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Eine wunderschöne Gallionsfigur zierte eins die Lady Isabella - Bildnis einer unerreichten Liebe aus vergangenen Zeiten. Als Mark und Gabrielle versuchen, das Leben der wahren Isabella zu verfolgen, entdecken sie nicht nur eine unendlich tragische Geschichte. Sie müssen plötzlich selbst in eine ungewisse Zukunft aufbrechen ...
Die bewegende Geschichte zweier Frauen - ein Roman über Liebe, Verführung, Leidenschaft und gebrochene Herzen.
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Seitenzahl: 997
Veröffentlichungsjahr: 2017
Eine wunderschöne Gallionsfigur zierte eins die Lady Isabella – Bildnis einer unerreichten Liebe aus vergangenen Zeiten. Als Mark und Gabrielle versuchen, das Leben der wahren Isabella zu verfolgen, entdecken sie nicht nur eine unendlich tragische Geschichte. Sie müssen plötzlich selbst in eine ungewisse Zukunft aufbrechen … Die bewegende Geschichte zweier Frauen – ein Roman über Liebe, Verführung, Leidenschaft und gebrochene Herzen.
Sara MacDonald wurde in Yorkshire geboren und bereiste mit ihren Eltern schon früh die ganze Welt. Sie machte eine Schreibausbildung und arbeitete für das Fernsehen und am Theater, bevor sie heiratete und mehrere Jahre im Ausland verbrachte. Mittlerweile lebt Sara MacDonald mit ihren beiden Söhnen in Cornwall und widmet sich ganz dem Schreiben.
Sara MacDonald
Was einst aus Liebe geschah
Roman
Aus dem Englischen vonVeronika Dünninger
beHEARTBEAT
»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment
Titel der Originalausgabe: »Another Life«
Für die Originalausgabe:
© 2004 by Sara MacDonald
Published bei HarperCollinsPublishers, London
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2006/2016 by Bastei Lübbe AG, Köln
Umschlaggestaltung: Jeannine Schmelzer unter Verwendung von Motiven: © shutterstock: llaszlo | Helen Hotson | Jannis Tobias Werner | EkaterinaP | Paul Nash
Datenkonvertierung E-Book:
hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7325-3456-2
www.be-ebooks.de
www.lesejury.de
Für
Lizzie und John Cynddylanin Liebe
Als leere Meere und Winde und Entfernungen
uns trennten
konnte ich noch immer mein Gesicht wenden
und sagen, in dieser Richtung liegt er.
Jetzt habe ich keinen Kompass mehr,
um mir zu sagen, wo jenseits der Vielzahl von Sternen
das Paradies verloren ist
Kathleen Raine: An einer verlassenen Küste, Agenda Editions.
Mark ging in den Keller hinunter, um einen letzten Blick auf Isabella zu werfen, bevor er sie in Noppenfolie verpackte und in die Kiste legte. Er hatte sich so sehr an sie gewöhnt, wie sie dort unten lag, dass es ihm seltsam vorkommen würde, wenn sie den Raum nicht mehr beherrschte. Trotz der Verwüstungen durch das Alter und die See erfüllte sie mit ihrer Gegenwart den Raum. Die Augen in dem verwitterten Gesicht beobachteten ihn mit einem Blick, der geheimnisvoll und entschlossen war, als würde sie alles schon kennen und sei durch nichts mehr zu erschüttern.
Ihr Gesichtsausdruck schien sich in dem wechselnden Licht zu verändern. Ein Gesicht, das aus einer solchen Vielzahl von Emotionen bestand, dass Mark dachte, der Schnitzer müsse sein Modell gut gekannt haben. Es war kein Gesicht, das nach einem flüchtigen Blick oder aus dem Gedächtnis entstanden war. Dieses Gesicht, das er geschaffen hatte, war beweglich und erschreckend lebendig. Sein Schöpfer hatte das Wesen der Frau erkannt und eingefangen, und selbst jetzt, so viele Jahrzehnte später, glaubte Mark eine unschuldige Sinnlichkeit darin erkennen zu können. Ein Bewusstsein von sich, das damit zusammenhing, eine schöne Frau zu sein und sich selbst in den Augen eines Mannes gespiegelt zu sehen.
Die Farbe war auf der linken Wange etwas abgeblättert, wodurch sie aussah, als sei sie verlassen worden. Über ihrem rechten Ohr war ein tiefer Einschnitt im Holz, vermutlich durch eine Schiffsschraube verursacht. Als Mark sie das erste Mal im Garten eines Hauses sah, das er nie wieder hatte aufsuchen wollen, war er verblüfft gewesen, denn es schien ihm, als sei er einzig und allein dorthin geführt worden, um sie zu retten.
Wer eignete sich besser als ein Historiker, um ihrer Herkunft auf den Grund zu gehen? Seine entnervte Familie gab zu, dass niemand anders töricht genug sein würde, sie von Neufundland in einen Keller in Montreal zu verfrachten, um festzustellen, wer sie war und woher sie stammte.
»Du bist so versponnen, Dad. Ich nehme an, du glaubst, sie hat nur auf dich gewartet, stimmt’s?«
Das wollte er natürlich nicht zugeben. Und er konnte gar nicht begreifen, wieso seine Familie nicht ebenso bezaubert von ihr war.
»Am richtigen Ort könnte ich vielleicht bezaubert von ihr sein«, sagte Veronique. »Aber nicht in meinem Keller, wo sie mich beobachtet. Ihr Blick folgt mir überallhin. Manchmal vergesse ich, dass sie da unten ist, und wenn ich dann nachts das Licht einschalte, jagt sie mir einen fürchterlichen Schrecken ein.«
»Es ist eine der entzückendsten Galionsfiguren, die ich je zu Gesicht bekommen habe. Sie ist es wert, erhalten zu werden«, sagte Mark. »Nur schade, dass sie zu einem britischen Schoner gehört hat, nicht zu einem der unsrigen … Diverse Körperschaften in England übernehmen einen Großteil der Kosten, aber dort drüben ist es nicht anders als hier bei uns; sie müssen um jeden Penny kämpfen, den sie bekommen.«
Er wandte sich um, und Inez stand hinter ihm, eine Hüfte vorgestreckt, um Daisy abzustützen, die schläfrig am Daumen lutschte. Inez setzte sie auf dem Boden ab, und behutsam begannen sie, die Galionsfigur in Schichten über Schichten von Noppenfolie zu verpacken, bis sie einer Mumie ähnelte, das Gesicht und die Züge von Plastik verzerrt.
Daisy, die auf dem Boden saß, sah hoch und zeigte auf Isabella. »Arme Lady fort?«
Mark hob das Kind hoch. »Ja. Sie wird in einem Flugzeug übers Meer fliegen, und jemand weit fort von uns wird sie wieder heil machen.«
»Ich mag Lady«, sagte sie. »Wie heißt?«
»Isabella.« Das Haar des Kindes roch nach Butter. »Die Lady stand früher einmal vorn auf einem Schiff und schwamm durch die Wellen und sah sehr schön aus. Ihr Name ist Isabella, und wir haben sie in eine dicke Noppenschicht verpackt, damit ihr im Flugzeug nichts passiert.«
»Arme Lady«, sagte Daisy noch einmal, als sie die Treppe hinaufstiegen, und Mark fragte sich, wie er seine Frau beschwichtigen könnte, weil er mit seinem hölzernen Engel wegflog.
Er war noch nicht bereit, sie aufzugeben; und er musste wissen, an wen er sie aufgeben würde.
Durch die Bäume konnte Gabby den gelben Arm des Baggers auf dem obersten Feld erkennen. Es war das Ende einer Ära. Kein Vieh mehr oder der süße, grasige Geruch von ihnen, der im Sommer die Fliegen in den Garten brachte. Keine Kuhmäuler mehr, die mit scharfen kleinen, zupfenden und rupfenden Geräuschen die frischen grünen Grashalme zermalmten. Kein keuchendes, menschlich klingendes Husten von Rindern mehr, bei dem sie im Dunkeln zusammenzuckten.
Charlie hatte hin und wieder einen Teil des obersten Feldes für Weiß- oder Grünkohl umgepflügt, und als Josh klein war, hatten er und seine Freunde über den Geruch des verrottenden Grüngemüses die Nase gerümpft. Aber Kohl war unendlich besser gewesen als Häuser für leitende Angestellte.
»Ich hätte nicht einen Morgen Land verkauft, wenn ich die Wahl gehabt hätte«, sagte Charlie kläglich, während er zusah, wie der Bagger einem wütenden Elefanten gleich dunkle Erde in alle Richtungen hochwarf. Er war insgeheim entsetzt von diesem gewaltigen Arm, der sein geheiligtes Feld aufriss. Gabby und Nell konnten erkennen, dass ihm, trotz seines Bemühens, geschäftsmäßig aufzutreten, ebenso elend zu Mute war wie ihnen.
»Wir werden uns an den Anblick gewöhnen«, beeilte sich Nell zu sagen. »Wir werden einen Windschutz errichten, um die Häuser zu verdecken. Wir können die Lücke mit Bäumen auffüllen.«
»Natürlich werden wir uns an den Anblick gewöhnen«, sagte Gabby, die den Tränen nahe war. »Charlie, du musstest es tun, das wissen wir, es ist nur …«
»Ich weiß«, sagte Charlie unvermittelt, wandte sich ab und stapfte in seinen schlammigen Stiefeln über den Hof. Er stemmte sich in den Landrover hoch und fuhr geräuschvoll den Feldweg hinunter, um nach seinen Fasanküken zu sehen, etwas, was er immer tat, wenn er allein sein wollte.
