, aber nicht alles für ihn. In diesem Augenblick sehe ich seine pure, offene Liebe zu Rosie und mir.
Ich rutsche ein Stück zu ihm hinüber, und er zieht mich über Rosie, vergräbt seinen Kopf in meinem Haar.
Rosie ist augenblicklich wach und lacht. »Ich! Ich! Dada!«
Tom streckt einen Arm aus und zieht sie an uns, sodass sie aufkreischt.
Flo klopft an die Tür. »Tee?«, fragt sie.
Wir lösen uns mit einem Ruck voneinander und setzen uns auf. »Ja, bitte. Herein!«
Flo kommt mit einem Teetablett ins Zimmer. Sie sieht Rosie mit gespielt verblüffter Miene an. »Was tust du denn hier, junge Dame?«
Tom würde am liebsten aus dem Bett springen, aber er hat nichts an. »Flo, ich wünschte, du würdest uns nicht so bedienen. Davon bekomme ich ein unglaublich schlechtes Gewissen.«
»Nicht so laut«, sagt Flo fröhlich. »Ich habe die Küche sonntagmorgens gern für mich allein, wie du sehr gut weißt.« Sie stellt das Tablett ab und streckt eine Hand nach Rosie aus. »Danielle bringt ein Geschenk aus Paris mit für ein braves kleines Mädchen, das sein ganzes Frühstück aufisst.«
Rosie will uns oder die Wärme des Betts nicht verlassen. »Ellie kommt nach Hause?«
»Morgen. Komm schon, Darling, lass Mummy und Daddy sich anziehen, und dann könnt ihr alle zusammen in den Park gehen.«
Der Trick klappt. Rosie klettert über uns aus dem Bett und watschelt mit Flo hinaus, die hinter uns die Tür schließt. Wir trinken unseren Tee, aber wir ziehen uns nicht an. Tom zieht mir mit einer geübten, schwungvollen Bewegung das Nachthemd über den Kopf, und wir lieben uns mit der Leidenschaft des Wissens, dass wir nur noch zweiundsiebzig Stunden zusammen haben, bevor sein Urlaub endet.
Ich vergrabe meine Nase in seiner Haut und atme seinen Geruch in mich ein. Sein muskulöser Körper verströmt einen schwachen Hauch von Gefahr. Er hat diesen sexy Trick, zu versuchen, die Augen die ganze Zeit offen zu halten, während wir uns lieben. Seine Augen werden zu violetten, umherhuschenden Glühwürmchen, bevor sie zurückrollen und er sich entlädt. Der Kick ist, dass er mich, dass er mein Gesicht sehen will, wenn er zum Höhepunkt kommt. Wenn wir ausgehen und ich sehe, wie die Frauen uns anstarren, denke ich voller Staunen: Er gehört mir. Er gehört mir. Er gehört wirklich mir.
Er hält mich so fest an sich gedrückt, dass er mir wehtut. »Tom«, flüstere ich. »Ich bekomme keine Luft.«
Er lässt mich erschrocken los. »Entschuldige. Ich bin wie ein Bär, ich kenne meine eigene Kraft nicht.«
»Das gefällt mir an dir«, sage ich leise und drücke mich wieder an ihn. Und es gefällt mir wirklich. Ich liebe dieses Gefühl von Gefährlichkeit in der gebündelten Kraft seines Körpers; seine ständige Wachsamkeit, die genau unter der Oberfläche liegt, wie eine zweite Haut. Er ist außerstande, völlig abzuschalten, wenn er nicht arbeitet oder in Gefahr ist.
Einmal, als wir beide schliefen, wurden wir in der Nacht von einem Geräusch geweckt. Mit einer raschen, beängstigenden Bewegung war Tom aus dem Bett und auf der anderen Seite des Zimmers, still wie ein Schatten. Er zog eine Schublade auf, entnahm ihr irgendetwas und schlich über den Treppenabsatz. Ich setzte mich auf, wie erstarrt angesichts seiner katzenartigen, schleichenden Bewegungen. Ich sah, wie er mit einem Satz vorsprang und zuschlug. Ich hörte einen Schrei, knipste die Nachttischlampe an und rannte zur Tür.
Tom hatte in der dunklen Küche jemanden im Schwitzkasten. Der Mann stöhnte vor Angst und Schmerz, aber es war Danielle, die aufgeschrien hatte. Sie war mit einem Freund von der anderen Seite des Hauses herübergekommen, um nach Kaffee zu suchen. Sie waren beide ziemlich betrunken. Der Mann floh in Rekordzeit die Treppe hinunter und zur Haustür hinaus. Tom fuhr Danielle wütend an, die so dumm und verantwortungslos gewesen war, im Dunkeln durchs Haus zu schleichen.
Ich wusste, dass sich Toms Wut nicht ausschließlich gegen sie richtete, sondern auch gegen ihn selbst. Er hätte den Mann ernsthaft verletzen können. Danielle war wütend und verlegen zugleich. Von diesem Tag an blieb die Tür zwischen unseren Wohnungen nachts abgeschlossen. Tom und Danielle wechselten drei Tage lang kein Wort miteinander und versöhnten sich dann mir zuliebe.
Das war das einzige Mal, dass ich die durchtrainierte und aggressive Seite von Tom sah. Es erweitert meine Gefühle für ihn um ein sexuelles Kribbeln. Manchmal, in den Tagen bevor er uns wieder verlässt, kann er sich in einen zurückgezogenen Fremden verwandeln, und je vertrauter wir uns werden, desto mehr begreife ich, wie wenig ich über sein anderes Leben weiß.
Von meinem Nähzimmer unter dem Dach aus sehe ich zu, wie Tom Rosie in ihrem Kinderwagen über die Straße in den Park schiebt. Ich hasse es, ihn aus den Augen zu lassen, aber ich warte auf einen Anruf von Danielle, die in Paris ist. Flo könnte den Anruf genauso gut entgegennehmen, aber ich weiß, dass Danielle denkt, ich nähme die Arbeit nicht ernst, wenn Tom zu Hause ist, und das stimmt nicht.
Unter mir in der Küche kann ich Flo singen hören, während sie hin und her läuft und das Sonntagsessen zubereitet. Ich schlendere durchs Zimmer, hebe Dinge auf und lege sie zurück, vertreibe eine leichte Langeweile. Ich beginne halbherzig, ein paar Skizzen zu zeichnen, dann stehe ich rastlos wieder auf und trete ans Fenster.
Der Gehsteig tief unter mir glitzert, vom Regen verwaschen. Er hat die Luft abgekühlt, und ich kann die nasse Erde fast riechen, die aus dem Garten aufsteigt.
Ich sehe zum Ende der freien Straße hin, wo Tom und Rosie vor einem Augenblick noch standen, und Panik ergreift mich. Ich wende mich ab und laufe die Treppe hinunter, rufe Flo zu, dass ich in den Park gehe. Ich reiße die Haustür auf und renne die breite Straße hinunter, überquere sie, als eine Lücke im Verkehr entsteht, und stürme durch das Tor in den Park.
Ich schlage den Weg zum Teich ein, und als ich die beiden sehe, wie sie Enten füttern, verlangsame ich mein Tempo und bücke mich, um nach Luft zu schnappen. Es ist alles in Ordnung mit ihnen. Da sind sie, ein großer Mann und ein kleines Kind, die Köpfe zusammengesteckt, und werfen einer aufgescheuchten, hungrigen Schar Enten in hohem Bogen Brot zu.
