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Singapur, 1970: Ein attraktiver Offizier verliebt sich in die Tochter seines Chefs. Fleur, die eigentlich Balletttänzerin werden wollte, erwidert Davids Gefühle und wird seine Frau. Nach ein paar glücklichen Jahren stirbt David bei einem tragischen Flugzeugabsturz und lässt Fleur mit ihren beiden Töchtern, den Zwillingen Nikki und Saffie, zurück. Vor ihrer geplanten Rückkehr nach England verschwindet Saffie plötzlich spurlos. Für immer. Nikki hat auch heute noch nicht den Verlust ihrer Schwester verwunden. Als sie sich endlich mit ihrer Mutter versöhnen will und nach Singapur fliegt, werden ihre schlimmsten Alpträume war. Und es dringen Familiengeheimnisse ans Licht, die plötzlich alles verändern.
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Seitenzahl: 486
Veröffentlichungsjahr: 2017
Singapur, 1970: Ein attraktiver Offizier verliebt sich in die Tochter seines Chefs. Fleur, die eigentlich Balletttänzerin werden wollte, erwidert Davids Gefühle und wird seine Frau. Nach ein paar glücklichen Jahren stirbt David bei einem tragischen Flugzeugabsturz und lässt Fleur mit ihren beiden Töchtern, den Zwillingen Nikki und Saffie, zurück. Vor ihrer geplanten Rückkehr nach England verschwindet Saffie plötzlich spurlos. Für immer. Nikki hat auch heute noch nicht den Verlust ihrer Schwester verwunden. Als sie sich endlich mit ihrer Mutter versöhnen will und nach Singapur fliegt, werden ihre schlimmsten Alpträume war. Und es dringen Familiengeheimnisse ans Licht, die plötzlich alles verändern.
Sara MacDonald wurde in Yorkshire geboren und bereiste mit ihren Eltern schon früh die ganze Welt. Sie machte eine Schreibausbildung und arbeitete für das Fernsehen und am Theater, bevor sie heiratete und mehrere Jahre im Ausland verbrachte. Mittlerweile lebt Sara MacDonald mit ihren beiden Söhnen in Cornwall und widmet sich ganz dem Schreiben.
Sara MacDonald
Wohin die Liebe dich auch führt
Roman
Aus dem Englischen vonVeronika Dünninger
beHEARTBEAT
»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment
Deutsche Erstveröffentlichung
© 2005 by Sara MacDonald
Die englische Originalausgabe erschien 2005 unter dem Titel
The Hour Before Dawn
bei HarperCollinsPublishers, London
© für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2007/2016 by Bastei Lübbe AG, Köln
Umschlaggestaltung: Jeannine Schmelzer unter Verwendung von Motiven: © shutterstock: llaszlo | Andrew Mayovskyy | elleon | Jannis Tobias Werner | EkaterinaP
Datenkonvertierung E-Book:
hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7325-3457-9
www.be-ebooks.de
www.lesejury.de
Für meine geliebte Zwillingsschwester Nicky, in Liebe.
Zwischen Mitternacht und Morgen, da alle Vergangenheit Trug ist,
die Zukunft ist zukunftslos, vor der Morgenwache.
T. S. Eliot
Fleur tritt am tiefen Ende Wasser, während die Zwillinge langsam zum Sprungbrett hochklettern. Ein älteres Mädchen geht hinter ihnen her, um dafür zu sorgen, dass sie nicht hinunterfallen.
Fleur lacht über die Begeisterung der beiden. Nikki springt zuerst, plumpst hinunter, schlägt aufs Wasser auf und sinkt nach unten. Fleur zieht sie an die Wasseroberfläche hoch, und sie macht den Mund auf und kreischt vor Vergnügen.
Fleur setzt sie an den Rand des Pools und schwimmt für Saffie zurück zur Mitte. Saffie springt und landet fast in Fleurs Armen, und Fleur rafft sie hoch, bevor sie untergeht. Die Zuschauer rings um den Pool klatschen in die Hände; es ist ein erstaunlicher Anblick: Kleinkinder, die vom Sprungbrett hüpfen.
»Wir haben’s getan! Wir haben’s getan!«, schreien sie beide.
Fleur schwimmt an den Rand, stemmt sich hoch und setzt sich neben sie. »Ihr seid ja so mutig! Ich bin stolz auf euch!«
»Und jetzt du! Jetzt du, Mummy!«
Fleur sieht sie an, die kleinen braunen Körper mit den Handgelenken und Fußknöcheln, die noch rundlich und babyhaft sind, und dem hellen Haar, das ihnen am Kopf klebt. Sie konnten beide schwimmen, bevor sie laufen konnten. Sie haben keine Angst vor dem Wasser, keine Angst vor irgendetwas. Sie ist erfüllt von Liebe, überwältigt; will die beiden an sich drücken und in diese pummeligen Ärmchen und Beinchen beißen, will den Kopf in ihren nassen kleinen Bäuchen vergraben.
»Okay. Aber zuerst geht ihr zurück zur Decke und holt eure Schwimmflügel.«
Sie sieht ihnen nach, wie sie lauthals über das Gras davonlaufen; sieht, wie sich wie immer Köpfe nach den beiden identischen kleinen Gestalten umwenden. Als sie zurückkommen, bläst sie ihnen die Schwimmflügel auf und prustet dann einmal auf jeden der beiden braunen Bäuche, sodass sie aufkreischen.
»Geht und setzt euch am seichten Ende an den Rand, ihr kleinen Schreihälse, und springt nicht hinein, bevor ich gesprungen und im Wasser bin. Ihr kennt die Regeln. Ich meine es ernst. Wenn ihr springt, bevor ich im Wasser bin, gibt es kein Sprungbrett mehr.«
Die Zwillinge nicken ernst, und Fleur entfernt sich und klettert die Leiter zum höchsten Sprungbrett hoch. Zu ihrer Rechten glitzert das Meer über der Malakkastraße, und Geräusche von dem Flottenstützpunkt unten dringen zu ihr hoch. Es ist spät am Nachmittag, und eine kühlende Brise streicht vom Meer hoch, kräuselt die Palmen und berührt Fleurs nasse Haut wie ein Flüstern. Die Farben werden sanfter über dem Gras und den Familien, die, manche mit ihren Amahs, rings um den Pool auf Handtüchern und Decken sitzen und lesen, leise reden und darauf warten, dass die Männer von der Arbeit kommen und sich zu ihnen gesellen.
Fleur steht sprungbereit da, die Augen fast geschlossen, mit ihrem dunklen Haar, ihrer dunklen Haut, in einem weißen Bikini. Sie hebt die Arme, denkt an ihre Bewegungen und die Ausrichtung ihres Körpers, wie es nur eine Tänzerin tut. Sie hält inne, das Sprungbrett wippt, und dann, in einer vollkommenen langsamen Bewegung, biegt sich ihr Körper, springt und vollführt einen vollkommenen Bogen, während er ins Wasser eintaucht und es fast ohne einen Spritzer durchschneidet.
Sie ist sich der Zuschauer nicht bewusst, der Männer, die sich von der Bar umwenden, der Frauen, die für einen Augenblick innehalten, der Kinder, die mit offenem Mund bewundernd zusehen. Sie ist sich lediglich dieses winzigen Aktes der Präzision bewusst, der ihr in Erinnerung ruft, zu was ihr Körper in der Lage ist.
Als sie wieder auftaucht, paddeln die Zwillinge wie kleine dicke Käfer auf sie zu, schwimmen um die Wette, wer zuerst bei ihr ist. Sie lacht und rudert auf sie zu, und als sie mit den Füßen den Grund berührt, breitet sie die Arme weit aus und reckt das Gesicht vor ihren Spritzern nach oben. Sie schnappen sich ihre Arme.
»Ich habe gewonnen!«
»Nein, ich!«
»Ihr habt beide gewonnen«, sagt sie und drückt sie an sich. »Und jetzt gehen wir und trocknen uns ab, denn Daddy wird jeden Augenblick hier sein.«
Sie setzt sie am Rand ab, und sie beginnen, ihre Schwimmflügel abzustreifen. Als sie aufsieht, steht David in seiner Uniform da und sieht ihnen zu, die Augen von einer dunklen Sonnenbrille geschützt. Ihr Herz verkrampft sich, wie immer, wenn sie ihn aus einiger Entfernung sieht. Sie denkt: O Gott, er gehört mir.
Die Zwillinge haben ihn noch nicht gesehen, und Fleur weiß, warum er nicht gerufen hat. Er beobachtet sie gern. Er beobachtet sie gern, wenn es ihnen nicht bewusst ist, da auch er dieses Glück kaum fassen kann.
Sie lächelt, und die Zwillinge wenden sich um, um zu sehen, wen sie anlächelt, und dann kreischen sie und springen auf und laufen über das Gras auf ihn zu. Er rafft sie hoch in seine Arme und kommt lachend auf Fleur zu.
