Als Bach nach Dresden kam - Ralf Günther - E-Book

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Ralf Günther

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Beschreibung

September 1717. Jean-Baptiste Volumier ist Konzertmeister der Hofkapelle Augusts des Starken. Als ihm zu Ohren kommt, dass der skandalumwitterte französische Musiker Louis Marchand nach Dresden geholt werden soll, wird ihm angst und bange: Wird Marchand ihm den Rang streitig machen? Volumier fasst einen Plan: ein Orgelduell, bei dem er Marchand gegen den größten lebenden deutschen Komponisten antreten lässt. Johann Sebastian Bach wird Marchand überstrahlen, da ist Volumier sicher, und nach einer Blamage wird Marchand das Weite suchen. In Weimar lernt Volumier Bachs Cousine Friedelena kennen. Die Begegnung verändert einiges. Kurz bevor das Tastenduell stattfindet, nehmen die Ereignisse einen unvorhergesehenen Verlauf. Und Volumier muss sich etwas einfallen lassen …

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Ralf Günther

Als Bach nach Dresden kam

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Über dieses Buch

September 1717. Jean-Baptiste Volumier ist Konzertmeister der Hofkapelle Augusts des Starken. Als ihm zu Ohren kommt, dass der skandalumwitterte französische Musiker Louis Marchand nach Dresden geholt werden soll, wird ihm angst und bange: Wird Marchand ihm den Rang streitig machen? Volumier fasst einen Plan: ein Orgelduell, bei dem er Marchand gegen den größten lebenden deutschen Komponisten antreten lässt. Johann Sebastian Bach wird Marchand überstrahlen, da ist Volumier sicher, und nach einer Blamage wird Marchand das Weite suchen. In Weimar lernt Volumier Bachs Cousine Friedelena kennen. Die Begegnung verändert einiges. Kurz bevor das Tastenduell stattfindet, nehmen die Ereignisse einen unvorhergesehenen Verlauf. Und Volumier muss sich etwas einfallen lassen …

Über Ralf Günther

Ralf Günther, 1967 in Köln geboren, studierte Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft. Er ist Schriftsteller und Drehbuchautor, entwickelte Serien für das ZDF und den KiKA und schrieb viele erfolgreiche historische Romane, darunter den Bestseller «Der Leibarzt». Im Kindler-Verlag sind bisher erschienen «Das Weihnachtsmarktwunder» (2015) und «Die Badende von Moritzburg» (2017). Der Autor lebt in der Nähe von Dresden.

Als Bach nach Dresden kam

Langsam ließ er das Instrument an seine linke Seite sinken. Den Bogen hielt er in der Rechten. Erschöpft lag das Kinn auf seiner Brust. Die Musik war verklungen. Ohne jede Regung stand er da. Atemlos verharrten auch seine Musiker, nach Instrumentengruppen im Halbkreis um ihren Konzertmeister herum angeordnet, die Blicke auf ihn gerichtet.

Der lange Moment stiller Erwartung und höchster Anspannung, bevor der Applaus des Publikums die Erlösung bringt.

Allein für diesen Augenblick lebte Jean-Baptiste Volumier, Konzertmeister und Direktor der französischen Hofmusik in Dresden. Und erst als der Applaus immer dichter auf die Hofkapelle niederprasselte, lag nicht mehr der gequälte Ausdruck des Heilands im Moment des Todes auf Volumiers Gesicht, sondern das Lächeln der Wiederauferstehung.

Der Triumph war vollkommen, als er sah, dass sein Brotherr, August, Kurfürst von Sachsen und König von Polen, sich erhob, um zu applaudieren. Das war die höchste Ehrerbietung, die sein Herrscher einem Untergebenen, der in der Hierarchie so weit unten stand wie der Direktor der französischen Hofmusik, gewähren konnte.

Als Volumier sich seinen Musikern zuwandte, hatten auch diese sich erhoben. Die Geiger schlugen ihre Bögen rhythmisch gegen die Notenpulte, der Beifall wollte nicht versiegen. So lange nicht, bis August den Saal mit einer Geste zum Schweigen brachte, um den «très cher Monsieur le Directeur» mit Worten in den Himmel zu heben. Und zugleich sank Volumier in die erdentiefste Verbeugung.