»Oh, Nell«, sagte Gabby. »Für dich muss es noch viel schlimmer sein; du hast viel länger hier gelebt als Charlie oder ich.«
Nell hob die Schultern zu einem pragmatischen kleinen Schulterzucken.
»Ich sehe nicht gern, wie das Land verschwindet, Gabby, aber wir müssen überleben, und es ist immer noch besser, als die Farm zu verlieren oder die finanziellen Sorgen zu haben, die Ted und ich hatten. Charlie ist geschäftstüchtiger als sein Vater. Dieses riesige Feld hatte seine Grenzen; es fällt ab, es ist dem Wind ausgesetzt, und es ist steinig. Wenigstens behalten wir das südliche Ende und die Aussicht. Diese Häuser werden schon früh keine Sonne mehr abbekommen, und sie werden keine Aussicht haben. Es ist nur, dass wir alle auf eine sentimentale Weise an ihm hängen, es ist ein solch schönes Feld. Weiß Josh denn, dass die Arbeiten begonnen haben?«
»Nein, noch nicht, ich habe vermieden, es zu erwähnen. Du weißt doch, wie gern Josh will, dass alles genauso bleibt, wie es ist, er und Charlie haben sich im letzten Sommer deswegen gestritten. Josh weiß, dass Charlie keine andere Wahl hatte, aber er wollte nicht einsehen, weshalb stattdessen nicht die Koppel an der Straße verkauft werden konnte. Es ging nicht in seinen Kopf, dass die Koppel nicht genug Geld einbringen würde. Und außerdem, Nell, hat er ein schlechtes Gewissen, weil ihm die Farm so viel bedeutet, er andererseits aber nicht bereit ist, sie zu übernehmen.«
Sie kehrten langsam zum Haus zurück, und als Nell ihr Cottage erreichte, sagte sie: »Bist du dir darüber im Klaren, dass Charlie diese Vorstellung noch nicht aufgegeben hat? Er denkt, Josh wird später einmal einsteigen, wenn er ein bisschen älter ist und genug davon hat, sein eigenes Ding zu machen.«
Gabby zögerte. Sie war überzeugt, dass Josh es sich nicht anders überlegen würde. Er hatte sich für seine Karriere entschieden, und sie spürte – so heftig, dass es sie schockierte – dass sie gar nicht wollte, dass er es sich anders überlegte.
»Vielleicht wird er das, Nell, aber ich bezweifle es. Er ist sehr gern hier, es ist sein Zuhause, aber die Landwirtschaft ist nichts, was man leichthin oder aus sentimentalen Gründen betreibt, oder? Es wird von Jahr zu Jahr schwerer. Er würde auf ein agrarwissenschaftliches College gehen müssen, er würde sich alldem voll und ganz widmen müssen, und wer weiß, wie die Landwirtschaft für seine Generation einmal sein wird? Ich meine, es gibt doch kaum noch Jobs in dem Bereich.«
Nell lachte. »Du klingst wie ein kleiner alter General.«
Gabby verzog das Gesicht. »Wirklich? Wie kommt denn dieses riesige Bild voran?«
»Es ist ein Albtraum! Komm und sieh’s dir an. Bis jetzt habe ich nur ein paar Tests durchgeführt.«
Sie betraten Nells chaotisches Cottage. Ihre beiden alten Katzen lagen zusammengerollt im Deckel eines Nähkorbs vor dem Herd. Nell ging, wobei sie über alte Sonntagszeitungen stieg, die auf dem Boden verstreut lagen, voran in ihr tadellos aufgeräumtes Arbeitszimmer, wo leise Mahler lief. Gabby wunderte sich immer wieder, wie es Nell schaffte, dieses eine Zimmer wie einen Operationssaal in Ordnung zu halten, während der Rest des Hauses von Jahr zu Jahr mehr zu einem Tierasyl verkam.
Die beiden Frauen standen da und starrten auf das Gemälde einer stämmigen, vollbusigen Dame in Perlen und Abendkleid, das in einem geschmackvollen ovalen Rahmen hing. Das Gemälde sah nach vielen Jahren auf einem feuchten Dachboden aus, und Nell wünschte sich von Herzen, dass es dort auch geblieben wäre.
»Der Rahmen ist entzückend«, sagte Gabby. »Die Frau ist …«
»… abscheulich!«, schnaubte Nell. »Die Leinwand ist in einem schlechten Zustand, wie man sehen kann, aber es ist ein Qualitätsgemälde, auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob es so wertvoll ist, wie die Browns glauben. Ich habe ihnen gesagt, sie sollen ein Gutachten einholen; ich bin nicht auf dem neuesten Stand, was Schätzungen betrifft.«
»Ich nehme an, sie wollen, dass du es reinigst und restaurierst, bevor sie es schätzen lassen?«
»Ich glaube, sie hoffen, es zu Christie’s schicken zu können.«
Gabby beäugte es etwas genauer. Es hatte fast überall feine Risse und schuppige Stellen, und die Farbe auf dem Kleid blätterte stark ab. In den Händen von jemandem, der weniger fachmännisch war als Nell, würde auf dem Bild letztendlich vielleicht mehr Restaurierung als Gemälde zu sehen sein.
»Nell, es wundert mich nicht, dass du am Verzweifeln bist. Das ist eine Menge Arbeit. Ich dachte, du wolltest größere Gemälde ablehnen?«
»Wollte ich auch. Sie haben mich in einer schwachen Stunde überrumpelt. Sie haben es auf etwa 1890 geschätzt. Es wurde bereits restauriert, zweimal, glauben sie, vielleicht in den Dreißigerjahren. Es sieht aus, als ob es mit Wachsharz konsolidiert und nur eine Oberflächenreinigung durchgeführt wurde, aber ich würde sagen, dass es zu einem späteren Zeitpunkt gereinigt wurde, vielleicht in den Fünfzigern.«
Gabby und Nell starrten auf das Gemälde hinunter. Die Entfärbung sowohl des Firnisses als auch der Übermalungen hatte dem Bild geschadet, und die übermäßige Restaurierung im Hintergrund hatte zur Folge, dass kein Detail mehr richtig zu erkennen war.
»Ich könnte vorbeikommen und dir helfen, sobald ich Die Katzen des Flickschusters zu Ende gereinigt habe.«
»Ich dachte, du hättest demnächst die Restaurierung dieser Galionsfigur in St. Piran vor dir?«
»Peter hat mich gebeten, hinzufahren und einen Blick auf sie zu werfen, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich den Auftrag bekommen werde, Nell. Ich habe keinerlei Erfahrung mit Galionsfiguren. Und abends könnte ich dir auf jeden Fall zur Hand gehen.«
»Jetzt warte erst einmal ab, bevor du dich verpflichtest, mir zu helfen. Wann wirst du sie dir ansehen?«
»Sie trifft nächste Woche aus Kanada in London ein und wird dann nach Cornwall gebracht. Oh, Nell, ich würde so gern die Chance bekommen, sie zu restaurieren.«
»Es gibt absolut keinen Grund, weshalb man dir den Auftrag nicht geben sollte, Gabby. Du hast dir mittlerweile einen guten Ruf erarbeitet, wie man an den letzten Aufträgen sehen kann.«
Gabby lächelte. »Ich hatte eine hervorragende Lehrerin.«
Nell tätschelte ihren Arm. »Kaffee?«
»Ich mache mich besser an die Arbeit, Nell, der halbe Vormittag ist schon um.« Gabby trank ihren Kaffee lieber ohne Katzenhaare darin. »Aber ich will dir noch helfen, diese Dame aus ihrem Rahmen zu befreien.«
Behutsam lösten sie das Gemälde aus seinem Rahmen und legten es vorsichtig auf Nells Tisch, mit dem Gesicht nach oben und unbedeckt, um noch mehr Farbverlust zu vermeiden. Das Porträt war riesig und offensichtlich häufig bewegt worden, da der Keilrahmen an den Knickstellen Spuren hinterlassen hatte und die feinen Risse den Linien des Keilrahmens folgten und den meisten Schaden verursacht hatten.
»Ich frage mich, ob sie voller Verzweiflung von einem Familienmitglied zum nächsten weitergereicht und dabei immer wieder aus ihrem Rahmen genommen wurde, die arme gute Alte«, sagte Gabby.
»Na ja, irgendjemand hat sie immerhin genug geliebt, um dieses riesige Gemälde von ihr anfertigen zu lassen. Die Übermalung zu entfernen wird die meiste Zeit in Anspruch nehmen.« Nell beäugte die Brüste der Frau mit einem Vergrößerungsglas. »Diesen Firnis werde ich mit Isopropanol entfernen. Siehst du das? Da ist eine dünne Schicht entfärbtes Naturharz. Ich werde den Großteil der jüngeren Restaurierungen entfernen müssen. Wahrscheinlich hat jeder Restaurator den Farbton der vorangegangenen Übermalung verändert …«
Gabby lächelte, während sie Nell beobachtete. Ihr Gesicht war auf einmal lebendig geworden, während ihre Augen hin und her huschten und den Schaden mit scharfem und professionellem Blick begutachteten. Das war es gewesen, Nells leidenschaftliches Interesse an ihrer Arbeit, was Gabbys Fantasie und Neugier vor Jahren entfesselt hatte.