Ich stehe da und sehe ihnen zu. Rosie spürt meine Gegenwart als Erste. Sie dreht sich um und ruft »Mama!« und kreischt vor Freude.
Tom lacht. »Du bist getürmt, wie schön.«
Während wir zusammen Brot werfen, sagt Tom: »Bei diesem Leben hier mit dir und Rosie frage ich mich, warum in aller Welt ich kein Zivilist bin, weißt du.«
»Du!«, sage ich lachend bei dem Gedanken. »Oh ja! Ich kann mir so gut vorstellen, wie du jeden Morgen in einem Anzug in der Rushhour die U-Bahn nimmst!«
»Na ja, so weit wird es noch kommen, nehme ich an, selbst wenn ich in der Army bleibe. Ich werde einen dicken Bauch bekommen und einen Schreibtischjob im Verteidigungsministerium haben …«
Rosie, die allmählich genug davon hat, Brot zu werfen, klettert wieder in ihren Kinderwagen und sieht den Enten beim Tauchen zu. Sie schüttelt sich vor Lachen über ihre wackelnden Schwänze und klatscht in die Hände.
Tom beugt sich zu ihr hinunter, um sie zu küssen. »Was für eine glückliche kleine Seele du doch bist, Rosie Holland.«
Wir machen kehrt und schlendern langsam Arm in Arm zurück zum Eingang des Parks. Ein feuchter, leichter Wind bringt wieder den stechenden Geruch feuchter Erde mit sich. Es ist erst August, aber auf einmal muss ich an den Herbst und das Ende des Sommers denken, und ich fröstele.
Tom zieht mich an sich. »Manchmal, an friedlichen Familiensonntagen wie diesem, frage ich mich, was zum Teufel ich eigentlich mit meinem Leben tue, Jen. Was jage ich hinterher?«
Ich bin amüsiert und zynisch zugleich, denn ich kenne ihn so gut. »Familiensonntage auf regelmäßiger Basis würden dich zu Tode langweilen. Du würdest durch die Gegend streifen wie ein Leopard und uns alle in den Wahnsinn treiben.«
Tom sieht grinsend zu mir hinunter. »Wo wir von Raubtieren sprechen, es ist ein toller Urlaub diesmal, wo Danielle in Paris ist.«
Ich seufze. »Das ist nicht sehr freundlich von dir, und sie kommt morgen nach Hause. Ich wünschte, ihr würdet versuchen, euch besser zu verstehen. Ihr beide müsst euch ständig provozieren. Es ist zur Gewohnheit geworden.«
Als wir ins Haus kommen, hat Flo bereits alles erledigt, und ich habe ein schlechtes Gewissen. Ich wünschte, sie würde nicht so viel für uns tun.
»Ich hätte den Tisch doch gedeckt …«
»Hier, bitte schön.« Tom schenkt großzügig Gins ein.
»Mein liebes Mädchen, jeden Sonntag führen wir dasselbe Gespräch. Es ist keine lästige Pflicht. Ich liebe es, das Sonntagsessen zu kochen.«
»Hat Danielle angerufen?«
»Ja. Sie hat alles verkauft bis auf diese langen Leinenkleider; zu lang für Pariserinnen offenbar.«
»Verdammt. Dann hatte sie doch recht. Ich werde es im Norden damit versuchen müssen. Klang sie okay?«
»Sie klang, als sei sie mitten auf einer Party«, sagt Flo diplomatisch.
»Das ist ja mal was Neues.« Tom setzt Rosie in ihren Hochstuhl.
Verärgert nehme ich Danielle in Schutz. »Sie hat keine Familie. Sie hat nur Flo und mich. Siehst du das denn nicht? Wir sind selbstgefällige Verheiratete für sie, und wenn du dich so aufplusterst, bestätigst du nur ihre Vorurteile. Du stellst sie schlimmer hin, als sie ist. Bitte verurteile sie nicht.«
Tom entschuldigt sich augenblicklich. »Es tut mir leid, Jen. Du hast recht. Ich ertappe mich selbst immer wieder dabei. Es ist nur so, sie scheint immer promisker zu werden, je älter sie wird. Ich finde wirklich, dass die Art, wie sie sich benimmt, unverantwortlich ist. Ich weiß, sie hat ihre eigene Wohnung, und was sie mit ihrem Leben anfängt, ist ihre Sache, aber es muss mir nicht gefallen.«
Flo wendet sich vom Herd um. »Danielle hat tatsächlich spontane Anfälle von Promiskuität, Tom, und ich habe mit ihr darüber gesprochen, da ich ebenfalls um ihre Sicherheit besorgt bin. Du musst verstehen, dass das alles mit einem niedrigen Selbstwertgefühl zu tun hat. Ich weiß nichts über ihre Kindheit, aber irgendetwas muss da vorgefallen sein. Versuch, freundlich zu sein, Darling.«
Ich fülle Rosies kleine Schale mit Essen und reiche sie ihm. Er stellt sie vor sie hin und schneidet ihr das Essen klein.
»Jetzt komme ich mir wie ein Schwein vor. Danielle ist eine solch sinnliche Frau, mit dieser Art, wie sie ständig den Kopf zurückwirft, dass man nur schwer glauben kann, dass sie promisk ist, weil es ihr an Selbstachtung fehlt und nicht, weil sie einfach gern Sex hat.«
Rosie schwingt ihren Löffel und knallt ihn in die Bratensoße.
»Nein!«, sagen wir alle gleichzeitig, und Rosie, verblüfft darüber, ein fast unbekanntes Wort zu hören, hält inne, den Plastiklöffel mitten in der Luft.
An diesem Nachmittag lassen wir Rosie bei Flo und gehen zu einer Galerie-Eröffnung und dann Schlittschuh laufen. Nach einem chinesischen Essen, auf dem Tom besteht, taumeln wir nach Hause.
Tom hat zu viel getrunken. »Ich werde jetzt lange nüchtern bleiben, Darling.«
»Gut so«, murmele ich, während ich ihn die Stufen hochschleppe und mühsam versuche, den Schlüssel ins Schloss zu stecken. Wir stolpern die Treppe hoch, und Tom will einen Blick zu Rosie ins Zimmer werfen.
»Weck sie nicht auf, Tom. Ich hätte gern, dass sie heute Nacht in ihrem eigenen Bett schläft.«
Er betrachtet sie lange Zeit. Auf einmal scheint er wieder nüchtern zu sein. »Man ist sich nicht bewusst, wie sehr man sich verändert, wenn man ein Kind hat. Der Gedanke, dass Rosie irgendetwas zustoßen könnte, ist … unvorstellbar. Ich habe solche Beschützerinstinkte gegenüber euch beiden. Ich betrachte keine von euch als selbstverständlich, nie. Wenn ich irgendwo an einem grauenhaften Ort bin, dann denke ich an euch und weiß, dass ihr beide irgendwo im Warmen und in Sicherheit seid. Meine Stütze. Ohne euch könnte ich den Job, den ich mache, nicht machen, ohne trübsinnig und hart zu werden.«
Wir schlingen die Arme umeinander und betrachten unser schlafendes Kind. Ich will weinen, denn in achtundvierzig Stunden wird er wieder abgeflogen sein, und das Haus wird stiller und leerer sein, und ich werde diese Übelkeit in meiner Magengegend verspüren, bis er anruft oder ein Brief ohne Poststempel eintrifft und ich weiß, dass er irgendwo in Sicherheit ist, und ich anfangen kann, die Tage zu zählen, bis er wieder nach Hause kommt.
