Jesus, Füße runter! - Jonas Goebel - E-Book

Jesus, Füße runter! E-Book

Jonas Goebel

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Beschreibung

Wie ist es eigentlich, mit Jesus unterwegs zu sein? Das erleben Jonas und seine Freundin Trixi auf ihrer Interrail-Tour durch Europa. Ungebeten hat sich der Sohn Gottes den beiden mit seinem Rucksack angeschlossen, um sie auf ihrer Tour nach Istanbul, Sarajevo, Rom, Paris und London bis zu den Lofoten zu begleiten. Gemeinsam tanzen sie atemlos auf einem Helene-Fischer-Konzert, düsen mit der Vespa durch Rom, teilen im Bord-Bistro die Currywurst, feiern mit Fridays-for-Future-Aktivisten und diskutieren mit einem Straßenprediger über Himmel und Hölle. Dabei stellen sie fest: Eine Reise mit Jesus ist ziemlich anstrengend, nervig und schräg, aber auch voller einmaliger Begegnungen und göttlicher Momente. Das neue Jesus-Buch von Jonas Goebel voller Witz und Tiefgang über eine schräge WG auf Reisen.

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Jonas Goebel

Jesus, Füße runter!

Meine schräge WG auf Reisen

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2022

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Designbüro Gestaltungssaal

Umschlagmotiv: © Designbüro Gestaltungssaal

E-Book-Konvertierung: Daniel Förster, Belgern

ISBN Print 978-3-451-39324-2

ISBN E-Book 978-3-451-07231-4

Für Erhard

Inhalt

Atemlos

Follower

Bodenrosen

Abteile

#MeToo

Bierpong

Glücksspiel

Quarantäne

Disneyland

Mitternachtssonne

Nachwort – Wiederlesen

Der Autor

Atemlos

In die erwartungsvolle Dunkelheit hinein erklingen die ersten Takte der Musik.

Die Anspannung aus Zehntausenden Kehlen entweicht und ergibt diesen einzigartigen vorfreudig-begeisterten Kreischlaut, wie ich ihn nur von Konzerten kenne.

»Seid ihr bereit?«, ruft uns Helene Fischer von der noch dunklen Bühne entgegen. Die Antwort erfolgt umgehend, eindeutig und ohrenbetäubend. Oh man, mein HNO hat mir gerade erst von lauter Musik abgeraten.

Ein Trommelfell dehnender Knall, gleißendes Licht und monsunartiger Konfettiregen erfüllen die Arena. Zehntausende Menschen klatschen zunehmend synchron zum treibenden Beat.

Und Jesus – ist mitten unter ihnen.

»Sag mal, spürt ihr das?«, ruft Helene, und während ich noch überlege, wie viele weitere rhetorische Fragen mir heute Abend wohl gestellt werden, streckt Jesus schon enthusiastisch beide Hände in die Luft und bereichert die johlende Antwort des Publikums mit geballter Kraft seiner Stimmbänder.

Ich schließe die Augen und lächle kopfschüttelnd. Dass ich wirklich mal auf einem Helene-Fischer-Konzert landen würde, wer hätte das gedacht? Na gut, mein Spotify-Jahresrückblick hat das vermutlich schon länger erahnen lassen.

»Das ist der Wahnsinn!«, brüllt mir Jesus ins Ohr. Ich nicke zustimmend und wippe vorsichtig mit dem linken Fuß. Dann verfalle ich in norddeutsche Ekstase und klatsche zusätzlich mit der rechten Hand vorsichtig auf meinen rechten Oberschenkel. Vor zu viel Bewegung hatte mich eigentlich noch kein Arzt gewarnt. Na ja, aber falls doch: Darauf bin ich vorbereitet!

Worauf ich allerdings nicht vorbereitet war: Jesus. Zumindest nicht schon wieder. Und eigentlich passte der Zeitpunkt auch überhaupt nicht. Aber wie willst du das bitte schön kommunizieren? Ich meine: Da kommt der Sohn Gottes höchstpersönlich vorbei – und das sogar jetzt schon zum zweiten Mal – und ich soll ihm sagen, dass das gerade nicht sooo gut zu meinen Plänen passt?