»Igitt! Scheußliche, grässliche kleine nasse Ratten.«
»Nein, nein! Erbsenschoten. Wir sind Erbsenschoten.«
»Das seid ihr mit Sicherheit nicht! Erbsenschoten sind hübsch und trocken und grün.« Er setzt sie neben ihren Schwimmflügeln ab, nimmt seine Sonnenbrille ab, bückt sich und streckt eine Hand aus, um Fleur aus dem Wasser zu helfen.
»Hallo, du.« Er küsst sie auf die Nase, sein Blick ist amüsiert, und Fleur will die Arme um ihn schlingen, will ihren Körper an seinen drücken; das Gefühl ist leidenschaftlich und überwältigend.
»Gehst du ins Haus?«
»Ja, ich will mich nur erst mal zehn Minuten abkühlen, solange du diese Ratten anziehst. Kannst du mir ein Bier bringen, Darling? Ich bin am Verdursten.«
Er geht mit ihnen zurück über das Gras, wo die Schatten allmählich länger werden, und verschwindet dann, um sich Badezeug anzuziehen. Fleur zieht die Zwillinge an und packt ihre Malbücher aus. Dann geht sie hinüber zu der Bar im Freien, um kalte Getränke zu holen, und die Zwillinge drehen sich um und sehen ihr nach.
Sie hat sich ein dünnes, durchscheinendes Stück Stoff um die Hüften gewickelt, und Leute wenden sich nach ihr um, als sie vorübergeht. Der junge malaiische Kellner, der die Tische abräumt, eilt zurück zur Bar, um sie zu bedienen. Er trägt ihr das Tablett das ganze Stück über das Gras zurück und stellt es neben den Zwillingen auf den Tisch.
»Hallo, Babys«, sagt er. Er sagt es jedes Mal, und sie sagen einstimmig:
»Nicht Babys.« Und er lacht und schenkt Fleur sein strahlendstes Lächeln und stolziert davon.
Fleur legt sich in den letzten Sonnenstrahlen auf den Bauch, träge, und lauscht auf die unterschiedlichen Stimmen, die zu ihr durchdringen, während der Tag ausklingt. Sie hört leise Davids Stimme, er spricht mit jemandem, während er schwimmt. Sie werden von Hubschraubern oder Flugplänen oder neuen Piloten oder dem Boss reden.
Die Zwillinge kuscheln sich näher an sie, und ihre warmen Körper berühren sie auf beiden Seiten. Saffie hat den Daumen im Mund. Sie werden beide schläfrig. Fleur legt die Arme um sie beide.
Was soll sie heute Abend anziehen? Sie werden mit Freunden nach Singapur fahren, um essen zu gehen und über die Nachtmärkte zu spazieren, bevor sie tanzen gehen.
Wie oft hat sie dieses Kleid aus grüner Chinaseide schon getragen? Es ist eine Ewigkeit her, seit sie das letzte Mal in der Stadt waren … vielleicht findet sie ja etwas Stoff für ein neues Kleid …
»Ich liebe euch, meine beiden süßen Erbsen«, murmelt sie und drückt die Zwillinge noch fester an sich, sodass sie mit ihr zu verschmelzen und ein Teil von ihr zu sein scheinen.
»Lieb dich.«
»Lieb dich, Mummy.«
Der Tag neigt sich seinem Ende zu. Leute brechen auf. Es ist die kurze Spanne zwischen Nachmittag und Abend, in der nur die unverheirateten Offiziere noch etwas länger an der Bar ausharren, bevor auch sie gehen und sich zum Abendessen umziehen. Sie hört Lauras Stimme in ihrem Kopf.
»Du wirfst dein Leben fort. Ich kann gar nicht glauben, dass du nach all diesen harten Jahren der Ausbildung das alles einfach so … aufgeben kannst … Was für eine Verschwendung! Du bist eine geborene Tänzerin … Du wirst es bereuen, Fleur. Eines Tages wirst du aufwachen und es bereuen …«
Sie hört, wie David wiederkommt, sich ein Handtuch nimmt, es tröpfelt neben ihren Füßen. Er nimmt einen tiefen Schluck von seinem Bier. Er summt leise vor sich hin.
Fleur lächelt. Ich bereue es nicht, Mum. Ich habe es nicht eine Sekunde bereut. Ich bin so glücklich, dass ich platzen könnte.
Während sie das denkt, fällt ihr ein, wie jemand einmal gesagt hat: Sag nie, nie laut, dass du glücklich bist, denn ein eifersüchtiger Gott wird es hören und dich niederschmettern. Auf einmal verschwindet die Sonne, versinkt im Meer, und alles ist schwarz-weiß.
Ich habe es nicht laut gesagt. Ich habe es nur gedacht, und das zählt nicht.
Fleur setzt sich auf, und David lächelt. »Ich denke, ich sollte dieses Bier besser austrinken und meine drei müden Frauen nach Hause bringen …«
Ich sah das hohle Grab am Rand des Dschungels und das kleine, zusammengerollte Skelett so deutlich, dass ich schreiend aufwachte.
Jack fuhr erschrocken von seinem Kissen hoch und knipste die Lampe an.
»Gott, Nikki.«
Sein verängstigtes Gesicht sah zu mir hinunter, noch schlaftrunken. Ich presste eine Hand vor meinen Mund, um das Bild zu verbannen.
»Entschuldige«, flüsterte ich, aber ich zitterte am ganzen Körper und mir war eiskalt.
»Das muss ja ein schöner Traum gewesen sein. Geht es dir wieder besser?« Jack rieb mit einer Hand über meinen Arm, um mich zu beruhigen, aber es hatte die gegenteilige Wirkung, und ich zuckte zurück, wieder unter die Decke.
Jack wandte sich ab, um einen Blick auf die Uhr zu werfen. Es war Viertel nach vier.
»O Gott«, stöhnte er. »In zwei Stunden muss ich hoch.«
»Entschuldige«, sagte ich noch einmal, während ich versuchte, das Zittern zu unterdrücken.
»Ich koche dir einen Tee«, sagte er in einem resignierten Ton. »Was soll’s? Jetzt werde ich sowieso nicht mehr einschlafen können.« Er stieg aus dem Bett. »Es ist verdammt kalt hier drinnen.«
Er wickelte sich einen Sarong um seinen nackten Körper, trat ans Fenster, das weit offen stand, und schloss es.
»Ich frage mich, warum es so kalt ist. Ich komme gleich wieder und wärme dich ein bisschen …« Er schwieg einen Augenblick und starrte mich besorgt an. »Du hast diese schlimmen Träume erst, seit du schwanger bist, stimmt’s?«
Ich nickte, und er grinste mich an. »Ich sollte ab jetzt besser aufpassen, was du abends isst.«
Als er gegangen war, war das Zimmer still, aber es war zugleich erfüllt von etwas, erfüllt von der kalten Dunkelheit, die Saffie war. Saffie, die verzweifelt versuchte, mir etwas zu sagen. Warum jetzt, nach all den Jahren, nachdem ich so weit weggelaufen war in der Hoffnung, die Vergangenheit würde sich endlich legen, zu etwas werden, was ich halbwegs im Griff hatte?
Natürlich, sie war immer bei mir, an jedem einzelnen Tag, da sie meine Zwillingsschwester und ihr Aussehen meines war. Natürlich war sie bei mir, ein Schatten, ein Körnchen in meinem Auge, in der Biegung einer Treppe, am Ende einer Straße, wartend.
Aber ich hatte sie nie zuvor verängstigt gesehen. Sie hatte mir noch nie in meinen Träumen zugerufen, wie sie es jetzt tat. Nichts sollte ihr wehtun. Sie sollte in Sicherheit sein.
Ich trug neues Leben in mir, und ich war von Angst erfüllt. Ich versuchte mir einzureden, dass dieses erschreckende Bild eines Grabes etwas war, was ich im Fernsehen gesehen hatte und was nichts mit meiner Schwester zu tun hatte.
Während sie allmählich verblasste, erwärmte sich das Zimmer, und als Jack mit Tee und Trockenkeksen wiederkam, brachte ich ein Lächeln zustande. Er küsste mich auf die Nasenspitze und stieg wieder ins Bett.
»Gott sei Dank, es wird wärmer«, sagte er.
»Danke für den Tee.« Ich lächelte ihn dankbar an.
»Schon gut«, erwiderte er schläfrig, und ich wusste, dass er im nächsten Augenblick wieder eingeschlafen sein würde, sodass ich allein auf die Vögel und die Sonne würde warten müssen, die langsam über der Bucht aufgehen würde.
Eine Stunde später schlüpfte ich aus dem Bett und nahm meine Kleider vom Stuhl. Ich ging ins Bad und zog mich leise an, stieg dann vorsichtig die Treppe hinunter und in den neuen Tag hinaus. Der Tau im Garten war schwer und kalt und durchnässte meine Füße. Die Bucht unter mir war voller Jachten und das Meer hinter den Austernbänken strahlte tiefblau. Doch der Sommer neigte sich seinem Ende entgegen, die Hauptsaison war vorbei, bald würde sich Jack ein wenig entspannen können.