FEBRUAR 2006
Als Bea vom Einkaufen nach Hause kam, war das Haus leer, und sie fand eine Nachricht von James auf dem Küchentisch.
Darling, Flo hat aus dem Haus in London angerufen. Sie macht sich Sorgen um Jenny, die offenbar vermisst wird. Offenbar hat Jenny nach all der Zeit Ruth Freidman wiedergesehen. Ruth ist im Augenblick in Cornwall auf Urlaub, und ich bin zu diesem Haus an der Bucht bei St. Minyon hinuntergefahren, um zu sehen, ob die beiden dort sind. Versuch, dir keine Sorgen zu machen. Ich bin sicher, Jenny ist auf dem Weg nach Hause. J.
Beas Mund wurde trocken. Sie griff sofort zum Telefon und rief Flo an. Ein asiatisches Mädchen nahm ab. Sowohl Florence als auch Danielle seien im Augenblick mit einem VIP-Kunden zusammen. Ob sie etwas ausrichten könne?
»Würden Sie nur sagen, dass Jennys Mutter angerufen hat? Ich wäre dankbar, wenn Flo sich melden könnte, sobald sie kann.«
»Natürlich. Ich werde es ihr sagen.«
Bea ging in den Garten hinaus, das Telefon noch immer in der Hand. Es ging ein kalter, östlicher Wind, und das Meer hinter ihr glitzerte wild und marineblau. Sie ging auf der Terrasse auf und ab, zwischen den verwelkten Topfpflanzen, während sich ein Knoten in ihrer Magengegend bildete, eine dunkle Vorahnung einer Katastrophe.
Sie wandte sich um und sah zurück zu dem Haus und der Auffahrt, die sich bis zum Tor schlängelte. Ruth. Bea entsann sich deutlich an ein dünnes Kind mit blonden Zöpfen, das um die Ecke des Hauses bog, mit einem kleinen, blassen Gesicht, das ängstlich nach Jenny Ausschau hielt.
Ruth, die jeden Sonntag den Hügel von Downalong hochlief, verzweifelt auf der Flucht vor ihrem Zuhause und der Suche nach einem Willkommen hier bei ihnen.
Bea sah zu dem Speicherfenster an der rechten Seite des Hauses hoch, wo Jennys Zimmer gewesen war. Sie konnte das Gekicher fast hören, das mit den Geräuschen der Seemöwen in den Garten strömte. Jenny und Ruth. Ruth und Jenny. All die Jahre ihrer Kindheit waren die beiden gemeinsam durch die Gegend gerannt wie seltsame kleine Zwillinge, und dann, schwupp, war Ruth auf einmal verschwunden, und wie hatte Jenny getrauert.
Bea ging wieder ins Haus und in James’ Arbeitszimmer. Sie sah, dass seine Arzttasche fehlte.
AUGUST 2005
Tom wacht mit einem Ruck auf. Sein Herz hämmert laut in dem stillen Haus, als hätte er einen Albtraum gehabt. Falls er einen gehabt hat, kann er sich jedenfalls nicht mehr an ihn erinnern. Er rollt sich auf den Rücken, überzeugt, dass da irgendetwas ist, eine kleine, nagende Warnung, die er sich aus dem Schlaf zurückrufen sollte, aber er kann sie nicht heraufbeschwören.
Er steigt aus dem Bett und schlüpft in seinen Bademantel. Er tritt ans Fenster, vor dem kein Vorhang hängt, und sieht hinaus. Der Morgen dämmert fast, und er sieht zu, wie ein Hauch von Rosa hinter den Häuserdächern aufsteigt. Er dreht sich wieder zum Bett um und betrachtet die schlafende Jenny. Er wird von einer solch überwältigenden Liebe und Angst durchströmt, dass es ihm den Atem verschlägt.
Er verlässt das Zimmer und geht über den Treppenabsatz, verscheucht die Schatten, verflucht diese Stimmungsschwankungen, die immer an den letzten Tagen seines Urlaubs über ihn hereinbrechen. Rosie liegt zusammengerollt wie eine Haselmaus in ihrem Kinderbett, mit demselben drahtigen Haar wie ihre Mutter, derselben Art zu schlafen, ein kleiner Klon. Er lächelt und steckt ihre Ärmchen unter die Bettdecke, deckt ihren pummeligen kleinen Körper behutsam zu. Rosie. Fleisch von seinem Fleisch.
Er fröstelt. Die Schatten im Zimmer schleichen sich näher, rücken von allen Seiten heran. Er kann sich nicht umdrehen und ihnen ins Auge sehen, denn er weiß nicht, von wo die größte Gefahr kommt.
Er verlässt das Zimmer, geht ins Wohnzimmer und setzt sich in seinen zerknautschten Ledersessel. Er liebt dieses Haus. Dieses wundervolle, gemütliche viktorianische Haus mit seinen hohen Decken und den riesigen Flügelfenstern. Er liebt alles an seinem Leben bis auf die Rückkehr in diesen hässlichen kleinen Krieg, bei dem er sich nicht sicher ist, ob er immer noch an ihn glaubt. Er muss diese Gefühle ausmerzen; sie mit einem einzigen Schlag beseitigen, bevor sie sich festsetzen. Er hat jüngere, weniger erfahrene Soldaten unter sich, neunzehnjährige Jungen, die sich auf ihn verlassen. Das ist das Leben, das er gewählt hat. Er hat kein Recht auf unabhängige Gedanken, Angst oder Selbstmitleid.
Ungeduldig mit sich selbst, steht er auf, um sich einen Brandy einzuschenken. Er wird dasitzen und auf das stille Haus lauschen, das sich rings um ihn regt und atmet und knarrt. Aus den Schatten der Nacht wird er den Mittelpunkt von Jennys arbeitsreichen Tagen in sich aufnehmen. Das ständige Kommen und Gehen und Geplapper und Gekicher; das Läuten des Telefons oder der Türklingel; das Geräusch der kleinen Schritte seiner Tochter auf dem polierten Boden; die Berührung von Jennys Hand, wenn sie an ihm vorübergeht, Ballen mit bunten Stoffen umklammernd, und sich noch einmal zu ihm umwendet, um ihm zuzulächeln, das Gesicht lebendig von Liebe. All diese Dinge sind die Routine ihrer Tage, wenn er fort ist; ihre in sich geschlossene, behütete, weibliche Welt.
Durch die Ehe ist alles noch schwerer geworden. Es gibt so viel zu verlieren, Risiken werden kalkuliert, weniger instinktiv. Es ist schwer, nicht weicher zu werden, an Schärfe zu verlieren. Er kippt den Brandy rasch hinunter. Hör auf zu denken.
Er schläft im Sessel ein und träumt wieder. Träumt, dass er in Nordirland oder Bosnien oder dem Irak aus einem Flugzeug steigt. Es regnet in Strömen, und sein Herz ist schwer von dem Verlust von etwas …
Es gibt da etwas, an das er sich erinnern sollte, aber es tänzelt außer Reichweite, genau hinter seinem Gedächtnis. Das Einzige, was er spüren kann, ist der eisige Nachtregen, der mit einem Wind hereinkommt, der ihm in die Knochen fährt.