Vor etwa 1½ Jahren stand er eines Tages vor der Haustür und ist mit einem »Hi! Ich bin Jesus. Ich wohne jetzt hier« bei meiner Freundin Trixi und mir im Pastorat eingezogen. Pastorat – so nennt sich die Dienstwohnung von Pastoren. Also ja: Ich bin Pastor in einer Hamburger Gemeinde. Und Trixi ist übrigens Gemeindepädagogin, man könnte sagen: Im Prinzip ist sie auch eine Art Pastorin – aber mit dem Schwerpunkt auf Kindern, Jugendlichen und Familien.

Na ja, Jesus war dann auf jeden Fall da. Aber als wäre ein himmlischer Mitbewohner nicht genug: Quasi im Schlepptau von Jesus zog auch noch Martin Luther bei uns ein. Wenn dir der Name nichts sagt: Lass das bloß nicht den Martin hören – dann gibt’s ne Standpauke, aber hallo!

In aller Kürze: Martin war vor rund 500 Jahren ein großer kirchlicher Reformator. Ein Teil der evangelischen Kirche hat sich sogar nach ihm benannt und eine der bekanntesten Bibelübersetzungen geht auf ihn zurück. Und deshalb ist er übrigens auch auf die Welt zurückgekommen: für eine Neuübersetzung der Bibel. Jesus dagegen ist zurückgekommen, um ein neues Evangelium zu schreiben. Ihm war dann doch aufgefallen, dass so manche seiner Reden von damals nicht mehr allerhöchste Aktualität besaßen.

Lange Rede über vergangene Zeiten, kurzer Sinn: Wir hatten eine aufregende WG-Zeit mit den beiden, bis Jesus und Martin nach gut einem Jahr wieder in den Himmel zurückbeordert wurden. Zwar waren weder neue Bibelübersetzung noch neues Evangelium fertig. Aber es gab da wohl ein göttliches Machtwort und eines Morgens … waren sie wieder weg.

»Dieser Abend gehört nur dir!«, schreit Helene durch die Musik. Hey, das war keine rhetorische Frage! »Dieser Abend gehört nur uns!«, ergänzt Jesus mir ins Gesicht brüllend. »Na sichi!«, schreie ich zurück und lache. Gut, wenn wir mal ehrlich sind: Der Abend gehört uns beiden – und dem Rest der in Glückseligkeit ertrinkenden Schlagerschar um uns herum. In der offensichtlich außer mir keiner mehr darüber nachdenkt, ob tanzen zu den persönlichen Begabungen gehört. Und ganz vorn mit dabei: Jesus. Der springt klatschend von einem Bein aufs andere, strahlt über das gesamte Gesicht und singt jede Lied­zeile aus Leibeskräften textsicher mit. Ich bin inzwischen auch schon nordisch-eskaliert und habe meine Hände zum Klatschen über dem Bauchnabel-Äquator positioniert. Abgesehen von dieser nahezu schweißtreibenden Konzertaktivität werfe ich immer wieder verstohlene Blicke zu Jesus rüber. So ganz glauben kann ich das noch nicht. Also, dass er immer noch hier auf der Erde ist.

Eigentlich war unser Plan für diesen Sommer: Trixi und ich haben einen ganzen Monat Urlaub und wollen per Zug Europa erkunden. Wir haben uns dafür ein Interrail-Ticket geholt, quasi eine Zugfahr-Flatrate für Europa. Heute Morgen ging’s los und wir sind aus Hamburg mit dem ICE nach Berlin gedüst. Erste Station unserer Reise: das Helene-Fischer-Konzert.