In England würde der schlimmste Teil des Winters vorbei sein und allmählich in den Frühling übergehen, und meine Mutter würde ihren Garten in London verlassen und sich unaufhaltsam auf den Weg zu mir machen. Mir graute davor. Mir graute bei dem Gedanken, sie hier in Neuseeland zu haben, in unserem kleinen Stückchen Paradies. Auf einmal fragte ich mich, ob das der Grund war, weshalb ich so schlechte Träume hatte. Ob sich die Angst nur in meinem Schlaf zu äußern wagte, da es so schwer war, sie Jack gegenüber zu gestehen, ihm zu erklären, was ich für meine Mutter empfand.
Er sah mich immer auf eine bestimmte Weise an, wenn das Thema zur Sprache kam, ein wenig schockiert und unbehaglich, als seien Mütter hochheilig und als würde ich dadurch, dass ich sie nicht sehen wollte, gegen irgendein Tabu verstoßen. Und das Schlimmste dabei war, ich wusste, er würde hingerissen von ihr sein.
Fleur packte zu Ende und kauerte sich wieder auf die Fersen. Sie wollte am liebsten ihre Tochter anrufen und sagen: Wir sollten uns wirklich Mühe geben. Ich habe dich seit Jahren nicht gesehen, Darling. Nur ein paar Tage zusammen, und dann werde ich dich wieder für weiß Gott wie lange nicht sehen …, aber sie wagte es nicht. Sie schloss das letzte Stück ihres Handgepäcks und schlenderte langsam durchs Haus, während sie sich fragte, ob die Distanz zwischen ihnen, wörtlich und widerhallend, je enden würde. Vielleicht würde Nikkis Schwangerschaft sie irgendwie verändern und erwärmen. Eine Schwangerschaft, von der Fleur nichts wissen würde, wenn sie ihre Tochter nicht angerufen hätte. Sie fand den Gedanken noch immer schwer zu ertragen, dass Nikki fast so weit entfernt von ihr lebte, wie es nur möglich war.
Fleur plante im Rahmen ihrer Abschlussarbeit eine Reise nach Neuseeland auf den Spuren von Hundertwassers Architektur, und eines seiner Gebäude stand ganz in der Nähe des Wohnorts ihrer Tochter, in Kawakawa. Es war eine öffentliche Toilette, die Hundertwasser, er hatte einige Zeit in dem Ort gelebt, einige Jahre vor seinem Tod gestaltet hatte. Wenn sie ihre Tochter angerufen und gesagt hätte: Kann ich dich besuchen kommen?, dann hätte Nikki irgendwelche Ausflüchte gefunden, hätte gesagt, sie seien mitten in einer arbeitsreichen Saison oder sie sei im Begriff, mit Jack zu verreisen, oder ehrlich gesagt, passt es uns im Augenblick gar nicht gut. Das hieß, Hundertwasser zu dem Grund ihres Besuchs zu erklären, war Fleurs einzige Chance, einen Blick auf ihre Tochter zu werfen, denn sie hatte sich immer geweigert, sich ihr aufzudrängen.
Nikki hatte sich darüber amüsiert, dass ihre Mutter noch im fortgeschrittenen Alter ein Studium begann, aber sie hatte sie nie nach ihren Gemälden gefragt, die Fleur inzwischen verblüffenderweise für beträchtliche Summen verkaufte.
Fleur vermisste Fergus. Sie vermisste seine Liebe und Ermunterung, und irgendwie konnten die Schatten, als er noch am Leben war, in Schach gehalten werden, denn er war ein Teil von ihnen gewesen und sie hatten diese schreckliche Zeit gemeinsam durchgestanden.
Sie vertuschten sie nicht, diese Tragödie vor all den Jahren. Bisweilen holten sie sie mitten in der Nacht hervor und drehten und wendeten sie noch einmal, um zu sehen, ob irgendein Hinweis zu finden war, ob sich ihre Form verändern könnte. Aber das tat sie nie, und wie für so viele andere Leute, die danach noch ein ganzes langes Leben weiterleben mussten, war das Beste, was sie tun konnten, sie mitzunehmen, sie hinter sich herzuschleppen wie ein totes Gewicht, bis sie ein Teil von ihnen wurde und von den Leuten aufgesogen wurde, zu denen sie wurden.
Saffie war das Erste, woran Fleur sich erinnerte, wenn sie aufwachte, und das Letzte, woran sie dachte, bevor sie einschlief.
Nikki hatte es ihr und Fergus nicht leicht gemacht. Fleur war sich nicht sicher, wie sie überlebt hatten, aber sie hatten es getan. Fergus war urplötzlich gestorben, vor drei Jahren, hatte Fleur unversehens und ohne Vorwarnung zurückgelassen, und zum ersten Mal in ihrem Leben war sie völlig allein.
Nachdem Fergus sich zur Ruhe gesetzt hatte, richtete er seinen Architektenblick auf die Malerei. Er besuchte Kurse und brachte hübsche kleine Aquarelle zustande. Kleine Gemälde von ihrem Garten und ihrem Urlaub am Meer in Cornwall; von der Toskana bei ihrem letzten gemeinsamen Urlaub.
»Ich habe einen Blick fürs Detail und kann nachmalen, das ist alles«, erwiderte er auf alle Komplimente. »Einem ungeübten Auge erscheine ich vielleicht professionell, aber ich male ausschließlich zu meinem eigenen Vergnügen.«
Als er starb, ließ Fleur die Gemälde von der Toskana rahmen, und nun hingen sie an der Wand vor ihrem Schlafzimmer. Sie erinnerten sie an eine glückliche Zeit, aber auch an die willkürliche Grausamkeit des Lebens. Sie hatten sich beide noch jung gefühlt, hatten Reisepläne geschmiedet, jetzt, wo sie die Zeit und das Geld dafür hatten. Es gab so vieles zu entdecken, so viele Orte, die sie noch nie gesehen hatten. Neben dem Schock fühlte sich Fleur um all die Jahre betrogen, die sie mit Fergus hätte haben sollen.
Er war in die Firma seines Vaters eingetreten, nachdem er aus der Armee ausgeschieden war, allerdings hatte er sich dafür zum Architekten umschulen lassen müssen, fünf lange Jahre, in denen das Geld verhältnismäßig knapp war. Fleur musste ebenfalls einen Abschluss erwerben, um das Tanzen professionell unterrichten zu können, ohne die Hilfe beider Elternpaare hätten sie es nicht geschafft.
Fergus war ein einfallsreicher Architekt und hatte lange und hart gearbeitet, um erfolgreich zu sein. Er hatte sich gerade ein wenig entspannt, als das Geld zu fließen begann, da war sein Vater gestorben, und er hatte die Firma übernehmen müssen; seine Arbeitszeiten wurden noch länger, bis er auf einmal begriff, dass er das nicht mehr wollte. Er wollte sein Leben wiederhaben. Er wollte Fleur öfter sehen und reisen und das Geld genießen, das er gemacht hatte. Er verkaufte die Firma und setzte sich mit immenser Erleichterung zur Ruhe und entführte Fleur nach Italien. Achtzehn Monate später war er tot.
Eines Abends war Fleur in sein kleines Atelier gegangen und hatte auf eine leere Leinwand gestarrt. Sie hatte einen Pinsel und ein paar von seinen Farben genommen und die Farbe ihrer Trauer und Wut einfach gegen die Leinwand geschleudert. Das hatte irgendetwas in ihr freigesetzt, und nun ging sie jeden Tag an den Ort, an dem Fergus ihr am nächsten zu sein schien. Sie malte ihren Verlust instinktiv und ohne Gedanken, bis ihr Werk Form und Bedeutung anzunehmen schien: Leinwände mit seltsamen abstrakten Bildern und einer verborgenen Macht, die irgendetwas den Weg bereitete, was sanfter und unendlich einsamer war. Diese Gemälde, erfüllt von seinem Verlust, waren es, die ihr im fortgeschrittenen Alter einen Studienplatz an einem Kunstcollege verschafften. Ihre Welt veränderte sich unversehens und wurde allmählich erfüllt von neuen und anderen Leuten und einem Leben, das herausfordernd war.
Sich selbst überlassen, stellte sie fest, dass sie durchaus praktisch veranlagt und geschickt mit ihren Händen war, und die Hände, die Glühbirnen und Sicherungen auswechselten, schufen nun auch Töpfe und Krüge und kleine Schalen. Sie liebte das Gefühl von Ton, die Aufregung, etwas aus nichts zu gestalten, und die kräftigen, leuchtenden Farben, die sie auf Leinwand und Ton malte, waren die Farben ihrer Kindheit; die Farben des Ostens.