Gabby ging über den Hof zurück zum Haus. Trotz des Geräuschs des Baggers in der Ferne war sie von Zufriedenheit erfüllt. Als Josh zu Hause auszog, hatte sie befürchtet, die Lücke, die er hinterließ, würde gähnend vor ihr klaffen, doch die Arbeit hatte sie abgelenkt und inzwischen sogar einen Punkt erreicht, an dem sie Aufträge ablehnen musste. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie in der Lage, einen finanziellen Beitrag zu der Farm zu leisten, und das war ein wunderbares Gefühl.
Sie ging durch die Küche in ihr Arbeitszimmer mit dem Kopfsteinboden, das der älteste Teil des Hauses und früher einmal Charlies Büro gewesen war. Das Fenster ging auf den kleinen, ummauerten Garten hinaus, der sich den Hügel hinunter bis zu den Narzissenfeldern erstreckte.
Zu Beginn jeder Narzissenblüte stand Gabby wie gebannt vor den abfallenden grünen und gelben Feldern voller sprießender Knospen und dem berauschenden strahlenden Blau des Meeres hinter ihnen. Der Anblick erinnerte sie an das Plakat der Narzissenpflücker, das in ihrer Schule an der Wand ihres Klassenzimmers hing. Es war dieses Plakat gewesen, das sie verleitet hatte, nach Cornwall durchzubrennen.
Sie trat vom Fenster an das kleine Gemälde auf der Staffelei. Sie wollte es heute zu Ende bringen. Es war das letzte Stück, das sie in Arbeit hatte, da sie in letzter Zeit keine neuen Aufträge mehr angenommen hatte. Erst einmal wollte sie einen Blick auf die Galionsfigur werfen.
Seit Peter Fletcher, der Kurator des Museums in Truro, sie angerufen hatte, konnte sie es kaum noch erwarten. Sie versuchte, nicht daran zu denken, wie enttäuscht sie sein würde, wenn sie den Auftrag nicht bekommen sollte, nahm stattdessen ein Wattestäbchen aus dem Marmeladenglas neben sich und begann zu arbeiten, konzentriert, vertieft, wobei sich ihre Finger geschickt bewegten und kleine, verborgene Überraschungen unter Schmutzschichten hervorholten. Sie lächelte, als sie unter den Händen des alten Flickschusters keine Schwärze, sondern eine Schublade mit Nägeln fand.
Eine Woche nachdem der Bagger begonnen hatte, Wunden in das oberste Feld zu schlagen, brach Gabby nach St. Piran auf, um sich die Galionsfigur anzusehen. Auf der Kuppe des Hügels angekommen, stieg sie aus und kletterte auf das Gatter. Sie sah auf die Farm hinunter, die zwischen den Bäumen kauerte, so vertraut; und doch erschien ihr das alles, während sie sich an der Oberkante des Gatters festhielt, auf einmal unvertraut, als sei sie eine Fremde, die auf ein Gehöft hinuntersah, von dessen Bewohnern und Geschichte sie nicht das Geringste wusste.
Eine kleine Gestalt trat aus der Scheune und ging über den Hof. Charlie? Von hier oben konnte sie es nicht erkennen. Die seltsame Empfindung hielt an. Der heiße, stille Tag lastete schwer auf ihr, und die Hitze flimmerte über dem Gras und der Hecke. Der Morgen war erfüllt von dem Geräusch der Bienen, die sich auf dem Geißblatt in der Hecke niederließen, Bremsen schwebten in bläulichen Wolken über den Kuhfladen auf dem Feld.
Reglos verharrte sie auf dem Gatter und sah hinunter, festgehalten in der Schwebe des Tages, der sich träge von einer Minute zur nächsten weiterschlängelte. Vor ihrem geistigen Auge sah sie die Zeiger einer Uhr, die in Zeitlupe über das Zifferblatt krochen, so unmerklich, dass sie befürchtete, sie könnten völlig zum Stillstand kommen und sie würde für immer in dieser Schwebe festgehalten werden, über ihrem Leben, und warten.
Die glitzernde Sonne über dem Wasser blendete sie. Ihre Hände auf dem Gatter schienen ungewöhnlich durchschimmernd, und ihr Körper träge und doch leicht, als könnte sie fortwehen wie ein Blatt, hierhin und dorthin, über das Feld, ohne jedes Gewicht. Ich hätte keinen Platz dort unten, wenn es Josh nicht gäbe. Wenn es mein Kind nie gegeben hätte, dann würden Nell und Charlie nur noch eine Erinnerung sein. Eine Erinnerung, nach der ich im Dunkeln die Hand ausstrecken würde, da sie mir ins Gedächtnis rufen würde, wovor ich davongelaufen war an jenem ersten kalten Tag, an dem ich hier stand und zu den Pflückern hinuntersah, die sich im eisigen Wind über die festen grünen Knospen der Narzissen beugten.
Sie starrte über das Gatter hinaus, in die Ferne des Horizonts, über Charlies und Nells fünfhundert Morgen Land unter ihr, dann wandte sie sich unvermittelt ab und stieg wieder in den Wagen.
Als sie das Meer hinter sich ließ, begann sie darüber nachzudenken, was sie über die Galionsfigur wusste. Peter Fletcher hatte ihr nur knapp berichtet, sie hätte zu einem Handelsschoner namens Lady Isabella gehört, der 1867 von St. Piran ausgelaufen und in kanadischen Gewässern mit Mann und Maus gesunken sei. Die Galionsfigur musste schon vor Jahren geborgen worden sein, war aber erst kürzlich von einem kanadischen Historiker entdeckt worden, der viel Zeit und Mühe darauf verwendet hatte, ihren Weg bis zu dem kleinen Hafen in Cornwall zurückzuverfolgen, an dem ihre Reise begonnen hatte.
Gabby hatte sich in der Bibliothek alles ausgeliehen, was sie über maritime Galionsfiguren finden konnte. Nell hatte ihr eine Liste von Schifffahrtsmuseen gegeben und ihr empfohlen, die Valhalla auf Tresco zu besuchen, um sich die dortige Sammlung von Galionsfiguren genauer anzusehen. Und sie hatte alte Bücher aus ihren Vorlesungstagen hervorgeholt, von denen sie annahm, dass sie Gabby nützen könnten.
Gabby war fasziniert gewesen von dem Reichtum und der Schönheit der Schiffe und Galionsfiguren in den Büchern, die sie ausgeliehen hatte. Ihre plötzliche Entschlossenheit, diesen Auftrag unbedingt zu ergattern, hatte sie selbst verblüfft. Es war das erste Mal, dass man sich mit einer Art Arbeit an sie gewandt hatte, die Nell selbst nie durchgeführt hatte, und es wunderte sie, dass ihre Meinung gefragt war, dass sie auf der Grundlage ihrer eigenen Arbeit, nicht aufgrund von Nells Ruf, Glaubwürdigkeit besaß.
Nell war sich sicher, dass einer der Gründe, weshalb man sich an Gabby gewandt hatte, ihr fachmännischer Umgang mit komplizierten Kirchentafeln war. Gabby war geduldiger, als es Nell in jüngeren Jahren gewesen war. Bei der Arbeit mit Holz musste man Jahrhunderte von Wachs, Schmutz und Firnis abschälen, um nach einem ermüdenden und langatmigen Prozess – wenn man Glück hatte – ein verborgenes Gemälde freizulegen. Der Augenblick der Entdeckung, der Augenblick, in dem wie durch Zauber ein Farbklecks unter deinen Fingern auftauchte, war unvergleichlich. Gabby konnte nie genug bekommen von der Aufregung und Vorfreude einer Entdeckung.
Als Gabby ins Dorf fuhr, rüttelte ein stürmischer Wind vom Meer herüber an ihrem Wagen. Plötzlich überkam sie eine beunruhigende Vorahnung, verspürte sie einen heftigen, ängstlichen Stich, der ihr den Atem verschlug. Sie parkte ihren Wagen neben dem kleinen Museum.
Einen Augenblick lang zögerte Gabby, eine Hand auf der Pforte der alten Methodistenkapelle, die nun ein Museum war. Die Gruppe von Männern, die auf den Eingangsstufen auf sie wartete, war im Schatten verborgen, sie konnte die Gesichter nicht erkennen.
In dieser Sekunde noch hätte sie kehrtmachen und zum Wagen zurücklaufen können, um zu verschwinden, zurück zu dem Farmhaus, das sicher und geborgen zwischen den kleinen Bäumen kauerte, die der Wind alle in dieselbe Richtung gebogen hatte, wie erstarrte Figuren in einer russischen Landschaft. Sie hätte davonlaufen können. Aber irgendjemand aus der Gruppe rief sie, und der Augenblick glitt fort. Sie drückte die Pforte auf und trat hindurch, zu den Männern, die im Schatten standen, und zu dem Klang ihres Namens, der gerufen wurde.
