Jesusmariaundjosef! - Ralf Günther - E-Book

Jesusmariaundjosef! E-Book

Ralf Günther

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Beschreibung

Ein ganz besonderes Kind Jesus hatte eine Kindheit, und zwar eine wilde. Aus diesem Grund verschweigt die Bibel sie auch. Drei Weise aus dem Morgenland entführten das Kind nach Ägypten, um es zum Priester ihrer Reformreligion «Wir sind Gott!» zu machen. Aber wie gut sind Heilige im Windelnwechseln? Und was sagen Maria und Josef dazu? Das Jesuskind verwundert nicht nur durch Wunder. Es hat eigene Zukunftspläne, möchte Kapitän werden, zur See. Nicht nur Genezareth! Pläne mit ihm hat auch Gott, und der ist bekanntlich allmächtig. Aber wie trickst man den bloß aus?

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Ralf Günther

Jesusmariaundjosef!

Roman

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

I. SternenkindKirche in der KriseWasser durch die Wüste tragenDate unterm SternenhimmelNach Yeruscholaim!Durch die Wüste (so heiß)Herr OdesHeiliger Strohsack!Jesusmariaundjosef!Souvenirs, SouvenirsWüstenwindelRampenlichtLektion drei, zwei, eins: keinsII. LehrjahreMultiple PersönlichkeitDer größte Sandkasten der WeltEin Wunder!Blick zurück nach vornWunder auf BestellungDie richtigen WorteSpiel mit dem FeuerEin schöner Tod!Überraschung! – Nein, eigentlich nicht.Schwere LektionUnter MännernIII. WanderjahreDie Hochzeit von AlexandriaDer AufrührerElterngesprächGodnessDas Große Haus der BücherGottes LagerfeuerDie erste VersuchungSchöner PredigenDer RückrufGaleere im SchlepptauWieder WüsteHome, sweet homeUnd noch ein WunderWasser bis zum HalsEine neue Art von VisionDer frühe Vogel fängt sich eine einAbschied
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I.Sternenkind

Kirche in der Krise

Alexandria, unteres Unterägypten, kurz vor Christi Geburt.

Die Bankreihen waren nicht einmal zur Hälfte gefüllt. Im tiefsten Bauch des Tempels, dem Altarraum, herrschte staubiges Halbdunkel. Fenster gab es nicht, nur schmale Belüftungsschlitze. In Alexandria pflegte man gegen die Sonne zu bauen. Vereinzelt sirrten Schwalben durchs Gebälk. Sie nutzten die Dachsparren, um ihre Nester daranzukleben. So kam wenigstens etwas Nachwuchs in die Kirche …

Der hohe Raum war erfüllt von einem dumpfen Holzgeruch. Nicht der frische, aufrüttelnde Geruch von Harz, sondern der von alten, trockenen Dachlatten. Holz war ein seltener Baustoff in Ägypten um das Jahr null, und in Alexandria pflegte man die Tempel in Stein zu errichten. Doch dieser hier, der war anders, in jeder Hinsicht.

Von der Decke hing, befestigt an starken Tauen, ein kreisrunder, hölzerner Ring: Das religiöse Symbol der neospirituellen Gemeinde. Die nicht sehr zahlreiche Menge übte sich in erwartungsvollem Raunen. Da endlich trat ein Mann mit langem weißem Bart, der bislang abseits auf einem Schemel meditiert hatte, vor die Gemeinde. Er hob seine dürren Arme, streckte sie gen Himmel und begann zu sprechen: «Wir sind das Salz in der Ursuppe der Welt.» Zustimmendes Raunen. «Wir sind der Zahnstein der Weisen, das Überraschungsei des Kolumbus. Wir sind …», und hier machte der Weißhaarige eine bedeutsame Pause, «die Meister der Selbstbeweihräucherung!»

Wieder raunten die Gläubigen, bisweilen etwas irritiert, weil Balthasar mit dem Kopf wackelte. Das hatte er sich in Indien angewöhnt, wo er einen Teil seines langen und erkenntnisreichen Lebens verbracht hatte. Er holte tief Atem, denn seine Predigt gelangte an einen ersten Höhepunkt. «Wir sind, um es in aller Bescheidenheit zu sagen: Wir sind Gott!»

Verhaltener Jubel.

«Und wir, sind wir auch Gott?», fragten einige der Frauen irritiert.

«Und mein Nachbar, ist der auch Gott? Oder ist er Gottes Nachbar?»

Balthasar seufzte. «Wie oft soll ich es noch sagen: Alle, die im Segen dieses Tempels stehen, alle die, die sich mutig und ohne Nebengötter zu sich selbst bekennen, alle, die mit uns den heiligen Dienst feiern (und auch pünktlich ihre Mitgliedsbeiträge zahlen), alle diejenigen und derjenigen sind Gott.»

«Prima», die Frauen nickten sich gegenseitig zu. «Aber müsste es dann fairerweise nicht heißen: Wir sind Gott und Göttin?»

Balthasar wusste nur zu gut, wohin diese Diskussion führte, doch er bewahrte die Fassung. «Gott ist weder Mann noch Frau. Gott ist beides: Mann und Frau, Essen und Trinken, Wallace und Gromit. Ein offenes Buch in abgeschlossenen Kapiteln. Wein, Weib und Gesang. Das Pangäa unseres Geistes, der Quell der Allwissenheit, der Keim der Unsterblichkeit. Es ist an uns, diesen Keim wachsen zu lassen.»

Die Frauen schienen fürs Erste beruhigt zu sein. Einige verlangten nach Kaspar.

«Und was ist mit den Alten?», fragte ein junger Mann, der seine Knie lässig gegen die Vorderbank gelehnt hatte. «Ich finde, die sollten nicht Gott sein. In denen keimt nichts mehr.»

Balthasar strich sich über den langen weißen Bart. «Es ist ein Irrtum, dass in den Alten nichts mehr wächst. In ihnen wächst die Weisheit.»

«Wir ziehen trotzdem die jungen Götter vor», rief eine der jüngeren Frauen, und wieder fiel Kaspars Name.

«Was haben sie gesagt?», fragte ein Greis, der sein Hörrohr vergessen hatte. «Du bist ihnen nicht knackig genug», erklärte der Aufmüpfige neben ihm, doch statt etwas auf die Antwort zu erwidern, fragte der Alte: «Wann gibt’s endlich Wein?»

«Wein? Da bist du hier falsch. Den gibt’s bei den Caesariern.»

«Den was?»

«Den Kaiseranbetern.»

«Wo finden wir die?»

«Zwei Tempel weiter!»

Die hinteren Reihen büßten noch ein paar ihrer Mitgötter ein. Unruhe kam auf, Balthasars Kopfwackeln nahm zu.

«Lasst sie gehen! Wenn sie nur des Weines wegen kommen, sind sie nicht Gott», schrie einer dazwischen, dessen Haar wild vom Kopf abstand. «Gott ist kein Säufer!»

Balthasar seufzte. «Ich habe nichts gegen Weintrinker.»

«Wenn ich ein Teil von Gott bin, dann will ich die nicht dabeihaben!», schrie der Wirrkopf. «Und die Frauen übrigens auch nicht!»

Schon wollten sich einige der Geschmähten auf ihn stürzen. Balthasar musste einschreiten. «Gott ist sowohl weiblich als auch männlich. Er ist alt und jung, weise und naiv, streng und nachsichtig zugleich. Eine Auslese aus uns allen, aus dem Besten des Besten unserer Seelen.»

Die wenigen Übriggebliebenen starrten Balthasar aus leeren Augen an.

Ein dunkelhäutiger Hüne, der bisher abseitsgestanden und mit seinem Bizeps gespielt hatte, trat neben Balthasar und flüsterte ihm etwas ins Ohr: «Überfordere sie nicht! Sie sind auch nur Menschen!»

«Vertraue auf sie, Melchior!», zischte Balthasar zurück. «Sie werden es schon verstehen.»

«Schau sie dir doch an», flüsterte Melchior.