·

Der Saal hatte sich bereits geleert und Volumier sein Instrument mit zärtlicher Fürsorge in den Kasten gelegt, da trat Graf Flemming auf ihn zu, Augusts Kanzler und Kenner der Künste.

«Monsieur le Directeur, niemals wurden unseren Ohren solche Genüsse bereitet.»

«Zu gütig, Exzellenz!», entgegnete Volumier. «Die allerleichtesten Genüsse fußen auf der allerschwersten Arbeit.»

«Das weiß ich wohl, Monsieur le Directeur! Gerade aus diesem Grund verlangt Seine Majestät der König nach Euch.»

Volumier schloss den Deckel des Geigenkastens und bat einen seiner Musiker, das gute Stück an seinen Ort zu bringen. Dann folgte er dem Kanzler.

Sie trafen August auf den Gängen des Schlosses. Keine Audienz, nur ein Gespräch unter vier Augen. Doch was der Herrscher seinem Untertan eröffnete, war geeignet, Volumiers Welt zu erschüttern.

«Monsieur le Directeur, habt Dank! Ihr seid über Euch hinausgewachsen!»

Der Gelobte sank erneut in tiefste Verbeugung.

«Habt Ihr, Maître», fuhr August fort, «von den Pariser Vorkommnissen gehört?»

Volumier hob die Schultern, um die Antwort hinauszuzögern. Natürlich hatte er davon gehört. Die Welt der Musik sprach über nichts anderes.

«Louis Marchand, Euer Landsmann und Virtuose der schöngeistigen Musik, musste sich vom französischen Hof entfernen. Man könnte auch sagen: Er musste fliehen.» Der König rollte vergnügt die Lippen.

Volumier verzog das Gesicht. «Man sagt, er habe sich impertinent gegen seinen Herrscher verhalten. Sein Lebenswandel sei der eines Taugenichts.»

«Ihr habt also doch davon gehört!», warf Flemming ein.

«Entfernt und am Rande», wand sich Volumier.

Augusts Blick ließ sich keine seiner Regungen, kein Zucken der Gesichtsmuskeln seines Konzertmeisters entgehen. «Das Urteil der schöngeistigen Welt über diesen Mann lautet», fuhr der König fort, «er sei der größte lebende Virtuose, der ein Tasteninstrument bedienen kann. Die Orgel ebenso kunstfertig wie das Clavicimbel.»

Volumier spürte, wie der Erfolg seines Konzerts begann, sich in eine Niederlage zu verwandeln. War der Beifall nicht dünner gewesen als sonst? Und hatte der Herrscher sich nicht früher als sonst erhoben, um den Applaus abzukürzen? Wankte womöglich sein Stuhl?

«Suchen Euer Majestät denn einen Tastenkünstler für die französische Hofmusik?», erkundigte er sich mit dünner Stimme.

Flemming, der die Budgets für die Kunst am Hofe verwaltete, fühlte sich berufen zu antworten: «Ihr wisst, Monsieur, dass wir ein musenfreudiger Hof sind – der Größe und Bedeutung unseres Herrschers entsprechend. Es geht lediglich darum, eine gute Gelegenheit zu nutzen. Monsieur Marchand ist zweifelsohne der größte lebende Musiker und Komponist.»

Volumier verzog erneut das Gesicht. War er selbst denn kein großer Musiker und Komponist?

«Mehr noch», setzte August hinzu. «Wir könnten ihn aus misslicher Lage befreien und an unseren Hof binden. Immerhin sprechen wir vom einstmaligen Hofkompositeur Ludwigs des Vierzehnten!»

«Man hört, er habe Schulden angehäuft», versuchte Volumier einen Einwand vorzubringen.

«Umso nötiger bedarf er unserer Hilfe.»

«Man sagt auch», fuhr Volumier fort, «dass er seine Frau verlassen hat – mitsamt ihrem veruntreuten Vermögen! Und einer Geliebten im Schlepptau!»

Streng musterte August seinen Musikdirektor. «Ist es möglich, dass Ihr aus selbstsüchtigen Beweggründen gegen die Verpflichtung dieses Mannes redet? Dass Ihr, um es unverblümt zu sagen, die zweite Geige zu spielen fürchtet?»

