Was längst vergessen schien - Sara MacDonald - E-Book

Was längst vergessen schien E-Book

Sara MacDonald

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Beschreibung

Manchmal ist es besser, die Vergangenheit hinter sich zu lassen, Angst und Schmerz zu vergessen und an die Zukunft zu glauben ...

In dem Haus der Tremains an der Küste von Cornwall haben drei Generationen gelebt: Fred mit seiner Frau Martha, ihre Kinder Anna und Barney und ihre Enkelin Lucy, die ihre Großeltern über alles liebt. Und sie ist es, die eines Tages auf dem Dachboden ein Geheimnis entdeckt: alte Papiere und das Tagebuch ihrer Großmutter. Plötzlich führen alle Fragen zurück in die Vergangenheit und lassen eine Zeit wiederaufleben, deren Schrecken niemals vergessen werden kann ...

Ein wunderschöner und berührender Roman um Liebe und Krieg, Vertrauen und Enttäuschung, gestern wie heute.

eBooks von beHEARTBEAT - Herzklopfen garantiert.



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Inhalt

Cover

Weitere Titel der Autorin

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

DANKSAGUNG

Wassermusik

PROLOG

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

Berlin

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

Berlin

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

Berlin

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

Berlin

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

Warschauer Ghetto, 1943

36. Kapitel

37. Kapitel

Berlin

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

58. Kapitel

59. Kapitel

60. Kapitel

61. Kapitel

62. Kapitel

London, 1946

Cornwall 1999

Weitere Titel der Autorin bei beHEARTBEAT:

Wohin die Liebe dich auch führt

Was einst aus Liebe geschah

Jenseits des Sommers

Über dieses Buch

Manchmal ist es besser, die Vergangenheit hinter sich zu lassen, Angst und Schmerz zu vergessen und an die Zukunft zu glauben ...

In dem Haus der Tremains an der Küste von Cornwall haben drei Generationen gelebt: Fred mit seiner Frau Martha, ihre Kinder Anna und Barney und ihre Enkelin Lucy, die ihre Großeltern über alles liebt. Und sie ist es, die eines Tages auf dem Dachboden ein Geheimnis entdeckt: alte Papiere und das Tagebuch ihrer Großmutter. Plötzlich führen alle Fragen zurück in die Vergangenheit und lassen eine Zeit wiederaufleben, deren Schrecken niemals vergessen werden kann ...

Ein wunderschöner und berührender Roman um Liebe und Krieg, Vertrauen und Enttäuschung, gestern wie heute.

eBooks von beHEARTBEAT – Herzklopfen garantiert.

Über die Autorin

Sara MacDonald wurde in Yorkshire geboren und bereiste mit ihren Eltern schon früh die ganze Welt. Sie machte eine Schreibausbildung und arbeitete für das Fernsehen und am Theater, bevor sie heiratete und mehrere Jahre im Ausland verbrachte. Mittlerweile lebt Sara MacDonald mit ihren beiden Söhnen in Cornwall und widmet sich ganz dem Schreiben.

Sara MacDonald

Was längst vergessen schien

Aus dem britischen Englisch von Veronika Dünninger

Digitale Erstausgabe

»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2002 by Sara MacDonald

Titel der englischen Originalausgabe: »Sea Music«

Originalverlag: HarperCollins Publishers, London

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2004/2022 by Bastei Lübbe AG, Köln

Covergestaltung: Kirstin Osenau

unter Verwendung von Motiven © Richard Jenkins Photography © Kevin Eaves/Shutterstock © Helen Hotson/Shutterstock © Pajor Pawel/Shutterstock © Volodymyr Burdiak/Shutterstock © djgis/Shutterstock

eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)

ISBN 978-3-7517-2384-8

be-heartbeat.de

lesejury.de

Für Milly

Die sagt, die Vergangenheit ist vorbei.

Was zählt, sind die Gegenwart und die Zukunft.

DANKSAGUNG

Sehr dankbar bin ich Hannah Collins für ihre Zeit und ihre Hilfe auf juristischem Gebiet.

Meinem Sohn Toby für Berichte vom Balkan aus erster Hand.

Jane Gregory, Lisanne Radice, Broo Doherty und Susan Watt.

Tim für bedingungslose Liebe, Unterstützung und Geduld. Dieses Buch ist auch dem Andenken seiner Mutter Pam gewidmet, ihrem Haus voller Sonnenlicht und einer Zeit, die wir gemeinsam verbrachten.

Zu guter Letzt bin ich Milly zu tiefem Dank verpflichtet, die mich zu diesem Buch inspiriert hat, und John, ihrem Mann, mit dem sie nun ein anderes glückliches Leben teilt.

Wassermusik

Was ich suchte, war ein Ort, an dem Wasser

ständig floss. Es könnte in Stromschnellen sprudeln,

in großen Sturzbächen über Felsen und dann

weit unten zum Stillstand kommen. Und ich sah

die verborgene Kraft. Dann ging ich zu Flüssen,

der Quelle und der Mündung, dem Ort, an dem Meeresbuchten

die letzten, ruhigen Gewässer waren und

das Meer nicht weit war, ständig

seine Musik spielend,

von lauten Möwen unterbrochen.

Anfangs lauschte ich lediglich der Musik,

langsamen Bewegungen zunächst, den zurückgehaltenen Wellen mit all ihrer Kraft, sich aufzubäumen und zu tosen und sich zu ergießen über den wartenden Sand. Meeresmusik ist das,

was meinen Geist besänftigt. Ich möchte, dass mein Tod

so kommt, wie Flüsse sich biegen, wie das Meer es befiehlt.

Lasst meine letzte Reise zu den Klängen von Wasser sein.

Elizabeth Jennings

PROLOG

Kalt ist es nicht, hier in diesem Land des blauen Meeres, aber Eiszapfen strecken sich nach mir aus, um meine Haut mit der Erinnerung an Kälte zu durchdringen. Manchmal träume ich von Schnee und der gedämpften Stille, die er mit sich bringt. Ich träume von Schnee, auf dessen glatter Oberfläche die Sonne glitzert, wie sie sich auf kleinen Körnchen von blauem Eis spiegelt, gleißend und blendend.

Ich wache auf im Dunkeln, an einem fremden Ort wilder Stürme, und ich entsinne mich, welch Grauen unter der stillen Schönheit von Schnee verborgen liegen kann.

Ich lausche auf Freds Atem neben mir, spüre seinen warmen Körper. Er schläft in weiter Ferne, und die Gesichter stoßen im Dunkeln auf mich hinunter, mit Stimmen, die in der Luft schweben wie ein fernes Flüstern, das ich nicht fassen kann.

Ich steige aus dem Bett, gehe nach unten und laufe in dem kleinen Cottage umher, voller Angst, dass dieses Leben nur ein Traum ist und ich kurz vor dem Aufwachen bin. Ich setze mich in den Eckstuhl am Fenster und warte auf die Sonne, die aus dem schwarzen Wasser aufsteigen wird.

Ich werde hören, wie Fred aufwacht, ich werde hören, wie das Bett knarrt, dann die Schritte seiner nackten Füße, wenn er die Treppe herunterkommt. Er wird hierher kommen, wo ich sitze, und er wird sanft eine Hand ausstrecken, um mein Schaukeln anzuhalten. Er wird mich in seine Arme schließen, dann wird er mich hochheben, als hätte ich kein Gewicht, und mich wieder die Treppe hoch zum Bett tragen.

Er wird mich fest an sich drücken, und ich werde seinen Geruch einatmen. Das ist mein Leben. Dieses Leben habe ich jetzt, hier mit ihm. Ich kann spüren, wie er in mein Haar lächelt, während er mir von den Plänen für unser neues Haus hinter dem Garten erzählt.

Wie kann es sein, dass dieser schöne Mann mich liebt? Aber er tut es. Er tut es.

Ich werde nicht immer dieser Übergangsmensch sein, der über dem glitzernden Meer auf den Sanddünen geht, den eigenen dunklen Schatten vor sich betrachtend, während wir gemeinsam gehen, das Mädchen, das ich war, und die Frau, die ich jetzt bin.

Das Haus ist fast fertig. Wir leben jetzt ständig hier im Cottage. Keine langen Fahrten an den Wochenenden mehr. Das Haus ist wundervoll. Überall ist Licht; weiches Sonnenlicht, es erreicht jeden Winkel, es fließt über den Boden und erfüllt alle Zimmer. Große Fenster öffnen sich weit und lassen den wild wuchernden Garten ins Haus.

Ich zittere vor Glück. Ich küsse Fred die Hände, da ich nicht sprechen kann. Lachend laufe ich durch die leeren Zimmer, und Fred lehnt im Türrahmen, die langen Beine gekreuzt, stopft sich Tabak in seine Pfeife und betrachtet mich mit diesen dunklen Augen, in denen Liebe und Belustigung liegen.

Ich zwinge mich, ins Dorf zu gehen. Anfangs habe ich Angst. Die Leute starren mich an, da ich Ausländerin bin. Manchmal, im Geschäft, unterbrechen sie ihr Gespräch. Wenn ich nervös bin, vergesse ich mein Englisch. Dann, allmählich, beginnen die Leute, mit mir zu reden, und ich erfahre ihre Namen.

Die Landarbeiter auf den Feldern hinter dem Haus bringen mir Gemüse und sahnige Milch von der Farm. Fred lacht mir zu. Er sagt, ich flirte fürchterlich – aber nicht, wie er mir neckend erklärt, weil ich ein Flittchen bin, sondern nur, weil ich so dünn bin, dass alle Männer mich anschauen.