Nach ein paar Minuten Bahnfahrt hat sich ein unscheinbarer, aber mega sympathischer Typ zu uns ins Abteil gesetzt. Wir sind schnell ins Gespräch gekommen, haben ihm von unseren Reiseplänen für diesen Sommer berichtet und sind natürlich auch auf unsere kirchlichen Berufe zu sprechen gekommen. Dann sind wir beim Thema »Glaube« gelandet und mit etwas Zögern haben wir ihm sogar von unserer WG mit Jesus und Martin erzählt. Ich glaube, eigentlich haben nur Trixi und ich geredet und je länger das Gespräch ging, desto mehr haben wir über Jesus erzählt und dass wir ihn bis heute ziemlich hart vermissen. Der Typ im Abteil konnte einfach wahnsinnig gut zuhören und uns war beim Reden regelrecht warm ums Herz.

In Berlin angekommen hat Trixi gefragt, ob er mit uns noch was essen möchte, bevor sich unsere Wege wieder trennen. Er hat zugestimmt und wir waren uns zum Glück schnell einig: ab zum Dönermann!

Ja, und was soll ich sagen – da hat es dann auf einmal »Klick« gemacht. Während wir genussvoll unsere Dönerboxen gegessen haben, da war es, als hätten wir endlich die Scheibenwischer bei Starkregen eingeschaltet. Der Typ mit uns im Abteil war Jesus! Der Typ, der mit uns die Dönerbox sozusagen geteilt hat, ist Jesus! Er verfehlt immer noch regelmäßig mit der Gabel den Mund, weil er einfach so konzentriert seine Umgebung im Blick hat. Er hat immer noch diese markanten Lachfalten um seine aufmerksamen Augen. Sein Gesicht ist etwas kantig, seine Hautfarbe eher dunkel als hell, schwarze Haare, seine Statur weiterhin eher »moppelig« als sportlich.

Aber er hat sich äußerlich auch echt verändert und das ist die einzige mir ansatzweise schlüssige Erklärung, warum wir ihn im Zug nicht erkannt haben: Er trägt jetzt Bart – ich würde sagen, das steht ihm sogar sehr! Und zur völligen Überraschung von Trixi und mir hat er seine Frisur in den Griff bekommen. Respekt! Wenn da mal nicht sein Vater die Finger im Spiel hatte – aus unserer Sicht ist die Bändigung seiner Haare ein mittelschweres Wunder. Mindestens!

»Jo! I bims«, meinte Jesus schmunzelnd, als unseren Gesichtern wohl mehr als deutlich anzusehen war, dass wir ihn gerade erkannt hatten.

»Zwick mich, Jonas«, flüsterte Trixi. Aber zu Bewegung war ich noch nicht in der Lage und konnte nur ein »Ich glaube, ich habe eine Überdosis Fritz Kola getrunken« erwidern.

Dann ist Jesus aufgestanden, einmal um den Stehtisch beim Dönermann rum, und hat uns beide mit einem »So, hoch mit euch und lasst euch mal drücken!« aus der Schockstarre befreit.

Wir hatten danach natürlich gehörigen Gesprächsbedarf. Wie sich schnell herausstellte, ist Jesus nie in den Himmel zurückgekehrt, sondern auf der Erde geblieben. »Ohne uns Bescheid zu geben«, wie Trixi, durchaus ein wenig verletzt, festgestellt hat. »Musstest du also in Wirklichkeit gar nicht in den Himmel zurück, sondern hattest nur von uns die Schnauze voll?«

Das hat Jesus zum Glück direkt und vehement verneint: »Nein, die Ansage meines Vaters war wirklich, dass wir zurückmüssen. Aber man muss Pläne ja auch mal verwerfen können. Ich habe auf jeden Fall bereut, dass ich der Rückkehr zugestimmt hatte, und bin dann mit meinem Vater noch mal in Verhandlungen gegangen. Ja, und was soll ich sagen? Ich konnte mich durchsetzen!«

Für Trixi und mich türmten sich in diesen ersten Momenten des Wiedersehens Fragen über Fragen auf: Wie lange bleibt Jesus dieses Mal? Wo hat er überhaupt das letzte halbe Jahr gewohnt? Was hat er gemacht und warum zur Hölle hat er sich nicht bei uns gemeldet?