Balthasar ließ den Blick schweifen. Einer polkte sich die Reste des Frühstücks aus den Zähnen, eine andere zog das Augenlid herunter, um ihre Linsen zu justieren, ein Dritter kaute an den Nägeln – den Fußnägeln!

Balthasar seufzte. «Gottes irdische Gestalten sind ohne Zahl und Maß …»

«… und ohne Manieren», ergänzte Melchior.

«Selig sind die, die geistig arm sind!»

Melchior nickte. «Selig, von mir aus, aber sind sie auch Gott?»

Als sie das Wort ‹Gott› hörten, hoben einige der Mitgöttinen zu Sprechchören an: «Wir wollen Kaspar! Wir wollen Kaspar!»

Zunehmend nervös mahnte Melchior den greisen Weisen, der Sache einen positiven Dreh zu geben und rasch zum Ende zu kommen.

Der Alte sah, dass die Idee gut war, und räusperte sich.

«Gesegnet seid ihr, wahrlich gesegnet, denn wir alle sind Gott und erstrahlen in der Sonne unserer unendlichen Gnade. Mahlzeit!»

Nach dem Schlusssegen leerte sich der Kirchenraum rasch. Von draußen hörte man Tumult. Einige Ehemänner stellten ihre Frauen zur Rede. Der Name ‹Kaspar› fiel dabei auffallend häufig.

Melchior war enttäuscht. Er fand nicht einmal mehr Spaß an seinem Bizeps. «Gott ist in der Krise», stellte er fest.

«Wir SIND Gott!», erinnerte ihn Balthasar.

«Was Gott jetzt braucht», bekräftigte Melchior, «ist ein guter Werbegag, ein PR-Schub!»

Balthasar nickte. «Ich verstehe nichts von dem, was du sagst. Aber sicherlich hast du recht, denn schließlich bist du Gott.»

Melchior nickte und runzelte die Stirn. Balthasars Weisheit war manchmal verwirrend.

Wasser durch die Wüste tragen

Immer noch Alexandria, unteres Unterägypten, noch etwas kürzer vor Christi Geburt.

Kaspar war Sterndeuter. Tagsüber hatte er Zeit – viel Zeit. Tagsüber deutete er Frauen. Kaspar liebte die Frauen, denn sie waren schwieriger zu deuten als die Sterne.

Um in Alexandria kurz vor Christi Geburt Frauen zu deuten, gab man entweder eine Anzeige im Morgenpapyrus auf, oder man ging zum Brunnen. Für gewöhnlich wartete Kaspar etwas abseits unter einer Palme und beobachtete das Geschehen so lange, bis er eine geeignete Kandidatin ausgespäht hatte.

Heute sah er eine junge Frau in wallendem Gewand und seidig glänzendem Schleier. Sie stand gegen eine Palme gelehnt und leerte ihren Schuh aus – ein Handgriff, der in der Wüste recht häufig vorkam. Der Sand rieselte, und Kaspar konnte seine Augen nicht von dem grazilen Fußgelenk abwenden. Unter dem Kopfschmuck trug sie lange braune Locken. Ein feingeschnittenes Gesicht, dunkle Augen, Schuhgröße 36. Kaspar trat aus dem Schatten der Palme. «Wie heißt du, meine Schöne?»

Die Angesprochene dreht sich zu ihm um. Ihre Augen – schwarz wie die Nacht – trafen ihn, und Kaspars Herz setzte aus. Wie immer, wenn er die Richtige gefunden hatte.

«Ein Mann? Am Brunnen? Was tust du hier?», fragte sie mit einer Stimme wie Samt.

«Ich biete meine Dienste an.» Mit gemessenen Schritten begann Kaspar, die Frau zu umrunden. Sie drehte sich auf der Stelle, ihre Blicke folgten ihm. Das Wasser hatte sie fürs Erste vergessen. Die Warteschlange rückte ohne sie vor. «Was für ‹Dienste› sind das?»

«Weissagungen jeder Art, Hellseherei, Pferdewetten, das Wetter. Ich liebe die Wettervorhersage für Alexandria: ‹Heiter bis sonnig›, das ganze Jahr lang, man kann einfach nicht falschliegen.»

Die junge Frau lächelte, und zwei zauberhafte Grübchen senkten sich in ihre Wangen. «Und ich dachte schon, du bist einer von den Kerlen, die am Brunnen herumlungern, den Frauen schöne Augen machen und dann weissagen, dass sie noch am selben Tag ihren Liebsten treffen werden.»

Kaspar musste husten. «Solche gibt es?»

Die junge Frau nickte.

«Billige Tricks! Damit will ich nichts zu tun haben!» Er wandte sich zum Gehen.

«Bleib!», rief die junge Frau.

Dankbar hob Kaspar den Blick gen Himmel.

«Ich heiße Tamar.»

«Kaspar.»

«Wirklich?»

«Wirklich.»

«Lustiger Name.»

«Findest du?»

«Ich dachte, Wahrsager sind alt, tragen lange Bärte und Namen wie Nostradamus oder Sybill Trelawney.» Kaspars irritierter Blick amüsierte Tamar. Lachend bog sie den Kopf zurück und präsentierte ihm eine Gazellenkehle, die Kaspar um den restlichen Verstand brachte.

Von der Seite keifte eine Stimme. «Stehen Sie nun an oder nicht?» Es war ein Weib mittleren Alters. Durch Ehe und Schwangerschaften hatte sie die Figur einer in der Sonne vergessenen Götterspeise angenommen. Logisch, dass sie auf schlanke junge Dinger nicht gut zu sprechen war …

Kaspar nahm Tamar die Amphore aus der Hand und begab sich statt ihrer in die Wasserschlange. Er zwinkerte ihr zu und sagte: «Warte unter der Palme auf mich! Es wird nicht lange dauern.»

 

Als Kaspar mit der gefüllten und verkorkten Amphore auf der Schulter neben sie trat, wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Sein Kopf war rot angelaufen, die letzte halbe Stunde hatte er in der prallen Sonne gewartet. Tamar lächelte dankbar, und Kaspar vergaß den Sonnenbrand und alle Mühsal. «Entschuldige bitte die miserable Vorhersage!»

«Was?»

«Dass es nicht lange dauert. Die Witwe vor mir hatte aus Versehen eine volle Amphore dabei und musste sie erst ausgießen», brachte Kaspar eine schwache Entschuldigung an. Tamar schaute auf ihren Unterarm, wo sie eine von diesen neumodischen Armsanduhren trug. Mit der Fingerspitze drehte sie das kleine doppelbauchige Gefäß auf dem Zifferblatt einmal herum. «Zwölf Umdrehungen – kein Problem.»

Kaspar atmete auf.

«Darf ich auch eine Prophezeiung wagen?», fragte Tamar lächelnd.

Kaspar nickte.

«Du hilfst mir, die Amphore nach Hause zu tragen.»

«Hey», sagte Kaspar, «Naturtalent!»

Tamar ging voran. Kaspar wuchtete die Amphore wieder auf seine Schulter und versuchte mit ihr Schritt zu halten.

«Legst du dich immer so ins Zeug, wenn du eine Frau kennenlernen willst?», fragte Tamar.

«Es hält schlank», keuchte Kaspar.

«Bist du wirklich Wahrsager? Oder gehört das zu deiner Anmache?»

Kaspar blieb stehen, ließ die Amphore in den Sand plumpsen und verschränkte die Arme. «Willst du mich beleidigen?»

Tamar strich ihm beschwichtigend über den Arm. «Verzeih, Kaspar. Aber tragen Wahrsager nicht Kristallkugeln oder Krokodilknochen mit sich herum?»

Kaspar winkte ab. «Dilettantenkram.»

«Du bist also Experte?»

Kaspar nickte. «Zuerst hatte ich mich auf die Beobachtung des Vogelflugs spezialisiert. Aber die Flecken gehen so schwer wieder raus.»

«Igitt», kicherte Tamar.

«Dann habe ich mich toten Vögeln zugewandt, genauer gesagt der Innereienprophetie. Aber in der Sonne fangen die an zu stinken.»

«Und ich dachte schon, mein Vater hätte einen ekligen Beruf!»

«Was ist er denn?»