Fleur wollte, dass Nikki die Person sah, die sich aus langen Jahren der Abhängigkeit entwickelt hatte, dass sie die Person guthieß, zu der sie geworden war.
Sie hatte lange gebraucht, um sich darüber klar zu werden, ob sie es ertragen würde, über Singapur zu fliegen. Allein schon der Name der Stadt auf ihren Lippen ließ sie vor Sehnsucht, aber auch vor Furcht schmerzhaft erschaudern. Das Singapur ihrer Erinnerung würde sich zu etwas verändert haben, was nicht mehr wiederzuerkennen war, würde eine andere Identität haben als der Ort ihrer Kindheit und Jugend. Eine Stadt voller Erinnerungen, in der sich alles im Nu verändert hatte. Von Licht zu Dunkelheit.
An jedem Morgen drehte Fleur Saffies Foto zu sich um; ein vermisstes Kind, für immer in der Kindheit festgehalten. Es gab kaum eine Nacht, in der Fleur sich nicht fragte, wo der Körper ihrer Tochter lag, oder besorgt über die Möglichkeit nachdachte, dass sie vielleicht in einer fernen, fremden Kultur lebte, bei unbekannten Leuten aufgewachsen, mit wenig Erinnerungen an ihre Herkunft und eine längst verlorene Familie, von der sie geliebt wurde.
Es war das Nichtwissen. Diese Gewissheit, die sich im Laufe der Jahre gefestigt hatte, dass sie es nie wissen würden. Das war es, was Fleurs Leben und das ihrer überlebenden Tochter verfolgte und verstümmelte.
Aber Fleur war diejenige, auf die der lange, erbarmungslose Schatten der Schuld fiel. Sie war die Mutter der beiden, und ihr Geist und ihr Herz hatten an andere Dinge gedacht; an David. Sie hatte sich nicht um ihre Kinder gekümmert. Gequält von Elend, hatte sie sie allein streunen lassen. Sie hatte sie dem Zufall überlassen, ohne an ihre Sicherheit zu denken, und irgendetwas Willkürliches und Entsetzliches hatte zugeschlagen.
Das ist es, was meine Tochter mir nie verzeihen kann.
Der Monsun nahte. Der Wind rüttelte an den Läden und rührte an dem Windspiel vor Ah Hengs Fenster. Es schlenkerte und schaukelte und schepperte in einem närrischen kleinen indischen Tanz. Die Fäden würden sich alle verheddern, und Saffie wusste, sie und Nikki würden sie am nächsten Morgen wieder entwirren müssen.
Der Geruch von Regen erfüllte das dunkle Zimmer, stieg an den Pfählen des Hauses empor, aus der dunklen Erde voller zerfledderter Mandelblüten und abgestorbener Blätter und kleiner Zweige.
Saffie lag still da und lauschte auf das Geräusch, das sie geweckt hatte. Sie lag mit dem Gesicht zu der offenen Tür und starrte auf die geschlossenen Läden, die die Insekten und die riesigen blinden Motten fernhielten, Motten, so groß wie Spatzen, die sich aus dem Dunkel ins Licht warfen; dicke kleine Körper, die gegen Lampenschirme prallten, mit staubigen, flatternden Flügeln, die in das Haar der Zwillinge fielen und wie Mäuse über die Oberfläche ihrer Haut huschten.
Saffie hörte das vertraute Geräusch der Zikaden, aber die schwere Wärme eines kommenden Tages lag nicht in der Luft. Ihre Füße berührten Nikkis Füße am anderen Ende des Betts. Sie nahm nicht an, dass ihre Schwester wach war, aber sicher konnte sie sich nicht sein. Nikki konnte den Atem anhalten, genau wie sie selbst; Nikki konnte ebenfalls still lauschen.
Auf einmal hörte Saffie wieder das Geräusch, das sie geweckt hatte. Sie sah den Schatten ihrer Mutter im Flur, der tagsüber, wenn die Läden jeden Morgen zum Haus hin aufgerissen wurden, ein Balkon war. Fleur hatte einen der Läden geöffnet und lehnte sich in die Dunkelheit hinaus, lauschte und sah zu den Sternen hoch, die die Weite der Nacht ausfüllten.
Mit einem schmerzlichen Stich wurde Saffie bewusst, dass Daddy noch nicht zu Hause war, und sie horchte angestrengt, genau wie Fleur, auf das Geräusch von Hubschraubern über ihnen. Sie hörte die wimmernde Stimme ihrer Mutter. Dieses leise, monotone Geräusch war es, das sie geweckt hatte, das und die Angst ihrer Mutter. Sie flimmerte durch die Nacht und erreichte beide Kinder, berührte sie mit kalten Fingern, und sie schauderten angesichts des Entsetzens ihrer Mutter.
»O Gott!«, flüsterte Fleur. »O, Gott im Himmel. Bitte. Bitte. Lass ihn sicher nach Hause kommen. Gott, ich flehe dich an.«
Beide Mädchen setzten sich unvermittelt auf. Starrten auf ihr identisches Gegenüber.
»Daddy!«, flüsterten sie und streckten die Hände nacheinander aus, als die Panik ihrer Mutter sie erfasste.
In diesem Augenblick hörten sie die Hubschraubermotoren. Durch dichte Wolken drang das schwache Geräusch von Rotorblättern. Klar, wie Messer, die durch die Schwärze schnitten, das Geräusch von Hubschraubern, die dröhnend und surrend nach Hause zurückkehrten. Rücklichter, die wie tröstliche Glühwürmchen zwischen den violetten Wolkenmassen funkelten und blinkten, aus denen der Donner grollte und ein heftiger Wind und Regen hervorpeitschte.
Saffie und Nikki sprangen aus dem Bett und rannten zu ihrer Mutter.
»Schnell!«, riefen sie in die Nacht hinaus. »Schnell, schnell, Daddy. Schnell, Fergus … Schnell, ihr alle … der Sturm kommt. Schnell, schnell, bevor der Blitz kommt …«
Das Geräusch von Motoren war inzwischen lauter, näher bei ihnen, und auf einmal tauchten aus den Wolken fünf Hubschrauber in Formation aus der Nacht auf.
»Hurra!«, brüllten Saffie und Nikki. »Sie sind alle da … hurra!«
»Psst, ihr beiden! Ich muss horchen.« Fleurs Stimme bebte.
Sie sahen zu, wie die Hubschrauber über dem Flugplatz schwebten. Einer flog einen Kreis, als wollte er die Kraft des Windes testen, und ging dann langsam in einem schrägen Winkel hinunter, um außerhalb ihrer Sichtweite auf dem Flugplatz zu landen.
Die nächsten beiden Hubschrauber wurden hoch- und wieder hinuntergeworfen, und sie kreisten ebenfalls rasch, einer nach dem anderen, mit reichlich Abstand, wendeten und verschwanden außer Sicht in die Dunkelheit.
»Drei unten!« Fleur stieß einen Atemzug aus, wie einen Seufzer. Ein heftiger, feuchter Wind riss ihr den Laden aus der Hand, und er knallte gegen das Haus zurück, und dann kam der Regen in schrägen, zickzackförmigen Bögen, blies von der Seite und brachte schwere, erdrückende schwarze Wolken mit sich, die ihnen die Sicht nahmen.
Ein weißer Blitzstrahl durchzuckte die Nacht, sodass die Kinder zusammenfuhren. Sie alle hörten, sahen aber nicht, wie der vierte Hubschrauber durch die Wolken brach. Der Motor erzeugte viel Lärm, während der Pilot nach den Lichtern des Flugplatzes unter ihm suchte.
Der letzte Hubschrauber tauchte aus den Wolken auf und kreiste. Daddy. Es erschien den Zwillingen, als würde er näher zum Haus hinfliegen, als wollte er ihnen sagen: Ich weiß, dass ihr zuseht … ich werde in dreißig Minuten zu Hause sein. Erbsenschoten.
Daddy war immer der Letzte, der landete. Es ist wie bei einem Kapitän auf einem Schiff, hatte er einmal zu den Zwillingen gesagt. Die Sicherheit deiner Männer steht an erster Stelle.
Sie sahen das blinkende rote Rücklicht, während der Hubschrauber versuchte zu wenden und herunterzukommen, um zu landen. Aber das war unmöglich. Er wurde vom peitschenden Wind nach oben gerissen und wie ein Spielzeug über den Himmel geschleudert. Pilot und Hubschrauber befanden sich in der Schwebe, hochgerissen vor dem Hintergrund von Blitzen, die jetzt wie ein Feuerwerk knisternd über den Himmel schossen.
Der Hubschrauber sah erbärmlich klein aus, während er wie eine Biene, die aus der Balance gekommen ist, quer über den Himmel geschleudert und bald in die eine, bald in die andere Richtung gerissen wurde. Fleur und die Zwillinge hielten in gebanntem Entsetzen den Atem an.