Flemming lächelte, um seinem Herrscher zu zeigen, dass ihm das Wortspiel nicht verborgen geblieben war.

Volumier atmete geräuschvoll aus. «Sire!»

August lächelte. «Hochverehrter Maître Volumier, Wir wären doch ein Narr, würden Wir im Moment Eures größten Triumphes nach einem Nachfolger Ausschau halten! Wollt Ihr Uns einen Narren schimpfen?»

Volumier wollte antworten, doch August schnitt ihm das Wort ab. «Ihr wisst, Ihr seid unersetzlich, mon très cher Monsieur le Directeur! Wir beabsichtigen lediglich, den größten lebenden Tastenvirtuosen in diesen Mauern zu beherbergen und sein Spiel anzuhören, nichts weiter. Allein um zu beurteilen, ob das Lob gerechtfertigt ist, mit dem man ihn überschüttet. Wir befehlen Euch, Monsieur le Directeur, reist zu ihm, koste es, was es wolle, und überbringt ihm unsere Einladung. Bietet ihm Lohn in angemessener Höhe für seine Reise, seinen Auftritt, seine Auslagen et cetera et cetera. Möge er, da er Zuflucht sucht, sie bei uns finden. Darüber hinaus wird er ein Publikum mit geschultem Ohr und ein Dach über dem Kopf finden.»

«Aber wird er hier auch eine Zukunft finden? Darum wird es ihm zuvörderst zu tun sein!»

«Das werden Wir sehen.» August nahm Volumier scharf in den Blick. «An diesem Hof ist Platz für zwei Virtuosen. Ihr wisst, wie sehr ich Eure französische Hofmusik schätze. Auch das deutsche Tastenfach ist durch Meister Petzold brav besetzt. Monsieur Marchand wäre eine Bereicherung. Ganz gewiss eine Stärkung Eurer Position, Maître, keine dégradation, pas du tout!»

Volumier sank erneut in eine Verbeugung. Am Rascheln der Prunkgewänder hörte er, dass August sich entfernte. Erst als seine Schritte verklungen waren, wagte er, sich wieder aufzurichten. Und trotz der Versicherung des Fürsten war seine Angst nicht geringer geworden. Allzu bequem hatte er sich in der Situation eingerichtet, an diesem Hof keinen Rivalen zu haben. Doch diese Zeit schien nun zu Ende zu gehen.

·

Als einer von Augusts Agenten einigermaßen sichere Nachricht von Marchands derzeitigem Aufenthalt – Brüssel, ausgerechnet! – brachte, erwachten in Volumier widerstreitende Gefühle. War er doch unter dem Kindsnamen Jan-Baptist Woulmeyer ebendort geboren, bevor er, um eine fundierte musikalische Ausbildung zu erhalten, nach Paris gegangen war. Eine Reise in die Hauptstadt der Spanischen Niederlande konfrontierte ihn auf unangenehme Weise mit den eigenen Wurzeln. Wurzeln, die er bislang in Dresden, wie überall, verschwiegen hatte. Hier hielt man ihn für einen Franzosen – und nicht für einen Untertan des Habsburgerhauses.

Zu allem Überdruss hasste Volumier das Reisen. Die ordinären Postkutschen mit ihrem die Organe reizenden Geschuckel, den oftmals vollgespienen, mit Stroh ausgelegten Kästen und der abgestandenen Luft waren ihm ein Graus.

Eine Hofkalesche allerdings hätte August ihm nicht zugestanden. Volumier war Direktor der französischen Hofmusik, kein Minister. Bei aller Wertschätzung der schönen Künste – diesen Unterschied wusste das Protokoll zu wahren.

So musste Volumier wohl oder übel die schier endlose Reihung heruntergekommener Gaststätten, verlauster Herbergen und durchgesessener Kutschpolster über sich ergehen lassen, bis er endlich durch ein spitzgiebliges Stadttor mit hundert kleinen Türmchen, die den Tauben vorbehalten schienen, nach Brüssel gelangte.