Er wendet sich um und sieht die jungen Soldaten, die ihm ins Flugzeug folgen. Sie schimmern in den Hitzewellen des Flugzeugs, dessen Motoren sich hinter ihnen warm laufen. Sie haben etwas Traumartiges an sich, während sie auf ihn zuschweben, und mit plötzlicher Klarheit begreift er, dass die Zeit, wie er sie kennt, nicht existiert. Diese Soldaten, er selbst, schimmern in einer Art zeitlosen Zone. Es sind die Soldaten von gestern und die Soldaten von morgen. Sie lächeln, flirten mit dem Abenteuer, tanzen mit dem Tod. Sie verstehen nicht, dass sie niemals enden werden, diese brutalen kleinen Kriege gegen einen unsichtbaren Feind. Da marschieren sie mit ihrem eifrigen, unschuldigen Lächeln und ihren neuen, knarrenden Stiefeln und schweren Tornistern, und er will ihnen eine Warnung zurufen. Wir werden niemals gewinnen. Es wird einfach immer und immer so weitergehen.
Und doch sieht er, während er sich auf sie zubewegt, sein eigenes, jüngeres Gesicht unter ihnen, entschlossen und begeistert von der Herausforderung. Sie ziehen lachend an ihm vorbei, während er vor ihnen auf dem Asphalt steht, und er begreift, dass sie ihn nicht sehen können, da er gar nicht da ist. Er existiert nicht. Seine Zeit ist aus und vorbei.
Erleichtert wacht er auf. Es ist Morgen. Er ist in England. Sonnenlicht scheint über den polierten Boden. Er lacht vor Erleichterung auf. Wohin soll er Jenny und Rosie an diesem kostbaren letzten vollen Tag seines Urlaubs ausführen?
Es war Februar, und der vernachlässigte Garten war voller Schneeglöckchen und gelber und violetter Krokusse. Der Winterjasmin blühte in einer Welle am Zaun. Bevor ich aufbrach, um den Zug zu nehmen, ging ich hinunter und pflückte kleine Sträuße von Schneeglöckchen und stellte sie überall in den Zimmern auf, als wollte ich einen Schatten meiner selbst im Haus hinterlassen. Sie sahen aus wie zierliche Balletttänzerinnen, zu weißen Büscheln gebündelt vor dem Buntglasfenster auf dem Treppenabsatz, aber sie würden alle verblichen und braun sein, bis ich wieder da war.
Ich zögerte den Augenblick hinaus, in dem ich das Haus verlassen musste. Ich wollte die Haustür nicht hinter mir schließen und mich draußen in der frischen, kalten Luft wiederfinden. Ich verspürte eine irrationale Angst, dass denen, die im Haus zurückblieben, irgendetwas zustoßen könnte oder dass die Zimmer mit den hohen Decken sich hinter mir in Luft auflösen würden.
Ich saß in Toms Ledersessel und ließ die Stimmen und das Gelächter der Mädchen auf dem Boden des Zuschneideraums zu mir herunterdringen. Ich lauschte auf Flos tiefe, sanfte Stimme am Telefon. Ich dachte schuldbewusst, wie viel Danielle in diesen letzten Wochen übernommen hatte und dass es eine Kleinigkeit für mich sein sollte, die Termine, die sie in Birmingham für mich vereinbart hatte, zu erledigen.
Ich hörte draußen das Taxi, und ich erhob mich aus dem Sessel und ging nach unten. Ich nahm mein Gepäck aus der Diele und rief zu Flo hoch, dass ich losfuhr. Sie kam die Speichertreppe herunter und stellte sich auf den Treppenabsatz des ersten Stockwerks und sah zu mir hinunter. Ich widerstand dem Drang, meine Taschen fallen zu lassen und die Treppe hochzulaufen und mir einzugestehen, dass ich es mir anders überlegt hatte und dass Birmingham der letzte Ort auf der Erde war, zu dem ich allein aufbrechen wollte.
Mein Gesicht musste irgendetwas verraten haben, denn Flo begann, die letzte Treppe hinunter auf mich zuzukommen. »Es ist noch nicht zu spät, Schätzchen. Warum lässt du Birmingham nicht sausen? Warte, bis Danielle wieder da ist. Auf eine Woche wird es nicht ankommen. Ich kann deine Termine verschieben. Danielle wird es verstehen.«
Ich schüttelte den Kopf und log: »Es geht mir gut, wirklich. Ich muss heute hinfahren, Flo. Danielle hat diese Besprechungen angesetzt, und ich will sie nicht enttäuschen, das wäre nicht fair.«
Flo seufzte und küsste mich auf die Wange. »Na schön, Jen. Ich rufe dich heute Abend an.«
Ich ging die Stufen hinunter und stieg in das wartende Taxi. Ich winkte, und Flo sah mir nach, bis ich verschwunden war.
Der Verkehr war fürchterlich, und ich hatte nicht genügend Zeit eingeplant. Während ich über den Bahnsteig zum Zug nach Birmingham eilte, wurde ich von einer Gestalt vor mir an jemanden erinnert. Es war die leichte Bewegung ihres Kopfes, während sie ging, ihr aufrechter Rücken. Ein verwirrendes Déjà-vu-Gefühl durchzuckte mich; ein Hauch von Erinnerung, knapp außer Reichweite.
Ich stieg in einen fast freien Waggon der ersten Klasse und fand einen Platz. Die Stille war wundervoll. Ich konnte etwas Schreibarbeit erledigen.
Auf einmal fiel mir ein, an wen mich die Frau, die vor mir gegangen war, von hinten erinnert hatte: Ruth Freidman, meine beste Freundin in der Schule. Als Kinder waren wir unzertrennlich gewesen. Sie hatte praktisch bei uns zu Hause in St. Ives gelebt. Sie war eines dieser Mädchen gewesen, die alles gut konnten. Das musste sie, denn sie hatte etwas ältere Eltern, die gegenüber allem, was sie tat, kalt und kritisch waren und sehr streng. Sie durfte nie Freundinnen mit nach Hause bringen, und es hatte unzählige Vorschriften gegeben, gegen die sie nicht verstoßen durfte. Es hatte sie unterschieden, hatte sie von uns anderen abgehoben.
Bea hatte sie instinktiv mit offenen Armen in unsere große, lärmende Familie aufgenommen, und fort von zu Hause, wenn sie bei uns war, schien Ruth aufzublühen. Sie war witzig und schlau gewesen. Ich hatte sie über alles geliebt, aber ich wusste sogar schon als Kind, dass sie, sobald sie ihr Elternhaus verlassen hatte, niemals zurückkommen würde. Sie war loyal. Sie sprach im Grunde nie über ihre schrecklichen Eltern; sie schien einfach zu akzeptieren, wie sie waren.
In den Vororten beschleunigte der Zug sein Tempo. Ich hatte seit Jahren nicht mehr an Ruth gedacht, und es war seltsam, dass ein flüchtiger Blick auf den Kopf einer Frau Erinnerungen auslösen konnte, die nun zurückfluteten, süß und schmerzlich zugleich. Ich entsann mich, wie sie einmal gesagt hatte: »Ich werde niemals heiraten, Jen. Weißt du, dass meine Eltern ihr ganzes Leben in Cornwall verbracht haben und nie irgendwo anders gewesen sind? Sie verspüren keine Neugier auf irgendetwas oder irgendjemand. Es ist unglaublich. Ich werde fliegen, frei wie ein Vogel …«
Ich fragte mich, ob sie tatsächlich frei flog. Ein paar Monate später, als wir beide kurz vor dem Abitur standen, nahm ihr Vater, ein Bankmanager, unerklärlicherweise einen Posten in Toronto an, und die Familie packte in ungewöhnlicher Hast zusammen und war binnen weniger Wochen abgereist. Verschwunden. Und ließ uns alle mit offenen Mündern zurück.