»Leute, Leute – eine Frage nach der anderen«, hat Jesus geantwortet und die Hände abwehrend vor sich gehalten.

»Aha«, meinte ich, »der Herr kann also weiterhin Gedanken ungefragt mithören.« Die Antwort von Jesus: ein schelmisches Augenzwinkern. Das mit dem Gedankenlesen ist übrigens eine von zwei eher schwierigen – ich sage mal – himmlischen Begabungen von Jesus. Er weiß, was die Menschen um ihn herum denken. Und er kann durch geschlossene Türen einfach »hindurchgehen«. Was mir jedes Mal wieder einen gehörigen Schrecken einjagt.

Ungefähr so wie jetzt, als Jesus sich mitten im Helene-Fischer-Konzert völlig unerwartet direkt vor mich hinstellt, seine Hände links und rechts auf meine Schultern legt und mir entgegenruft: »Liebe Gemeinde, das Evangelium des heutigen Sonntags steht in Helene 1, Vers 3 und heißt: Gott sprach: Es werde Tanz. Und es wurde Tanz!« Ich will den missionarischen Tanzaufruf eigentlich direkt abwehren, stelle aber zu meinem Erschrecken fest, dass mein Körper anscheinend ohne mein Zutun schon eine eigene Ich-AG gegründet hat.

»Na geht doch!«, stellt Jesus mit Blick auf meinen zaghaft zuckenden Körper höchst erfreut fest. Dann beschließe ich, meine Spießigkeit zumindest für einen Moment über Bord zu werfen und mein Tanzbein zu schwingen (es ist das rechte). Und siehe: Es war sehr gut. Na ja, mein Tanzstil war sicher nicht fehlerfrei. Aber ohne Fehler ist ja kein Mensch. Nicht mal Helene. Zumindest nach eigener Aussage.

Und wo wir schon bei helenistischen Schlagersongs sind: Das Wiedersehen mit Jesus war eine Mischung aus Herzbeben und Achterbahn, Junge Junge! Die vor uns stehenden Dönerboxen sind uns erst nach einer guten Stunde wieder eingefallen – als zumindest die dringendsten Fragen geklärt waren.

Warum Jesus auf der Erde geblieben ist? Weil er »so richtig bei euch Menschen« leben will. Das war wohl auch das stärkste Argument in der Verhandlung mit seinem Vater. Denn als Jesus das allererste Mal auf der Welt war, also vor rund 2000 Jahren, da hatte er dreißig Jahre mehr oder weniger wie ein normaler Mensch gelebt. »Und genau das war die Grundlage für meine Reden und Wundertaten in den letzten drei Jahren meines Lebens«, erklärte uns Jesus. »Das mit dem Schreiben am neuen Evangelium konnte gar nicht klappen – weil ich einfach nicht lange genug hier auf der Erde war.«

»Also versuchst du es jetzt noch mal mit dem neuen Evangelium?«, habe ich nachgefragt. Aber Jesus hat das eher verneint als bejaht. Zitat: »Erst mal geht es jetzt zurück zu den Anfängen. Ich wohne bei und mit den Menschen. Wie vor 2000 Jahren eben. Das bedeutet weiterhin: keine Wunder. Keine großen Reden von mir. Sondern: Erfahrungen sammeln und Menschen kennenlernen … ja, so ungefähr lautet der neue Plan für mich.«

Wir wollten natürlich auch genau wissen, was Jesus die Monate ohne uns eigentlich so getrieben hat. Aber da hat er nur abgewunken und gesagt, dass man darüber auf keinen Fall ein Buch schreiben sollte. Na ja, mal schauen. Das muss er ja nicht entscheiden.

Was wir aber zumindest aus ihm herausquetschen konnten: Es hat ihn nach Köln verschlagen, er hat da anscheinend verschiedene Jobs gehabt und ist damit über die Runden gekommen.