«Mumifizierer.»

«Gut», sagte Kaspar. «Gehen wir zu mir.»

«Zu deinen Vogelinnereien?»

«In Kombination mit einem Gebratene-Tauben-Imbiss ist das unschlagbar! Dachte ich. Aber wer steht schon auf gebratene Tauben bei vierzig Grad im Schatten?»

Tamar lachte. «Und dann?»

«Ich wollte auf Kaffeesatzlesen umschulen, aber es gibt noch keine Kaffeemühlen. Also habe ich mich auf Sterndeuterei spezialisiert. Ein Traumberuf!»

«Und tagsüber …»

«… deute ich Frauen», vollendete Kaspar Tamars Gedanken.

«Das ist sehr nett von dir.» Tamar verzog die Miene zu einem Lächeln, das offenließ, ob sie gedeutet werden wollte.

Kaspar hob die Amphore wieder auf und schwang sie sich auf den Rücken. So überquerten sie den Alex – das Alexandria-Forum. Tempel reihte sich an Tempel, Kultstätte an Kultstätte. In der ägyptischen Hafenstadt stießen alle bekannten Kulturkreise mit einem lauten Rums zusammen. Und jeder hatte seine Religion im Gepäck: Zoroaster, Mithras, Athos, Portos und Aramis, Melechem und Methusalem – alle Götter waren vertreten. Es gab Reliquien und Reinkarnationen, Devisen und Visionen, Happy Hour und Horus Hour. Ja sogar McTempel, wo die Stiere im Vorbeifahren geopfert wurden.

Als sie an einem Gotteshaus mit dem Weihespruch ‹Isis is Kult› vorbeikamen, hielt Tamar inne und lies Kaspar verschnaufen. Schwer atmend setzte er die Amphore ab. Tamar entkorkte sie, benetzte ihre Handflächen und legte sie auf Kaspars Wangen. Während sie das Wasser mit langsam kreisenden Bewegungen verrieb, fragte sie: «Bist du ein Jude?»

Die Frage nach der Religionszugehörigkeit war in Alexandria die alles entscheidende, wenn man ernsthafte Absichten verfolgte. Denn unterschiedliche Ehezeremonien in ein und derselben Hochzeitsfeier waren lebensgefährlich. Einige radikale Kulte opferten die Zukünftige den Göttern – doch die würden sicher bald aussterben.

«Früher war ich Jude», sagte Kaspar, «heute bin ich Gott.»

Nach einem Schreckmoment lachte Tamar ihn aus. «Und größenwahnsinnig, was?»

Kaspar schüttelte den Kopf. «Warst du schon mal in einer Synagoge? Weißt du, wie man die Juden nennt?»

Nun war es an Tamar, den Kopf zu schütteln.

«Das Volk des Buches», erklärte Kaspar. «Lesen, lesen, lesen. Die tun nichts anderes. Und das Leben fließt an ihnen vorbei. Deshalb habe ich mir vor ein paar Jahren mit zwei Kumpels eine eigene Religionsmannschaft gegründet.»

«Ach», sagte Tamar unbestimmt.

«Wir nennen uns ‹Wir sind Gott›. Das ist trendy und kommt aus Fernost.»

«Wie alles heutzutage», seufzte Tamar.

«Ja, aber es geht nicht so schnell kaputt. Im Gegenteil. Unser Gott ist extrem haltbar. Denn er pflanzt sich fort!»

Tamar sah ihn scheu von der Seite an.

«Balthasar, unser Ein-Mann-Ältestenrat, hat lange in Indien gelebt», legte Kaspar sich ins Zeug, «das liegt in Richtung Petra und dann rechts. Ziemlich meschugge die Leute da. Die glauben, dass man Gott in sich trägt und wiedergeboren wird. Am besten, du kommst mal mit zum Gottesdienst. Da drüben ist übrigens unser Tempel.» Mit der freien Hand deutete Kaspar auf ein hölzernes Gebäude, das sich den Titel Bretterbude erst noch erarbeiten musste. Doch über allem Krummen und Schiefen wölbte sich ein elegantes, auskragendes und nach den Ecken hin lasziv geschwungenes Dach.

«Nennt sich Pagode», erläuterte Kaspar. «Echt indisch.»

«Seit wann sind Tempel aus Holz?»

«Alles ist vergänglich – sagt Balthasar.»

«Ach.»

«Das hat er aus Fernost.»

«Das Holz?»

«Nein, die Sprüche. Zu jeder Lebenslage die richtige Weisheit. Die haben’s drauf, die Inder. Und jeder, der am Gottesdienst teilnimmt, wird automatisch Teil von Gott.»

«Und daran glaubt ihr?»

«Klar doch. Und du?», fragte Kaspar zurück.

«Zoroaster», antwortete Tamar.

«Echt?» Kaspar lachte auf. «Krass, ich hätte auf Jüdin getippt.»

«Nur weil ich eine Brille trage?»

«Du trägst keine Brille. Brillen gibt es erst im Mittelalter!»

«Was ist das Mittelalter?»

Kaspar winkte ab. «Vergiss es. Keine schöne Epoche. Vor allem nicht für rothaarige Frauen.»

Tamar zupfte an ihren schwarzen Locken. Ihre Blicke schleuderten Blitze. «Du stehst also auf Rothaarige?»

Kaspar zuckte mit den Schultern und wusste nichts zu sagen außer «Pchäähhh».

Tamar zog unlustig am Henkel der Amphore. «Das wird nichts mit uns. Du bist Gott in einer Holzhütte, und ich glaube an das heilige Feuer.»

«Hey!», sagte Kaspar und gab die Amphore nicht her. «Lass es uns probieren: Dein heiliges Feuer in meiner Holzhütte.»

Tamar musste lachen. «Bist du wahnsinnig? Man würde es für einen Anschlag halten!»

«Na und? Das passiert in Indien alle Tage», sagte Kaspar und fiel in ihr Lachen ein. Dann wurde er wieder ernst. Sie schwiegen eine Weile und warfen sich Blicke zu. Lasziv ließ Tamar die Spitze ihres Zeigefingers über die Wölbung der Amphore gleiten, dann sprang sie wie beiläufig hinüber auf Kaspars Brust. Kaspar spannte seine Muskeln an. Tamar deutete mit einem Kopfnicken auf den ‹Wir sind Gott›-Tempel. «Wenn bei euch jeder Gott sein darf, rennen sie euch doch die Bude ein!»

«Noch reicht der Platz», antwortete Kaspar ausweichend. Er fand, dass das Gespräch eine ungünstige Wendung nahm. Also wandte er sich ab und stapfte mit geschulterter Amphore durch den Sand. Kaspar war Tamar einige Schritte voraus, sodass sie ihm spöttisch hinterherrief: «Dass sich ein Gott nicht zu schade ist, Wasserkrüge zu schleppen!»

«Es wird einer kommen, der ist größer als ich, da wird es umgekehrt sein», erklärte Kaspar keuchend. «Den wird das Wasser tragen!»

Tamar konnte kaum Schritt halten. «Warum hast du’s auf einmal so eilig?»

Kaspar warf einen Blick zum Horizont. «Die Sonne geht bald unter.»

«Ja und? Hast du noch einen Zweitjob in einer Bar?»

«Ich bin Sterndeuter, falls du’s vergessen hast!»

Tamar blieb stehen. «Du siehst etwas, wenn andere nichts sehen?»

«Jepp», bestätigte Kaspar, «schön gesagt, so könnte man es ausdrücken.»

«Du hast was auf dem Kasten», sagte Tamar. «Sterndeuter, Wasserträger – und Gott!»

«Priester und Heiliger nicht zu vergessen. So viel Zeit muss sein.»

«Und Herzensbrecher», seufzte Tamar leise, aber so, dass Kaspar es nicht überhören konnte. Er grinste breit.

 

Bevor sie Tamars Haus erreichten, bat sie Kaspar, ihr die Amphore zu überreichen. Sie erklärte, sie habe sehr strenge Eltern. Als er ihr die Amphore in die Arme gedrückt hatte und sie sich nicht wehren konnte, landete seine Hand wie zufällig auf ihrer Hüfte. «Magst du später in meine Hütte kommen?», fragte Kaspar.