Der Bauschutt ist weggeschafft worden. Endlich ziehen wir ein. Ich kann den Garten entwerfen. Er wird vollkommen sein. Eines Tages kommt Fred mit einem kleinen Mischlingshund nach Hause, und wir nennen ihn Puck. Ich liebe ihn. Wenn wir am Strand spazieren gehen, kommen Leute auf mich zu, und sie fragen: »Wie geht's Puck? Wie geht es Ihnen?«

Der Sommer ist da, die stürmischen Winde sind wärmer, aber ich bin krank und schaffe es nicht, aus dem Haus zu gehen. Fred ist ganz blass vor Sorge. Und dann erklärt mir der Arzt, dass ich ein Baby bekomme. Ich kann es gar nicht glauben, und ich muss es mir immer wieder sagen: Fred und ich bekommen ein Baby.

Fred meint, ich darf nicht zu sehr hoffen, es ist noch früh, ich muss vorsichtig sein. Aber ich weiß es. Ich weiß, dass dieses Kind zur Welt kommen wird.

Als Fred nach London zurückkehrt, um für seine Abschlussprüfungen zu lernen und sich nicht um mich kümmern kann, tanze ich im Garten und singe vor lauter Glück über dieses unglaubliche Wunder.

Weihnachten kommt und dann das neue Jahr. Ich liege in meinem Bett oder sitze in einem Sessel, den Fred ans Fenster rückt, in die Sonne. Ich bin vorsichtig, warte. Warte auf den Frühling und auf mein Baby.

Unser Kind, ein Junge, kommt am 18. März 1951 gesund zur Welt. Er wiegt sechs Pfund und zwei Unzen. Wir nennen ihn Barnaby, nach einem von Freds Lieblingsonkeln. Barnaby. Ein so englischer Name.

Kleine Schösslinge entspringen meinen Füßen und finden Halt in diesem leichten, sandigen Boden und verwurzeln mich hier an diesem außergewöhnlichen, fremden Ort, der erfüllt ist von dem blauem Meer und dem Himmel. Die Vergangenheit ist vorbei. Marta ist vorbei. Meine Zukunft ist hier. Ist jetzt. Ich bin Martha Tremain, die Frau des Arztes. Das bin ich.

1. Kapitel

Lucy findet Abi tot unter dem Kirschbaum. Die kleine Katze ist zu ihrem Lieblingsplatz gekrochen, um zu sterben. Lucy spürt noch ihre Wärme. Sie weiß, dass es albern ist, wegen einer alten, getigerten Katze so niedergeschlagen zu sein, wo doch überall auf dem Balkan Menschen getötet werden, aber Abi war etwas ganz Besonderes. Diese kleine Katze hat sie fast ihre ganze Kindheit über begleitet.

Lucy gräbt ein tiefes Loch, um Abi neben Puck zu begraben. Sie will nicht, dass die Katze von Dachsen oder Füchsen gefunden und ausgegraben wird. Die Gliedmaßen der Katze sind noch weich und schlaff, und Lucy legt sie in das Loch, auf Wurzeln gebettet, als würde sie noch immer in der Sonne schlafen, aber sie bringt es nicht über sich, Erde über das kleine Katzengesicht zu werfen.

Sie pflückt Glockenblumen und Pfefferminze und Knoblauchpflanzen und legt sie über Abis Augen und Kopf, bildet so eine Decke zwischen der Katze und der regendurchtränkten Erde. Dann nimmt sie den Spaten und begräbt sie. Als Abi aus ihrer Sicht verschwindet, sieht Lucy auf einmal sich selbst unter der Erde liegen, ein kalter und nüchterner Gang über ihr eigenes Grab.

Barnaby kommt aus dem Haus zu ihr und nimmt ihr den Spaten ab. Er klopft die Erde über dem kleinen Grab fest und sinniert laut vor sich hin, welches blühende Gewächs sie hier für Abi pflanzen könnten. Lucy erzählt ihm von ihrer schrecklichen Vision und überlegt, ob es vielleicht ein Omen ist. Barnaby sagt lächelnd, auf die tröstliche Art, die für ihn typisch ist: »Lucy, weißt du noch, als wir beide sie von dem Bauernhof abgeholt haben? Du warst erst sechs, und diese kleine Katze ist ein Teil deiner Kindheit gewesen. Du hast soeben ein Stück deines Lebens begraben, darum bist du so traurig.«

Lucy weiß, dass er vermutlich recht hat. Barnaby war immer schon für sie da, solang sie denken kann. Er hat ihr Sicherheit und bedingungslose Liebe gegeben. Er hat sie nie enttäuscht, niemals.

Sie dreht sich um, schützt die Augen mit einer Hand vor der Sonne und starrt zurück zum Haus. Im Wintergarten schlurfen ihre Großeltern scheinbar ziellos herum. Fred sucht nach seiner Zeitung, und Martha trägt etliche wollene Kleidungsstücke, trotz der Wärme des Tages. Es wirkt wie der bizarre Hintergrund zu einem surrealen Theaterstück.

Lucy schnürt es die Kehle zu. Sie lässt sie alle im Stich. Sie lässt Barnaby damit allein, und sie hat noch nicht einmal den Mut gefasst, es ihm zu sagen. Sie ist innerlich zerrissen und auf einmal voller Befürchtungen. Um Barnaby, um Tristan und um sich selbst. Fred und Martha sind ihre Großeltern, und sie sollte hier und für sie da sein. Lucy wendet sich ab, beugt sich über das kleine Grab und klopft noch einmal die Erde flach.

Barnaby beobachtet sie. »Was ist los, Lucy?«

»Tristan ist soeben in den Kosovo abkommandiert worden.«

Barnaby seufzt. »Ach, Lucy, das tut mir leid.« Er hebt den Spaten auf, zieht sie hoch und legt den Arm um sie, als sie zum Haus zurückgehen. »Tristan macht das schon, Lu, da bin ich mir ganz sicher.«

Martha winkt ihnen zu. Lucy glaubt nicht, dass ihre Großmutter eine Vorstellung davon hat, wer sie sind, aber sie und Barnaby winken beide zurück und lächeln.

Gran. Wieder spürt Lucy die Traurigkeit wie eine Schlange in sich hochkriechen. Sie will alles in diesem Haus beschützen und behüten. Es soll so bleiben, wie es ihr Leben lang gewesen ist, aber sie weiß, dass das unmöglich ist. Sie hat keine Macht über das Alter, über den Geisteszustand oder letztendlich den Tod ihrer Großeltern.

Barnaby sperrt die Kirchentür ab und bleibt auf der Schwelle stehen. Er sieht auf das Meer hinaus, das sich in einem Halbkreis um den Friedhof erstreckt. Es ist Flut, und die Flussmündung liegt schwarz und voll hinter der Silhouette kleiner, krummer Eichen.

Barnaby geht an den alten Grabsteinen vorbei in Richtung Wasser. Es widerstrebt ihm, den kurzen Weg über die Straße zurück zum Haus zu nehmen. Er steht da, sieht zum Hafen hinüber und lauscht auf das Tuckern der Bootsmotoren in der Abendluft, als sich die kleine, farbenfrohe Fischkutterflotte vorsichtig über die Sandbank und zurück zum Kai schiebt.

Barnaby sehnt sich danach, diesen Frühlingsabend mit einem anderen Erwachsenen zu verbringen – einer Frau, wenn er ehrlich ist. Das vertraute Gefühl verschwendeter Jahre durchzuckt ihn kurz und schmerzhaft. Es ist nicht nur die Einsamkeit, die sein Leben akzentuiert; es ist die allmähliche, tragikomische und unschuldige Rückkehr seiner Eltern in die Kindheit, als hätten sie es gemeinsam aufgegeben, erwachsen zu sein. Es ist niemand da außer Lucy, um das mit ihm zu teilen – um mit ihm zu lachen, damit er nicht weint.

Lucy ist wundervoll, selten ungeduldig und stets besorgt und zärtlich im Umgang mit ihren Großeltern. Aber sie gehört zu einer anderen Generation, und sie kann seine Erinnerungen nicht teilen. Sie hat Tristan, hat ihr eigenes Leben zu führen.

Wie Anna, seine Schwester, die nicht wahrhaben will, was mit ihren Eltern geschieht. Sie ist wie immer schwer beschäftigt mit ihrer Karriere und mit einem Ehemann. Anna, normalerweise so realistisch und praktisch veranlagt, verschließt ihre Augen vor der bitteren Wahrheit.

Barnaby wendet sich um und geht über den Kirchweg und die Straße zurück zum Haus. Martha späht aus dem Fenster in der Diele, hält nach ihm Ausschau oder nach irgendjemand anderem, den sie in dem verschwommenen Nebel, in dem sie nun lebt, wiedererkennt.

Er öffnet die Tür und ruft: »Ich bin zu Hause.«

Seine Mutter tänzelt auf winzigen Füßen auf ihn zu. »Es freut mich, Sie kennenzulernen. Ich bin Martha Tremain«, sagt sie huldvoll.

Barnaby ergreift ihre kleine Hand. »Und ich bin Barnaby Tremain, Ihr Sohn.« Er lächelt zu ihr hinunter, betrachtet die verwunderten, zweifelnden Züge, die über ihr noch immer schönes Gesicht gleiten.