Es war so unsinnig gewesen, Ruth kurz vor wichtigen Prüfungen aus der Schule zu reißen. Es war seltsam, vor allem da Ruths Eltern immer so ehrgeizig und erwartungsvoll hinsichtlich ihrer schulischen Erfolge waren. Bea, besorgt, dass irgendetwas nicht stimmte, war zu Ruths Eltern gegangen. Sie bot an, Ruth bei uns aufzunehmen, bis sie ihr Abitur hinter sich hatte, aber ihre Eltern hatten eiskalt entschieden, dass Ruth sie begleiten und ihre Prüfungen später an der Internationalen Schule in Toronto ablegen sollte.
Das Merkwürdigste an alledem war Ruths seltsamer, roboterartiger Gehorsam. Sie kämpfte nicht ein bisschen darum, bleiben zu dürfen. Als ich sie anbettelte und anflehte, bei uns zu bleiben, wurde sie schließlich wütend. Es war das einzige Mal, dass sie mich anfuhr und mir sagte, ich solle mich um meine eigenen verdammten Angelegenheiten kümmern.
Was mich so schmerzlich traf, war die Tatsache, dass sie ihr Leben und mich entschlossen hinter sich ließ, ohne auch nur einen Blick zurückzuwerfen. Sie schrieb mir nicht ein einziges Mal. Wir waren unzertrennlich gewesen, und doch konnte sie mich offenbar von einem Augenblick zum anderen für ihr neues Leben einfach wegwerfen. Ruth war bei der Nummer ihres Postfachs ein Fehler unterlaufen, und all meine Briefe kamen zu mir zurück. Ich brauchte Jahre, um über die Kränkung und das Gefühl von Verlust hinwegzukommen.
Ich sah aus dem Fenster auf die heruntergekommenen kleinen Gärten von Reihenhäusern. Was hatte Ruth mit ihrem Leben angefangen? Was war aus ihr geworden? Sie war immer ein bisschen geheimnistuerisch gewesen, mit einem Hang zu Stimmungsschwankungen. Das war kein Wunder bei den Eltern, die sie hatte, aber als sie wegging, ohne sich noch einmal umzuwenden, fragte ich mich doch, ob ich sie überhaupt je gekannt hatte.
Ich starrte auf mein schattenhaftes Spiegelbild im Fenster. Seltsam, wie das Gedächtnis von etwas so Belanglosem wie dem Rücken einer Frau angeregt werden konnte.
Jemand verharrte in der Nähe meines Platzes und warf dann seinen Mantel auf die Gepäckablage über mir. Ich breitete rasch meine Zeitung aus. Es gab noch jede Menge andere Plätze. Ich sah verärgert auf, in das lächelnde Gesicht einer eleganten blonden Frau.
»Jenny Brown! Ich dachte mir doch, das musst du sein! Niemand könnte so schockierend angezogen sein wie du und dabei absolut umwerfend aussehen – und dein Haar ist noch genau dasselbe. Das musstest du sein!«
Ich starrte verblüfft zu ihr hoch. Ruth Freidman stand vor mir. Ich glaube nicht, dass ich sie auf Anhieb erkannt hätte, aber ihre Stimme und ihr Lachen hatten sich nicht verändert.
»Ruth! O mein Gott. Ich bin deinem Hinterkopf gefolgt, als ich zum Zug ging. Von hinten dachte ich, es sei nur jemand, der mich an dich erinnert.«
Ich plapperte, und unsere Blicke trafen sich, und wir lachten beide, während sie mir gegenüber Platz nahm.
»Du bist an dem Waggonfenster vorbeigelaufen, Jenny. Ich habe nur einen Blick auf dich erhascht, aber ich war mir so sicher, dass du es sein musst, und du bist es tatsächlich.«
Erstaunt starrten wir uns an, vierzehn Jahre später, forschten in den Falten und Schatten, die unsere erwachsenen Gesichter ausmachten. Ihr hochgewachsener, athletischer Körper war noch immer schlank und anmutig, aber jetzt hatte sie Stil, war tadellos zurechtgemacht. Längst verschwunden waren die dünnen Zöpfe. Ihr Gesicht war sorgfältig geschminkt, ihr Haar wunderschön blond und teuer geschnitten.
Wie sehe ich für sie aus?, fragte ich mich, während ich wie immer meinen eigenen kleinen, kompakten Körper und mein dunkles, wirres Haar beklagte, das ich noch immer nicht im Griff hatte. Ich trug kein Make-up, und ich war mir sicher, dass ich mehr gealtert war als sie.
Auf einmal sagte ich, womit ich mich selbst verblüffte, vielleicht, da es mir eben erst durch den Kopf gegangen war: »Du bist einfach verschwunden, Ruth. Du warst wie vom Erdboden verschluckt. Du hast mir nie geschrieben. Wir haben nie wieder von dir gehört. Es war, als seist du gestorben.«
Ein Anflug von etwas huschte über Ruths Gesicht, dann zuckte sie mit einer Bewegung, an die ich mich noch erinnern konnte, die Schultern. »Ich … ich dachte einfach, es sei das Beste so. Ah, hier kommt der Kaffee, wunderbar.«
Wir fummelten an unseren kleinen Milchpäckchen herum.
»Was machst du denn in einem Zug nach Birmingham, Jenny? Bist du aufs Kunstcollege gegangen? Wenn ich mich recht erinnere, wolltest du doch jede Menge Kinder haben, wie Bea?«
Sie lachte, gewahrte meinen Ehering. Ich sagte, mit einem flauen Gefühl und um Zeit zu gewinnen: »Welche Frage soll ich zuerst beantworten? Ich sitze in einem Zug nach Birmingham, da ich arbeite. Ja, ich bin aufs Central St. Martin’s gegangen.«
»Hast du dein Stipendium bekommen?«
»Ja. Ich hatte Glück.«
»Glück? Das glaube ich nicht. Du warst unglaublich begabt. Und, was machst du jetzt?«
Ruths terrierartige Verbissenheit war noch immer dieselbe. »Ich habe zusammen mit einer französischen Designerin, Danielle Sabot, ein Geschäft gegründet. Wir haben uns gemeinsam für das Stipendienprogramm der Royal Society of Arts beworben und gewonnen. Aufgrund dieser Modenschau hat eines der Londoner Geschäfte uns gebeten, ein paar Designs für sie zu entwerfen, und von da an nahm alles einfach seinen Lauf. Inzwischen designen wir für unterschiedliche Firmen hierzulande und in Frankreich und Italien. Normalerweise ist Danielle für Birmingham zuständig. Sie ist eine bessere Geschäftsfrau als ich, aber wenn sie im Ausland ist, ist es mein Job.«
»Du warst schon immer bescheiden. Ich wusste, dass du erfolgreich sein würdest, Jenny. Gute Arbeit.«
»Und was ist mit dir, Ruth?«, sagte ich rasch. »Was hast du in Toronto gemacht? Wann bist du nach England zurückgekommen?«
»Hey, noch nicht ich!«, sagte Ruth ebenso rasch. »Was ist mit dem Rest deines Lebens? Es kann doch nicht nur aus Arbeit bestehen.«
Ich sah aus dem Fenster, als könnte ich so entkommen. Draußen huschten Legohäuser vorbei, eins nach dem anderen: winzige Gärten, Spielbrettfiguren von Menschen, die ihren Geschäften nachgingen, sich auf ihr eigenes Gebiet beschränkten; das Leben, das unaufhaltsam seinen Lauf nahm.