Tamar sah ihm amüsiert ins Gesicht. «Und? Werde ich kommen? Wie lautet deine Vorhersage?»

«Klar. Wirst du.»

«Und warum?»

«Weil du neugierig bist. Jede Frau möchte gedeutet werden. Jede.»

«Du kannst wirklich in den Sternen lesen?»

«Na klar. Ich habe das letzte Nilhochwasser auf den Tag genau vorhergesagt und dass Octavian römischer Kaiser wird.»

«Also gut, ich werde da sein. Nach Sonnenuntergang. Vorher lässt mich meine Mutter nicht weg.»

Kaspar malte einen kleinen Stadtplan in den Sand und stach schließlich mit dem Zeigefinger hinein. «Meine Hütte findest du hier.»

«O Kaspar, du bist wie alle Männer!»

«Nein, wirklich. Ich schwöre, bei Gott!»

«Du schwörst – bei dir selbst?»

«Von mir aus: bei allen Göttern. Sogar bei deinem Zoroaster, wenn’s genehm ist. Und allen, die noch kommen werden.»

Tamar sah ihm tief in die Augen. Dann umschlang sie die Amphore, presste sie fest gegen ihren Leib und schlenderte davon. Gedankenverloren sah Kaspar ihr hinterher, bis sie in der Hütte verschwunden war. Dann rieb er sich die Hände und ging nach Hause.

Date unterm Sternenhimmel

«Ringring», sagte Tamar, als sie vor Kaspars Hütte stand, denn es gab noch keine Türklingeln. Überhaupt herrschte im antiken Alexandria ein ziemlicher Mangel an allem. Es gab nur ganz selten Schnee und niemals Glatteis. Das war bedauerlich, denn bei Glatteis hätte man wenigstens gewusst, wohin mit dem vielen Sand. Aber das nur am Rande …

«Herein», rief Kaspar, und Tamar trat ein.

Er trug einen leichten Umhang, der mit einer Hüftkordel gebunden war. In der Ecke saß ein Flötenspieler unter einem Jutesack. Die Töne klangen gedämpft unter dem Stoff hervor.

«Warum trägt der Flötenspieler einen Sack über dem Kopf?»

Kaspar wurde rot. «Damit er nichts sieht. Ich hasse neugierige Musiker. Alles Spanner.»

«Was sind Spanner?», fragte Tamar.

«Menschen, die zu viel sehen.»

«Ach. Und das musst du gerade sagen?» Tamar tat einen Schritt in den Raum. Dann musste sie anhalten, um nicht ins Bett zu fallen. Eigentlich bestand das ganze Zimmer aus Bett. Kaspar eilte in die Küche und kehrte mit zwei Tonbechern zurück. Tamar war unschlüssig, ob sie sich setzen sollte.

«Ich kenne mich mit Zoroastriern nicht aus. Trinkt ihr Alkohol?»

Tamar nahm ihm das Gefäß aus der Hand und kippte es hinunter.

«Ihr trinkt Alkohol», stellte Kaspar fest.

«Brrr. Was ist das?» Tamar schüttelte sich.

«Pharaonentod», erklärte Kaspar. «Vergorene Kamelmilch mit gestampftem Zuckerrohr und kubanischem Rum. Der letzte Schrei in Delhis Bars.»

«Dieser Delhi scheint ein schlimmer Finger zu sein», sagte Tamar.

Kaspar hielt sein volles Trinkgefäß noch in der Hand. «Auf uns», sagte er dann und nippte zaghaft.

«Darf ich noch eins?», fragte Tamar. Ihre Zunge war schon ein bisschen schwer.

Und Kaspar dachte: Jungfrau.

Tamar kicherte und sagte: «Weißt du, was komisch ist?»

In deinem Zustand? – Alles!, dachte Kaspar.

Tamar ließ sich von Kaspars Gedanken nicht beirren und erklärte: «Eigentlich trinken wir Zoroastrier keinen Alkohol.»

«Das hatte ich befürchtet», sagte Kaspar nüchtern, erhob sich rasch und begab sich in die Küche. Im Hinausgehen gab er dem Flötenspieler, der unter seinem Sack zu schnarchen begonnen hatte, einen Tritt. Mit einem schrillen Fiepen setzte die Musik wieder ein.

«Rückkopplung!», kicherte Tamar und fasste sich dann an den Kopf. «Was rede ich da? Ich weiß nicht einmal, was das ist!»

Kaspar stampfte lustlos braunen Zucker in Tamars Becher. Man musste kein Sterndeuter sein, um den weiteren Verlauf des Abends zu erahnen. Es würde ein Sieg werden – aber kein Triumph. Er hörte Tamar lallend aus dem Schlafzimmer rufen: «Kaspar, was ist das? Mir ist so schwindlig!»

«Leg dich aufs Bett!», rief Kaspar zurück und stampfte weiter. Das war definitiv ihr letzter Pharaonentod, entschied er.

Als er neben das Bett trat, war ihr Blick schon glasig.

«Kaspar», lallte Tamar, «ich sehe Sterne.»

Er reichte ihr den Becher, den sie erneut, ohne abzusetzen, hinunterkippte. Dann starrte sie wieder nach oben. «Kaspar», lallte sie, «gibt es längliche, strohförmige Himmelskörper?»

Kaspar legte sich neben sie und schaute ebenfalls nach oben. Es war nichts zu sehen außer der Innenseite des Hüttendaches. Bastmatten aus Hunderten schlanker, strohiger Halme.

Kaspar grinste. «Warte», sagte er und tastete nach einer Strippe, die neben dem Bett baumelte. Mit einem kräftigen Ruck zog er daran, und leise raschelnd rollten sich die Bastmatten auf. Durch die Dachstreben hindurch öffnete sich der Blick in den Nachthimmel.

«Wow!», sagte Tamar und schien wieder ein wenig nüchterner zu sein. «Ist das echt?»

Kaspar nickte. «Ich nenne es den ‹Cabrio-Effekt›.»

«Was bedeutet das?», fragte Tamar.

«Weiß nicht. Aber es klingt gut, findest du nicht?»

Mit einem Griff löste er die Brosche, die Tamars Gewand über der Schulter schloss. Der Stoff war so weich, dass er, vom eigenen Gewicht hinabgezogen, über Tamars Schulter glitt. Kaspar strich über ihre nackte Haut.

«Du hast einen wunderbaren Beruf!», lallte Tamar.

«Der Meinung bin ich allerdings auch», bekräftigte Kaspar.

«Nacht für Nacht himmlische Körper anschauen», seufzte Tamar, den Blick in die Sterne gerichtet.

«Es gibt nichts Schöneres!», bestätigte er und beugte sich über sie.

Da schnellte Tamar mit einem Schrei nach oben. Reflexartig wich er zurück und fiel fast von der Matte.

Tamar saß aufrecht wie eine Salzsäule. «Siehst du das, Kaspar?» Aufgeregt deutete sie in den Himmel. Kaspar folgte ihrer Geste und sah es nun auch: Zwei Sterne näherten sich einander und vereinigten sich mit einem dritten. Ihr Licht ließ die Kammer erstrahlen.

«O Sirius!», seufzte Kaspar.

«Ich heiße Tamar», sagte Tamar.

Kaspar ließ sich nicht beirren. «Conjunctio Cani Maior», murmelte er vor sich hin.

Tamar starrte mit offenem Mund nach oben. «Kaspar, ich bin keine Expertin, aber ich sage dir: Das hat etwas zu bedeuten!»

«Zweifellos.»

«Aber was?»

«Ich habe darüber gelesen, in der Bibliothek von Alexandria.» Kaspar versuchte sich zu erinnern. Aber sosehr er sich auch anstrengte, was sich stets in den Vordergrund drängte, war diese kleine Bibliothekarin … Da wurde sein Kopf mitsamt der angenehmen Erinnerung herumgerissen. Tamar hatte ihn in beide Hände genommen und küsste ihn leidenschaftlich. Kaspar erwiderte den Kuss ohne Eifer und entwand sich dann ihren Händen, um das atemberaubende Himmelsschauspiel zu betrachten.