»Und wieso hast du dich nicht schon vorher bei uns gemeldet?«, hat Trixi weitergefragt, woraufhin Jesus uns leicht verlegen anguckte. »Ähm«, begann er vorsichtig, »also zuerst wollte ich mich sofort bei euch melden und wieder einziehen. Aber dann habe ich gedacht, dass es viel cooler wäre, wenn ich mir erst ne Wohnung und einen richtigen Job suche und euch stolz davon berichten kann. Na ja, das lief aber halt alles nicht so, wie ich mir das vorgestellt hatte, und dann war mir das auch einfach hart unangenehm, mich so bei euch zu melden. Vor ein paar Tagen habe ich mir aber gesagt: Was soll’s! Jetzt fahre ich zu den beiden hin! Tja, aber dann stand ich vor eurer Tür – und niemand war da!«

»Folgst du uns nicht mehr auf Instagram?«, habe ich verwundert nachgefragt. »Da haben wir doch gepostet, dass es für uns auf große Interrail-Tour geht.«

»Das ist noch so ein Thema für sich«, meinte Jesus und stocherte dabei in seiner Dönerbox herum.

»Oh nein! Wurde dein Account gesperrt?«, hat Trixi besorgt vermutet.

»Nein, das nicht. Aber, ähm, wie soll ich das sagen? Also ich war ja nicht sooo erfolgreich auf Instagram und auch wenn mich all die digitalen Dinge mega interessiert haben – irgendwie haben sie mir auch nicht so richtig gutgetan. Meinte zumindest mein Vater. Und deshalb musste ich ihm versprechen: Wenn ich auf der Erde bleibe, dann muss ich für mindestens ein halbes Jahr auf alles Digitale verzichten.«

Ich musste echt laut lachen. Eher so ein Prusten. Passiert mir selten, ist dafür laut Trixi durchaus amüsant anzuschauen. Aber komm schon, der Sohn Gottes macht Digital Detoxing? Das ist ja wohl einen prustenden Lacher wert! Es erklärt aber auch einiges. Zum Beispiel, warum wir nirgendwo im Internet was von ihm gesehen oder gelesen hatten, seitdem er von uns weg war. Und warum er vor unserer Haustür stand, während wir schon auf dem Weg zum Konzert waren.

»Moment mal!«, fiel Trixi noch auf, »wie hast du es eigentlich geschafft, dann trotzdem mit uns im Zug nach Berlin zu landen?«

Jesus musste einmal ordentlich schnaufen und meinte dann: »Das gilt, glaube ich, als größte sportliche Leistung meinerseits. Jemand aus Jonas’ Gemeinde hat mir erzählt, dass ihr nur eine halbe Stunde vor mir los seid und dass ihr zuerst nach Berlin wollt. Dann bin ich so schnell ich konnte zum Bus, vom Bus zur S-Bahn und am Hauptbahnhof in Hamburg zum ICE gerannt – und dann einmal durch den ganzen Zug, bis ich euch gefunden hatte.«

Sachen gibt’s! Ich meine, wer hätte gedacht, dass Jesus uns mal so hinterherrennt? Na gut, eigentlich steht genau das in etlichen biblischen Geschichten über Gott. Also, dass er uns sucht und hinterherläuft. Aber dass sich das mal so praktisch äußert … hätte ich jetzt eher weniger erwartet.

Dass das Helene-Fischer-Konzert fast drei Stunden dauert, hätte ich allerdings auch nicht erwartet. Als die letzte Zugabe vorbei ist und das Saallicht angeht, bin ich völlig verschwitzt. Es hat sich im Laufe des Abends überraschenderweise gezeigt, dass auch mein linkes Bein als Tanzbein höchst aktiv einsetzbar ist. Aber ich bin nicht nur vom Tanzen, Springen und Klatschen verschwitzt, sondern zugleich auch ziemlich erfüllt. Ich fühle mich, als käme ich aus einem richtig guten Gottesdienst. Ja, für mich sind das tatsächlich sehr ähnliche innere Zustände der Erfüllung: ein gutes Konzert und ein guter Gottesdienst. Okay, ich bin nach Gottesdiensten selten bis nie verschwitzt – aber ehrlich gesagt wird in denen ja auch eher selten getanzt, gesprungen und geklatscht. Könnte am durchschnittlichen Alter der Besucher liegen. Oder ganz vielleicht auch daran, dass unsere Gottesdienste relativ selten ähnlich mitreißend wie Konzerte sind. Aber auch nur ganz vielleicht!