Martha sieht das Lachen in seinen Augen, und sie lacht ebenfalls, ein leiser Ausbruch der Erleichterung. Natürlich. Es ist Barnaby.

»Oh, Darling«, sagt sie. »Wie dumm von mir! Ich bin allmählich ganz schön verkalkt, weißt du.«

»Unsinn«, sagt Barnaby und gibt ihr einen Kuss. »Wo ist Fred?«

»Fred?« Martha zuckt vielsagend mit den Schultern. Sie weiß es nicht, ihr Gesicht ist wieder völlig ausdruckslos, aber Barnaby kann seinen Vater und Mrs. Biddulph draußen auf dem Rasen erkennen. Sein Vater führt Eric, den rötlich-gelben Kater, an der Leine und versucht, ihm das Sitzen beizubringen. Eric ist von der Lektion überhaupt nicht angetan, und Homer, sein kleiner Labradormischling, sitzt im Gras und schaut verwirrt.

Die arme Mrs. Biddulph fröstelt und sehnt sich offensichtlich danach, nach Hause gehen zu können. Barnaby öffnet die Verandatür und ruft zu seinem Vater hinaus. Die Miene des alten Mannes hellt sich auf, und er steuert mit verblüffender Geschwindigkeit auf seinen Sohn zu. Mrs. Biddulph lässt Eric von der Leine, der sich ins Gebüsch verkriecht, wobei sein dünner Schwanz entrüstet zuckt.

Mrs. Biddulph ist nicht erfreut. »Ich versuche seit mindestens einer Stunde, Dr. Tremain ins Haus zu bekommen. Er hat noch nicht zu Abend gegessen.«

Barnaby schenkt ihr sein schönstes Lächeln. »Das macht nichts. Whiskyzeit, was, Dad?«

»Gute Idee, alter Knabe. Die Sonne ist schon über alle Berge.«

Barnaby lacht und nimmt seinen Vater beim Arm. »Das ist sie allerdings. Mrs. Biddulph, haben Sie vielen Dank. Sehen wir Sie morgen wieder?«

»Das kann ich noch gar nicht sagen. Mrs. Thomas hat neue Mitarbeiterinnen eingestellt. Aber die jungen Mädchen bleiben ja keine fünf Minuten«, sagt Mrs. Biddulph bissig. »Es wundert mich, ehrlich gesagt, dass sie noch nicht angerufen und es Ihnen gesagt hat.«

Barnaby betet, dass nicht ein Strom gleichgültiger junger Mädchen folgen wird. Das würde Martha noch mehr verwirren. Mrs. Thomas, die Leiterin der Pflegeagentur, ist bei ihren Mitarbeiterinnen allseits unbeliebt.

»Sie zahlt miserabel, erwartet Höchstleistungen und kommandiert alle nur herum«, wurde Barnaby von einem tüchtigen Mädchen mit lila gefärbtem Haar aufgeklärt, das eine Woche blieb.

Sobald sie im Haus sind, schließt Barnaby die Verandatür. Mrs. Biddulph schlüpft in ihren unförmigen Wollmantel, ein Kleidungsstück, das sie das ganze Jahr über begleitet. »Vielleicht sehe ich Sie morgen, vielleicht auch nicht, Herr Pfarrer. Gute Nacht allerseits.« Mrs. Biddulph verabschiedet sich eilig, in Gedanken bereits bei Mr. Biddulphs Abendessen, dem Bus und der Antiquitätenshow, für die sie rechtzeitig zu Hause sein will.

Barnaby rafft sich auf, hilft seinen Eltern hoch, drängt sie sanft ins Wohnzimmer und schenkt ihnen Whisky in ihre vertrauten schweren Tumbler. Sie beobachten ihn dabei wie Kinder und nehmen ihre Gläser erwartungsvoll entgegen.

»Danke, Darling.« Seine Mutter prostet ihm zu und lächelt ihr süßes, ausdrucksloses Lächeln.

»Trinkst du einen mit, alter Knabe?«, fragt sein Vater.

»Und ob ich einen mittrinke.« Barnaby setzt sich erschöpft in den Sessel und betrachtet seine Eltern liebevoll. Alles so normal. Alles friedlich und sonntagabendlich. Wenn er für eine Sekunde die Augen schließt, könnte er fast glauben, er sei wieder zwanzig und für ein entspannendes Wochenende bei seinen Eltern zu Besuch, getröstet durch die Routine, aber dennoch getrieben, wieder von hier fortzukommen.

»Ich frage mich, was Hattie wohl zum Abendessen kocht?« Marthas Stimme schwankt gegen seine geschlossenen Augenlider. Er schlägt sie auf. Sein Vater starrt Martha an.

»Hattie ist nicht mehr hier. Sie ist gestorben, das weißt du doch?«

Marthas Augen füllen sich mit Tränen. »Ach herrje, hätten wir nicht zu ihrer Beerdigung gehen sollen? Hätten wir nicht Blumen schicken sollen?«

Barnaby nimmt einen tiefen Schluck aus seinem Whiskyglas. »Mum, Hattie ist vor etwa zehn Jahren in Rente gegangen, und dann ist sie bedauerlicherweise gestorben. Du hast Blumen geschickt, und du bist zu ihrer Beerdigung gegangen, es ist also alles in Ordnung, du musst dich nicht aufregen.«

»Oh, ja, Darling. Manchmal bin ich ein bisschen vergesslich. Wie dumm von mir.«

»Ich will nur noch rasch austrinken, und dann werde ich mich um euer Abendessen kümmern. Prost! Auf den Sommer.«

»Prost, Darling.«

»Prost, alter Knabe.«

Es herrscht Schweigen, während sie trinken und ihn beobachten. Eine Amsel beginnt in dem Kirschbaum zu kreischen.

»Eric, du böser, böser Kater«, murmelt Martha. Barnaby lächelt und beginnt sich zu entspannen.

Seine Mutter steht auf und schlendert im Zimmer umher. »Ich habe etwas Hunger, Darling. Ich gehe nur rasch in die Küche und sage Hattie, sie soll uns allen ein Omelett machen.«

Barnaby seufzt, gibt auf und erhebt sich. »Ich habe es dir doch eben erklärt, Mum, Hattie ist nicht mehr hier. Heute Abend bin nur ich da. Hättest du gern ein Omelett?«

»Warum ist sie nicht hier? Ich habe ihr heute nicht freigegeben. Das ist doch zu dumm.«

Auf dem Weg zur Tür bemerkt Barnaby, wie seine Stimme lauter wird, obwohl er sich große Mühe gibt, sich zu beherrschen. »Hattie ist tot, Mutter. Hör zu, ich schalte den Fernseher für dich ein. Ich glaube, gleich kommt die Antiquitätenshow. Setz dich hin und sieh sie dir mit Dad an. Ich bin in ein paar Minuten mit eurem Abendessen wieder da.«

Als er die Tür schließt, hört er seine Mutter sagen: »Ich wusste gar nicht, dass Hattie tot ist, Darling. Wann ist sie denn gestorben?«

»Ach, vor einer Ewigkeit, Martha, vor einer Ewigkeit«, sagt sein Vater. »Ich denke, ich werde vielleicht noch einen trinken.«

Barnaby starrt in den Kühlschrank und kämpft gegen eine quälende Erschöpfung an. Er kann keine Eier finden, und mit einem Mal befällt ihn eine überwältigende Depression. Er hört, wie die Haustür geöffnet wird und wie die gläserne Innentür mit einem Knall zufällt, der ihn zusammenzucken lässt.

»Hi, Barnes, ich bin's«, ruft Lucy unnötigerweise. Er hört, wie sie in Richtung Küche rennt, um ihn allein zu sprechen, bevor Martha sie hört und aus dem Wohnzimmer getänzelt kommt, weil ihre geliebte Enkelin da ist.

»Hilf mir, Lucy. Was in aller Welt kann ich ihnen zum Abendessen geben? Der Kühlschrank ist so gut wie leer.«

Lucy schlägt sich mit einer Hand vor den Mund. »Oh, verdammt, das habe ich völlig vergessen. Ich habe zu Mrs. Biddulph gesagt, ich würde einkaufen gehen. Sie kauft sonst nur Dinge ein, die sie selbst gern isst und die Gran und Grandpa hassen.«

Sie öffnet das Gefrierfach und holt Fischstäbchen und Pommes frites hervor. »Hier, bitte schön! Die liebt Gran über alles.«

Barnaby blickt zweifelnd. »Sie scheint sich nur noch davon zu ernähren. Ich bin mir nicht sicher, dass dein Großvater ebenso begeistert sein wird.«

»Darling, Barnes«, sagt Lucy munter, »es gab einen riesigen Braten zum Mittagessen. Ich sage dir doch ständig, sie brauchen nicht zwei warme Mahlzeiten am Tag, wirklich nicht. Du machst dir nur unnötig Arbeit.«

»Ich weiß, mein kleiner Schlauberger, aber Essen ist nun einmal die einzige Aufmunterung und Zerstreuung, die sie haben. Hör zu, hinten im Kühlschrank ist noch etwas Käse; das dürfte für Fred reichen.«

»Ich esse mit Gran ein paar Pommes.«

Barnaby zieht die Augenbrauen hoch. »Wenn ich mich recht erinnere, hattest du heute Mittag doch auch ein großes Sonntagsessen, oder habe ich mir das nur eingebildet?«

Bevor Lucy antworten kann, schneit Martha in die Küche. »Lucy, Lucy, wie schön ...« Sie wendet ihr die Wange zu, damit ihre Enkelin sie küssen kann, und Lucy umarmt sie.