Tamar machte einen Schmollmund. «Kaspar, was hat das zu bedeuten?» Sie ließ offen, ob sie die Sterne meinte.

Und jetzt wusste Kaspar auch eine Antwort: «Das hat zu bedeuten, dass ich zu Balthasar muss.»

«Balthasar?»

«Ja, mein Kumpel, mit dem zusammen wir Gott sind.»

«Kaspar, ich verstehe kein Wort.»

«Das liegt am Pharaonentod.»

«Hast du noch einen?»

Kaspar schüttelte den Kopf. «Pass auf», beruhigte er Tamar, «ich gehe zu Balthasar und berichte ihm, was wir gesehen haben. Er wird wissen, was zu tun ist. Du bleibst hier und rührst dich nicht vom Fleck. Ich bin gleich wieder da.»

Zum Abschied gab Tamar Kaspar noch einen Kuss. «Lass mich nicht so lange allein!», flehte sie.

«Nicht länger als notwendig», sagte Kaspar.

Er griff nach seinem Bündel und eilte hinaus. An der Tür gab er dem Musiker einen Tritt. «Und wehe, du nimmst die Flöte aus deinem Mund!»

Der Sack nickte und grummelte etwas Unverständliches.

 

Balthasar hauste in einer bescheidenen Hütte neben dem Tempel von ‹Wir sind Gott›. Als Kaspar sie erreichte, stand der greise Weise mit seltsamen goldsilbernen Folien vor den Augen unter dem Pagodendach und starrte in den Himmel. Er war nicht der Einzige. Halb Alexandria war auf den Beinen, um das Schauspiel zu beobachten.

«Jupiter und Saturn im Haus der Fische. Und Sirius im zweiten Zodiakal», murmelte Balthasar.

Kaspar dagegen starrte begeistert auf Balthasars Folien. «Wie cool! Baust du mir auch so eine?»

Balthasar musterte ihn vorwurfsvoll. «Man kann doch eine Sternenkonstellation, die alle zwölftausendsiebenhundertdreizehn Jahre auftritt, nicht ‹bauen›!»

«Ich meine die Sonnenbrille», sagte Kaspar und zeigte auf das gute Stück. «So etwas kenne ich nur aus der Zukunft!»

Balthasar sah auf die Brille in seiner Hand und reichte sie kurzerhand Kaspar. «Ich schenke sie dir.»

Kaspar setzte sie gleich auf und sah nach oben. Tatsächlich, die Sterne, die mit bloßem Auge wie zu einem einzigen verschmolzen zu sein schienen, waren nun klar gegeneinander abzugrenzen. «Wow!», sagte Kaspar.

«Das kannst du laut sagen», bemerkte Balthasar stolz. «Darauf haben wir mehr als zwölftausend Jahre gewartet.»

«Aber was hat das zu bedeuten?»

«Wer von uns beiden ist denn der Sterndeuter?», fragte Balthasar und zog die Augenbrauen zusammen.

«Aber du bist der Bücherwurm», suchte Kaspar Ausflüchte, «und außerdem warst du in Indien …»

Balthasar raufte sich den Bart. «Ja, ich erinnere mich. Es stand in den Schriften und in den Untertiteln einiger indischer Tempelfriese …»

Ein geheimnisvoller Akkord ertönte, um Balthasars Rede zu unterstreichen. Kaspar sah sich um, es war aber kein Musiker in der Nähe. Nicht einmal einer mit Sack über dem Kopf. Balthasar schien nichts bemerkt zu haben. Er fuhr fort: «Die Inder erwarten in diesen Tagen die Wiedergeburt Buddhas. Dazu rollen sie mit den Augen und wackeln mit dem Kopf – was in Indien nichts Besonderes ist, das machen sie immer. Aber diese Konstellation», und Balthasar deutete kopfwackelnd zum Himmel, «ist etwas Besonderes. Sie bezeichnet den Ort, an dem ein Kind geboren wird, ein besonderes Kind …»

«Und wo befindet sich der Ort? Etwa in Indien?»

Balthasar sah mit zusammengekniffenen Lidern gen Himmel. Dann nahm er Kaspar die Brille wieder von der Nase und setzte sie selbst auf. Mit einer herrischen Handbewegung unterband Balthasar Kaspars Protest. Er starrte auf die Himmelserscheinung. «Das sieht nicht nach Indien aus!»

«Warum nicht?»

«Kein Curry weit und breit.»

Kaspar wollte nach der Brille greifen. «Dann kann ich sie ja jetzt wieder … autsch!» Eine Hand hatte nach Kaspars Arm gegriffen. Eine Hand, schwarz wie die Nacht. Ein Mann, noch schwärzer als die Nacht, stand neben Kaspar.

«Dass du dich immer anschleichen musst, Melchior!», protestierte Kaspar.

Melchior grinste. Eine perfekte Zahnreihe funkelte in der Dunkelheit. «Ich dachte, du bist Wahrsager?»

«Hör auf, mich zu ärgern», presste Kaspar hervor und versuchte seinen Arm aus Melchiors Zangengriff zu befreien.

«Du wirst ihm dieses Sternguckdings nicht wegnehmen, kapiert!» Melchior verstärkte den Griff noch. Er wirkte sehr entschlossen.

«Hör auf! Du brichst mir noch die Hand!», beschwerte sich Kaspar.

«Seid ruhig und hört auf zu streiten!», wies Balthasar die beiden zurecht. «Ich kann nichts hören!»

«Seit wann hört man die Sterne?», fragten sich Kaspar und Melchior und warfen sich Blicke zu. Balthasar legte noch einmal den Finger auf den Mund, und beide verstummten respektvoll. Balthasar bewegte die Lippen, und Töne erklangen, die nicht aus Balthasars Kehle stammten: «Ein Kind wird geboren werden», sprach eine Stimme wie das Flüstern des Windes. «In einem Stall zu Beit-Lehem.»

«Wer sagt das?»

«Die Engel», antwortete Balthasar mit größter Selbstverständlichkeit.

«Na klar, die Engel», höhnte Kaspar. «Ich hab auch einen Engel. Der räkelt sich auf meiner Matte und …»

«Wo liegt dieses verdammte Beit-Lehem?», fiel ihm Melchior ins Wort. Er konnte es nicht ausstehen, wenn Kaspar mit seinen Frauengeschichten prahlte.

Balthasar hatte derweil eine Wüstenkarte entfaltet und im Straßenstaub ausgebreitet. Seine Finger glitten über die Route der Rallye Paris–Dakar – denn die war wenigstens eingezeichnet. «Keine Ahnung», sagte Balthasar und wackelte mit dem Kopf.

«Soll ich’s googeln?», fragte Melchior.

Balthasar winkte ab. Immerhin galten sie als weise und hatten einen Ruf zu verteidigen.

«Moment mal», sagte Kaspar und schaute von einem zum anderen, «ihr wollt doch da nicht etwa hin?»

Balthasar und Melchior sahen sich an. «Was sonst? Ein Kind ist eine gute Werbung, vor allem, wenn es heilig ist!»

Balthasar nickte, dass sein Bart knisterte. «Noch einmal zwölftausend Jahre kann ich nicht warten!»

«Aber ich habe in Alexandria zu tun», sagte Kaspar und dachte an Tamar.

Balthasar ergriff Kaspars Hände. «Seit zig Generationen wartet die Menschheit auf diesen Moment. Juden, Buddhisten, Bischöfe und andere Höfe, Straßenplaner und Marketing-Fachleute – und du willst dir das entgehen lassen?»

«Ich habe mir schon ganz andere Sachen entgehen lassen!», sagte Kaspar versonnen. «Und wenn es um ein Kind geht, das kann ich auch selber machen.»

Balthasar und Melchior schüttelten die Köpfe. «Nicht so eines!»

«Ehrlich gesagt: Ich mag keine Kinder», grummelte Kaspar verlegen.

Balthasar entließ Kaspar, stieß ihn regelrecht von sich. «Dann ist dir nicht mehr zu helfen!» Er wandte sich zu Melchior um. «Melchior?»