Während die Passagiere und deren Gepäck von den Stadtwachen abgefertigt wurden, geriet ein Taubenpärchen in sein Blickfeld, das auf einem der Giebel hin und her lief und die Hälse aneinander rieb. Wie der Taubenhahn sich stolz emporreckte und das Weibchen sich gurrend unter ihn duckte: ein Schauspiel, so offen und derb, dass es Volumier ekelte. Und doch musste er hinschauen. Ihm wurde erst wohler, als die Kutsche abgefertigt war und die Fahrt fortgesetzt wurde.

Das Zentrum Brabants, dessen Fassaden an ihm vorüberzogen, war eine Handelsstadt mit reichen Kirchen und einem zahlungskräftigen, kunstinteressierten Publikum. Als Hauptstadt der Spanischen Niederlande, einer wichtigen Provinz des Habsburgerreiches, pflegte man zwar die zurückhaltende Hofkultur der Landesherren, wusste aber dennoch zu repräsentieren. In den besseren Kreisen sprach man Französisch. Flämisch war die Sprache des Volkes.

Das Französische war, vor allem auf musikalischem Gebiet, hoch angesehen, und Marchands Ruf, obwohl die Stadt außerhalb des Herrschaftsgebiets Ludwigs XIV. lag, bis dorthin gelangt. Und es gab noch einen weiteren wichtigen Grund für seine Wahl der Stadt als Exil: Brüssel stand unter dem persönlichen Schutz des Habsburgerkaisers. Es war der nächste Weg, wollte man sich dem Einfluss des französischen Königs entziehen.

Volumier bezog Quartier in der Nähe des Grand Place, und als er zum ersten Mal wieder das heimische Idiom hörte, ging ihm das Herz auf. So viele Jahrzehnte hatte er fern der Heimat zugebracht, dass er den spitzzüngigen Klang nur noch als fernes Echo mehr im Herzen denn im Ohr hatte. Aber kaum vernahm er die ersten Worte, fiel er selbst in diese Sprache zurück, die doch um so vieles grobschlächtiger klang als das Hoffranzösisch, das er sich angeeignet hatte.

Als ihm die Wirtin ein munteres «Goedendaach!» entgegenwarf, sprudelte eine Wortkaskade aus ihm heraus. Alle unterdrückte Sehnsucht kam zum Vorschein. Nicht was er redete, war wesentlich, sondern dass er redete. Die Zimmerwirtin ließ sich das belanglose Geplauder eine Zeitlang gefallen. Immerhin hatte sie mit einer wichtigen Information aufzuwarten, denn auch das einfache Volk hatte seine Kanäle: Louis Marchand war tatsächlich in der Stadt.

Für den Tag war Volumier damit zufrieden. Die Reise auf Wunsch seines Fürsten war – aller Voraussicht nach – nicht vergeblich gemacht.

Freilich setzte er keinen großen Ehrgeiz daran, Marchand zu treffen. Gewiss, er hatte den Auftrag im Sinne des Herrschers auszuführen. Aber wenn die Umstände ihn partout daran hindern sollten, wenn Marchand sich als widerspenstig erwies oder die äußeren Bedingungen einer Einigung entgegenstanden, dann konnte er es auch nicht ändern. Dann würde er wenigstens mit einer guten Ausrede nach Sachsen zurückkehren. Doch die Wirtin, die den Landsmann mit gutem Gewissen in seiner Suche unterstützen wollte, half ihm, ohne ihm damit einen Gefallen zu tun.

«Der Mann, den Sie suchen, ist im Gasthof Zur Schwalbe eingekehrt. Aber geben Sie acht, die Gassen sind nicht gut beleumundet.»

Volumier hatte nichts anderes erwartet. Die Wirtin fühlte sich bemüßigt fortzufahren: «Ich ahnte ja nicht, dass ein vornehmer Mann wie Sie solch eine weite Reise unternimmt, bloß um diesen Marchand spielen zu hören.»

«Nun ja», sagte Volumier abwiegelnd, «er beherrscht die Orgel recht ordentlich.»

«Und aus welchem Grund will er hier Konzerte geben?»

«Er will nicht. Er muss. Der Mann steckt in der tiefsten Bredouille: Schulden bis über beide Ohren. Und er ist ein fürchterlicher Hansdampf!»

«Ein Künstler», schlussfolgerte die Wirtin und musterte ihn eindringlich.

Volumier nickte.

«Einer wie Sie, nicht wahr?»