»Hi, Gran. Ich wollte eben anfangen, Fischstäbchen und Pommes frites für dich zu machen. Und über die Pommes werde ich mich zusammen mit dir hermachen.«

»Darling, Kind, wie schön!«

Barnaby stellt drei Mal vier Tabletts bereit. Martha, die sich so gern nützlich machen will, räumt sie jedes Mal prompt wieder weg.

»Wie kann ich dir helfen, Darling?«, sagt sie immer wieder zu Lucy. Lucy erweckt sie auf eine Art zum Leben, wie ich selbst es nicht vermag, denkt Barnaby, eine Art, die mit ihrer Lebenslust und guten Laune ansteckend wirkt.

Sie nehmen ihr Abendessen im Wohnzimmer ein. Barnaby sitzt neben Fred und teilt sich mit ihm Käse und Kräcker.

»Barnaby und Gramps vergessen vor lauter Träumen noch ganz das Essen, Darling, und wir beide werden kugelrund enden«, flüstert Lucy Martha zu.

Durch das Zimmer sieht Fred auf seine winzige Frau und seine hoch gewachsene, schlanke Enkelin, die nebeneinander auf dem Sofa sitzen.

»Ich mache mir ernsthaft Sorgen«, bemerkt er trocken, »dass mein antikes Sofa unter eurem ganzen Gewicht zusammenbrechen wird.«

Er betrachtet sie mit einem solchen Ernst über den Rand seiner Lesebrille hinweg, dass sie alle schallend auflachen.

Blicke, denkt Barnaby, kleine, fröhliche Blicke huschen hin und her, von Menschen, die sich lieben.

2. Kapitel

Ein nordöstlicher Wind stürmt vom Meer herein und lässt das kleine Haus erbeben. Der Sturm bläst und tobt seit Tagen um die Küste, reißt Dächer und alles, was er aufwirbeln kann, mit sich und schleudert es durch die Gärten. Mit dem ersten Tageslicht beruhigt er sich, bis er bei Einbruch der Dunkelheit erneut auffrischt. Bäume biegen sich im Wind, Zweige liegen verstreut auf der Straße wie gebrochene Gliedmaßen.

Lucy wälzt sich in der Nacht zu den klagenden Schreien der Brachvögel unten in der Mündung, wacht unvermittelt auf und liegt ängstlich im Dunkeln da, auf ein nebelhaftes Unheil wartend, das sich allmählich auf sie zu bewegt.

Zitternd setzt sie sich auf. Die Kirche hinter dem Fenster ragt bedrohlich aus dem Dunkel auf. Der Morgenhimmel zeigt in sich einem schwachen Rosa über den Grabsteinen, die sich gespenstisch wie kleine Bergkegel erheben. Lucy steigt aus dem Bett und zieht einen Pullover über ihren Pyjama.

Sie vermisst Abis Wärme im Rücken. Sie geht nach unten, um Tee zu kochen, wobei sie alle Lichter im Cottage anschaltet. Sie nimmt den Tee wieder mit hoch in ihr Zimmer und setzt sich an den Platz am Fenster, hält den warmen Becher umfasst und lauscht auf das allmähliche Abflauen des Windes.

Als Kind hat Lucy so oft in den Ferien hier gesessen, entspannt und glücklich darüber, bei ihren Großeltern zu sein, hat den Kirchenglocken und den Seevögeln zugehört. Hat auf das erste Tageslicht gewartet, bis sie in Shorts und T-Shirt schlüpfen und über die Straße und den schmalen Weg neben der Kirche zum Strand hinunterlaufen konnte.

Als sie klein war, hatten Fred und Martha das Cottage zeitweilig vermietet, aber als Fred in den Ruhestand ging, benötigte er das Gästezimmer des Hauses als Arbeitszimmer, und sie hielten das Cottage frei für die Besuche von Barnaby oder Anna und Lucy. Wenn Lucy allein kam, schlief sie in Freds Arbeitszimmer. Das Zimmer roch stets tröstlich nach Tabak und Leder, aber am liebsten mochte sie das Cottage, den Ort, wo sie am glücklichsten war. Wie eine Art eigenes Zuhause war es ihr oft vorgekommen. Morgens ging sie mit Anna oder Barnaby durch den Garten, um mit Martha und Fred an dem runden Tisch im Wintergarten zu frühstücken, der von Marthas Geranien umgeben war.

Lucy und Tristan gehen auch jetzt noch durch den Garten zum Frühstück, wenn sie zu Besuch sind, aber es ist Barnaby, der jetzt den Speck brät und den Toast macht.

Auf einmal sehnt sich Lucy nach Tristan. Der Kosovo kommt ihr so fremd und unberechenbar vor wie ein anderer Planet.

Sie springt auf. Die einzige Möglichkeit, diese Stimmung aufzuhellen, besteht darin, spazieren zu gehen. Sie schlüpft in Jeans und zwei Pullover und macht sich wieder auf den Weg nach unten. Homer, der die Nächte bei Lucy verbringt, schlägt ein Auge auf, rührt sich aber nicht. Lucy verlässt das Haus, weht mit den letzten Sturmböen über die Straße. Sie steigt die Stufen über die Cornwallhecke hoch auf den stillen und dunklen Friedhof. Sie hat sich hier noch nie gefürchtet; er ist ihr so vertraut wie Marthas Garten.

Lucy ist schon über den Golfplatz und unten am Strand, bevor die Sonne wundervoll und bogenförmig wie ein vergoldeter Tellerrand über dem Horizont aufsteigt. Es ist Flut, und Lucy setzt sich auf die Felsen und sieht zu, wie die Sonne höher steigt, orangerot und golden über dem Hafen, ihr Licht glitzernd auf der Wasseroberfläche.

Sie will nicht fort von hier. Dieser Ort, ihre Großeltern und Barnaby sind immer ihr Zuhause gewesen. Aber unvermittelt und nahezu unmerklich hat sich innerhalb der letzten Monate die Verantwortung gewandelt. Die Zuwendung, die kindliche Abhängigkeit, alles hat sich verschoben. Martha und Fred entgleiten ihr ins Alter, und die Angst, einer von ihnen könnte auf einmal sterben und sie würde nicht da sein, wenn es geschieht, kommt ihr unerträglich vor. Lucy schaudert trotz ihrer beiden Pullover. Die Sorge gilt nicht nur ihren Großeltern. Sie gilt auch Tristan. Und dem Job als Lehrerin. Und der Aussicht, allein in London zu leben.

Anna wird in London sein, aber Lucy wird ihrer Mutter gewiss nichts davon sagen, dass sie nervös ist und Angst vor dem Scheitern hat. Anna würde ihr sagen, dass sie zu viel Zeit in Cornwall verbracht hat und dass genau das passiert, wenn man aussteigt, selbst wenn es nur für kurze Zeit ist.

Sie kann die Stimme ihrer Mutter fast hören, und auf einmal lächelt sie, da sie an Tristan denken muss, der dasselbe sagen würde, aber auf eine andere Weise.

»Du hast doch nur Panik, weil du einen verdammt guten Job bekommen hast, als du nicht damit gerechnet hast, Lu. Ich bitte dich, du hast doch nicht Sprachen studiert, um als Bedienung zu arbeiten, oder?«

Lucy seufzt und springt von den Felsen auf den Sand. Sie ist es nicht gewohnt, melancholisch zu sein, und sie macht sich langsam auf den Weg nach Hause. Jetzt, nachdem sie hellwach ist, könnte sie eigentlich ihre Sachen sichten und ordnen. Sie hat so viel Kram angehäuft. Sie wird auf den Speicher gehen müssen, um festzustellen, ob irgendwo Platz ist, um all die Relikte aus der Kindheit zu verstauen, die wegzuwerfen sie nicht übers Herz bringt.

Lucy steigt die Leiter zum Speicher hoch und drückt die Luke auf. Sie hat ein merkwürdig schlechtes Gewissen. Eigentlich hätte sie Barnaby fragen sollen, bevor sie hier hochgekommen ist. Jetzt kommt es ihr vor, als würde sie diesen Ort unbefugt betreten.

Mithilfe ihrer Taschenlampe findet Lucy den Lichtschalter auf der linken Seite, und die matte Lampe pendelt in der staubigen Luft sanft hin und her. Hier oben ist jede Menge Platz. Der Boden ist fachmännisch mit Brettern vernagelt, und Lucy fragt sich, wieso ihr Großvater eigentlich immer Angst hatte, jemand könnte hier hochkommen und durch die Decke fallen.

Der Speicher riecht nach Mäusen und Staub und einer Welt, die es nicht mehr gibt. Da ist ein alter, fleckiger Spiegel, dessen vergoldeter Rahmen langsam vermodert. Schwere, altmodische Golfschläger. Ein Karton mit kleinen Zinnkrügen, Überbleibsel von Kricketturnieren in der Schule. Eine Kiste mit Büchern. Ein riesiges, trostloses Bild von einer aufgepeitschten grauen See. Ein verblichener, verschlissener Hut mit Papierblumen. Lederkoffer, fein säuberlich übereinandergestapelt. Aufgerollte Teppiche, ein kaputter Korbstuhl und ein zerfallender Karton mit Vasen und Geschirr.