«Aye, Sir!»

«Mein Kamel ist leider in der Werkstatt. Wann öffnet der Kamelverleih?»

«Wenn die Palmen den Morgenschatten werfen.»

«Wir werden uns drei Kamele leihen …»

«Zwei», korrigierte Kaspar.

«Drei», beharrte Balthasar, «… und uns der Morgenkarawane nach Yeruscholaim anschließen.»

«Ich dachte Beit-Lehem?», warf Kaspar ein.

«Das ist ein Kuhkaff, dahin geht keine Karawane. Aber Yeruscholaim liegt ganz in der Nähe. Müssen wir eben umsteigen.»

«Ich will nicht nach Indien!», beharrte Kaspar. «Ich vertrage das scharfe Essen nicht. Und außerdem finde ich es albern, sich bunte Punkte auf die Stirn zu malen!»

«Jungs, Jungs», schüttelte Balthasar den Kopf. «Ihr wisst nicht einmal, wo Yeruscholaim liegt!»

Kaspar und Melchior senkten schuldbewusst die Köpfe.

«Na egal», sagte Balthasar mit einer abfälligen Handbewegung. «Die Sterne werden uns den Weg weisen!»

«Wo liegt es denn?», erkundigte sich Melchior vorsichtig.

«Es liegt», sagte Balthasar und machte eine Kunstpause, um die Bedeutung zu unterstreichen, «im Heiligen Land.»

«Da muss ich wohl das kleine Schwarze einpacken?», fragte Melchior.

«Das kleinste Schwärzeste», nickte Balthasar. «Und vergiss nicht, einen Dolch einzustecken!»

«Wieso?», fragten Kaspar und Melchior wie aus einem Mund.

«Weil es Römergebiet ist.»

«Woa», sagte Melchior bewundernd.

Kaspar zog eine Augenbraue in die Stirn. «Römer?»

«Ja», bestätigte Balthasar. «Das brutalste Volk des Erdballs.»

«Die Schönheit der Römerinnen ist legendär», murmelte Kaspar vor sich hin.

«Du hättest Hebamme werden sollen! Nicht in die Sterne gucken, sondern …» Weiter kam Melchior nicht, denn Kaspar hatte sich auf ihn gestürzt. Ringend wälzten sie sich im Sand.

«Also bitte, Kinder!», rief Balthasar und klatschte in die Hände, «das ist nicht die Zeit für alberne Spiele. Wir müssen packen!»

 

Als Kaspar die Decke zurückzog und Tamar einen Kuss auf das Schulterblatt drückte, räkelte sie sich. Wie zufällig legte sie ihm den Arm in den Nacken, drehte sich zu ihm um, zog seinen Kopf zu sich herab und gab ihm einen leidenschaftlichen Kuss.

«Kaspar, du warst wunderbar», schnurrte sie.

Kaspar setzte sich auf. «War ich das wirklich?»

Tamar wollte ihn wieder zu sich herunterziehen. Doch Kaspar war die Lust vergangen. Er nahm sich vor, am nächsten Tag den Musiker zu besuchen, den Lohn zurückzuverlangen und gegen einen kräftigen Fußtritt einzutauschen.

«Komm, bitte», flehte Tamar. Ihr Atem streifte sein Gesicht. Kaspar rümpfte die Nase. Alkohol im Atem war etwas für die Nächte, in denen man selbst so betrunken war, dass es nicht mehr störte.

«Muss packen», sagte er kurz angebunden.

«Das hat doch Zeit», bat Tamar. Sie zog und zerrte an seinem Kaftan, war allerdings zu betrunken, um ihn zu entkleiden. Also gab sie auf und lallte stattdessen: «Ich kann für dich packen … Wir sind doch wie Mann und Frau – jetzt!»

«Schlag dir das aus dem Kopf», schrie Kaspar panisch. Und dachte: Soll sie doch den Musiker heiraten! «Wir müssen uns trennen. Ich werde gleich morgen früh ins Heilige Land reisen.»

«Du auch?»

«Wer noch?»

«Na, ist es nicht das, was die Sterne sagen: Ein Kind wird geboren werden in Beit-Lehem, im Lande Judäa?»

Kaspar stutzte. «Woher weißt du das?»

«Alte zoroastrische Weissagung, steht bei uns auf jedem Tempelfries. Kaum dass du draußen warst, kam die Erinnerung.»

«Na prima», sagte Kaspar lakonisch, «ich werde trotzdem fahren.»

«Nicht ohne einen Abschiedskuss», sagte Tamar und zog ihn aufs Bett.

Im Niederfallen ergriff Kaspar die Strippe. Mit einem Rascheln schlossen sich die Bastmatten über dem Bett. Und auch die Lippen des Erzählers schließen sich an dieser Stelle gnädig, um von den Dingen, die sonst noch in dieser Nacht geschahen, beredt zu schweigen.

Nach Yeruscholaim!

Obwohl es noch tief in der Nacht sein musste, waren Alexandrias Gassen, Plätze und Strandbars hell erleuchtet. Genau wie es die Schriften prophezeiten, dachte Balthasar und atmete tief durch. Die Luft war kühl und trocken. Er ließ sein Bündel in den Sand vor dem Tempel von ‹Wir sind Gott› sinken. Doch Alexandrias Bewohner schliefen anscheinend – noch!

Balthasar sah sich um und zog einen Hammer aus den Falten seines Gewandes. Dann warf er sich die Spitze seines Barts über die Schulter, entrollte den Papyrus über den Latten der Tempelbude und zog einen von den Nägeln heraus, die er sich zwischen die Lippen geklemmt hatte. Mit kräftigen Schlägen trieb er ihn in die obere Ecke des Papyrus. Darauf stand, in Hieroglyphen geschrieben:

Jetzt seid IHR Gott –

WIR sind im Urlaub.

00 * Kaspar + Melchior + Balthasar * 00.

Er trat einen Schritt zurück und betrachtete sein Werk. Dann zog er einen weiteren Papyrus unter dem Arm hervor und einen neuen Nagel. Aber bevor er loshämmern konnte, beugte sich der Mithraspriester vom Tempel gegenüber aus dem Fenster. Dessen Bart war noch länger als Balthasars, er hing fast bis zur Türschwelle. «Hey, Ketzer, weißt du eigentlich, wie spät es ist?», rief er.

«Für Leute, die an Stiere mit albernen Mützen glauben, immer zu spät!» Unbeirrt entrollte Balthasar den zweiten Papyrus:

Geänderte Öffnungszeiten:

Mo–Fr geschlossen. Sa (Shabbat) und So geschlossen.

Gott.

Balthasar holte aus.

«Ruhe jetzt, sonst hole ich die Wachen», geiferte der Mithraspriester, und Balthasar wünschte ihm einen schmerzhaften Tod. Dann verlieh er sich die Absolution für diesen gottungefälligen Wunsch. Wie enorm praktisch es doch ist, ein Teil von Gott zu sein, dachte er bei sich und hämmerte drauflos. Die Bretterbude wankte bedenklich. Ein Zimmermann würde ‹Wir sind Gott› guttun, dachte Balthasar. Ein Kind oder ein Zimmermann – am besten beides!

Balthasar nahm sein Bündel, schwang es über die Schulter und ging. Den Fluch, den der Mithraspriester ihm nachrief, überhörte er. Flüche von Mithraspriestern waren ohnehin wenig wirkungsvoll, weil Mithras einer der schwächeren Götter war. Ein Stiergott!, dachte Balthasar und schüttelte den Kopf. Der würde bald vergessen sein.

 

Derweil eilte Melchior barfuß, aber mit weit ausgreifenden Schritten durch die um diese Zeit noch ziemlich verlassenen Gassen Alexandrias. Als er um die Ecke des Forums bog, erstarrte er. Der Platz vor ‹Afrikamel›, dem größten Kamelverleih des Orients, war voller Menschen. Die Menge wogte und tobte, alles strebte auf eine noch verschlossene Tür zu, man prügelte sich um die besten Plätze im Wartekollektiv. Melchior trat einen Schritt zurück und suchte Schutz im Schatten der Hütten. Als er sich gefasst hatte, löste er sich von der Häuserwand und schritt beherzt auf das Ende der Schlange zu. «Guter Mann, wohin wollen alldiese Menschen?», fragte er den Erstbesten, den er in die Finger bekam.