Gabby benötigte einen Augenblick, um sich an die Dunkelheit des Museums zu gewöhnen, als der Pfarrer von St. Piran, John Bradbury, sie durch die Tür geleitete. Ihr Mut sank, als sie Stadtrat Rowe entdeckte. Er und Nell führten seit Jahren Krieg, und sie war der festen Überzeugung, dass er ein heimlicher Frauenhasser war. Er plusterte sich bereits auf wie ein Bantamhuhn, als sie näher trat.
Bradbury, der dem Stadtrat den Rücken zugewandt hatte, zwinkerte Gabby aufmunternd zu. »Komm, Gabrielle, ich stell dir die Leute vor. Peter Fletcher vom Museum in Truro kennst du ja bereits. Tristan Brown ist von der Western Morning News. Stadtrat Rowe bist du, denke ich, schon einmal begegnet. Und das hier ist Professor Mark Hannah aus Montreal. Mark hat für die sichere Rückkehr unserer schönen Galionsfigur nach St. Piran gesorgt. Mark, das ist Gabrielle Ellis, unsere hiesige Restauratorin.«
Gabrielle sah hoch in die amüsierten Augen des Kanadiers. Er streckte ihr die Hand entgegen.
»Freut mich riesig, Sie kennen zu lernen, Gabriella.« Seine Hand war warm, die Finger lang und dünn, sein Griff fest. Auf einmal schüchtern, wandte Gabby den Blick ab, lächelte Peter Fletcher an, und dann wandten sie sich alle der Galionsfigur zu, die auf einem Arbeitstisch in einer Ecke des Museums auf dem Rücken lag.
Gabby starrte auf die hölzerne Figur hinunter und hielt den Atem an. Lady Isabella war noch viel schöner, als sie sich vorgestellt hatte. Sie trat näher und betrachtete die hohen Wangenknochen, die blinden Augen, das Gesicht und den Hals mit den beschädigten Stellen. Das Holz war trocken, mit kleinen Rissen, der Anstrich abgeblättert, mit Resten von Farbe, die in ihren Augenwinkeln hingen wie Tränen.
Das Gesicht war außergewöhnlich fein geschnitzt und strahlte Sinnlichkeit und zugleich eine schwermütige Traurigkeit aus. Dieses Gesicht, dachte Gabby, war mit schicksalhafter oder sorgloser Leidenschaft geschnitzt worden.
Der Kanadier, der sie beobachtete, sagte leise: »Darf ich vorstellen, Lady Isabella.«
Gabrielle war außer Stande, die Aufregung in ihrer Stimme zu verbergen. »Sie ist wundervoll.«
Mark Hannah lachte. »Ja, das ist sie.«
»Wo in aller Welt haben Sie sie gefunden?«, fragte Gabby.
»Purer Zufall. Ich war in Neufundland, um am Institut für Meereswissenschaften der Memorial-Universität eine Vortragsreihe zu halten. Ich hatte zwischendurch ein wenig Zeit und beschloss, ein bisschen spazieren zu gehen. Auf einmal entdeckte ich sie in einem Garten in Bonavista Bay, zwischen all dem üblichen Treibgut, das aus dem Meer geholt wird. Sie war zwischen zwei Bäumen eingekeilt. Der Mann, der dort lebte, erklärte mir, er hätte sie als Teil einer Schuld bekommen, die sein Schwager bei ihm zu begleichen hatte, der früher in Malpeque Bay auf Prince Edward Island lebte. Er nahm an, dass sie irgendwann einmal ausgestellt worden war, vielleicht im Schiffbaumuseum Green Park auf der Westseite von Malpeque Bay. Ich konnte erkennen, dass ein unbeholfener Versuch unternommen worden war, sie zu restaurieren, aber ihr Zustand war dabei, sich zu verschlechtern, und ich fragte ihn, ob er sie mir verkaufen würde. Es war Liebe auf den ersten Blick, ich musste sie einfach haben.«
Ihm war die Aufregung der Entdeckung noch immer anzumerken, und der Junge von der Western Morning News kritzelte eifrig in sein Notizbuch.
»Ich frage mich, wie lange sie wohl den Elementen ausgesetzt war«, sagte Gabby mit einem Blick auf die Holzfäulnis und den Schaden an ihrem Sockel.
»Der Mann sagte mir, er hätte sie in seinem alten Bootsschuppen aufbewahrt und erst in seinen Garten gestellt, als er den Schuppen benötigte.«
Peter Fletcher berührte Gabbys Arm. »Dank Marks Detektivarbeit konnte ich die Originalpläne für den Schoner Lady Isabella ausfindig machen. Sie befanden sich in den Schiffsarchiven in Devon. Sie war ein Zweimaster, in Auftrag gegeben von dem wohlhabenden Kapitän eines Handelsschiffs, einem ehemaligen Marineoffizier namens Sir Richard Magor, dessen Familie hier in Cornwall und Devon sowie auf Prince Edward Island im Schiffbaugeschäft tätig war.«
»Kennen Sie den Namen des Mannes, der die Galionsfigur geschnitzt hat?«, fragte Gabby und spürte langsam Erregung in sich aufsteigen.
Peter lächelte sie an. »Oh ja. Sein Name war Tom Welland. Er war zu seiner Zeit ein sehr berühmter Holzschnitzer. Seine Figuren waren unverwechselbar.«
Gabby wandte sich wieder der Galionsfigur zu. Sie sehnte sich danach, dieses zarte Gesicht zu berühren, aber sie wusste, dass sie das nicht durfte. Der Kanadier trat neben sie.
»Welland achtete sehr aufs Detail. Das war nicht bei allen Schnitzern von Galionsfiguren so, viele waren eher primitiv. Er war recht bekannt, nicht nur in England, auch auf dem Kontinent und in Kanada und Amerika. Er war ein Künstler und konnte sich seine Aufträge frei auswählen. Offenbar ist er weit gereist, als er jung war, vermutlich auf irgendwelchen Handelsschiffen, denn Spuren seiner Arbeit sind noch immer in verschiedenen Mittelmeerhäfen zu finden. Und dann hat er offenbar plötzlich aufgehört zu schnitzen. Niemand weiß, was aus ihm wurde. John hat mir erzählt, seine Familienangehörigen hätten ihr Leben lang in der Gegend um St. Piran gelebt und gearbeitet.«
»Das haben sie allerdings«, sagte John Bradbury. »Die meisten von ihnen sind hier begraben, aber Tom nicht.«
»Es ist wunderbar, ein Datum zu haben. Das bedeutet, dass wir genau wissen, wann sie geschnitzt wurde und welche Materialien vermutlich verwendet wurden«, sagte Gabby.
»Aber wie sind Sie auf den Zusammenhang mit Cornwall gekommen?«, fragte Tristan Brown von der Western Morning News.
Der Kanadier lächelte den Jungen an. »Ich wusste, dass sie europäisch sein musste, vielleicht britisch, von einem Handelsschoner. Das, was Ihren Schonern oder Barken bei uns am ehesten ähnelt, sind die Boston-Trawler, und da sind die Galionsfiguren anders. Ich habe die öffentlichen Archive aufgesucht. Prince Edward Island war früher eine britische Kolonie, und im neunzehnten Jahrhundert war der Schiffbau ein blühendes Geschäft zwischen der Insel und dem Westen Englands.
Ich konnte keinen Hinweis auf einen Eintrag finden, demzufolge ein Handelsschiff namens Lady Isabella auf der Insel gebaut worden war, aber Unterlagen werden vernichtet oder gehen verloren, und als ich das Wrackregister einsah, sprang es mir ins Auge. Ein Schoner, die Lady Isabella, 1867 in einem Sturm vor Bonavista Bay verloren. Mein Instinkt sagte mir, das war sie. Es wurde nicht erwähnt, dass der Schoner eine Galionsfigur trug, also bat ich einen englischen Kollegen, auf der Lloyds-Liste in London für mich nachzusehen, und da war sie, aufgelistet und beschrieben mit Galionsfigur neben dem Datum ihres Untergangs.«
Peter Fletcher nahm den Faden der Geschichte wieder auf. »Dank Marks Detektivarbeit haben wir uns die in Cornwall ansässigen Eigner und Bauherren jener Zeit vorgenommen, bei denen die Wahrscheinlichkeit am größten war. Ich bin zum Staatsarchiv gegangen, um das Lloyds-Register durchzugehen. Handelsschiffe mussten registriert sein, um ein Versicherungszertifikat zu erhalten.
Ich stellte fest, dass ein Schoner namens Lady Isabella, der 1863 auf Prince Edward Island gebaut worden war, im Jahr 1864 von Lloyds in London mit einem A1-Zertifikat für Seetüchtigkeit ausgestattet wurde. Danach ging ich in die Guildhall-Bibliothek, wo Marks Kollege bereits nachgeschlagen hatte, um mich noch einmal auf der Lloyds-Liste zu vergewissern. Dort wurde ebenfalls festgehalten, dass die Lady Isabella 1867 mit allen Mann an Bord vor Neufundland Schiffbruch erlitten hatte. Zu diesem Zeitpunkt gehörte sie einem Mr. Vyvyan, aber es war üblich, dass Schiffe verkauft wurden, wenn die Tonnage Gewinn bringend war.«
»Also«, fragte Gabby, »war diese Isabella Sir Richard Magors Frau?«
John Bradbury sagte: »Das wissen wir nicht, da haben wir noch ein kleines Geheimnis vor uns. Peter und ich sind die alten Kirchenbücher durchgegangen. Die Magors stammten nicht aus der Gemeinde St. Piran; es war eine alte Seefahrerfamilie aus Falmouth, und viele von ihnen waren Kapitäne von Handelsschiffen. Sir Richard lebte in Botallick House, das heute dem National Trust gehört, in der Gemeinde Mylor. In den Kirchenbüchern von Mylor gibt es keinen Eintrag über eine Heirat. Überhaupt keinen.«
»Was ist mit diesem Daniel Vyvyan, dem das Schiff gehörte, als es sank?«, fragte Tristan.