»Lande, Daddy. Lande!«, schrie Saffie in die Nacht hinaus. Nikki umklammerte den Fenstersims, und sie alle sahen zu, wie sich das Heck des Hubschraubers hob und das Heckrotorblatt wie von Sinnen surrte, während der Motor aufheulte.
»Heilige Maria Mutter Gottes … Bitte …« Fleur war in Tränen aufgelöst. Sie hielt die Zwillinge, umklammerte sie, drückte sie so fest an sich, dass es wehtat, ohne den Blick vom Himmel abzuwenden.
»David … David … ich flehe dich an, komm herunter … Du kannst es. Ich weiß, dass du es kannst … Komm schon, David … bitte, Darling … bring ihn herunter …«
Irgendetwas Entsetzliches, ein solch schmerzhafter Krampf regte sich in Saffies Magengegend, dass sie sich am liebsten auf die Erde fallen lassen wollte. Nikki schluchzte, noch immer den Fenstersims umklammernd. Sie waren erst fünf, aber sie wussten beide, genau wie ihre Mutter, dass ihr Vater außerstande war, sich selbst zu retten, da er nicht mehr die Kontrolle über seine Maschine besaß, die sich nun kopfüber drehte und vom Himmel fiel und spiralförmig so schnell auf die Erde zuraste, dass sie es, wenn sie nur einmal die Augen zusammenkniffen, verpassen würden.
Schon hörten sie in der Ferne die Sirenen. Sie hörten die Explosion, als der Hubschrauber auf dem Boden aufschlug, für sie nicht mehr zu sehen. Sie sahen die Flammen, die unter Donnerkrachen in den Himmel hochschlugen. Sie konnten sich nicht rühren, Fleur, Saffie und Nikki. Sie standen da und sahen zum Himmel hoch, wo vor einem Augenblick noch der Hubschrauber gewesen war.
In weiter Ferne klingelte ein Telefon, und Ah Heng lief in ihren kleinen, fersenfreien Pantoffeln hin, um abzunehmen. Reglos standen die drei Gestalten da, außerstande, den Blick vom leeren Himmel abzuwenden, der sich allmählich erhellte. Der Regen blies schräg in heftigen Böen, füllte die Monsunrinnen, spülte die Schlangen aus den dürren Blättern, die sich angesammelt hatten.
In die Morgendämmerung, tief am Horizont, segelte auf einmal eine kleine rosa Wolke. Fleur stand da und starrte sie an. Mit einer seltsam belegten Stimme sagte sie: »Ihr beiden … seht ihr … da? Diese Wolke … Daddy wird immer da sein, um sich um uns zu kümmern. Immer.«
Saffie streckte hinter Fleur eine Hand nach Nikkis aus. Schweigend starrten sie auf die Wolke, während ihre kleinen Körper zitterten, außerstande, wirklich zu begreifen, dass ihr Vater so urplötzlich tot war. Sie wollten keine rosa Wolke. Sie wollten ihren großen, lachenden, albernen, schnurrbärtigen, beschützenden Daddy, der jeden Tag rief: »Hey! Ich bin zu Hause! Wo sind meine kleinen Erbsenschoten?«
Weit weg auf der Chitbee Road konnten sie das Militärfahrzeug mit dem Armeegeistlichen und dem Kommandanten und der Militärpolizei sehen, das die lange Straße hinunter auf ihr Haus zusteuerte.
»Missie?« Ah Heng berührte Fleurs Arm, nahm ihr die Zwillinge sanft ab, drückte sie an sich. »Sie jetzt kommen fort von Fenster. Sie kalt. Sie kommen fort. Ich koche Missie Tee. Armeemänner kommen.«
Aber Fleur konnte den Blick nicht von der Wolke abwenden, die zu einem Orangeton verblasste und nur die gespiegelte Farbe der Flammen gewesen war.
»Du wirst immer bei uns sein, um uns zu beschützen«, hörten die Zwillinge sie flüstern. »Oh, David … David.«
Aber ihr Vater war nicht da, um sie zu beschützen. Gab Nikki Fleur die Schuld an dem, was später passierte? War sie wütend auf sie? Ja, das war sie. Wenn du Kinder hast, dann musst du dich um sie kümmern, egal, was dir zugestoßen ist oder wie traurig du bist. Du musst dich um sie kümmern und sie für immer beschützen, denn du bist ihre Mutter, und wenn du es nicht tust, wer denn dann?
Um wie viel Uhr kommt deine Mutter?«, fragte mich Jack beim Frühstück. Er stand an der Küchenspüle und butterte Toast.
»Um fünf, glaube ich. Ich sehe gleich noch mal nach. Es ist schon gut, Jack. Ich kann sie allein vom Flughafen abholen.«
»Nein, Nik, wir fahren beide hin. Ich werde zusehen, dass ich bis vier fertig bin; dann haben wir noch eine Stunde, um hinzukommen. Halt dich nur bereit, wir wollen nicht, dass sie mit ihrem Jetlag dasteht und auf uns wartet. Hast du ihr gesagt, dass sie in Auckland auf dem Hauptflughafen bleiben soll, bis es Zeit für den Flug nach Kerikeri ist? Dieser andere Terminal ist das Allerletzte.«
»Ja. Ich habe ihr eine E-Mail geschickt. Es wird ein Wunder sein, wenn sie tatsächlich nach Auckland geflogen ist und nicht aus Versehen nach Hongkong …«, witzelte ich matt. »Ich glaube, sie ist schon lange nicht mehr allein so weit gereist.«
Jack warf mir einen vielsagenden Blick zu. »Na ja, sie war immerhin mutig genug, in Singapur einen Zwischenstopp einzulegen, sie scheint also nicht ganz so beschränkt zu sein, wie du sie immer hinstellst …« Er schwieg einen Augenblick, und ich wartete. »Deine Mom bleibt zwei Nächte, nur zwei Nächte, Nik. Es kann doch nicht so schwer sein, für einen flüchtigen Besuch nett zu ihr zu sein.«
Er hat recht, es sollte nicht so schwer sein, aber das wird es sein.
Mir war bewusst, dass die Schuld bei mir lag, dass ich eine Verletzung, die längst verheilt sein sollte, noch immer in mir trug, dass meine Gefühle, vorsichtig ausgedrückt, unreif für jemanden in meinem Alter waren. Ich war kein Teenager mehr, mein Gott. Aber es gibt nun mal Leute, die so anders sind als du, dass sie dir unter die Haut gehen und dich jucken, sobald sie aufkreuzen.
»Wirst du«, sagte Jack, den Mund voll Toast, »versuchen, freundlich zu sein? Sonst wird es nur peinlich, vor allem, wo sie mich zum ersten Mal sieht.«
»Natürlich«, sagte ich. »Pollyanna ist mein zweiter Vorname.«
»Wer?«
Ich grinste ihn an. »Nur ein tugendhaftes amerikanisches Mädchenbuch.«
Als Jack gegangen war, schlenderte ich durchs Haus, räumte auf und versuchte, alles, was wir hier geschaffen hatten, mit den Augen meiner Mutter zu sehen. Dann brachte ich Handtücher ins Gästezimmer, das einen eigenen Balkon hatte, sah über die Bucht hinaus und starrte dann auf das Bett hinunter, in dem meine Mutter schlafen würde. Es erschien mir seltsam, dass jemand, den ich seit über drei Jahren nicht gesehen hatte, heute Nacht hier liegen würde.
Verwirrend; eine plötzliche Vermischung meiner beiden so unterschiedlichen Leben. Eines hatte ich hinter mir lassen wollen, um neu geboren zu werden, hatte diese alte Teenagerhaut abwerfen und zu einem anderen Menschen werden wollen, dem Menschen vielleicht, der ich jetzt war. Ich war so weit gekommen, zu einer anderen Kultur und einem anderen Kontinent, und auf einmal erschien es mir, als würde meine Mutter mir folgen, als wollte sie mich an die Schatten erinnern, die ich verlassen hatte, und an den Menschen, der ich einmal gewesen war. Ich wollte nicht erinnert werden.
Das Baby bewegte sich, und ich konnte das winzige Flattern von Leben spüren; eine kleine, vorsichtige Bewegung, um mich an seine Gegenwart zu erinnern, sein zusammengerolltes Leben in mir, das langsam zu dem Menschen heranwuchs, der es sein würde. Und dieser Mensch wird seine Familie und seine englischen Wurzeln und seine Großmutter kennen lernen wollen.
In diesem Augenblick, in dem ich neben dem Bett stand, in dem meine Mutter schlafen würde, wusste ich, dass ich wollte, dass die beiden sich kennen lernten. Ich konnte keinem der beiden eine Beziehung vorenthalten, die ich selbst in meiner Kindheit gebraucht hatte.