«Nach Yeruscholaim», antwortete der Mann röchelnd. Und fügte sehr freundlich hinzu: «Würden Sie bitte wieder Luft in meine Kehle lassen!»

Melchior lockerte den Griff. «Was zieht denn diese Menschenmassen dorthin?»

Der Mann rieb sich den Hals und sah Melchior an, als hätte der ihn gebeten, die Sandkörner in der Wüste zu zählen. «Weißt du das nicht? Der Messias soll in der Nähe geboren werden! Oder die fünfzehnte Reinkarnation Vishnus. Oder vielleicht auch der Dalai Lama. Oder der Urgroßvater der Panzerknacker. Je nachdem, welcher Religionsgemeinschaft man angehört. In einem kleinen Dorf namens Beit-Lehem.»

«Ganz schön viele Neugeborene für ein kleines Dorf», stellte Melchior sich dumm. Das war eine wahnsinnig originelle Strategie, um mehr aus seinem Gesprächspartner herauszubekommen.

«Irrtum», sagte der Mann prompt. «Es handelt sich um ein einziges Kind. Deshalb wollen ja alle zuerst da sein.»

Melchior nickte beeindruckt. «Woher wissen die das?»

Der Mann deutete zum Himmel. Melchior musste seiner Geste nicht folgen. Er wusste, was da zu sehen war. Eine Sternenshow, hell wie der lichte Tag.

«Verstehe», sagte Melchior. Und dann, etwas leiser: «Und wir haben uns für weise gehalten.»

Der Mann steckte seine Hände in die Falten des Kaftans. Es war noch kühl.

Melchior ließ seinen Blick über die Menschenmenge wandern. Dann entschloss er sich, den Platz zu verlassen, um Balthasar mit der Neuigkeit entgegenzueilen.

Drei Quergassen weiter – hier war es so still und verlassen wie auf einem übergelaufenen Chemieklo – kam ihm ein Mann mit langem weißem Bart entgegen, der sein Gesicht unter einer Kapuze verborgen hielt. Er sah aus wie ein in die Jahre gekommener Hippie. Melchior erkannte ihn am Pilgerstab. In der anderen Hand trug er einen Hammer. «Balthasar, wohin willst du?»

«Schhhh», sagte der Greis und hielt den Hammer vor den Mund. «Sonst weiß es bald die ganze Stadt.»

«Du meinst alle die, die sich noch nicht um einen Platz in der Morgenkarawane nach Yeruscholaim prügeln?»

«Was?»

«Ganz recht, wir sind nicht die Einzigen, die nach Beit-Lehem wollen.» Zum Beweis führte Melchior seinen Mitgott und Ko-Hohepriester zum Rand des Platzes. Von hier aus hatten sie freie Sicht auf den Rummel vor der Tickethütte. «Afrikamel – die schnellsten Karawanen Afrikas», schrie es von einem Werbebanner. Balthasars Miene versteinerte. Dann zog er Melchior rasch wieder in die Deckung der Hütte.

Balthasar war blass wie der Mond. «Wir müssen es schlau anstellen», sagte er dann entschlossen. «Wozu sind wir die Weisen aus dem Morgenland?»

Melchior nickte. «Vorschlag?»

«Wie wäre es mit … einer eigenen Karawane?»

«Hey, ihr!», rief es plötzlich, «braucht ihr Tickets für die Karawane nach Yeruscholaim? Dreihundert römische Denar – Sonderpreis!» Ein schmieriger kleiner Mann, das Gesicht unter einer Kapuze verborgen, hatte sich in ihre Nähe gewagt.

Balthasar verneinte und zog Melchior mit sich fort.

«Eine eigene Karawane ist riskant», sagte Melchior. «Die Wüste Sinai ist bekannt für ihre miserable Beschilderung.»

«Mist», schlug sich Balthasar mit dem Hammer in den Handteller und verzog vor Schmerz das Gesicht. «Warum muss ausgerechnet jetzt mein zuverlässigstes Kamel in der Werkstatt sein?»

«Dein Kamel ist in der Werkstatt?»

«Probleme mit der Verdauung. Ich fürchte, es liegt am Vergaser.»

Melchior machte große Augen.

Balthasar zuckte mit den Schultern. «Ich weiß, es ist eklig, aber du hattest gefragt.»

Melchior schlug ihm so hart auf den Rücken, dass Balthasar den Hammer fallen ließ und hustend einige Schritte nach vorn taumelte. Er versuchte, sich mit dem Pilgerstab im Sand abzustützen, doch er traf leider nur seine Zehen und schrie auf vor Schmerz.

«Das ist es! Das ist die Idee!», rief Melchior, ohne sich von Balthasars Ungeschick irritieren zu lassen.

 

Nur wenige Armsanduhr-Umdrehungen später standen die beiden, ungeduldig mit den Füßen scharrend, die gepackten Reisebündel auf dem Rücken, in der Kamelwerkstatt. Der Kamechaniker rieb sich die tränenden Augen. Er trank einen Aufguss aus getrocknetem Dung, um wach zu werden. Melchior und Balthasar hielten sich die Nasen zu.

«Tut mir leid, Balthasar, dein Kamel ist noch nicht wieder auf dem Damm», wiegelte der Mechaniker ab.

«Dürfen wir es sehen?», fragte Melchior näselnd.

Der Kamechaniker betrachtete sie mit wässrigen Augen durch den aufsteigenden Dungdampf.

«Ich verstehe nicht, was es nützen soll», sagte er skeptisch, «aber gut.»

Der Kamechaniker erhob sich, klimperte mit einem Schlüsselbund und bedeutete ihnen, ihm in die Stallungen zu folgen. Als sie den Raum verließen, nahmen Melchior und Balthasar gleichzeitig die Finger von den Nasen und atmeten tief durch.

Mit einem Knarren schwenkte die Stalltür auf. Überall schnaubte und röhrte es. Der Gestank war bestialisch. Wieder Nasen zuhalten. Der Kamechaniker atmete tief und ruhig. Anscheinend waren seine Nasenschleimhäute entweder vom Dungdampf verätzt oder immun gegen den Gestank.

Balthasar erkannte sein Kamel sofort und trat an die Box. Das Tier sah gotterbärmlich aus. Der Hinterlauf steckte bis zum Kniegelenk in einem Gipsverband.

Melchior machte große Augen. «Verdauungsprobleme? Im Bein?»

«Das hatte ich vergessen: Es ist auch noch auf einen lockeren Gullideckel getreten», erklärte Balthasar und rieb sich die Zehen. Dann drehte er sich zu Melchior um, doch der war schon nicht mehr bei ihm. «Melchior?» Balthasar wandte sich in alle Richtungen. «Melchior?»

«Was seid ihr Burschen eigentlich für welche?» Die Skepsis des Kamechanikers wuchs. «Was genau wollt ihr von mir?»

Darauf wusste Balthasar auch keine Antwort. Stattdessen rief er nach Melchior.

Der stand in einer anderen Stallgasse, am äußersten Ende des weitläufigen Gebäudes. Er hatte drei Kamele entdeckt, die, anders als die anderen, nicht träge und lethargisch in ihren Boxen standen, sondern von einem Fuß auf den anderen trampelten. Das ist es, was wir suchen!, dachte er.

Zügigen Schrittes ging er zurück in den Mittelgang und eilte auf Balthasar und den Kamechaniker zu. Sie empfingen ihn mit skeptischen Mienen.

«Die drei Tiere hinten, in der letzten Gasse. Was ist mit denen?», fragte Melchior.

Der Kamechaniker hob die Augenbrauen und stieß einen Pfiff durch die Zähne. «Die sind stillgelegt. Der Besitzer hatte sie illegal frisieren lassen. Selbst im Stillstand verstoßen die gegen die Wüstenverkehrsordnung. Von denen solltet ihr die Finger lassen, die bringen nur Ärger.»