Ich glaubte, eine ausdruckslose Miene bewahrt zu haben, aber irgendetwas musste sich auf ihr gezeigt haben, denn Ruth streckte zögernd eine Hand aus und berührte meine. »Es tut mir leid, Jenny. Es geht mich nichts an, stimmt’s?«
Ich starrte auf die schlanke Hand, die in der Nähe meiner eigenen lag. Die Hand bewegte sich und legte sich auf dem Tisch sanft über meine. Schmerz regte sich in mir. Ich starrte auf die Felder hinaus. Dunkle, nasse Erde, die gepflügt wurde, Seemöwen, die hinter dem Traktor kreisten. Ich sagte, denn eine Lüge war leichter, als würde ich die Geschichte von jemand anders erzählen: »Mein Mann kam bei einem Verkehrsunfall ums Leben.« Meine Stimme hörte sich an, als würde sie aus einem langen, hallenden Tunnel kommen.
Leichter, es schnell zu sagen. Ruth würde sich an diese schrecklichen Schlagzeilen und Fotos nicht erinnern, würde sie nicht mit mir in Verbindung bringen.
Ihre Finger legten sich um meine und hielten sie fest. Ihre Stimme klang schockiert. »Oh Jenny. O Gott. Das tut mir so, so leid. Wann denn? Wie lange ist das denn her?«
»Im August.«
»Erst vor einem halben Jahr. Ich war in Israel. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Es tut mir so leid, bitte verzeih mir mein verbissenes Nachhaken.«
Die kleine, flatternde Bewegung von Ruths Händen auf meinen eigenen löste eine Wärme in mir aus, von der ich geglaubt hatte, sie sei für immer verschwunden. »Erzähl mir von deinem Leben, Ruth. Erzähl mir von dir. Wie lange warst du in Kanada? Wann bist du nach Hause gekommen?«
Ruth forschte ängstlich in meinem Gesicht, wollte mir Trost spenden, aber als sie meine Miene sah, ließ sie meine Finger los und lehnte sich auf ihrem Platz zurück. Sie schloss für eine Sekunde die Augen. »Ich bin nie nach Kanada gegangen.« Ihre Miene verschloss sich, genau wie meine vor einem Augenblick.
Ich starrte sie entgeistert an. »Was in aller Welt soll das heißen, du bist nicht gegangen?«
Ruth gab keine Antwort.
»Du hast uns eine Nachsendeanschrift gegeben, auch wenn die Nummer des Postfachs die falsche war. Dein Vater hatte doch einen Job in Toronto, stimmt’s?«
Ruth sah auf, und ihre Miene war gequält und ausdruckslos und erinnerte mich an das Kind, das sie einmal gewesen war. Die Bitterkeit in ihrer Stimme war deutlich herauszuhören. »Ich meine, meine Eltern sind gegangen. Ich nicht. Ich wurde zu einer Tante nach Arran geschickt. Ich habe ein Fernabitur abgelegt. Ich bin nie auf eine Universität gegangen.«
Ich starrte sie an. »Ich verstehe nicht …«
»Sie wollten mich loswerden.«
Ich sah sie schockiert an. »Was meinst du damit?«
Ruth lächelte grimmig. »Wie du weißt, hatten meine Eltern eine Höllenangst vor einem Skandal und waren besessen davon, was die Leute von ihnen denken könnten. Erinnerst du dich noch an jenes letzte Weihnachten, bevor ich weggegangen bin?«
Ich nickte. »Ich lag mit einer Blinddarmentzündung im Krankenhaus.«
»Ja. Na ja, ich habe meine Eltern belogen und gesagt, wir beide würden zusammen zu einer Party gehen. Ich bin allein hingegangen und habe mich betrunken und meine Mitfahrgelegenheit nach Hause verpasst. Schließlich hat mich ein anderer Vater nach Hause gebracht, noch immer alles andere als nüchtern. Leider war er zufällig ein Angestellter in der Bank meines Vaters.«
Sie hielt einen Augenblick inne und holte einmal tief Luft. In ihrem Elternhaus galt Trinken als Teufelszeug. »Mein Vater tobte vor Wut, als er mich sah. Er erklärte mir, noch bevor ich Zeit hatte, wieder nüchtern zu werden, er und meine Mutter seien nicht meine leiblichen Eltern. Ich sei adoptiert worden. Es war im Grunde fast komisch. Meine Mutter stand vor mir und murmelte düster: ›Blut kommt durch. Blut kommt durch‹, wie eine geistesgestörte Lady Macbeth.«
Ich starrte sie entsetzt an.
»Ein paar Monate später nahm mein Vater einen Job an, den er bis dahin gar nicht angestrebt hatte, und ich wurde so schnell wie möglich in die entferntesten Regionen abgeschoben.«
»Ich kann es nicht glauben. Ich war deine beste Freundin. Warum in aller Welt hast du mir nichts davon erzählt?«
»Weil mein Vater paranoid war und meine Mutter hysterisch, es könnte irgendjemand erfahren, was sie vorhatten. Ich bettelte darum, bleiben und mein Abitur mit dir zusammen machen zu dürfen. Ich wusste, dass Bea vorbeigekommen war. Mein Vater stieß schwere Drohungen aus, und ich hatte schreckliche Angst vor ihm.«
»Du hättest weglaufen und zu uns kommen und uns alles erzählen sollen. Bea und James hätten sie davon abhalten können, dich fortzuschicken. Du hättest dich mir anvertrauen sollen.«
Ruth beugte sich zu mir vor. »Es ist jetzt schwer zu erklären, aber es hatte mich völlig umgehauen. Meine Eltern haben siebzehn Jahre gewartet, um mir zu sagen, dass sie nicht meine wirklichen Eltern waren. Sie redeten in einem fort davon, wie sie mich vor einem schrecklichen Schicksal bewahrt hätten. Ich fühlte mich von ihnen besiegt, und absolut schlecht und wertlos.«
»Es waren wirklich furchtbare Leute«, sagte ich wütend. »Ich hätte sehen sollen, dass du Riesenprobleme hattest, ich muss blind gewesen sein.«
»Ich habe meine Gefühle vor allen verheimlicht. Ich glaube, ich stand unter Schock. Ich wollte nicht, dass Bea – irgendjemand von euch – erfuhr, dass ich adoptiert war. Auf einmal erschien es mir als Schande. Später war ich natürlich sehr erleichtert, dass ich nicht dasselbe Blut hatte wie diese beiden.« Sie erwiderte meinen Blick. »Wirklich, ich hatte Angst, ihr würdet mich alle dafür verachten. Ich musste einen Ort und Leute in Erinnerung behalten, wo ich geliebt wurde, euer Zuhause. Ich musste das mit mir fortnehmen.«
Ich schloss die Augen und schauderte angesichts der grausamen Willkür des Lebens. »Du hättest uns vertrauen sollen, uns besser kennen sollen. Du hättest nichts weiter tun müssen, als deine Taschen zu packen und zu uns herüberzukommen.«
Ich schwieg einen Augenblick. Es war keine Erklärung dafür, weshalb sie nie geschrieben hatte. Hatte sie geglaubt, sie hätte es verdient, uns zu verlieren?