Ich starrte auf die Jachten in der Bucht hinaus, hinter dem Garten, den Jack und ich dem Dschungel entrissen hatten, und entsann mich, wie ich manchmal gedacht hatte, meine Großmutter sei so hart zu meiner Mutter, während ich in ihren Augen nichts Unrechtes tun konnte. Ich trat auf den Balkon hinaus und atmete tief ein, spürte die warme Sonne auf meinem Gesicht und schwor mir, mein Bestes zu versuchen, um meine Mutter willkommen zu heißen. Sie war offensichtlich einsam ohne Fergus und schien sich in die Malerei und das Studium der Kunstgeschichte gestürzt zu haben.
Ich lächelte. Im Grunde war es richtig tapfer von Fleur, in ihrem Alter noch einmal etwas völlig Neues anzufangen. Ich werde nett sein. Ich werde nett sein. Jack hatte recht, es war Zeit für einen Neuanfang. Schließlich wusste ich nicht, wann ich sie wiedersehen würde.
Ich ging nach unten, setzte meinen Hut gegen die Sonne auf und machte mich auf meinen Weg durch den Dschungel. Wir hatten uns an einem Experiment beteiligt, um den Bestand an Beutelratten zu verringern. Sie rissen die Bäume in Stücke, und Jack und ich hatten Gift als kleine Köder an den Baumstämmen befestigt.
Ich wünschte, sie wären nicht so niedlich. Ich wünschte, sie würden wie Ratten aussehen, dann würde ich mir nicht so gemein vorkommen. Aber ich wusste, dass es getan werden musste, wir hatten auf unserem Grundstück mehr als genug kahle Bäume, die absterben würden.
Während ich ging, verspürte ich das Gefühl, etwas erreicht zu haben; es war ein Abenteuer, dieses Leben, das ich mit Jack teilte. Jahre lagen vor uns, in denen wir auf vorhandene Methoden zurückgreifen und neue finden mussten, um Land zu bewahren, das nie gebändigt werden konnte. Nicht dass wir es bändigen wollten, aber all dieses Land wurde uns allmählich vertraut, wurde ein Zuhause nach einem jahrelangen nomadenhaften Dasein. Ich hätte nie gedacht, dass ich irgendwo sesshaft werden könnte.
Ich hatte nicht vorgehabt, schwanger zu werden. Es gab so viel zu tun, und die Schwangerschaft hatte mir die Hände gebunden. Aber Jacks Miene, als ich es ihm sagte, war Antwort genug. Und so konnte ich, anstatt in der Hitze zu gärtnern, nur noch umherschlendern und nach dem Rechten sehen, die Hühner füttern und in der Nähe des Hauses vorsichtig Unkraut jäten und Reihen mit Gemüse pflanzen, das sich in dem kargen Boden nur mühsam behauptete.
Als hätten wir eine stillschweigende Übereinkunft getroffen, erwähnten weder Jack noch ich es je mit einem Wort, aber wir fragten uns beide, ob mit einem Kind unsere Zeit hier zu Ende gehen würde. Wir lebten am Ende der Welt, meilenweit entfernt von einem Arzt, einer Schule oder menschlicher Behausung. Kinder brauchten andere Kinder, ich wollte kein Einzelkind haben, wie ich selbst eines geworden war.
Dieses Entsetzen und die Einsamkeit, als Saffie verschwand! Es war, als hätte ich ein Bein verloren, und der übrig gebliebene Stumpf zuckte und zuckte …
Ich spüre es, sogar jetzt noch.
Am Tag ihres Flugs nach Singapur wachte Fleur früh aus. Sie zog die Vorhänge nie zu, und sie sah, dass es ein wunderschöner Tag werden würde. Die Blätter des Baums vor ihrem Haus regten sich nicht. Der Tag schien den Atem anzuhalten. Eine Amsel sang klar in den Morgen hinein, gegen das Dröhnen der Autos in der Ferne, während die Stadt erwachte. Es war wie der erste Frühlingstag.
Fleur lag da und betrachtete ihr Zimmer, die Sonne fiel schräg über den Boden, und die Staubkörnchen schwebten in der Luft. Sie verspürte eine seltsame Mischung aus Traurigkeit und Glück; diese Stimmung, in der es in dem Augenblick, in dem ein Vogel sang, fast genug war, am Leben zu sein; in dem Augenblick von Sonnenlicht auf deinen Händen; in dem kleinen Bewusstsein deiner selbst an einem neuen Tag.
Seit Fergus gestorben war, hatte sie gelernt, still zu sein und diese Morgen zu schätzen, zu lauschen, wirklich zu lauschen, sowohl auf die Geräusche einer erwachenden Welt als auch auf sich selbst. Die ersten Augenblicke eines Tages konnten Gefühle offenbaren, die sie nicht äußern oder aufschreiben konnte, die sie aber manchmal in Farbe festzuhalten versuchte.
Der Mangel an professioneller Technik – Fleur betrachtete sich selbst als Lehrling – konnte die geballte Kraft hinter ihren Gemälden nicht verbergen. Eine flüchtige spirituelle Sekunde konnte ein schlichtes Gemälde in eine Leinwand verwandeln, vor der Leute standen und sie anstarrten, gefesselt von der Macht, mit der Fleur das Ausmaß des Verlusts festhielt, neben dem keimenden Bewusstsein von etwas, was jenseits von ihr lag und was sich weiter in ihr bewegte und wuchs.
Der Verlust eines Kindes bedeutete das Ende der Unschuld. Das eigene Kind zu überleben war das Schlimmste, was einem Elternteil zustoßen konnte. Sein Leben lang musste man sich nach der Hoffnung auf ein Begreifen ausstrecken, bis man lernte, dass es nichts zu begreifen gab. Wie sollte man in einem willkürlichen, gemeinen und sinnlosen Akt eine Bedeutung erkennen? Das war das trostlose Wissen, das man sein Leben lang wie ein zweites Ich mit sich herumtrug, vergraben, aber immer dabei.
Der plötzliche Verlust von Fergus führte Fleur auf einmal vor Augen, dass sie dieses Wissen in Farbe und Struktur übertragen und in etwas verwandeln konnte, was Leute nachempfinden konnten. Etwas, was sie tief in sich selbst spürten, in ihrer Magengegend, in dem Schmerz in ihren Kehlen, wenn sie dastanden und auf ihre riesigen, leuchtend bunten Landschaften voller Hitze und Leben starrten. Die Augen auf den einen kleinen Gegenstand oder Menschen auf dem Bild gerichtet, der völlig abgeschieden und allein dastand.
Fleur wusste nicht, woher ihre Inspiration kam. Nur dass sie von irgendeiner unerforschten Quelle kam, und sie malte schnell und konzentriert, unter Ausschluss von allem anderen, in den stillen Nächten und in das fahle, kalte Morgengrauen eines neuen Tages hinein.
Während sie dalag und auf den Baum vor ihrem Fenster starrte, kam es ihr vor, als hätte sie dieses kleine Reihenhaus bereits verlassen und ihre Entdeckungsreise zu ihrer Tochter und zu Hundertwassers Architektur angetreten, die völlig ohne Ecken war, völlig ohne Winkel, alles ein Teil der Erde und ihres steten Kreislaufs der Wiedergeburt. Ihr war bewusst, weshalb sie sich zu seiner Philosophie und Architektur hingezogen fühlte; sie waren untrennbar mit ihrem Bedürfnis nach Aussöhnung mit ihrer Tochter verbunden.
In diesen ersten Augenblicken des Sonnenlichts spürte sie, dass sie vielleicht nie wieder in dieses kleine Haus zurückkehren würde, das sie über so viele Jahre mit Fergus geteilt hatte, oder dass, wenn sie es tun sollte, alles anders sein würde, nie wieder genau dasselbe. Unbehagen regte sich in ihr, aber zugleich hatte sie das Gefühl, dass sie sich unaufhaltsam auf irgendetwas Dunkles, aber Notwendiges zubewegte; diese verschwommene Empfindung, dass irgendetwas passieren würde.
Sie stieg aus dem Bett und schlüpfte in Fergus’ Morgenmantel, nahm den Geruch der Freesien wahr, die die Galerie geschickt hatte und die nun in einer Vase auf ihrem Frisiertisch standen. Alles ein Teil dieses behüteten Lebens, das sie führte. Sie stieg die Treppe hinunter und zog die Vorhänge im Wohnzimmer auf. Der Mann nebenan schob sein Fahrrad den Weg vor seinem Haus hinunter und hielt dann, wie er es immer tat, an der Pforte inne, um seine Fahrradclips zu befestigen. Die Lehrerin zwei Häuser weiter jagte den störrischen Motor ihres kleinen Autos hoch. Fleur horchte unwillkürlich, wann er endlich anspringen würde, während sie dachte: Morgen um diese Zeit werde ich in Singapur sein.
Fleur sah über den schimmernden Flügel des Flugzeugs auf die weißen Wolken hinunter, die wie flockiges Kartoffelpüree aussahen und bis zum Horizont reichten. Sie erinnerte sich, wie sie als Kind fasziniert geglaubt hatte, diese Wolken seien fest genug, um auf ihnen zu sitzen, um von einem flaumigen Kissen auf das nächste zu hüpfen.