Lucy schwenkt die Taschenlampe in einem Bogen über den Speicher und sieht links neben der Lukenöffnung einen kleinen Verschlag, groß genug, um einen Wassertank zu beherbergen. Er ist von Mäusen zerfressen und beginnt allmählich zu zerfallen. An dem Verschlag ist eine grob gehauene Tür mit einem kleinen Riegel.

Lucy stemmt sich über die Kante der offenen Luke und kriecht hinüber zu der Tür. Behutsam zieht sie am Riegel, und die Tür fällt völlig verrottet aus den Angeln. Sie kniet sich hin und zerrt sie vorsichtig aus dem Verschlag und schiebt sie beiseite. Als sie die Taschenlampe in das Dunkel richtet, sieht sie einen alten Schulkoffer. Sonst nichts. Keinen Wassertank, keine versteckten elektrischen Drähte oder Leitungen.

Als sie in die versteckte Kammer vordringt, sieht Lucy, dass der Kofferdeckel mit den Initialen ihres Großvaters im Laufe der Jahre wellig geworden. Dokumente sind herausgerutscht und auf den Boden darunter gefallen. Ein rostiges Vorhängeschloss hängt zerbrochen am Koffer. Lucy zieht es ab und öffnet den Deckel. Mäuse sind hier am Werk gewesen und haben Nester gebaut; sie sieht Mäusedreck und kleine Haufen zerfressenen Papiers. Obenauf liegen Pappordner mit Urkunden und Dokumenten sowie medizinischen Fachzeitschriften, Briefe in Bündeln, manche in Plastikhüllen aufbewahrt.

Lucy richtet die Taschenlampe in den Koffer und stochert mit ihrer freien Hand darin herum. Warum hat Grandpa eine Kammer gebaut, um diesen Koffer zu verstecken? Lucys Hände ertasten auf einmal eine verblichene rosa Schachtel, die unter Briefen und alten Dokumenten verborgen liegt, sorgfältig auf den Boden des Koffers geschoben, unter Tagebücher und uralte Hauptbücher.

Lucy beugt sich über den Koffer und bewegt vorsichtig die Briefbündel, sodass sie die Schachtel hervorholen kann. Sie stellt sie neben sich auf den Boden. Die Schachtel ist mit einer farblosen Schleife zugebunden, die verblasste Schrift auf dem Deckel ist schwer zu lesen. Polnisch? Lucys Finger zittern.

Grans Schachtel? Ihr Herz hämmert. In dieser kurzen Sekunde des Zögerns weiß sie intuitiv, dass sie abbrechen und die Schachtel zurück in ihr Versteck legen sollte, und doch schiebt sie bereits die Schleife zur Seite und hebt den Deckel hoch.

Briefe. Vergilbte Briefe in einer fremden Handschrift. Ein großer Umschlag, auf dem mit Schreibmaschine auf Deutsch geschrieben steht: Wohlfahrtsstelle der Stadtverwaltung von Warschau. Er ist nicht verschlossen. Lucy faltet ein zerknittertes und verblichenes Blatt Papier auseinander, das wie ein Ausweis in einem kleinen Pappdeckel liegt.

Das Dokument ist zerfleddert und dünn, fast in Fetzen. Der Text ist auch auf Deutsch. Es scheint sich um eine Art Geburtsurkunde zu handeln: »Anna Esther ... geboren am 8. Februar 1941 in Warschau, Polen.« Der Nachname ist nicht zu entziffern, als ob er ausradiert worden ist.

»Mutter. Marta Esther ...« »Oweska« ist später hinzugefügt worden, wodurch der Name darunter unkenntlich gemacht wurde. »Vater ...« Das Papier trägt ein Wasserzeichen, und das Einzige, was auf dem Pappdeckel noch zu sehen ist, sind ein offenbar deutscher Amtsstempel und das Datum: 1943. Der Rest ist unleserlich. Was hat das zu bedeuten? Ihre Mutter wurde 1945 in London geboren. Das haben Gran und Grandpa ihr zumindest gesagt. Dieses Blatt Papier würde Anna vier Jahre älter machen, als sie ist. Es ergibt keinen Sinn, und warum sind die Nachnamen ausradiert worden?

Lucy fröstelt. Mit zitternden Fingern legt sie die Dokumente zurück in die Schachtel. Sie will es nicht wissen. Sie schließt die Schachtel und packt alles wieder obenauf in den Koffer. Unbeholfen kriecht sie rückwärts aus der Kammer; sie hat es auf einmal eilig, den Speicher zu verlassen. Die kaputte Tür muss bleiben, wo sie jetzt ist. Daran kann Lucy nichts ändern.

Sie schließt die Luke mit einem Knall, schiebt die Leiter wieder an die Decke und läuft durch den Garten, um Martha anzukleiden, bevor sie mit ihrer Frühstücksschicht im Hotel beginnt. Alle nur erdenklichen Schlussfolgerungen hat sie aus ihren Gedanken verbannt.

3. Kapitel

Als sie aus dem Gerichtsgebäude tritt, beglückwünscht Anna in Gedanken sich selbst. Sie war sich nicht sicher, ob sie diesen Prozess würde gewinnen können, aber sie wurde unbeabsichtigt von einem allzu selbstbewussten jungen Staatsanwalt unterstützt, der nur unzureichend vorbereitet gewesen war.

Anna bleibt einen Augenblick lang stehen, eine hoch gewachsene Gestalt in einem marineblauen Kostüm, und blinzelt in die frühe Abendsonne. Ihr helles Haar umrahmt ein Gesicht mit hohen Wangenknochen und verblüffend blauen Augen. Passanten schauen sie im Vorübergehen an, drehen sich noch einmal nach ihr um, als könnte sie jemand sein, den man kennen müsste.

Sie blickt auf ihre Armbanduhr: Es ist Rushhour, zu spät, um zu Fuß in die Kanzlei zurückzukehren und sich mit abschließenden Analysen zu befassen. Sie winkt sich ein Taxi heran und steigt ein. Sie wird jetzt schon zum Old-Vic-Theater fahren. Wenn sie früh genug da ist, kann sie noch etwas trinken, während sie auf Rudi wartet.

Im Taxi kehren Annas Gedanken zurück zu dem Mann, den sie soeben verteidigt hat. Sein Anwalt hatte sie in ihrer Kanzlei angerufen. Er war nicht von der Sozietät, die Anna sonst immer beauftragte, und er teilte ihr mit, dass sein Mandant beharrlich darauf bestehen würde, dass er sich mit Anna in Verbindung setzen solle. Angeblich sei sie die beste Anwältin der Krone [= Verteidigerin vor Gericht], und er wolle sie für seine Verteidigung engagieren.

Der Anwalt hatte sich entschuldigt. Er wisse durchaus, dass ihr Terminkalender voll sei, aber er habe seinem Mandanten nun mal versprochen, sich an sie zu wenden. Anna war augenblicklich interessiert, als er den Namen der mit dem Betrugsfall befassten Kanzlei erwähnte. Zudem kam der Anwalt von einer renommierten Sozietät. Vielleicht könnte sich dieser Umstand für Anna hinsichtlich künftiger Aufträge als nützlich erweisen.

Der Mandant war allein zu ihr in die Kanzlei gekommen. Er hatte ihr dafür gedankt, dass sie ihn empfing, und war sichtlich außer Fassung.

»Ich habe nichts zu verlieren, indem ich Sie bitte, mir zu helfen.« Mit zitternden Händen hielt er Anna einen Umschlag entgegen. »Würde das hier ausreichen, um Sie zu beauftragen?«

Anna war amüsiert, zugleich bewunderte sie seinen Mut und seine Entschlossenheit, sich ausgerechnet von ihr verteidigen zu lassen. Es war ihr durchaus bewusst, dass ihr Ruf als Anwältin nicht unumstritten war.

Sie ging den Fall mit ihm durch und bat dann ihre leidgeprüfte Assistentin, den Fall – wie auch immer – zusätzlich in ihren Terminkalender einzuplanen. Irgendetwas an diesem Mann hatte sie traurig gestimmt. Sie setzte sich mit dem Anwalt des Mannes in Verbindung und bat ihn, den Fall auf Prozesskostenhilfe hin zu überprüfen.

Der Staatsanwalt hatte vor Gericht zu beweisen versucht, dass der Angeklagte durchaus über die in seiner eigenen Firma veruntreuten Gelder Bescheid gewusst habe, es sich folglich um vorsätzlichen Betrug handle. Annas Verteidigung beruhte auf der angeblichen Unkenntnis ihres Mandanten von der Straftat und seinem unbeirrbaren, wenn auch zugegeben unangebrachten Vertrauen in seine Geschäftspartner.

Der Betrug in dieser Größenordnung habe angeblich außerhalb seines Vorstellungsvermögen gelegen. Anna sah sich gezwungen, ihn vor Gericht als dumm und naiv hinzustellen. Aber schließlich wurde sie dafür bezahlt, die beste Verteidigungsstrategie zu finden. Und obwohl ihr Honorar bei diesem Fall nur einen Bruchteil ihres üblichen Satzes betrug, hatten sie, entgegen allen Erwartungen, gewonnen.

Anna lächelt und nimmt ihr Handy aus der Handtasche. In knappen Sätzen erzählt sie ihrer Assistentin Alice vom Ausgang der Verhandlung und weist sie an, die Ersparnisse ihres Mandanten abzüglich eines nahezu lächerlichen Betrags für ihr Honorar zurückzuzahlen und ihm zu sagen, die Prozesskostenbeihilfe sei für die Kosten aufgekommen. Sie will kein Geld von diesem beklagenswerten Mann, der bereits seine Frau, sein Haus und jeden Penny verloren hat.