Ruth betrachtete ihre Handrücken. »Ich habe seit vierzehn Jahren keinen Kontakt zu meinen Eltern. Sie haben mich auf diese schottische Insel verfrachtet, und sie haben mir nie geschrieben oder sich wieder bei mir gemeldet. Ich habe nichts mehr von ihnen gehört seit dem Tag, an dem sie mich in Glasgow auf die Fähre gesetzt und mir den Rücken gekehrt haben. Ich habe siebzehn Jahre lang mit ihnen zusammengelebt, und für sie habe ich einfach aufgehört zu existieren. Soweit ich weiß, sind sie immer noch in Kanada. Jedenfalls …«
»Es waren gemeine, grausame Leute.«
Ruth stützte ihr Kinn in ihre Hand und lächelte mich an. »Wie habe ich deine warme, chaotische Familie geliebt. Wie habe ich dich beneidet. Ich glaube nicht, dass ich ohne deine Familie die Kindheit überlebt hätte. Ich hatte immer das Gefühl, dazuzugehören. Es war witzig. In eurem Haus konnte ich ein Kind sein. Mein Zuhause habe ich immer als einen Ort empfunden, an dem die Zeit stillstand, mit dem schweren Ticken einer Uhr, das die Endlosigkeit meiner Kindheit markierte.«
Ich starrte sie an. Ich hatte meine Kindheit als völlig selbstverständlich betrachtet. »Es ist unverzeihlich, dass deine Eltern dich einfach so im Stich gelassen haben. Was ist mit dir passiert? Wie hast du das bewältigt?«
»Ich habe es bewältigt dank der wundervollen Tante auf Arran, die mich bei sich aufgenommen hat. Sie war umwerfend. Weißt du, Jenny, in meinen Jahren mit ihr habe ich mehr Liebe und Unterstützung bekommen als in meiner ganzen Kindheit mit meinen Eltern.«
»Konntest du auf Arran denn studieren?«
»Eine Weile, über ein Fernstudium. Später bin ich dann zum Studium aufs Festland gependelt. Schließlich musste ich die Insel verlassen, um zu arbeiten, und meine Tante ist mitgekommen. Ich habe einen Job in einem großen Kaufhaus in Glasgow gefunden, habe festgestellt, dass ich gut im Verkaufen war, wurde Einkäuferin, habe Betriebswirtschaft studiert und begonnen, meine eigenen Kaufhäuser zu leiten. Und ich halte auf freiberuflicher Basis Vorträge über Geschäftsmanagement auf Konferenzen. Vor ein paar Jahren bin ich aus Glasgow weggezogen und zur Fayad-Gruppe nach Birmingham gegangen.« Sie lachte und riss die Arme auseinander. »Das ist meine Geschichte!«
Ich lächelte sie an. »Ruth, du bist einfach umwerfend.«
»Nein, aber meine Tante war es. Sie war wie deine Mutter. Wie Bea. Sie hat mir Selbstvertrauen gegeben und mich motiviert, erfolgreich zu sein, trotz allem. Sie ist vor ein paar Jahren gestorben, und ich vermisse sie noch immer.«
Wir schwiegen beide. Ich sah auf Ruths Hand hinunter. »Du bist verheiratet?«
»Ja. Er ist ein guter und liebevoller Mann, sehr freundlich …«
Freundlich ist ein verräterisches Wort. Freundlich ist ein Wort, das man anstelle von Liebe benutzt.
Als hätte sie meine Gedanken gelesen, sagte Ruth: »Manchmal habe ich den Verdacht, dass meine Eltern vielleicht recht hatten. Ich bin nicht immer nett. Ich bin getrieben. Ich nehme mir nicht genügend Zeit für die Leute, die ich achten sollte.« Sie spielte mit ihrem Ehering. »Hast du Kinder?«
Ich schüttelte den Kopf und bohrte meine Fingernägel unter dem Tisch hart in eine Hand.
»Gott, es tut mir leid«, sagte Ruth auf einmal. »Hier sitze ich und schwafele von meinem eigenen Leben, während das nichts ist verglichen mit dem, was du im Augenblick durchmachst, Jenny.«
»Es hilft, von anderen Dingen zu reden. Hast du Kinder?«
Ihr ganzes Gesicht hellte sich auf. »Ja. Nur eines. Sein Name ist Adam.«
Die Sonne schien in einem dünnen Strahl, der unsere Köpfe berührte, auf das schmutzige Zugfenster. Er tauchte Ruths Haar in Gold und erinnerte mich an unsere längst vergangene Schulzeit, als wir uns in einer Ecke des Gemeinschaftsraums versteckten und versuchten, uns vor dem Schulsport in den bitterkalten Winden zu drücken, die genau vom Meer hereinbliesen und über die Sportplätze fegten, sodass wir fast erfroren. Licht fiel im Allgemeinen durch die bunten Scheiben schräg auf die Fensterbank hinunter, wo wir kauerten, angestrengt auf die Schritte einer Nonne lauschend, die in unsere Richtung kommen könnte.
»Oh!« Auf einmal sprang Ruth auf. »An der nächsten Haltestelle muss ich aussteigen, um Adam auf dem Heimweg von der Schule zu treffen. Wir steigen beide hier um. Wir laufen uns nicht oft zufällig über den Weg, daher ist das nett. Wir leben draußen am Stadtrand.«
Sie riss einen benutzten Briefumschlag in der Mitte durch und schrieb ihre Adresse und Telefonnummer auf. »Mein Nachname ist jetzt Hallam. Ruf mich morgen an, Jenny. Komm uns besuchen, oder ich treffe dich irgendwo in der Innenstadt. Vermutlich kann ich dir auch ein paar Kontakte vermitteln. In welchem Hotel wohnst du?«
Ich sagte es ihr und gab ihr meine Karte, während sie ihre Sachen einsammelte. »Du solltest nicht allein in einer fremden Stadt sein, du solltest Gesellschaft haben.« Sie berührte mein Gesicht leicht. »Es tut so gut, dich wiederzusehen. Man schließt nie wieder Freundschaften auf die Art, auf die man es tut, wenn man sehr jung ist, wenn man zusammen aufwächst, stimmt’s?«
»Nein«, sagte ich. »Ich glaube nicht.«
Ich streckte eine Hand aus, und Ruth drückte sie fest. Wir sagten nicht Lebewohl. Es erschien zu endgültig. Während sie sich den Waggon hinunter entfernte, verspürte ich ein Gefühl von Verlust über ihren Weggang. Ich wollte nicht, dass die monatelange Taubheit nachließ, ich brauchte ihren Schutz. Ruths hochgewachsene Gestalt verließ den Waggon, und ich wandte mich zum Fenster um, als der Zug sein Tempo verlangsamte und anhielt.
Ein einsamer Junge stand auf dem Bahnsteig in einem Meer von Saris und suchte die aufgehenden Türen der Waggons ab. Er wandte sich zu mir um. Mein Herz schien stillzustehen, so vertraut, so lieb waren mir seine Züge und die Art, wie er sich beiläufig das Haar aus den Augen strich. Die Art, wie er den Kopf hielt, leicht zur Seite geneigt. Die Art, wie er sich bewegte, auf einmal losstürzte, auf Ruth zu, die auf dem Bahnsteig auftauchte, die Art, wie sich sein Gesicht aufhellte.