»Die Vyvyans leben seit Generationen in St. Piran. Ihnen gehörte das mausoleumartige Haus, das Sie zu Ihrer Rechten sehen, wenn Sie nach St. Piran kommen. Es war das Herrenhaus Perannose Manor und ist jetzt ein christliches Tagungszentrum. Daniel hatte zwei Frauen, eine Helena Vyvyan, geborene Viscaria, und eine Charlotte, geborene Flemming; beide sind mit Vyvyan in der Familienkrypta beigesetzt.«
»Wie sieht es mit Töchtern aus?«, fragte Gabby.
»Ah, auf den Punkt wollte ich eben kommen. Helena und Daniel bekamen im Jahr 1846 eine Tochter, Isabella …«
»Was?« Alle sahen John Bradbury an.
Er lachte. »Ich habe noch mehr! Ich habe mit einem ehemaligen Pfarrer von Mylor gesprochen, der seit langem im Ruhestand ist und sich als Amateurhistoriker und -detektiv betätigt. Er behauptet, es hätte eine Isabella gegeben, die die erste Frau von Sir Richard Magor gewesen sei. Niemand weiß, was aus ihr wurde, sie ist weder in Mylor noch hier in St. Piran beigesetzt. Es geht die Legende, eine Seite in den Kirchenbüchern, die 1864 eine Eheschließung – die von Magor und Isabella Vyvyan – verzeichnete, sei kurz nach dieser Eheschließung herausgerissen und vernichtet worden …«
»Vielleicht ist das der Grund, weshalb Richard Magor das Schiff an Isabellas Vater verkauft hat, wenn sie bei ihm in Ungnade gefallen war«, sagte Gabby.
»Gut möglich«, sagte Peter. »Und wir forschen natürlich noch weiter. Wir wissen auf jeden Fall, dass in den Jahren, in denen die Lady Isabella gebaut wurde, der Bootsbau in St. Piran ein blühendes Geschäft war.«
»Das alles ist zweifellos hochinteressant«, sagte Stadtrat Rowe, »aber unser Geschäft heute Morgen ist die Frage, wer diese Galionsfigur restaurieren wird, nachdem sie nun hier ist. Auf den Rest der Geschichte können wir uns später immer noch freuen.«
Alle starrten ihn an. Wie in aller Welt konnte er sich nicht für ein Stück Geschichte interessieren, für das er Geld aufzutreiben hoffte, fragte sich Gabby.
»Ganz recht!« Mark Hannah sah aus, als könnte er sich das Lachen kaum verbeißen. »Das Tagesgeschäft.«
Sie wandten sich wieder der Galionsfigur zu. Mark Hannah sagte zu Gabby: »Einer der Gründe, weshalb Tom Welland so berühmt und gefragt war, ist, dass die Seeleute glaubten, seine Schnitzarbeiten seien gesegnet, da seine Gesichter immer so lebendig aussahen.«
»Das stimmt«, sagte Gabby. »Ihr Gesicht ist beunruhigend lebendig. Es sind die Augen, denke ich.«
»Mark hat angeboten, die Geschichte der Lady Isabella für uns in London weiter zu erforschen, wenn er zwischen seinen Vorlesungsverpflichtungen und der Arbeit an seinem Buch Zeit dafür findet«, sagte Peter, »und wir sind ihm sehr dankbar dafür. Natürlich werden wir selbst ebenfalls weitere Nachforschungen anstellen und hoffentlich noch mehr über den Schoner in Erfahrung bringen. Wir sind Ihnen zu großem Dank verpflichtet, Mark.«
»Allerdings«, pflichtete John Bradbury bei und sah betont zu Stadtrat Rowe hinüber.
Stadtrat Rowe räusperte sich. »London ist meiner Ansicht nach der Ort, an dem dieses wertvolle Stück Gemeindegeschichte restauriert werden sollte. Wir benötigen einen Fachmann aus London. Es ist nur richtig und vernünftig, dass wir den besten bekommen, den wir uns leisten können.«
Gabrielle wusste, dass das gegen sie gerichtet war. Sie spürte den Blick des Kanadiers auf sich, und als sie aufsah, wusste sie, dass er auf ihrer Seite war.
In seinem weichen, gedehnten Tonfall wandte er sich an Rowe: »Ich habe Ausgezeichnetes über Gabrielle gehört und mich selbst davon anhand einiger ihrer Arbeiten überzeugen können. Ich kann keinen vernünftigen Grund erkennen, weshalb diese Galionsfigur nun wieder nach London verfrachtet werden sollte, wenn sie hier professionell restauriert werden kann. Was meinen Sie, Peter?«
»Ich habe nicht den geringsten Zweifel, dass Gabrielle mehr als qualifiziert ist, um diesen Auftrag auszuführen.« Er wandte sich an den Stadtrat. »Ich bin sicher, Sie erinnern sich noch an die zwei großen Skulpturen, die Nell Appleby, eine der besten Kunstkonservatorinnen der Grafschaft, und Gabrielle vor etwa zwei Jahren restauriert haben? Die vergoldete spanische Holzfigur des heiligen Joseph aus dem siebzehnten Jahrhundert und die der heiligen Anna, vermutlich aus dem vierzehnten Jahrhundert? Es war Gabrielle, die Fragmente der Originalfarbe gefunden hat.«
Gabby wandte sich von den Männern ab und der Figur zu mit dem wehmütigen hölzernen Gesicht, dem arg mitgenommenen Oberteil und den geschnitzten Fingern an Armen, die die Figur dicht am Körper nach unten hielt, sodass sie durchs Wasser fliegen konnte.
»Ich weiß, Sie werden erst noch eine genaue Prüfung vornehmen müssen, Gabrielle, aber könnten Sie uns vielleicht jetzt schon eine grobe Einschätzung geben?«, hörte sie Peter hinter sich fragen.
Gabby holte ihr Vergrößerungsglas hervor und beugte sich dicht über die Galionsfigur, wobei sie Acht gab, keine der bemalten Stellen zu berühren. Und während sie über die unterschiedlichen Methoden sprach, die sie anwenden, und Tests, die sie durchführen würde, bevor sie mit der Arbeit anfangen konnte, sahen die Wangenknochen auf einmal warm und glatt aus, und während Gabbys Finger über dem Gesicht in der Schwebe verharrten, durchströmte sie eine seltsame Vertrautheit, als würde sie sich über das Gesicht von jemandem beugen, den sie gut kannte. Sie wünschte, Nell wäre mitgekommen.
»Dieses Stück …« Gabby staunte, als sie ein Augenlid und die entspannten und trägen Lippen begutachtete, »… ist mit viel Liebe zur Arbeit entstanden. Sie muss sehr echt und lebendig gewirkt haben, in diesem einst blauen Kleid, als das Wasser an ihr vorbeirauschte.«
Der Gesichtsausdruck des Kanadiers war gebannt, als müsste er Gabbys Empfindungen und die Sorge, die sie bei seiner geliebten Galionsfigur walten lassen würde, einschätzen.
Peter Fletcher lächelte. »Es ist ein wirklich wundervoller Fund. Gabrielle, würden Sie sich bereit finden, die Arbeit zu übernehmen?«
Gabrielle sah auf und wollte schon antworten: Ja, oh ja, als Rowe dazwischenfuhr: »So tüchtig Mrs. Ellis auch sein mag, eine Galionsfigur ist nicht dasselbe wie eine Skulptur oder ein Gemälde. Dieses Stück lag über viele Jahre tief in Salzwasser und ist mit modernen Farben halb ruiniert worden. Ich dachte, wir hätten uns entschieden, die Restaurierung gründlich zu erörtern, bevor wir sie irgendjemand anbieten …«
»Und genau das tun wir, sie erörtern«, schnitt ihm der Pfarrer verärgert das Wort ab. »Deswegen haben wir zwei Experten vor uns, die wissen, wovon sie reden …«
»Es besteht die Kostenfrage«, unterbrach ihn Rowe nun seinerseits.
Gabby sah zu dem Pfarrer hinüber. »Aus dem Stegreif kann ich nicht einschätzen, wie lange es dauern wird. Aber natürlich würde ich eine detaillierte Prüfung vornehmen, bevor ich einen Kostenvoranschlag schicke.«
Peter ärgerte sich allmählich ebenfalls über Rowe. »Ich kann Ihnen schon jetzt sagen, dass die Kosten für eine Restaurierung und Versicherung der Galionsfigur außerhalb der Grafschaft weitaus höher sein werden als jedes Angebot von Gabrielle. Und Sie irren sich gewaltig: Es ist in gewisser Weise dieselbe Fertigkeit. Eine Galionsfigur ist wie eine Tafel, und Gabrielle ist Expertin für Holzbehandlungen und Polychromie. Was, für Laien ausgedrückt, Rowe, bemalte Oberflächen sind. Sie kennt sich außerdem mit Pigmenten von mittelalterlichen bis hin zu zeitgenössischen Farben aus. Wir haben eine Expertin vor Ort, ich weiß daher nicht recht, was Sie noch für Vorbehalte haben.«
Gabby wollte fast schon flüstern, ich mache es umsonst, gebt mir nur die Chance, aber sie wusste, dass das nicht professionell war und dass Nell und Charlie in die Luft gehen würden.