Bevor sie das Handy ausschaltet, lässt sie sich noch kurz ihre Termine für den nächsten Tag durchgeben. Am Nachmittag hat sie eine ungewöhnliche Besprechung mit der Staatsanwaltschaft. Es geht um einen alten Nazi, der in einer Wohnsiedlung in Dorset lebt und den die Staatsanwaltschaft vor Gericht bringen möchte.

Anna streckt sich erschöpft; sie spürt, dass ihre Hochstimmung über den gewonnenen Prozess allmählich abflaut. Aus dem Augenwinkel sieht sie einen Kirschbaum vorbeihuschen, der kurz vor der Blüte steht, und auf einmal muss sie an Marthas Garten denken. Sie will Rudi mitnehmen, damit er Cornwall im Frühling erleben kann. Sie hofft, dass seine romantischen Vorstellungen von der Westküste nicht enttäuscht werden. Vor allem wenn sie bedenkt, was Barnaby ihr über die Situation zu Hause erzählt hat.

Insgeheim denkt Anna, dass Barnaby zu viel Theater um die Pflege von Martha und Fred macht. Schließlich hat er doch Hilfe von außen, und er hat Lucy. Warum kann er einfach nicht verstehen, dass Cornwall für sie zu weit entfernt ist, um Martha und Fred so oft zu besuchen? Sie liebt ihren Job.

Anna weigert sich, weiter über die Probleme mit ihren Eltern nachzudenken. Sie nimmt sich rasch wieder ihr Handy, um Rudi anzurufen. Seine Sekretärin teilt ihr mit, dass er bereits auf dem Weg ins Theater sei. Anna lehnt sich zurück und schließt die Augen.

Immer noch ist das Glück ihrer späten, aber wunderbaren Ehe für sie kaum zu fassen. Als Finanzberater für eine Schweizer Bank waren auch Rudis Arbeitstage lang, und so war es für ihn kein Problem, Annas Engagement und beruflichen Ehrgeiz als völlig normal zu akzeptieren.

Martha und Fred hatten es dagegen immer missbilligt, wenn sie wieder allzu eifrig gewesen war. Ehrgeiz wurde zu Hause als aufdringlich betrachtet. Gar nicht nett. Es war nicht so, dass ihre Eltern diese Ansicht ihr gegenüber je offen geäußert hatten, aber Anna hatte es instinktiv gewusst.

In den langen Nächten im Internat hatte sie bisweilen mit offenen Augen davon geträumt, dass sie nach ihrer Geburt adoptiert worden oder mit der falschen Familie aus dem Krankenhaus nach Hause gekommen sei. Sie lag da und stellte sich Freds wohlhabende, kultivierte Familie vor, irgendwo dort draußen in der dunklen Wildnis von Yorkshire, voller Sehnsucht darauf brennend, Anna kennenzulernen. Sie fühlte sich häufig so fremd in den Ferien mit Martha und Fred und dem lammfrommen kleinen Barnaby.

Ihre Eltern versuchten alles, um Annas brennenden Ehrgeiz und ihre innere Unruhe abzumildern, was Anna nur noch wütender werden ließ. Diese ewige Geduld und ihre verdammte verständnisvolle Art. Schon in jungen Jahren spürte Anna etwas von der Macht, von der schieren Kraft ihrer eigenen Persönlichkeit.

Immer häufiger verspürte sie eine tiefe Befriedigung, wenn Martha und Fred wieder einmal alles versuchten, um sie zu besänftigen, sie bei Laune zu halten – und sei es nur, um zu verhindern, dass die angespannte Atmosphäre den ganzen Haushalt vergiftete.

Aber durch die Tatsache, dass sie ihren Eltern immer ihren Willen aufzuzwingen vermochte, verspürte sie immer schmerzhafter Einsamkeit und Verlust. Ihre ganze Kindheit hindurch suchte sie nach irgendetwas, was sie mit Martha und Fred verbinden könnte. Vergebens.

Im Laufe der Zeit hatten sich ihre Träume geändert, und als Jugendliche sehnte sie sich nach einem Menschen, der erkennen würde, dass sie so viel klüger war als diese zwar äußerst liebenswerten, aber eben doch nur durchschnittlichen Eltern. Ihnen genügte ihre kleine Welt im Westen des Landes.

Dieser Mensch – den sie sich im Allgemeinen als einen gut aussehenden, jungen Mann vorstellte – würde sie aus der Trostlosigkeit ihres Alltags entführen und sie an ihren rechtmäßigen Platz in der Mitte der Bühne stellen. Dort, wo sie auch ihre ganze Schulzeit über mühelos glänzte.

Und dennoch – irgendetwas in ihr sehnte sich nach dem Platz, den Barnaby in den Herzen ihrer Eltern innehatte. Ihnen wäre eine freundlichere und sanftere Tochter wahrscheinlich wesentlich lieber gewesen, vermutete Anna, auch wenn Martha und Fred ihr ständig erzählten, wie stolz sie auf sie seien. Sie wusste selbst nicht, warum sie so geworden war. Wie sollten Martha und Fred es dann verstehen?

Wenn Anna in den Ferien aus dem Internat nach Hause zurückkehrte und Barnaby sah, wurde sie sofort von erschreckender, rasender Eifersucht auf dieses friedliche Baby verzehrt, auf diesen braven kleinen Jungen, der die ungeteilte Aufmerksamkeit ihrer Eltern genossen hatte, während sie nicht da war.

Die ganzen Ferien hindurch versuchte sie heimlich, ihn zum Weinen zu bringen. Selbst Jahre später, als Barnaby ebenfalls auf ein Internat kam und sie bereits studierte, schikanierte sie ihn immer noch. Seit Barnaby zur Schule ging, hatte er sie noch nie verpetzt oder Martha und Fred gegenüber irgendetwas angedeutet. Barnaby hatte etwas Weichliches und zugleich Unnachgiebiges an sich, das ihr höllisch auf die Nerven ging.

Vor dem Theater wartet Rudi auf sie. Er winkt, und sein Blick verweilt auf ihrem Gesicht. Er tritt vor, um das Taxi zu bezahlen, als sie aussteigt. Sie spürt die vertraute Aufregung und Freude, die er jedes Mal empfindet, wenn er sie sieht.

Sie hatten sich auf einer Konferenz in Zürich kennengelernt. Nach einem Seminar, das sie gehalten hatte, hörte sie zufällig, wie Rudi sich einem Kollegen gegenüber anerkennend und schmeichelhaft über sie äußerte, ohne zu ahnen, dass sie fließend Deutsch sprach und jedes Wort verstand.

Rudi erzählte ihr später, dass er sich beim Anblick dieser schönen englischen Prozessanwältin gefühlt habe, als sei er gegen eine Tür gerannt. Ihre Sorge an diesem Wochenende galt jedoch den widerspruchsfreudigen Delegierten, die sie für eine geplante Vortragsreihe gewinnen wollte.

Doch schließlich schlenderten sie zusammen durch die Parks der Stadt. Sie gingen in die Oper, sprachen über ihre gescheiterten Ehen, ihre Arbeit und über sich selbst. Das ganze Wochenende über sprach Anna nur Deutsch, und es war ein seltsam befreiendes Gefühl. Sie fühlte sich wohl in ihrer Haut, in der Stadt und mit Rudi. Es war, als würde sie aus einem langen, einsamen Schlaf erwachen.

Im darauffolgenden Jahr wurde Rudi an die Schweizer Bank in London versetzt, und er mietete sich eine Wohnung in Chiswick. Seine Söhne kamen regelmäßig, um die Ferien bei ihm zu verbringen. Für sie war London eine faszinierende Stadt, und sie fanden alles großartig, was London zu bieten hatte. Anna fand es wesentlich leichter, mit den Jungs umzugehen, als mit Lucy. Wenn sie ehrlich war, musste sie sich eingestehen, dass ihre eigene Tochter ihr immer ein Rätsel gewesen war.

Anna und Rudi heirateten ein Jahr später. Sie hatten ihren Kindern Gelegenheit geben wollen, sich an den Gedanken zu gewöhnen. Lucy bettelte darum, das Internat in Dorset verlassen zu dürfen, um bei Barnaby und ihren Großeltern zu leben. Nachdem Anna mit ihrer Schulleiterin gesprochen hatte, stimmte sie schließlich zu. Zwar versuchten Rudi und Anna, Lucy zu überreden, in London zu bleiben, da das Niveau der Schule hier sicher höher sei, aber Lucy weigerte sich hartnäckig. Sie wollte nicht mit Rudi und Anna in der Wohnung leben.

Anna war nicht wirklich überrascht. Wen auch immer Anna mochte oder was auch immer ihr gefiel, das lehnte Lucy aus Prinzip kategorisch ab. Andererseits war die Wohnung tatsächlich zu klein, und die Vorstellung, Rudi – abgesehen von den gelegentlichen Besuchen seiner Söhne – für sich allein zu haben, erschien Anna ausgesprochen reizvoll. Lucy machte dann letztendlich ein erstaunlich gutes Abitur. Sie war so glücklich mit Barnaby, Martha und Fred, wie Anna von ihnen gereizt war.