»Tom! Tom!«, rief ich unter Schock seinen Namen, und Leute wandten sich um und starrten mich an. Der Zug begann zu rangieren, sich in Zeitlupe durch Glas vorwärtszubewegen. Ich sah, wie Ruth loslief und den Jungen an sich drückte. Sie wandte sich um, um einen Blick auf mich zu erhaschen, und winkte wild.
Ich drückte mein Gesicht an die Scheibe, um die beiden noch so lange wie möglich im Auge zu behalten. Dann waren sie verschwunden, hinter mir. Der Zug trug mich allein weiter in Richtung Birmingham. Ich erhob mich von meinem Platz und taumelte auf den Gang hinaus. Mein Atem ging in stechenden, schmerzhaften Zügen.
Tom. Eine Wehklage setzte tief in mir ein. Ich spürte, wie mir die Tränen übers Gesicht strömten. Dieses vertraute Gesicht zu sehen war, als würde ich meine Liebe wiedersehen. Ich schrie vor Schmerz auf. Ich verstand es nicht. Ich verstand es nicht.
Ich sah hinunter und stellte fest, dass ich den Umschlag mit Ruths Adresse und Telefonnummer noch immer in der Hand hielt. Ich knüllte ihn gewaltsam zusammen und schleuderte ihn von mir, den Gang hinunter. Ich wollte schreien, und ich zog mich rasch auf die Toilette zurück.
Nach einer Weile klopfte jemand und fragte besorgt, ob mit mir alles in Ordnung sei. Mit großer Willenskraft versuchte ich, mich zusammenzureißen. Ich ließ mir kaltes Wasser übers Gesicht laufen, fuhr mir mit einem Kamm durchs Haar, schaffte es, etwas Lippenstift aufzutragen. Meine Hände zitterten. Ich starrte auf mein wildes, bleiches Gegenüber im Spiegel. War ich dabei, den Verstand zu verlieren? Lebte irgendetwas von Tom weiter, aber nicht mit mir? Mit Ruth?
Ich spürte es, als würde in mir eine Glasscheibe in tausend Stücke zersplittern. Dann war jedes Gefühl wie weggeblasen. Die Taubheit war wieder da. Ich entriegelte die Tür und trat wieder auf den Gang hinaus.
Der zerknüllte Umschlag lag noch immer weggeworfen auf dem Boden. Ich bückte mich und hob ihn auf, strich ihn glatt. Ruth Hallam. Ich öffnete meine Tasche und zog den Reißverschluss des kleinen Fachs auf, das die Fotos von Tom und Rosie enthielt. Ich legte den Umschlag vorsichtig neben sie, zog den Reißverschluss zu und schloss meine Tasche. Das war alles, was ich noch hatte.
Ich sah aus dem Fenster. Der Zug fuhr in den Bahnhof ein. Leute drängten an mir vorbei, um zur Tür zu kommen. Alle hatten ihr Ziel erreicht. Ruth hat einen Ehemann und diesen Jungen. Sie hat ein Leben zu Hause, das auf sie wartet, wo das Leben weitergeht. Wo das Leben weitergeht.
Ich entferne mich von dem Lärm der Party und lehne mich gegen den riesigen Stamm einer Rosskastanie. Ihre roten Blüten ragen senkrecht zwischen dem grünen Laub auf. Es ist, als würde man unter einem exotischen, knisternden Kronleuchter stehen.
Die Party ist prächtig, eine PR-Übung, die Justin schmeißt, ein Designerfreund, mit dem Danielle und ich aufs St. Martin’s gegangen sind. Seine Kleidung ist ein bisschen übersteigert, aber Prominente und Models scharen sich um ihn, um auf dem roten Teppich ihrer Konkurrenz rücksichtslos die Schau zu stehlen. Hier hat er auf jeden Fall jede Menge schöner Frauen um sich.
Ich sehe zu, wie Danielle ihr Networking betreibt. Sie sieht selbst wie eine Prominente aus, die ideale Werbung für unsere Kleidung. Sie trägt mohnroten Chiffon. Ich habe das Kleid eigens für sie entworfen. Es war einfach, tief ausgeschnitten mit einem schlichten Seidenoberteil und losen Chiffonstreifen, die in den Rock eingenäht sind. Es sieht aus, als würde sie ein scharlachrotes Taschentuch tragen. Mit ihrem dunklen Teint und ihren langen Beinen ähnelt sie einem exotischen Schmetterling.
Ich lächele, während ich ihr zusehe. Wir müssen zu Partys wie dieser kommen, um gesehen zu werden, und sie beherrscht das Networking brillant. Ich verstehe es besser, eine Party aus der Ferne zu beobachten. Ich kann aufkommende Trends erkennen, einen Instinkt für das nächste Mode-Statement entwickeln, und es hilft, zu beobachten, wie die Frauen in Verbindung mit den Kleidern, die sie tragen, sitzen und sich bewegen.
Ich kann einen hochgewachsenen blonden Mann mit einem Schwarm von Frauen vor dem Partyzelt stehen sehen. Er sieht aus wie ein Fisch auf dem Trockenen unter all diesen aufgeblasenen, kunstbeflissenen Modeleuten. Er wirft sich immer wieder das Haar aus den Augen und sieht zur Seite, als würde er nach einer Fluchtmöglichkeit oder wenigstens einem anderen männlichen Wesen suchen. Da es hier von mädchenhaften Knaben, schwul oder tuntenhaft, nur so wimmelt, kann ich sehr gut begreifen, wieso die Frauen sich auf ihn stürzen wie lärmende Seemöwen, die auf ihre Beute herabstoßen, aber es ist dennoch ein witziger Anblick.
Ich sehe, wie Danielle nach mir Ausschau hält, und ich löse mich von dem Baum und kehre über das Gras zurück zu dem Lärm und dem Gelächter. Danielle hat ein klassisches weißes Kleid für mich geschneidert, ausnehmend schön geschnitten, wie nur sie es kann, mit einer schmalen Goldborte. Ich bin braun gebrannt von einer Woche in Cornwall, und ich glaube, frisch, schlicht und zurückhaltend auszusehen.
Danielle hat mich schwören lassen, das Kleid auf keine Weise zu verschönern und den Effekt dadurch zu verderben. Es fiel mir schwer, da ich Farbe und exzentrische Kleidung liebe, aber dieses Gefühl, fast unsichtbar zu sein, passt heute Abend perfekt zu meiner Stimmung. Im Stillen mache ich mir Sorgen um unsere Geschäftsräume, die zu klein geworden sind, und die Tatsache, dass wir, obwohl wir jede Menge Aufträge bekommen, offenbar nicht imstande sind, unsere Bilanz aufzustellen.
Als ich an der Gruppe mit dem hochgewachsenen Mann vorbeikomme, sehe ich, dass er mich ansieht. Ich lächele und gehe weiter. Ich habe nicht vor, ein Mitglied seines Fanclubs zu werden.
Ich geselle mich zu Danielle und einer Gruppe von Freunden, und wir balancieren Teller und Drinks, während wir auf winzigen, schmiedeeisernen Stühlen kauern. Maisie Hill, ein Model, für das Justin und Danielle und ich designen, kommt herüber, um sich zu uns zu gesellen, mit dem hochgewachsenen Mann im Schlepptau.
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