Rowe machte den Mund auf, um etwas zu entgegnen, aber der Kanadier kam ihm zuvor und sagte in gelassenem Ton: »Ich denke, nachdem wir die Galionsfigur sicher nach Hause gebracht haben, und das nicht ohne gewisse Umstände, wäre es unklug, sie noch einmal zu bewegen. Sie ist beschädigt, und wenn ich vermutet hätte, dass sie nicht vor Ort restauriert werden würde, dann hätte ich sie in London belassen.«
Ein betretenes Schweigen folgte. Rowe war zwar ein unbeliebter Stadtrat, aber er verstand es, Gelder zu beschaffen. Der Kanadier zwinkerte Gabrielle zu, dann beobachtete er den Stadtrat mit versteckter Belustigung.
»Ich denke«, sagte der Pfarrer, »wir sollten uns nun alle in den Pub begeben und das Thema beim Lunch erörtern.«
»Gute Idee«, sagte Peter Fletcher.
»Durchaus«, sagte Rowe. »Dann kann ich danach gleich mit den Denkmalschutzleuten reden. Nun, Mrs. Ellis, vielen Dank, dass Sie gekommen sind, wir werden Sie wissen lassen, wie unsere Entscheidung ausgefallen ist.«
»Ich bin der Meinung«, sagte der Pfarrer kühl, »dass Gabrielle mitkommen und an der Diskussion teilnehmen sollte.«
Peter nahm Gabrielles Arm, als sie die Kirche verließen. Er war ein höflicher Junggeselle, und er bedauerte Rowes schroffe Art. »Kommen Sie, sehen wir, ob wir einen Tisch ergattern können.«
Gabrielle lächelte ihn an. »Peter, wirklich, es ist schon gut. Ich sollte mich sowieso auf den Rückweg machen.« Sie traten in das grelle Sonnenlicht hinaus. Erleichtert setzte Gabby ihre Sonnenbrille auf.
»Ich denke, es ist wichtig, dass Sie bleiben, Gabby. Wir möchten sehr gern, dass Sie diese Restaurierung übernehmen, deshalb haben wir Sie angerufen, und ich würde diese Sache gern jetzt mit Ihnen durchsprechen.«
»Da pflichte ich Ihnen bei«, sagte der Kanadier, der auf ihrer anderen Seite mit ihnen Schritt hielt. »Ich würde mich sehr gern mit Ihnen unterhalten, wenn Sie Zeit dafür haben. Diese Galionsfigur ist schon seit langem mein Baby.«
»Also beschlossen«, sagte Peter und entfernte sich, um mit dem Pfarrer zu sprechen. Plötzlich war Gabby mit dem Kanadier allein und war, wie sie verärgert feststellte, auf einmal um Worte verlegen.
Er war ein hoch gewachsener und schlanker Mann, und im Sonnenlicht sah sie, dass er älter war, als sie zuerst angenommen hatte. Um seine Augen bildeten sich Lachfältchen, als er sich zu ihr hinunterbeugte.
»Und jetzt verraten Sie mir doch bitte, was zum Teufel Sie getan haben, um dieses Arschloch vor den Kopf zu stoßen?«
Gabby, im ersten Augenblick erschrocken, prustete vor Lachen. »Nicht ich! Nell, meine Schwiegermutter. Sie hat seinen Bruder vor den Kopf gestoßen, einen Restaurator ohne Ausbildung, der ein wertvolles Gemälde ruiniert hat, das einer alten Freundin von ihr gehörte, und ihr dann auch noch ein Vermögen dafür in Rechnung gestellt hat. Nell hat in der Lokalzeitung einen Artikel darüber geschrieben. Sie hat ihn nicht namentlich genannt, aber alle wussten, wer gemeint war. Es war das Ende seiner Karriere. Stadtrat Rowe hat ihr das nie verziehen.«
Sie saßen in dem kühlen Pub, und nachdem Rowe gegangen war, entspannten sich alle sichtlich. Der junge Reporter begann, Mark nach Einzelheiten über den Transport der Lady zurück nach England auszufragen, und Peter fragte Gabby nach Nell. Sie arbeitet immer noch, hoffe ich.«
»Oh, ja. Nell wird es nie wirklich aufgeben. Im Augenblick arbeitet sie an einem riesigen Gemälde.«
»Ich habe in London einen Burschen kennen gelernt, der Ihre Schwiegermutter kannte«, sagte Mark auf einmal. »Man hält noch immer große Stücke auf sie. Wenn ich richtig verstanden habe, hat sie für die Staatliche Porträtgalerie gearbeitet und dann alles aufgegeben, um die Frau eines Farmers zu werden.«
»Ich glaube nicht, dass sie je wirklich mit dem Restaurieren aufgehört hat. Sie hat nur Aufträge aus der Gegend übernommen anstatt aus London, als Charlie alt genug war, um auf der Farm mitzuhelfen.«
»Ihr Mann?«
»Ja.«
»Sind Sie aus Cornwall?«
»Nein. Ich nicht.«
Warum wollte sie bloß nicht über Charlie sprechen? Als könnte sie dadurch für den Kanadier weniger interessant werden!
»Sie haben eine wunderschöne Farm«, erklärte Peter, »meilenweit von allem entfernt und verdammt schwer zu finden.«
Der Kanadier – Mark, zum Himmel, er hat doch einen Namen – konzentrierte sich immer noch auf sie, anstatt dem Reporter Rede und Antwort zu stehen. Sie hasste es, Mittelpunkt zu sein, und lenkte das Gespräch wieder auf die Galionsfigur, zur Erleichterung des ernsten jungen Mannes.
Als sie wieder auf dem Parkplatz vor der Kirche standen, verabschiedeten sie sich voneinander. Der Kanadier nahm Gabbys Hand und sah auf diese amüsierte Art zu ihr hinunter, die sie nun bereits kannte, als sei ihm ständig zum Lachen zu Mute. Sie fragte sich, ob er sie alle wohl schrullig und sehr britisch fand, und versuchte ihre Hand zurückzuziehen; auf einmal nahm sie es ihm übel, dass er sie so anstarrte, dass er sie um Worte verlegen machte. Er hielt Gabbys Hand noch immer fest und lächelte zu ihr hinunter.
»Könnte ich bitte meine Hand wiederhaben?«, fragte sie.
»Natürlich«, sagte er. »Ich leihe sie mir nur aus – für den Augenblick. Es ist eine ausgesprochen hübsche Hand.«
Er ließ sie los. »Es hat mich riesig gefreut, Sie kennen zu lernen, Gabriella. Ich bin so froh, dass Lady Isabella in Ihren Händen ist. Denn das wird sie sein, wissen Sie.«
»Ich würde sie wirklich sehr gern restaurieren«, sagte Gabby, von einem Hitzeschwall durchströmt. »Auf Wiedersehen.«
Sie stieg in ihren Wagen und knallte die Tür zu, ein wenig zu heftig, wie sie fand, und war ihrer Sonnenbrille zutiefst dankbar, die, wie sie hoffte, ihr Gesicht verbarg.
Die Sonne begann zu verblassen, und die Schatten über den Feldern wurden länger. Kühe zogen ein Feld hinunter, um gemolken zu werden. Sie fragte sich, wie lange Charlie seine Herde noch würde behalten können und wie es sein würde, ohne ihren morgendlichen und abendlichen Anblick im Hof. Eine wehmütige Sehnsucht, alles möge genauso bleiben, wie es war, überkam sie so urplötzlich, dass ihr die Tränen in die Augen traten. Sie beschleunigte den Wagen ein wenig, als könnte die Farm in der Zeit, die sie benötigte, um nach Hause zu kommen, insgesamt verschwunden sein.
Nell beobachtete, wie das Mädchen und der kleine Junge über den Rand des Narzissenfelds zum Küstenweg hinuntergingen. Der Morgen war still, der Wind aus Südwesten sanft und neckend. Der Himmel und das Meer verschmolzen in der Ferne, Blau auf Blau.
Der Tag war in der Schwebe festgehalten, atemlos, wie der Turmfalke, der mit schlagenden Flügeln hoch über der Hecke des Narzissenfelds verharrte.
Es war einer dieser Tage, die fast zu still waren, sodass der Morgen schien, als hätte er sich in sich selbst zurückgezogen und würde in einer Stille zu sich kommen und sich sammeln, auf die man lauschen sollte.
Nell stand da, die Schüssel mit Körnern unter dem Arm und die Augen mit einer Hand vor der Sonne geschützt, und starrte auf die kleine Gestalt des Mädchens in der Ferne. Nirgends eine Wolke, nur der endlose, schimmernde Ozean, der auf das satte Grün der Felder traf, die mit den Knospen sprießender Narzissen besprenkelt waren.