Im Grunde ist Anna erleichtert darüber, dass Lucy jetzt erwachsen ist. Das Leben gestaltet sich so viel einfacher. Als Rudi sich zu ihr hinunterbeugt, um sie zu küssen, denkt sie, wie viel Glück sie doch hatte. Rudi, der seine eigenen beruflichen Ziele größtenteils verwirklicht hat, hat sich entschieden, auf eine Beförderung zu verzichten und in London auf den Ruhestand zu warten, um bei ihr zu sein. Anna weiß, dass sie noch nie zuvor so glücklich gewesen ist.

Anna begrüßt Rudis Schweizer Gäste, und sie gehen in Richtung Bar. Sie spürt Rudis Hand sanft auf ihrem Rücken. Es erinnert Anna an die Art, wie Fred immer neben Martha ging, und sie ist merkwürdig gerührt. Und irgendwie gibt es ihr auch ein Gefühl von Sicherheit.

4. Kapitel

Die Abendandacht ist vorbei, und Lucy hilft Barnaby, Martha zu Bett zu bringen. Fred ist zwar durchaus imstande, für sich selbst zu sorgen, sich aber auch noch um Martha zu kümmern übersteigt seine Fähigkeiten, und das bringt ihn zur Verzweiflung. Ihre Betten stehen jetzt zwar getrennt, damit sich Martha und Fred nicht gegenseitig im Schlaf stören, aber immer noch nah genug beieinander, um sich berühren, sich nachts bei den Händen halten zu können.

Martha geht immer zuerst zu Bett, und Lucy setzt sich zu ihr und hält ihre Hände, sieht nach der Wärmflasche, gibt ihr die Medikamente, spricht mit ihr und bewundert ihr noch immer schönes Gesicht. Martha trägt wie immer ein hübsches Leinennachthemd, und sobald sie im Bett ist, entspannt sie sich, ihr Gesicht verliert diesen ängstlichen Ausdruck und glättet sich, wird zu einem kleinen, faltenlosen Kindergesicht. Manchmal, wenn sie einen ihrer klaren Momente hat, erzählt sie Lucy lange und ausführliche Geschichten davon, wie sie dieses Haus gebaut und den Garten neu angelegt haben. Wie sie Fred in London kennenlernte. Und dass es Liebe auf den ersten Blick gewesen ist.

Dann taucht Fred aus dem Badezimmer auf, sauber und gebadet, in Schlafanzug und Morgenmantel, und sagt höflich, aber bestimmt zu Lucy: »Gute Nacht, Kind.«

Das ist ihr Stichwort, sich zurückzuziehen. Sie beugt sich hinunter und gibt ihrer Großmutter einen Kuss, während Martha ihre dünnen Ärmchen um Lucys Hals legt. »Mein Schatz, wie ich dich liebe!«

»Ich liebe dich auch, Gran. Schlaf gut. Gute Nacht.«

Sie bückt sich zu ihrem Großvater hinunter. »Gute Nacht, Gramps. Gottes Segen.«

»Gottes Segen, Kind.«

Jeden Abend dasselbe Ritual. Dann kommt Barnaby, um seine Eltern zuzudecken, stellt sich ans Fußende ihrer Betten und spricht ein Nachtgebet.

»Gute Nacht, Barnaby«, flüstert seine Mutter, die Augen geschlossen, schon halb im Schlaf.

»Gute Nacht, Mum.«

»Gute Nacht, alter Knabe«, sagt sein Vater.

»Gute Nacht, Dad. Schlaf gut.«

Die Sicherheit des Immergleichen. Barnaby schließt die Schlafzimmertür und lehnt sich dagegen. »Das war's hoffentlich«, flüstert er. Fred wird in einen tiefen und ruhigen Schlaf fallen, aber Martha könnte im Verlauf des Abends durchaus noch ein Dutzend Mal aus dem Bett steigen und durchs Haus wandern.

Lucy schenkt ihnen beiden ein Glas Wein ein, und sie sitzen schweigend zusammen und trinken. Die ganze Woche schon wollte sie Barnaby nach der Schachtel fragen, die sie auf dem Speicher gefunden hat. Noch nie hatte sie irgendwelche Geheimnisse vor ihm, aber als sie jetzt sein erschöpftes, übermüdetes Gesicht sieht, sagt sie doch wieder nichts.

Nach einer Weile sagt sie: »Barnaby, du kannst nicht so weitermachen. Die Sonntage sind die Hölle für dich. Du brauchst dringend auch an den Wochenenden eine Pflegerin, nicht nur die alte Mrs. B. für ein paar Stunden. Bald wirst du eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung brauchen.«

Sie zögert, dann sagt sie bedrückt: »Weißt du noch, dieses Vorstellungsgespräch, zu dem ich nach London gefahren bin, bei dem es darum ging, ausländische Studenten zu unterrichten? Na ja, ich habe den Job bekommen.«

»Lucy, das ist ja wunderbar.« Barnaby springt auf und gibt ihr einen Kuss. »Du kluges Mädchen. Ich freue mich so für dich. Überleg bloß, jetzt wirst du dein ganzes Wissen einsetzen können und ordentlich verdienen.«

»Na ja, die Bezahlung ist nicht überragend, aber das Beste an der Sache ist, dass ich für drei Monate nach Italien fahren kann, um dort zu unterrichten. Aber wie wirst du hier allein zurechtkommen? Mit Gran wird es doch immer schlimmer.« Lucy steht auf und schenkt Barnaby noch etwas Wein nach.

»Ich fange erst in ein paar Monaten mit dem Job an, aber Tristan will, dass ich seinen Urlaub mit ihm verbringe, bevor er fährt. Das heißt, ich würde schon bald fortmüssen ...«

»Lucy«, sagt Barnaby entschieden, »wie ich hier zurechtkomme, dafür bist du nicht verantwortlich. Du hast dein eigenes Leben zu führen.« Er betrachtet sie eingehend. Er vermutet, dass es Lucy nicht wohl ist bei dem Gedanken, Cornwall und die Sicherheit der Familie zu verlassen. »Es wird dir Spaß machen, eine Zeit lang in London zu leben; es muss ja nicht für immer sein. Es wird bestimmt eine aufregende Erfahrung für dich. Außerdem wird es so weitaus leichter für dich und Tristan, zusammen zu sein, wenn er aus dem Kosovo zurückkommt. Ich werde dich schrecklich vermissen, das weißt du, Lu. Du warst wundervoll in den letzten Monaten, aber dort draußen wartet eine neue Welt auf dich.«

Lucy bricht in Tränen aus. »Ich glaube, ich sollte nicht weggehen. Ich sollte hier bei meiner Familie sein. Ich glaube, du traust dich nur nicht zuzugeben, dass du mehr Hilfe mit Gran und Gramps brauchst. Mir wird schon schlecht bei dem Gedanken, euch zu verlassen.«

Barnaby ist erschrocken. So verzweifelt hat er Lucy noch nie gesehen. »Dann habe ich einen großen Fehler begangen und mich zu sehr auf dich verlassen. Ich würde mich in Grund und Boden schämen, wenn du tatsächlich der Meinung bist, dass du nicht dein eigenes Leben führen kannst, Lu, oder dass du dich nach meinen Bedürfnissen oder denen von Martha und Fred richten musst. Ich verstehe ja, was Cornwall für dich bedeutet, und hier wirst du immer ein Zuhause finden. Aber du hast dein ganzes Leben mit einem Mann vor dir, den du liebst und der dich in völlig übertriebener Art und Weise vergöttert.«

Lucy grinst erst matt, dann kichert sie. »Stimmt. Aber, Barnes, wirst du bitte, bitte darüber nachdenken, dir eine Hilfe zu besorgen, die bei euch im Haus wohnt? Es muss ja nicht über die Agentur sein. Es muss doch Krankenschwestern in Rente geben oder so was. Du könntest ins Cottage ziehen, ein bisschen Platz und Ruhe haben. Du brauchst es.«

»Lucy, eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung ist sehr teuer. Die einzige Möglichkeit, wie wir uns das auch nur annähernd würden leisten können, bestünde darin, das Cottage wieder zu vermieten. Aber vergiss nicht, dass das Cottage nicht nur mir, sondern auch Anna gehört.«

»Na ja, meine Mutter wird uns verdammt noch mal finanziell unter die Arme greifen müssen. Es wird allmählich Zeit, dass sie auch ein wenig Verantwortung übernimmt. Barnaby, du brauchst ein bisschen Leben, einen Ort, an den du dich zurückziehen kannst. Du wirst doch sonst verrückt, wenn die ganze Zeit Pflegerinnen hier sind ...«

»Lucy«, fällt ihr Barnaby ins Wort, »ich bin durchaus imstande, mich selbst um mich zu kümmern. Überleg du nur, was du tun willst, was dich glücklich machen wird, und dann tu es.«

Als das Telefon klingelt, zucken sie beide zusammen. Barnabys Stimmung sinkt; er weiß schon, wer am anderen Ende sein wird.

»Das wird Anna sein«, sagt Lucy, »mit einem schuldbewussten, sonntäglichen Pflichtanruf. Lass dich von ihr nicht auf die Palme bringen, Barnes.«

Aber Barnaby ist bereits angespannt, und als er Annas entschlossene, selbstbewusste Stimme hört, wird er noch gereizter. Sie will sich ein paar Tage freinehmen, sagt sie, und würde gern mit Rudi nach Cornwall kommen, um Martha und Fred zu besuchen. Sie nimmt an, dass es in Ordnung ist, wenn sie im Haus übernachten. Das Cottage und Lucys Schlampigkeit wolle sie Rudi lieber nicht zumuten.