Das Geheimnis von Landmasse, Ozean und Himmel aus der Höhe betrachtet ließ sie nie los. Die wechselnden Muster und Formen von Bergen und Wüsten und die Fortbewegung ihrer selbst, umhüllt von Tonnen sich bewegenden Metalls, blieben ein Wunder menschlicher Ingenieurskunst.
Es war, als würden, sobald sie sich in der Luft befand, zwischen zwei Leben und Zielorten, alle normalen, als selbstverständlich betrachteten Dinge plötzlich anormal. Als sei sie von einem seltsamen Schweigen umhüllt, das sie wie einen engen Umhang trug, um sich zu distanzieren, eine Fremde unter Fremden, völlig unergründlich.
Durch die Zeit zu reisen, nach tausenden von Meilen in einer unvertrauten oder fernen Landschaft anzukommen erfüllte Fleur mit einer fast katatonischen Bewegungslosigkeit. Sie rührte sich nicht, schnallte sich nicht los, saß nur da und starrte auf die wundersame Masse jungfräulicher Wolken.
Ein alter Mann auf dem Platz am Gang erzählte der Frau zwischen ihnen, wie er in der riesigen, dürren Weite der Wüste unter ihnen in Dubai die Pipeline gebaut hatte. Dreizehn Jahre lang hatte er in der erbarmungslosen Sonne geschuftet, hatte den Beduinen das Wasser gebracht. Seine Haut erzählte die Wahrheit über das harte Ingenieursleben in der Sonne. Unverwechselbare Spuren von Hautkrebs kennzeichneten seine Hände und sein Gesicht wie ein Amtswappen.
Normalerweise hätten seine Erinnerungen Fleur fasziniert, aber sie wollte in ihrem Niemandsland bleiben, ohne soziale Interaktion, ohne Geschichten, die erzählt, und Leben, die nacherzählt wurden. Sie war froh, als die Lichter ausgingen, als die Jalousien vor der Nacht draußen heruntergezogen wurden und sie sich erschöpft zurücklehnen und auf das Rascheln anderer Passagiere lauschen konnte, das dumpfe plom der Glocke, wenn sie um Getränke baten, das Surren der recycelten Luft in der Kabine, während sie sich unaufhaltsam durch den Nachthimmel nach Singapur pflügten.
Singapur, ein anderes Leben. Sie dachte an David, versuchte, sein Gesicht, seine Stimme heraufzubeschwören. Es wollte ihr nicht gelingen, und wenn, dann nur verschwommen wie eine unscharfe, verblichene Fotografie. Die Stadt enthielt so vieles, was ein Teil ihres jungen Lebens gewesen war. Sie hatte als Kind und als junge Erwachsene Zeit dort verbracht. Sie war als verheiratete Frau dorthin zurückgekehrt, schwanger mit ihren Zwillingen.
So viel Glück. Ein schönes Paar, das alles besaß. Und dann diese kleinen, erbarmungslosen Schritte, die langsam aber sicher zur Tragödie führten.
Zeilen von irgendwoher schossen Fleur durch den Kopf …
Wenn der Zug abfährt und die Reisenden sich eingerichtet haben
(…)
Im schläfrigen Rhythmus der hundert Stunden.
Fahret voran, ihr Reisenden! Nicht vor Vergangenem flüchtend
In ein anderes Leben oder in irgendeine Zukunft;
Ihr seid ja die gleichen nicht mehr, die den Bahnhof verließen,
Oder die, die an einer Endstation ankommen werden.
Ein bestimmter Geruch konnte unvermittelt Erinnerungen auslösen. Fleur konnte nicht sagen, was ihr entgegenschlagen würde, wenn sie in die flimmernde Hitze und den Geruch einer Stadt trat, in der sich ein solch großer Teil ihres Lebens mit rasender Geschwindigkeit entfaltet hatte.
Als Fleur David zum ersten Mal sah, saß er am Rand des Pools im Tanglin Club in Singapur City. Er war der anmutigste Mann, den sie je gesehen hatte. Neben ihrem Bruder und den pickeligen Jugendlichen, mit denen sie aus England herübergeflogen war, erschien er ihr wie ein Gott.
Sie war fünfzehn und für die großen Sommerferien nach Hause gekommen. Ihr Vater, Peter Llewellyn, war Colonel und für drei Jahre nach Singapur versetzt worden. Es war seine zweite Versetzung nach Fernost, und Fleur und ihr Bruder Sam waren es allmählich leid, immer wieder von ihrem Internat in England herzufliegen. Singapur war der Ort, an dem sie sich zu Hause fühlten.
Sie konnten in diesem Sommer im Grunde tun, was sie wollten, da sich ihre Mutter Laura, gelangweilt von dem Armeeleben, auf einen Abschluss an der Fernuniversität vorbereitete und sich darauf verließ, dass Sam Fleur im Auge behielt.
David war auf seinem ersten Posten als Subalternoffizier. Er war ein dunkler Typ und sah nicht unbedingt gut aus, war jedoch unglaublich charismatisch und schien stets von Lehrerinnen, Krankenschwestern oder jungen Armeefrauen umgeben zu sein. Aber ihm entging nicht, wie Fleur ihn heimlich beobachtete. Sie war noch kantig, wie ein Fohlen, aber sie bewegte sich wie eine Balletttänzerin und hatte einen Hauch von Exotik, schon mit fünfzehn.
Fleur hatte die dunkle Haut ihrer Mutter Laura, die sie von einer französischen Großmutter geerbt hatte und die in der Sonne leicht braun wurde, und eine Art, das Haar auf eine flotte und speziell französische Weise hochzustecken, wie ihre Mutter. Sams Haut war hell, wie die seines Vaters, und er beklagte sich gern darüber.
Fleur liebte das Wasser, und sie und Sam konnten beide ausgezeichnet schwimmen, nachdem sie von einem einheimischen Trainer professionellen Unterricht bekommen hatten. Ihr Vater hatte auf Schwimmunterricht für seine beiden Kinder bestanden, da er selbst gern segeln ging. Die Leute hielten in dem inne, was sie taten, um Fleur springen zu sehen. Sie nahm sich Zeit, ihre Gliedmaßen genau auszurichten, so, wie sie ihre Tanzschritte perfektionierte, und sobald ihr Entschluss feststand, krümmte sich ihr Körper und flog und durchschnitt das Wasser fast ohne ein Geräusch.
David fand, dass ihr Sprung das Vollkommenste war, was er je gesehen hatte. Er sah, wie sie Sams Freunde und die Schuljungen ihres eigenen Alters mühelos hinter sich ließ. Und sie schien völlig selbstgenügsam und zufrieden mit ihrer eigenen Gesellschaft.
Er beobachtete amüsiert, dass sie trotz ihrer Jugend die Aufmerksamkeit der jungen Offiziere auf sich zog, die hier überall herumschwirrten. Sie verhielten sich allerdings eher zurückhaltend, da sie die Tochter des Colonels war, obwohl Peter Llewellyn kein strenger Mann war, er war eher Wissenschaftler als Soldat. Er war beliebt bei seinen Subalternoffizieren und unter seinem etwas tollpatschigen äußeren Erscheinungsbild verbarg sich ein erstklassiges Gehirn.
An den Wochenenden fuhr die Familie oft hinunter zu dem Swimmingpool des Marinestützpunkts, wo es abends Grillpartys und Filme gab. Es ging dort weniger spießig zu als im Tanglin Club, wo es mehr als genug alternde Exil-Engländer und hochrangige Armeefrauen gab, die gern nach den Vorschriften lebten.
Der Offiziersklub mit dem großen Pool ging auf die Malakkastraße hinaus, mit Blick auf den Hafen und das Trockendock unter ihnen. Immer wenn eine Fregatte eingelaufen war, wurden Partys veranstaltet, und Fleur verlor nie die Begeisterung dafür, an Bord geholt zu werden. Sie ging mit ihrer Mutter Laura vor Sam und ihrem Vater, und die Männer wandten sich nach ihnen um. Die Schiffe waren oft lange Zeit auf See gewesen, sodass jeder Frau von fünfzehn bis fünfzig das Gefühl gegeben wurde, glamourös und geistreich zu sein. Sam durfte in Maßen trinken, da er fast achtzehn war. Fleur durfte nicht und Laura wachte mit Argusaugen über sie.
Ein Vorfall auf einer Cocktailparty an Bord einer kleinen Marinefregatte brachte David und Fleur zusammen. Während sie an Bord geholt wurden, hing die Sonne tief über der Malakkastraße, und der Himmel flammte und loderte orange und scharlachrot. Wenn in diesen Breiten die Dunkelheit hereinbrach, kam sie rasch: keine Dämmerung, nur eine samtartige Schwärze. Fleur und Sam standen bei einer Gruppe junger Oberleutnants zur See, die auf dem Oberdeck tranken. Ihr Bruder war in eine hitzige Debatte über das Segeln verstrickt, und Fleur, ein wenig ehrfürchtig vor so viel Aufmerksamkeit, schlürfte einen gemischten Fruchtcocktail etwas zu schnell, während sie sich in der Kunst des Flirtens übte.