Nachdem Jesus und ich unsere zwei kleinen Rucksäcke an der Garderobe abgeholt haben, sind wir schon fast aus der Arena, als wir an einem sehr großen Banner vorbeilaufen. Es wirbt für eine Autogrammstunde mit Helene. »Hey Jonas, da müssen wir hin!«, stellt Jesus richtigerweise fest. Ich meine: wo wir schon mal in der Gegend sind …

Als Jesus zu unseren WG-Zeiten Helenes Musik regelmäßig durch das Pastorat dröhnen ließ, fand ich das eher so semi gut. Aber im Laufe der letzten Monate, also na ja. Was soll ich sagen: Irgendwie hat er mich mit seinem Musikgeschmack angesteckt.

Wir folgen also den Hinweisschildern zur Autogrammstunde und verlängern eine ziemlich lange Warteschlange. Nach einer gefühlten Ewigkeit haben wir es aber geschafft. Wir stehen vor Helene Fischer.

Ein Typ von der Security neben ihr fragt uns, ob wir etwas mitgebracht haben, wo das Autogramm drauf soll. Ich schüttele den Kopf. Jesus nickt und holt zu meiner allergrößten Überraschung ein Exemplar von »Jesus, die Milch ist alle« aus seinem Rucksack.

»Hast du das gelesen?«, frage ich Jesus in einer Mischung aus Erstaunen und Entsetzen. Jesus nickt, hält das Buch Helene stolz vors Gesicht und sagt: »Guck mal, das bin ich auf dem Cover!«

»Cool!«, antwortetet Helene professionell distanziert. »Soll das Autogramm auf oder in das Buch?«

»Gerne direkt aufs Cover«, sagt Jesus freudig lächelnd.

Ich nehme eine ganz normale Autogrammkarte und dann ist die Audienz bei der Schlagerpäpstin auch schon vorbei. Ist mir jetzt gerade aber auch ziemlich egal. Alter, Jesus hat das Buch gelesen! Ich meine: das Buch, in dem ich über unsere WG-Zeit mit Martin und ihm geschrieben habe! Gut, ich weiß gar nicht, warum ich darüber so überrascht bin. An seiner Stelle würde ich das auch lesen. Wobei – doch ich weiß, warum ich darüber überrascht bin: weil ich ja bis vor ein paar Stunden davon ausgegangen war, dass Jesus gemütlich im Himmel seine Runden dreht und Besseres zu tun hat, als Bücher von mir zu lesen.

»Du, Jesus«, beginne ich unsicher, während wir die Arena dieses Mal wirklich Richtung S-Bahnhof verlassen. »Wenn du das Buch gelesen hast … wie findest du es eigentlich?«

»Ach, ich find’s eigentlich ganz okay«, antwortet Jesus unbekümmert. »Aber ich finde, dass ich an manchen Stellen echt zu schlecht wegkomme. Das wirkt ja so, als hätte ich die meiste Zeit auf eurem Sofa einfach nur rumgelümmelt, FIFA gespielt und mich mit Alexa unterhalten!«

Na ja, denke ich mir. Um ehrlich zu sein – aber da unterbricht Jesus meine Gedanken und sagt: »Ne, im Ernst: Mach dir keinen Kopf! Ich hätte das nicht so geschrieben wie du, aber ich finde es auch an manchen Stellen echt lustig und – hey – so ist das mit den Büchern über mich. Sie sind immer aus einem ganz bestimmten Blickwinkel geschrieben. Und das ist eben deiner.«

Ich nicke, aber weiß gleichzeitig, dass ich das jetzt erst mal verarbeiten muss. Man, was ein Tag! Ich finde ja: Für heute reicht das mit überraschenden Dingen, die ich verarbeiten muss.