Barnaby schluckt seinen Ärger hinunter. »Anna, es ist nicht in Ordnung, leider. Die Pflegerinnen kommen früh. Morgens geht es immer etwas chaotisch zu, mit nur einem Badezimmer. Du wirst außerdem feststellen, dass Martha und Fred mittlerweile sehr verwirrt sind, vor allem bei Leuten, die sie nicht kennen. Es tut mir leid, aber es ist nicht fair gegenüber den Pflegerinnen, und für mich sind zwei Leute mehr im Haus ebenfalls zu viel. Könntest du dieses Mal allein kommen und im Cottage übernachten? Es ist schon eine Weile her, seit du Martha und Fred das letzte Mal gesehen hast, und ich fürchte, du wirst den Unterschied schnell bemerken.«

Anna ist verärgert. »Du bist ganz offensichtlich überfordert, Barnaby. Das hättest du mir sagen sollen. Es ist eindeutig an der Zeit, über ein Heim nachzudenken. Darüber werden wir uns in Ruhe unterhalten, wenn ich komme.«

Barnaby explodiert. »Das werden wir mit Sicherheit nicht! Ich kann gar nicht glauben, dass du das überhaupt vorschlägst, Anna. Komm her und mach dir selbst ein Bild, bevor du anfängst, irgendwelche Kommentare abzugeben. Ich werde dafür sorgen, dass Lucy das Cottage aufräumt, bevor du kommst.«

Er gibt Lucy ein Zeichen, still zu sein. Sie springt auf und ab und schwingt die Fäuste durch die Luft, die Daumen gegen den Himmel gerichtet.

»Natürlich habe ich nichts dagegen, dass du mit Rudi kommst ...« Barnaby holt tief Luft. »Aber wenn du allein kommen würdest, könntest du ein bisschen Zeit mit Martha und Fred verbringen, Anna. Mach den Urlaub mit Rudi ein anderes Mal. Vor allem Fred wird sich über deinen Besuch freuen. Bitte denk darüber nach und gib mir Bescheid. Gute Nacht.«

Barnaby spürt, dass er vor Erschöpfung und unterdrückter Wut zittert, als er den Hörer auflegt. Annas Egozentrik erschüttert ihn jedes Mal aufs Neue.

Lucy geht noch immer auf und ab. »Sie ist ein solcher Ausbund an Egoismus«, tönt sie. »Sag mir bloß nicht, dass es unrecht ist, seine eigene Mutter manchmal nicht zu mögen, Barnes. Sie macht mich rasend. Fragt sie dich je, wie es dir geht? Tut sie nicht, verdammt! Gott sei Dank hast du dich diesmal behauptet. Sie ist dermaßen dreist, es ist eine Frechheit. Entschuldige, ich bin völlig geschafft ... ich muss ins Bett ...« Erschöpft lässt Lucy den Kopf hängen.

Barnaby gibt ihr einen Gutenachtkuss. »Schlaf gut«, sagt er trocken. »Einen Pfarrer als Onkel zu haben hat offenbar nicht dazu beigetragen, deine Ausdrucksweise zu verbessern.«

Er sieht ihr nach, wie sie über das feuchte Gras geht und durch die kleine Pforte zum Cottage verschwindet. Wie hat Anna bloß dieses Kind zustande gebracht, das er so innig liebt?

Barnaby erschrickt, als er sich eingestehen muss, dass er ebenfalls eine nicht geringe Abneigung gegen seine Schwester verspürt. Und nicht zum ersten Mal wünscht er sie dahin, wo der Pfeffer wächst.

Marthas Erinnerungen, so lange unterdrückt und verlassen, beginnen still und heimlich wie Blasen an die Oberfläche zu steigen. Die Zeit ist für Martha bedeutungslos geworden. Vergangenheit und Gegenwart verschwimmen ineinander. Stimmen und Gesichter ziehen wie Schatten in ihren Gedanken vorüber, werfen längst vergessene Lebensfäden wieder auf. Diese einzelnen Fäden erscheinen Martha so echt, so nah, als könnte sie eine Tür aufstoßen und noch einmal in die Zimmer ihres vergangenen Lebens treten. Längst entschwundene Erinnerungen aus ihrer Kindheit ziehen sie mit langen Fangarmen zurück und umschließen sie.

Sie streckt eine Hand aus, um den flüchtigen Ärmel eines Kleides, den rauen Tweedstoff einer Jacke zu berühren. Sie riecht frisches Brot im Ofen. Sie sieht Gesichter, die sie liebt, die sich lächelnd zu ihr hinunterbeugen, sie wegen ihrer Wildheit tadeln. Sehnsuchtsvoll hebt sie den Kopf, um deren Atem auf ihrer Wange zu spüren, und wendet sich zur Seite, um ein leises Lachen und die Wärme einer Hand einzufangen.

Sie lauscht auf den Wind, der an den hohen Fenstern rüttelt, sodass ihr Echo durchs Haus hallt, der Türen unvermittelt mit einem Knall zuschlägt, der Vorhänge bauscht und den Läufer leise zuckend lüftet wie gespenstische Schritte durch die Diele.

Mama und Papa trinken Tee mit dem deutschen Arzt und seiner Frau. Marta und Mama und Papa haben mit dem Zug die weite Fahrt von Lodz nach Warschau unternommen, um ihn zu sehen. Marta ist mit dem kleinen Jungen des Arztes und dem Kindermädchen in den Garten geschickt worden. Das Kindermädchen sieht nicht nach ihnen; sie flirtet mit dem Gärtner.

Marta starrt den deutschen Jungen fasziniert an. Er hat strohblondes Haar, leuchtend blaue Augen und sehr weiße Zähne. Er trägt eine Lederhose und ein helles Hemd, und seine nackten Arme und Beine sind braun gebrannt und glatt wie Äpfel. Er starrt verächtlich zu Marta zurück. Er mag es nicht, nach draußen geschickt zu werden, um mit einem Mädchen zu spielen.

Marta steht auf den Terrassenstufen, vorsichtig und ein bisschen verängstigt, wie ein kleines Kaninchen, das zur Flucht bereit ist. Der Junge stemmt die Hände in die Hüften und sieht, als er näher kommt, zu ihr hinunter.

»Wie alt bist du?«, fragt er.

»Ich bin fünf«, sagt Marta, wobei sie versucht, sich groß zu machen.

Der Junge ist zufrieden. »Na ja, ich bin älter, ich bin acht. Mutti sagt, ich werde später einmal viel größer sein als mein Vater.« Schweigen tritt ein. Dann sagt er in einem gelangweilten Ton: »Komm, ich will zu den Pferden.«

Er dreht sich um und stapft auf die Ställe zu. Marta folgt ihm. Sie hat Angst vor Pferden, aber das wird sie nicht laut sagen.

Die Pferde stehen da und sehen aus ihren Boxen, schütteln die großen Köpfe, um die Fliegen zu verscheuchen. Sie sind blitzblank gestriegelt, und ihre Mähnen glänzen, wenn sie die Köpfe hochwerfen.

Der Junge tritt zu einem großen Hengst. »Das ist Tylicz, mein Lieblingspferd. Wenn ich älter bin, werde ich ihn reiten, aber im Augenblick ist er noch zu groß und zu stark.« Er holt einen Apfel aus der Hosentasche und wendet sich an Marta. »Hier, du darfst ihn füttern, wenn du willst. Gib das Tylicz.«

Er beobachtet sie genau, und auf einmal lächelt er. Sie wird blass bei dem Gedanken, sich diesem riesigen Maul zu nähern. Verdammt, er weiß, dass ich Angst habe, denkt Marta.

Der Junge legt ihr den Apfel in die Hand und führt sie zu Tylicz. Verzweifelt versucht sie, sich im Hintergrund zu halten, aber er zerrt sie mit Gewalt nach vorn, sagt ihr, dass sie keine Angst haben muss, und hebt ihre Hand unbeholfen zu dem großen Kopf des Pferdes hin. Marta schreit, als sieht, wie sich seine langen, gelben Zähne nähern. Sie lässt den Apfel fallen und zuckt zurück. Der Junge verliert das Gleichgewicht und lässt Marta auf den harten Stallboden fallen.

Er lacht schallend auf; er kann erkennen, dass sie nicht verletzt ist, und sie sieht so witzig aus. Marta wird nicht weinen. Sie ist wütend. Sie rafft sich vom Boden auf, bückt sich und nimmt den heruntergefallenen Apfel, reibt ihn am Saum ihres Kleides ab und bricht ihn mit den Zähnen in Stücke. Ihr ist gerade eingefallen, was Mama ihr einmal gesagt hat, und sie legt sich die Stücke in der flachen Hand zurecht.

Sie geht zu Tylicz hinüber und hält die Hand hoch, wobei sie ganz still steht und sich mit der anderen Hand an der Boxentür abstützt.

Tylicz sieht zu ihr hinunter, fast als würde er lächeln, und ganz langsam und sanft beugt er sich über die Stalltür, reckt den Hals hinunter zu ihrer Hand. Er kitzelt sie in der offenen Hand, das Maul samtartig, als er den Apfel aufnimmt, und Marta lacht, als er ihn geräuschvoll zermalmt.

Sie kommt aus dem Lachen gar nicht mehr heraus, vor lauter Erleichterung darüber, nicht gebissen worden zu sein, und das Lachen erhellt ihr Gesicht und erfüllt ihr ganzes Wesen. Sie hat keine Angst vor diesem Jungen. Sie hat keine Angst vor dem Pferd.