Jetzt konnte sie den Traktor hören, der über den Feldweg tuckerte. Als er über der Hecke in Sicht kam, blieb das Mädchen stehen und hob das Kind hoch, und es rief und winkte aufgeregt mit seinen kleinen, pummeligen Händen. Der Fahrer hielt an, sprang hinunter und ging vor bis an das Feldgatter zwischen ihnen. Das Kind ließ seine Mutter los und rannte so schnell über den steinigen Rand des Narzissenfeldes, dass es hinschlug, und der Mann sprang über das Gatter und raffte das Kind auf, warf es hoch über seinen Kopf. Nell hörte das Lachen des Kindes, das wie der Flaum einer Pusteblume auf der zerbrechlichen Stille des Tages zu ihr herüberwehte.
Vielleicht würde es klappen, dachte Nell, gegen jede Chance. Aus der Ferne betrachtet, sahen sie aus wie eine mustergültige Familie: zufrieden, glücklich in ihrer Haut. Charlie hatte einen Sohn. Nicht einen Augenblick hatte er bezweifelt, dass sein Erstgeborener ein Sohn sein würde. Das hatte alles erleichtert.
Der Mann strich dem Mädchen leicht durch ihr dunkles Haar, und sie standen einen Augenblick da und unterhielten sich, bevor er sich das Kind auf die Schultern setzte, sich abwandte und über das Gatter stieg und das Kind vor sich auf den Traktor setzte. Der Motor wurde wieder angelassen, und sie tuckerten weiter den Feldweg hinunter, auf Nell zu, die im Hof stand, die Schale mit Körnern für die Hühner unter dem Arm.
Lautlos ging der Turmfalke in den Sturzflug über, steil und scharf. Nell hörte das plötzliche Quieken des jungen Kaninchens, als es gefangen und aus der Hecke gezogen wurde. Das Mädchen wandte sich erschrocken um und schlug sich vor Entsetzen mit einer Hand auf den Mund.
»Nein. Nein. Nein!«, hörte Nell leise im Wind. Dann rannte das Mädchen aufgeregt hin und her, weinend und brüllend in seiner ohnmächtigen Wut auf den Turmfalken, der seine Beute im Tiefflug davontrug.
Klein und allein blieb das Mädchen in dem wogenden Grün des Feldes zurück. Ein nebelhaftes, beunruhigendes Gefühl erfasste Nell, während das Mädchen dem Turmfalken nachsah.
Nell hatte selten einen Ausdruck von Emotion bei diesem Mädchen gesehen. Friedfertig, fröhlich, so besorgt darum, sich in das Landleben einzufügen, entgegenkommend zu sein, geliebt zu werden. In diesem flüchtigen Augenblick begriff Nell, dass ihre Schwiegertochter jeden spontanen Ausdruck von Wut, Freude oder Unglück in sich erstickt hatte. Auf einmal sah sie Gabby als Schlafwandlerin in ihrem eigenen Leben. Bisweilen war es sicherer zu schlafen, als sich zu fragen, wie oder wieso wir zu einer bestimmten Zeit mit einem bestimmten Menschen an einem bestimmten Ort landeten. Nell kannte diese beschützerische Passivität nur zu gut.
Sie wandte sich von der Gestalt ab, die auf dem Weg zurück zu ihr war, eine kleine, klare Silhouette vor dem Horizont von Meer und Himmel. Sie scheuchte die Hühner auf und verstreute die Körner in einem weiten Bogen, während sie über diese undeutliche Rastlosigkeit nachgrübelte. Was würde passieren, wenn Gabrielle aufwachte? Niemand konnte ein Leben lang schlafen.
Nell drehte Joshs Postkarte um und betrachtete den berittenen Soldaten. Wie schnell die Jahre verflogen waren. Schwer, sich diesen kleinen, lockigen Jungen in Uniform vorzustellen. Schwer, das grüne Feld, das er so liebte und das sie wie ihre Westentasche kannte, vor sich zu sehen, wie es nun zwischen Erdhügeln und Gräben verschwand.
Wer hätte gedacht, dass Josh Soldat werden würde und kein Farmer? Wer hätte vermutet, dass er auf Dauer die Farm verlassen könnte, die er liebte, die Freunde, mit denen er aufgewachsen war? Sie steckte die Postkarte wieder ein. Sie liebte Josh mit leidenschaftlicher Liebe und Stolz und war auf einmal schockiert von ihrer eigenen Doppelzüngigkeit.
Sie verstand sehr wohl, weshalb Josh der Farm den Rücken gekehrt hatte. Wie konnte sie, ausgerechnet sie, nicht ehrlich sein und dankbar dafür, dass er mehr benötigt hatte als ein Leben, das in der schroffen Landschaft von Cornwall verwurzelt war? Dass er sich entschieden hatte, sich nicht von den Jahreszeiten, dem Wetter, Krankheiten und Viehhaltung erdrücken zu lassen.
Es hätte sie enttäuscht, wenn er völlig interesselos aufgewachsen wäre, ohne jede Neugier auf alles außerhalb der engen Welt, in der er seine Kindheit verbracht hatte. Es würde keine weiteren Enkelkinder geben, sie hatte nur die eine Chance bekommen, in einem Enkel das Bedürfnis nach etwas jenseits der Farm und der Grafschaft zu wecken, eine Sehnsucht danach, etwas zu lernen; wie ein Schwamm alles in sich aufzusaugen, was ihm eine Kindheit auf dem Lande durch die schiere Entfernung vorenthalten hatte.
Sie hatte ihn mit der Kunst vertraut gemacht, ihn die Achtung der Vergangenheit und die Erhaltung der Umwelt gelehrt, alles Dinge, wofür sie selbst Leidenschaft empfand. Gabby hatte ihm eine begeisterte Liebe zu Büchern mitgegeben, und Charlie einen tief verwurzelten Stolz auf das Land, das sie besaßen. Das war der Grund, weshalb Charlie nur schwer begreifen konnte, wie Josh der physischen Genugtuung, ein Stück Land zu bewirtschaften, das seit vier Generationen im Besitz seiner Familie war, den Rücken kehren konnte.
Und Josh, der kleine Stipendiat, hatte die Universität mit Auszeichnung abgeschlossen und war gleich danach auf die Militärakademie Sandhurst gewechselt. Er schien stets gewusst zu haben, was er vom Leben wollte. Vielleicht vor allem fort, fort von den zwei Frauen, die ihn liebten, und das auf eine Weise, die, wie Nell seit seinem Weggang allmählich begriff, vielleicht doch erdrückend gewesen war.
Sie und Gabby hatten einander, ihre Restaurierungsarbeit und Charlie. Josh musste sein eigenes Leben schmieden. Nell lächelte. Die Lastwagen waren verschwunden, die Kühe kamen den Feldweg hoch, um gemolken zu werden. Bald würde Gabby zu Hause sein, um ihr von ihrem Tag zu erzählen.
Sie nahm Joshs Postkarte aus ihrer Tasche und stellte sie in die Mitte des Kaminsimses. Gott sei Dank für Gabby.
Außergewöhnlich. Mark wusste nicht, was er erwartet hatte. Eine Jungfer mittleren Alters? Eine ernste Akademikerin? Eine Naturfreundin in einem Ethnopulli und Gesundheitslatschen? Was immer er erwartet hatte, es war mit Sicherheit nicht dieses kleine, dunkelhaarige Mädchen, das auf der anderen Seite der Museumspforte verharrte.
Sie stand da und spähte zu ihnen herüber, unter einer riesigen Sonnenbrille, die einen Großteil ihres Gesichts verbarg. Eine Hand auf der Pforte, sah sie aus, als sei sie zur Flucht bereit und drauf und dran, Reißaus zu nehmen. Der freundliche Priester neben ihm wandte sich um und sah sie, rief sie beim Namen, und erst in diesem Augenblick hob sie den Riegel an und drückte die Pforte auf.
Der kleine, aufgeblasene Bursche erklärte Peter eben, er würde Gabrielle Ellis für zu unerfahren halten. Er wurde von dem Priester unterbrochen, der sich entfernte, um das Mädchen zu begrüßen. Sie wurden einander vorgestellt, und bei genauerem Hinsehen erkannte Mark, dass Gabrielle Ellis kein Mädchen war, sondern eine kleine, sehr hübsche Frau.
Sie hatten die Galionsfigur im Erdgeschoss des Museums ausgepackt, in einer Ecke am Fenster im rückwärtigen Teil, wo Gabrielle am meisten Licht haben würde, um sie zu betrachten. Er beobachtete ihr Gesicht, als ihr Blick auf Lady Isabella fiel. Ein leiser, unfreiwilliger Seufzer entfuhr ihr. Sie trat vor, um das hölzerne Gesicht zu betrachten, das er so lieb gewonnen hatte, zaghaft, als sei das ausdruckslose Gesicht der Lady Isabella lebendig und berge Geheimnisse aus dem Ozean, die sie gern kennen würde.
Gabrielle Ellis hatte dunkles Haar, das ihr bis auf die Schultern fiel, und sie warf es gern nach vorn, um ihr Gesicht zu verbergen. Während sie allen anderen zuhörte, war ihr Gesicht konzentriert und hingerissen. Immer wieder warf sie einen Blick auf die Galionsfigur, beugte sich über sie, um Gesicht und Hals zu betrachten, die Finger in der Schwebe, Isabellas Gesicht umrahmend, als würde sie sich danach sehnen, sie zu berühren.