«Frisiert?» Melchior grinste. «Nehmen wir.»

Der Kamechaniker zuckte mit den Schultern – keine Ablehnung, sondern ein Hinweis auf prinzipielle Bestechlichkeit. Balthasar ließ drei Goldstücke in der Hand klimpern.

Melchior machte große Augen. Er hatte die Münzen erkannt, es waren seltene Exemplare aus Übersee darunter, auch ein paar römische Denar. «Hey, die sind aus der Kaffeekasse von ‹Wir sind Gott›!», protestierte er.

Balthasar winkte ab. «Kein Problem. Ich habe uns die Absolution erteilt. Ist schließlich für einen guten Zweck und dient der Allgemeinheit.»

Der Kamechaniker strich die Goldstücke ein. «In drei Wochen seid ihr wieder hier! Oder die Besitzer reißen zuerst mich in Stücke – und dann euch.»

Balthasar winkte ab. «Schaffen wir. Locker.»

Melchior suchte in der Stallgasse nach Stricken und Halftern.

«Da ist noch etwas, das ihr wissen solltet», druckste der Kamechaniker herum. «Die Navis sind im Arsch.»

Balthasar winkte ab. «Kein Problem, wir folgen dem Stern.»

«Nein», der Kamechaniker winkte ab, «ich meine, die Bedienung des Navigationssystems erfolgt über den – Anus.»

Melchior und Balthasar sahen sich an und rümpften die Nasen.

«Es sind Prototypen. Ich glaube nicht, dass sich das durchsetzen wird. So wie ihr reagieren die meisten.»

«Gut», sagte Balthasar mit der Geduld eines sehr weisen Weisen, «wir nehmen sie trotzdem. Wir …», schon bei dem Gedanken daran musste er würgen, «werden das Navi nicht benutzen.»

«Wie ihr wollt», sagte der Kamechaniker und überließ die Weisen ihrem Schicksal.

In Windeseile sattelte Melchior die Kamele. Als sie fertig waren, ging die Sonne auf. Die kam ordentlich ins Schwitzen bei dem Versuch, die Sternenkonstellation zu überstrahlen.

«Braucht ihr eine Kaskoversicherung?», rief ihnen der Kamechaniker zu, als sie schon aufbrechen wollten.

«Was ist das?»

«Falls das Kamel stehenbleibt oder sich ein Bein bricht, bekommt ihr Esel als Ersatz.»

«Ach was», rief Melchior zurück. «Wird schon nichts passieren. Wir begeben uns in Gottes, also unsere, Hände.»

Mit diesen Worten saßen sie auf. Die Kamele fielen sogleich in einen angenehmen Trab. «Wow!», rief Melchior und wedelte mit dem Kamelziemer. «Das nenne ich Beschleunigung!»

Balthasar hatte seinen Pilgerstab an der Seite verstaut und schaute recht zuversichtlich in den Morgen. Dann verfinsterte sich seine Miene. «Melchior?»

«Musst du Pipi? Jetzt schon?»

«Nein. Aber wo steckt Kaspar?»

 

Als der erste Sonnenstrahl seine Wange streichelte, schnellte Kaspar hoch. «Mist!», zischte er, «verdammter!» Er sprang aus den Decken. Tamar grummelte mit geschlossenen Augen und wickelte die losen Stoffbahnen wieder enger um ihren Körper.

In aller Eile raffte Kaspar das Nötigste zusammen: Rasierpinsel, Kaftan, Sonnencreme und einen Zauberwürfel, um sich die Langeweile zu vertreiben.

Als er alles beisammen hatte und schon auf der Schwelle stand, konnte er nicht umhin, einen letzten Blick auf die Schlafende zu werfen. Er wandte sich um – und erschrak. Die vermeintlich Schlummernde saß mit verschränkten Armen im Bett. «Hätte ich mir ja denken können, dass du so einer bist!»

Die von keinerlei Textil entstellte Schönheit, gepaart mit trotzigem Stolz, verschlug Kaspar den Atem. Reumütig kehrte er zurück und ließ sich an der Seite der Geliebten nieder. Sofort schlang Tamar die Arme um ihn. «Du wolltest doch nicht etwa gerade gehen, oder?»

Er druckste herum: «Weißt du, dieses … dieses Kind ist furchtbar wichtig für uns.» Er senkte den Kopf. «In letzter Zeit lief es nicht gut. Schau dich um in Alexandria. Das Marktumfeld ist hart für Götter. Die Hekaten haben uns mit ihren Nacktprozessionen die Show gestohlen. Und der Isiskult mit seinen Orgien … Ich weiß, Sex sells, aber das sind unlautere Mittel. Du hast unsere Bretterbude gesehen. Das Einzige, was – vor allem weibliche – Anhänger angezogen hat, war …» Kaspar verschluckte den Rest des Satzes.

«Warst du», vervollständigte Tamar.

Statt einer Antwort senkte Kaspar den Kopf.

Tamar musste lächeln. «Ihr seid schon ein paar Freaks!»

«Wir sind keine Freaks, wir sind Gott!», sagte Kaspar und hob den Kopf. «Und dieses Kind, das in Beit-Lehem geboren wird, ist Gottes Sohn. So sagen es jedenfalls die Schriften. Balthasar hat sie alle gelesen. Er hätte ein Vermögen mit Quizshows verdienen können! Stattdessen verharrt er in Armut und Demut. Sein Leben lang hat er auf diesen Moment gewartet. Und jetzt soll ich ihm nicht zur Seite stehen und das holen, was uns zusteht?»

Tamar schwieg, und Kaspar witterte seine Chance. «Balthasar hat keine Familie», fuhr er fort. «Das, was er sich am sehnlichsten wünscht, ist ein junger Adept, den er in die Geheimnisse des universellen Wissens und der Metaphysik einweihen kann. Einen», Kaspar senkte die Stimme, «einen Sohn.»

Kaspar blinzelte hinüber, Tamars Augen waren feucht. «Aber Söhne kann man doch auch selber machen.»

«Er ist alt.»

Das sah Tamar ein. «Aber du bist jung, zu jung für solchen Unfug! Du bist in dieser Freakshow für die Zukunft zuständig, nicht er! Und der Dritte im Bunde …?»

«Melchior», ergänzte Kaspar.

«… wofür ist der zuständig? Für Witwen und Waisen?»

«… Melchior ist einfach klasse», lobte Kaspar aus vollem Herzen. «Er ist stark, er war ein Arbeitssklave. Wenn die schweren Steine zu schleppen waren, haben sie ihn gerufen. Mit Tempeln kennt er sich aus. Und mit Menschen. Er blickt dich einmal an mit seinen großen Augen – und schon durchschaut er dich. Zuverlässiger als ein Nacktscanner. Und er liebt die ideale Schönheit griechischer Statuen …»

«Er bevorzugt Männer?», fragte Tamar.

«Ach, wie das klingt», wich Kaspar aus, «sagen wir, er bewundert Frauen aus der Ferne.»

Tamar musste lachen. «Und ihr Phantastischen Drei brecht auf, um Gottes Sohn zu finden?» Die Ironie war unüberhörbar.

«Unser aller Sohn!», warf sich Kaspar in die Brust.

«Ich glaube, ihr habt einen Männerkomplex, weil ihr keine Kinder kriegen könnt …»

«Wie bitte? Ich kann …», wollte Kaspar sich empören, aber Tamar winkte ab.

«Du kannst, hast aber Angst davor.»

«Red keinen Unsinn, du kennst mich doch gar nicht!», beteuerte Kaspar. Es war genau die Formel, mit der er seine One-Night-Stands normalerweise verabschiedete.

«Habt ihr Weisen euch den Plan auch gut überlegt? Das Kind hat Eltern! Was, wenn sie dagegen sind? Nicht auszuschließen, oder?»

Allmählich begann Kaspar, ihren ironischen Unterton zu hassen. «Die Welt wird es uns danken», verteidigte er sich. «Man wird uns Denkmäler errichten, vielleicht sogar einen Tempel aus Stein und einen goldenen Schrein.»