Wir fahren mit der S-Bahn zum Hauptbahnhof und treffen dort wieder auf Trixi. Sie war den Abend bei ihrer Schwester in der Nähe von Berlin. Ein spontaner Besuch, der möglich wurde, weil Jesus Trixis Konzertticket übernommen hatte. Ehrlicherweise war sie darüber mehr als dankbar, Trixi wäre nur für mich auf das Konzert mitgekommen.

»Hey ihr zwei! Na, wie war’s?«, fragt sie uns direkt zur Begrüßung. Jesus und ich berichten ihr mit leuchtenden Augen.

»Ich glaube, wir sollten aber so langsam mal zum Zug, oder?«, sage ich nach ein paar Minuten und schaue Trixi an. Sie nickt und holt drei Interrail-Tickets aus ihrem Rucksack. Dann hat das also geklappt, dass sie für Jesus auch noch so kurzfristig eins besorgen konnte.

»Was schulde ich dir für das Ticket?«, fragt Jesus. Ich stutze und schaue ihn mit großen Augen an. »Äh, Jesus, du zahlst jetzt selbst für deine Sachen?«

»Na klar!«, antwortet er. »Ich habe im letzten halben Jahr doch Geld verdient!«

Das klingt interessant, denke ich mir. Denn zu den WG-Zeiten haben Martin und Jesus komplett auf unsere Kosten gelebt. Ich habe da sogar irgendwann eine Excel-Liste mit den Ausgaben erstellt. Ich sage nur: PS4-Controller, die eingegangenen Pflanzen, all seine Amazon-Bestellungen …

»Nix da«, grätscht Jesus in meine Gedanken direkt mal rein. »Für die Ausgaben der anstehenden Reise komme ich zu meinem Anteil auf. Aber über deine Liste müssen wir noch mal in Ruhe sprechen.«

Ich nicke gnädig und wir machen uns auf den Weg zum Zug.

Ein paar Stunden später liege ich bäuchlings auf meiner Liege und schaue in die Dunkelheit hinaus. Das Abteil ist leider voll, alle sechs Liegen sind belegt. Trixi und ich sind beide ganz oben, Jesus in der mittleren Liege unter Trixi. Die drei anderen Mitreisenden sind, glaube ich, Polen oder Tschechen. Die lagen schon schlafend da, als wir ins Abteil kamen. Inzwischen schlafen auch Trixi und Jesus. Irgendjemand aus der Runde schnarcht leise vor sich hin.

Wäre Martin mit uns hier, dann würde vermutlich im ganzen Waggon niemand schlafen. Der konnte manchmal schnarchen – mein lieber Kirchenchor! Aber Martin scheint wirklich zurück im Himmel zu sein. Zumindest meinte Jesus, dass er von ihm auch seit einem halben Jahr nichts mehr gehört hätte und davon ausginge, dass Martin längst dabei wäre, den Himmel wieder mit seinen Reformationsideen zu beglücken.

Ich hole mein kleines Notizbuch raus. Für die Reise habe ich mir vorgenommen, ein wenig Tagebuch zu schreiben. Unsere Route wird uns durch fast ganz Europa führen. Im Osten bis nach Istanbul, im Westen bis nach Lissabon. Wie weit wir in den Süden kommen: mal sehen. Am Ende wollen wir aber unbedingt die Mitternachtssonne im Norden von Norwegen erleben!