Von Zeit zu Zeit erhaschte sie einen Blick auf ihre Eltern, die die Runde machten, und sie war beeindruckt von der gekonnten Art ihrer Mutter, ihr dunkles Haar zurückzuwerfen und aus vollem Hals zu lachen; eine Hand leicht auf den Arm eines jungen Mannes zu legen und sich zu ihm hinüberzubeugen, um seinen Worte zu lauschen, als sei er der faszinierendste Mann im Raum.
Fleur war noch nicht wirklich bereit dafür, aber sie übte trotzdem schon einmal das Zurückwerfen des Kopfes und das Lächeln in junge, sonnengebräunte Gesichter. Je mehr Fruchtsaft sie trank, desto besser schien sie dabei zu werden. Ein leichter, warmer Wind wehte in den Hafen und brachte den Geruch von Gewürzen und Benzin und verrottenden Pflanzen mit sich. Ein pummeliger Oberleutnant zur See schenkte ihr immer wieder aus einer Karaffe nach, die er sich von einem vorbeikommenden Kellner geschnappt hatte. Sam, der auf einmal sah, dass Fleur gerötet war und lauter lachte als sonst, kam zu ihr herüber.
»Fleur, du trinkst doch nicht etwa, oder?«
»Nein. Nur Fruchtsaft mit Minze. Ehrlich.«
»Okay.« Er betrachtete sie einen Augenblick lang von Nahem und wandte sich dann wieder der Gruppe junger Männer zu. Fleur beugte sich über die Reling und sah auf das dunkle Wasser hinunter. Es sah einladend kühl aus.
»Gehen Sie je vom Schiff aus schwimmen?«, fragte sie einen der Marineoffiziere.
»Ist ein bisschen tief von hier aus«, sagte der pummelige Offizier lachend.
»So tief nun auch wieder nicht«, erwiderte Fleur.
Der pummelige Offizier starrte sie träge an. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Mädchen das wagt.«
Fleur sah hinunter, und ihr wurde ein wenig schwindelig, aber ein allzu großer Sprung schien es nicht zu sein. Nicht mehr als vom Sprungbrett.
»Sie glauben, ich habe zu viel Angst, um zu springen?«
»Das möchte ich wetten.«
Die anderen Offiziere regten sich unbehaglich. »Kommen Sie, gehen wir nach unten und holen wir uns etwas zu essen, Fleur. Achten Sie nicht auf Billy Bunter.«
»Natürlich wird sie nicht auf mich achten. Sie ist schließlich ein Mädchen.«
Fleur bewegte sich schnell, stieg auf die Reling und schwang beide Beine darüber. Sie wollte nicht tauchen, da ihr dann der Rock über den Kopf fallen würde, und das würde unschicklich sein. Sie war nicht ängstlich, nur in ausgelassener Stimmung. Sie sprang in den offenen Raum.
Die Offiziere stürzten an die Reling und sahen hinunter. Einer trat zu der Karaffe und nahm sie in die Hand und roch an ihr.
»Ihr verdammten Idioten! Ihr habt ihr Pimms gegeben. Sie ist doch noch ein Kind …«
David, der sich in diesem Augenblick einen Weg durch die Gruppe bahnte, sah, wie Fleur über Bord sprang und hinunterfiel. Er sah die geleerte Pimmskaraffe und den schuldbewusst blickenden dicken Offizier. Fleur schlug aufs Wasser auf und verschwand. Irgendjemand machte einen Rettungsring los. David beugte sich mit den anderen Männern über die Reling, wartete darauf, dass ihr Kopf wieder auftauchen würde. Er tat es nicht.
Fleur, die durch das dunkle Wasser hinunterschoss, fragte sich vage, aber ohne Panik, warum sie noch immer mühelos nach unten sank. Das Gefühl war nicht unangenehm, nur interessant.
David warf sein Jackett ab und sprang hinein, dicht gefolgt von dem dicken Offizier und Sam.
Alle anderen hielten den Atem an. Höhere Offiziere, in Alarmbereitschaft versetzt, traten erschrocken an die Reling und wollten wissen, was zum Teufel da los war.
Unter Wasser sah David, dass Fleur inzwischen an die Oberfläche zu steigen begann. Er schnappte sie sich und zerrte sie hoch, unterstützt von dem dicken Offizier. Als ihr Kopf über dem Wasser auftauchte, war sie schlagartig wieder nüchtern, würgte und holte zitternd einmal tief Luft.
Sam griff ihr unter die Achseln und schwamm mit ihr zurück zur Leiter, wo zwei Matrosen sie an Deck zogen und in eine Decke wickelten. Laura beugte sich über ihre Tochter, erleichtert, wütend und verlegen zugleich.
Der Kapitän war zornig, schätzte die Situation rasch ab und schickte seine jüngeren Offiziere in ihre Unterkünfte, bis er sie sich vorknöpfen konnte. Peter Llewellyn wandte sich zu ihm um, ohne die Stimme zu heben.
»Wenn ich eine Einladung annehme, dann in dem Wissen, dass meine Familie Gäste sind und meine Tochter gut aufgehoben ist. Fleur trinkt nicht. Sie weiß, dass ihr, wenn sie trinkt, alle Partys verboten werden. Es gibt einen Unterschied zwischen ausgelassener Stimmung und gedankenloser Dummheit. Ich hoffe, Ihren Offizieren wird deutlich vor Augen geführt werden, dass meine fünfzehnjährige Tochter aufgrund ihres Fehlverhaltens leicht hätte ertrinken können.«
Er wandte sich mit bleicher Miene ab und nahm seine Frau und seine Kinder. Die Party war jäh zu Ende. Unbehaglich zerstreuten sich die Leute, gingen über die Gangway zurück zum Club, wo sie zu Abend essen und sich über die Ereignisse ereifern konnten.
Peter Llewellyn wandte sich an David. »Danke, David. Sie haben schnell gehandelt. Gehen Sie zum Stabsarzt und lassen Sie sich eine Spritze geben. Das Wasser ist verseucht. Wir sehen uns morgen.«
»Sir«, sagte David leise, überrascht von der Wut seines Vorgesetzten, den er so noch nie erlebt hatte.
Fleur wurde in den Wagen verfrachtet. Sie war noch immer nicht völlig nüchtern oder sich im Klaren darüber, was sie getan hatte. Sam sagte kläglich: »Dad, es war nicht Fleurs Schuld, wirklich. In diesen Pimms ist so viel Frucht, dass man den Gin gar nicht schmeckt.«
Laura, die Fleur kurze Zeit später in ein heißes Bad steckte, wollte keine Details wissen. Ihre Sorge war zum einen, dass sie im Mittelpunkt eines dummen und vermeidbaren Vorfalls gestanden hatten, und zum anderen, dass Fleur, indem sie törichterweise in das verseuchte Wasser gesprungen war, ihn ausgelöst hatte. Sie war schroff und kurz angebunden zu ihrer Tochter.
Es war Annie, die Amah, die Fleur heiße Schokolade brachte, und ihr Vater, der sich zu ihr aufs Bett setzte, als sie vor Demütigung weinte. Peter liebte Fleur über alles. Er wollte nicht, dass sie allzu schnell erwachsen wurde, aber er wollte ihr auch nicht verbieten, sich zu amüsieren. Er wollte, dass sie voller Begeisterung auf diese Zeit im Fernen Osten zurückblickte. Seine Kinder waren fast erwachsen, würden das Haus bald verlassen haben. Das hier würde der letzte Posten sein, an dem sie alle zusammen waren.
Er glaubte, dass die Leute im Grunde anständig waren. Heute Abend, das war eine grobe Dummheit gewesen, keine böse Absicht, aber er riet Fleur, besser aufzupassen, was junge Männer im Schilde führten und was sie ihr zu trinken gaben.
»Ich denke, wenn es sich um einen von Sams Freunden gehandelt hätte, dann hätte ich aufgepasst, Dad. Aber ich war mit dir zusammen, daher dachte ich nicht …«
Das war genau der Grund, weshalb ihr Vater so wütend gewesen war.
»Ich habe den Arzt angerufen«, sagte er. »Geh morgen mit deiner Mutter hin und lass dir eine Spritze geben, nur um auf Nummer sicher zu gehen.«
»Oh! Warum bin ich bloß gesprungen? Das war so dämlich! Alle werden mich auslachen.«
»Nein, das werden sie nicht.« Peter lächelte. »Sams Freunde werden dich um deine Tollkühnheit und deinen Mut beneiden, wegen einer Wette so tief zu springen.«
Aber Fleur dachte nicht an Sams Freunde; sie fragte sich, was Lt. David Montrose wohl von ihr hielt.