Als sie sich vorbeugte, um die vielen feinen und gröberen Risse zu untersuchen, fiel ihr Haar nach vorn und enthüllte zwischen ihren sonnengebräunten Schultern das winzige Dreieck eines verblüffend weißen Nackens, so weich und zart wie der eines Babys. Mark verspürte einen plötzlichen, überwältigenden Drang, dieses winzige Stück Weiß mit seinen Lippen zu berühren.
Er zwang sich, seine Aufmerksamkeit wieder auf das Gespräch zu richten. Der Stadtrat schien entschlossen zu verhindern, dass Gabrielle Ellis den Auftrag für die Restaurierung der Galionsfigur erhielt. Dieses Projekt, dachte er, ist allzu lange meine beherrschende Leidenschaft gewesen. Wenn ein Restaurator vor Ort den Auftrag ausführen kann, dann werde ich den Teufel tun und zulassen, dass dieser salbungsvolle, wichtigtuerische kleine Mann sie wieder nach London verfrachtet.
Mark sagte seinen Teil, und ein betretenes Schweigen folgte. Er fragte sich, ob Gabrielle sich von dem Gebaren des Stadtrats in Frage gestellt fühlte, er beobachtete ihr Gesicht, und das sah nicht danach aus. John Bradbury hingegen schien allmählich sauer zu werden, und Mark lächelte in sich hinein.
Als sie zum Pub hinübergingen, brachte er Gabrielle zum Lachen, aber sie schien schüchtern und sprach beim Lunch nur wenig. Sie kritzelte eine rasche Schätzung auf einen Block, und es war offensichtlich, dass sowohl John als auch Peter Fletcher ihr den Auftrag geben wollten. Der eingebildete Hahn verschwand zutiefst empört, und er fragte sich, wer wohl die ausschlaggebende Stimme hatte; der Stadtrat, die Denkmalschutzbehörde oder das Museum.
Er beobachtete Gabrielle, während er sein Sandwich aß. Ohne Sonnenbrille und außerhalb der dunklen Kirche wirkte ihr Gesicht klein und elfenhaft. Sie hatte ungewöhnlich blaue Augen, mit grauen und braunen Sprenkeln darin. Ihre Hände waren klein, wie die eines Kindes, mit Grübchen in den Handgelenken. Entzückende kleine Hände.
Es war ihre stille Art, die ihn am meisten beeindruckte. Ihre Bewegungen waren langsam und gelassen, aber irgendwie distanziert, als sei ein Teil von ihr irgendwo anders. Er wusste, dass er sie in Verlegenheit brachte, indem er sie allzu lange, allzu gebannt ansah, aber es war ihm nahezu unmöglich, seinen Blick auf irgendjemand anders zu richten. Sobald er versuchte, sich auf diesen Tristan zu konzentrieren, der ernsthaft bemüht war, ihm Informationen für sein Lokalblatt zu entlocken, fiel sein Blick wieder auf ihr Gesicht, wie von einem Magneten angezogen.
Sie kehrten alle zurück zum Parkplatz, um ihrer Wege zu gehen. Peter würde ihn mitnehmen, zurück zu seinem Hotel in Truro. Der Nachmittag war noch immer heiß, aber die Farben veränderten sich, als die Sonne am Himmel allmählich tiefer sank. Das träge Meer hinter den Feldern war aquamarin. Einsamkeit ergriff ihn; er wollte nicht in sein unpersönliches Hotelzimmer zurückkehren, er wollte mit dieser Frau hoch oben auf einer Klippenspitze den Sonnenuntergang betrachten.
Er nahm ihre Hand, hielt sie fest, verabschiedete sich, lächelte mit dem puren Jubel einer Entdeckung zu ihr hinunter. Sie bat ein wenig streng darum, ihre Hand wiederzuhaben, stieg in ihren schrulligen kleinen englischen Wagen, noch immer hinter dieser lächerlichen Sonnenbrille versteckt, und brauste davon.
Als er diese kleine Hand hielt, hatte er ein starkes Verlangen verspürt. Die Hitze, die aus ihrem kleinen Körper hinunter in ihre Hand geströmt war wie ein greifbarer Gegenstand, verriet ihm, dass sie sich seiner Gegenwart ebenso deutlich bewusst war wie er sich ihrer.
Er wandte sich ab und ging zu Peters Wagen hinüber. Der Kurator beobachtete ihn mit einer Miene, die Mark nicht zu deuten vermochte, und auf einmal dachte er: Ich bin ein verheirateter Mann, mindestens zwanzig Jahre älter als Gabrielle Ellis. Ich habe eine Frau, die ich liebe, und fünf erwachsene Töchter.
Der Wagen bog auf die Straße ein, und sie streckten beide die Hand aus, um die Blende gegen die Sonne herunterzuklappen, die vor ihnen am Himmel hinunterwanderte. Sie mussten anhalten, als eine Herde Kühe mit schlagenden Schwänzen vor ihnen über die Straße zuckelte. Riesige, gewaltige Tiere mit einem süßlichen, grasigen Atem, die sich gegenseitig schubsten und geräuschvoll muhten, bevor sie auf einen schlammigen Hof einbogen, um gemolken zu werden.
»Ich würde Sie gern zum Abendessen einladen«, sagte Peter.
»Das würde mich sehr freuen.«
»Kann ich Sie gegen acht abholen?«
»Natürlich, ich werde mich bereithalten. Ich nehme doch nicht zu viel von Ihrer Zeit in Anspruch?«
»Überhaupt nicht. Ich werde jemanden mitbringen, mit dem Sie, denke ich, gern reden werden, einen befreundeten Archäologen. Haben Sie Vertrauen zu Gabrielle Ellis, dass sie eine gute Restaurierung vornehmen wird? Es muss schwer für Sie sein, Isabella auszuhändigen.«
»Es ist schwer, aber ich bin sicher, es ist richtig von Ihnen, den Restaurierungsauftrag Gabrielle geben zu wollen. Wie viel Einfluss hat denn dieser Stadtratsbursche?«
Peter lachte. »Wir müssen die Mittel, die der Stadtrat zur Verfügung stellt, oder die Bedingungen, die er vielleicht mit diesen Mitteln verknüpft, nicht annehmen, aber wie Sie selbst wissen, ist es schwer und Zeit raubend, private Spenden zu sammeln, selbst mithilfe der Denkmalschutzstiftung. Wir haben allerdings Möglichkeiten, Stadtrat Rowe von unserer Vorgehensweise zu überzeugen. Er ist ein sehr eitler kleiner Mann. Stellen Sie ihn ins Rampenlicht, viel Berichterstattung in der Presse, Fotos … Die Denkmalschutzleute finden ihn ebenso einschläfernd wie wir.«
»Gut. Hat Gabrielle Ellis Kinder? Ich meine, ist sie in der Lage, Vollzeit an diesem Projekt zu arbeiten?«
Peter sah ihn von der Seite an. »Sie und Charlie haben einen erwachsenen Sohn. Er wollte nicht in die Farm einsteigen, was ein schwerer Schlag für Charlie war. Stattdessen ist er gleich nach der Universität zur Armee gegangen.«
Mark war verblüfft. »Ein erwachsener Sohn? Sie kann doch höchstens um die dreißig sein?«
»Irgendwo in den Dreißigern, würde ich vermuten. Sie kam irgendwann einmal in den Schulferien nach Cornwall, um Narzissen zu pflücken. Sie und Charlie haben sich verliebt, und sie ist nie wieder nach Hause zurückgekehrt. Ich glaube, sie hat ihren Sohn mit siebzehn oder achtzehn bekommen.«
»Mein Gott, das ist ja fast schon Kindesverführung.«
»Romantisch, was«, sagte Peter trocken, »denn sie sind immer noch zusammen und, soweit ich weiß, sehr glücklich. Eine Verbesserung gegenüber der Heirat unter Vettern und Cousinen ersten Grades – das hat es hier unten oft gegeben.«
Warnt er mich etwa, auf eine zurückhaltende britische Art?, fragte sich Mark. Dann, auf einmal schockiert von sich selbst, dachte er: Das sollte er nicht müssen. Wenn ich ein anständiger Mensch bin, dann verschließe ich mich vor dieser Frau.
Später, als er sich rasierte, fiel Marks Blick auf seine Augen im Spiegel. Er dachte an zu Hause, an den frühen Abend und wie das weiche Licht am Ende eines Tages schräg über die Häuserdächer fiel, wenn er aufbrach, um das Universitätsgelände zu verlassen und zu seinem weiträumigen Haus zurückzukehren, das stets überquoll von Leuten. Meist verharrte er noch eine Sekunde vor der Tür, lauschte auf Veronique, die unerschütterliche oberste Herrscherin in ihrer riesigen Küche, inmitten des Chaos seiner Töchter, Enkelkinder, Schulfreunde, Anhängsel, Nachbarn.
Veronique glückselig, strahlend und zufrieden. Er hatte sich stets als jemanden betrachtet, der versuchte, ein ehrenhafter Mann zu sein, mit Sicherheit als niemanden, der seiner Frau gewohnheitsmäßig untreu war oder Umstände auf sich nahm, um einen Ehebruch zu begehen. Und ebenso wenig als jemanden, der je eine glücklich verheiratete Frau hofiert hatte, oder eine andere verheiratete Frau, um genau zu sein.