Ich schaue zu Jesus rüber. Er liegt von mir abgewandt, hat sich in die dünne Bettdecke eingerollt. Zu seinen Füßen liegt ein kleiner Eastpak-Rucksack. Wirklich viel ist da nicht drin. Ich kann es sogar genau aufzählen: ein Kulturbeutel mit Zahnbürste, Zahnpasta, Shampoo und Deo. Ein Paar Socken, eine Boxershorts, zwei weiße T-Shirts in Größe L. Dazu eine Jogginghose und ein Kapuzenpulli. Mehr haben wir vor dem Konzert nicht mehr besorgen können und damit ist der kleine Rucksack auch prall ausgefüllt. Na ja, wir werden wohl morgen noch mal mit Jesus ein wenig shoppen gehen, damit er für die kommenden Wochen gut ausgestattet ist.

Ich muss ja zugeben: Ein Teil von mir hat gehofft, dass Jesus so spontan kein Interrail-Ticket mehr bekommt. Als wir ihm heute beim Döneressen von unseren Reiseplänen berichtet haben, war er sofort Feuer und Flamme. Er hat auch gar nicht gefragt, ob er mitkommen darf, sondern ein »Wie geil! Ich bin dabei!« rausgehauen und dann war für ihn die Sache erledigt.

Ich schalte das kleine Licht an meinem Bett aus und lausche den Geräuschen der Zugfahrt. Dieses gleichmäßige Rattern hat etwas Beruhigendes. Ich schließe meine Augen und bin sofort wieder mitten im Konzert von heute Abend, sehe Jesus tanzen, lachen, springen vor Freude.

Natürlich ist es schön, dass er wieder da ist. Aber irgendwie ist es auch schwierig. Ich hatte mich schon sehr auf die Zeit zu zweit mit Trixi gefreut. Ganz besonders, weil ich vor wenigen Tagen einen Verlobungsring gekauft und mir fest vorgenommen habe, ihr auf dieser Reise einen Antrag zu machen.

Tja, mal sehen, wie das jetzt mit Jesus in den kommenden Wochen so wird. Mit ihm in einer WG leben – das war schon alles andere als langweilig. Mit ihm per Zug durch Europa reisen? Ich bin mir ja ziemlich sicher: Das wird nicht weniger spannend und aufregend!

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»Wach auf, Jesus!«

Ich rüttele an seiner Schulter und versuche ihn aufzuwecken. Widerwillig dreht er sich um und öffnet langsam seine Augen.

»Was ist los?«, fragt er schlaftrunken.

»Ehrlich gesagt, wissen wir das auch nicht«, antwortet Trixi. »Aber anscheinend müssen wir alle aus dem Zug raus.«

Jesus richtet sich auf. So gut das in einem Sechser-Abteil auf der mittleren Liege eben geht. Er streckt sich, gähnt laut und guckt stirnrunzelnd aus dem Fenster in die Dunkelheit der Nacht.

»Sind wir denn schon in Istanbul angekommen?«

Trixi und ich schütteln die Köpfe. Wir haben Google Maps gecheckt und es sieht so aus, als wären wir noch in Bulgarien, aber die Grenze zur Türkei ist nicht weit. Also, wenn das GPS hier richtig funktioniert.

Tatsächlich sind wir seit unserem Start in Berlin fast durchgängig Zug gefahren. In Prag hatten wir nachts zwei Stunden Aufenthalt. Wir haben unsere schlafenden Mitreisenden sehr genau angesehen und dann wurde ich von Trixi und Jesus dazu ermutigt, auch mal anderen Menschen mehr zu vertrauen. Gut, den Verlobungsring habe ich sicherheitshalber mitgenommen, aber ansonsten haben wir unser gesamtes Gepäck im Zug gelassen und eine spontane nächtliche Runde durch Prag gedreht.

Beim Schaffner konnten wir noch drei Pilsner Urquell organisieren (Junge, der hatte einen Biervorrat in seinem Abteil … und sehr offensichtlich eine nicht unerhebliche Menge davon auch schon in die eigene Blutbahn verlagert). Aber so schön die nächtliche Tour war, so froh war ich auch, als nicht nur der Zug, sondern auch noch das Gepäck bei unserer Rückkehr da war.