Volumier stutzte. «Madame, ich bin Direktor der französischen Hofmusik des Königs von Polen – und nicht irgendein fahrender Musikant.»

Ihr Blick blieb an den blinden Messingknöpfen seiner Weste hängen, und Volumier ärgerte sich, dass er sie so lange nicht zum Polieren gegeben hatte.

«Sie haben gewiss nichts dagegen», sagte die Wirtin, «mir den Mietzins vorab zu entrichten?»

·

Die Suche nach dem Musiker führte Volumier in eines der fragwürdigeren Quartiere der Stadt. Nur wenige Schritte jenseits des Großen Marktes ging es den langen, steil ansteigenden Hang hinauf, der Brüssel in eine Ober- und eine Unterstadt schied. Hier wurden die Tische schmutziger, der Tonfall derber und die Weiber zugänglicher.

Die leichten Mädchen von Brüssel verkehrten neuerdings nicht mehr ausschließlich in den Wein- und Bierspelunken. Seitdem die Schokolade zum Modegetränk avanciert war, gingen die Prostituierten gern in den «Chocolaterien» auf Kundenfang. In den Kneipen traf man nur Säufer und Gesindel. In den Schokoladencafés aber durfte man auf gesittetes Publikum hoffen.

Volumier fand den Franzosen mit einer jungen Dame im Arm und einer Tasse des modischen Getränks in der rechten Hand, die Linke hatte er um die Taille der Frau gelegt. Eine auffällige Erscheinung mit ihren rot geschminkten Lippen, wild aufgetürmten dunklen Haaren mit festen, filzigen Strähnen, die zweifellos die ihr von der Natur gegebene Tracht zu sein schienen. Volumier hingegen legte großen Wert auf den korrekten Sitz seiner Perücke: mit Kräusellocken und einer dicken Schicht Mehl, um sie ganz weiß erscheinen zu lassen. Die Haarpracht trug er bis auf die Schultern. Das zwang ihn zu hellen Überröcken, denn jeder dunkle Stoff wäre rasch weiß gefärbt.

Marchands Begleiterin war zwar ordentlich gekleidet. Aber das Tuch aus feiner Spitze, das das Dekolleté nach Brüsseler Mode und den Regeln des Anstands zu bedecken hatte, fehlte, weshalb sie den Ehrentitel einer «Dame» sicherlich nicht beanspruchen konnte. Volumier versuchte, sie zu ignorieren, und richtete das Wort an Marchand.

«Es ist mir eine Ehre, Monsieur, den hochberühmten Tastenkünstler anzutreffen.» Volumier verbeugte sich, als befänden sie sich bei Hofe und nicht an einem Ort, wo braune, heiße Flüssigkeit zum Plaisir des Publikums ausgeschenkt wurde.

Der ehemalige Hofkomponist Ludwigs des Vierzehnten erwiderte die Begrüßung mit ironischer Verrenkung, sodass die junge Frau auflachte. Dann setzte er sich wieder auf die Bank, nahm einen Schluck aus der Tasse, die stark dampfte, und polterte los: «Und wer sind Sie, dass Sie ehrenwerte Leute behelligen?»

Volumier schluckte den Vorwurf hinunter und stellte sich in der Landessprache seines Gegenübers als Hofkapellmeister des Kurfürsten von Sachsen und Königs von Polen vor: Son Célèbre Majesté August le Grand.

Marchand hob die Augenbrauen: «Dann müssen Sie Jean-Baptiste Volumier sein.»

Es linderte Volumiers Groll kaum, dass Marchand seinen Namen kannte.

«Man hört, dass Sie die Geige ganz ordentlich beherrschen und ein feines Orchester lenken …», fuhr jener fort.

Volumier versteinerte innerlich. «Mein Herr, geben Sie nichts auf das Geschwätz der Leute. Ich hörte auch von Ihnen als von einem Ehrenmann sprechen.»

Marchand quittierte die giftige Bemerkung mit lautem Lachen, und Volumier verbeugte sich voller Hohn.

«Aber mein Freund», versuchte es der Franzose nun süßlich, «seien Sie nicht so steifleinen! Sie müssen doch akzeptieren, dass der Kapellmeister eines August Schlagmichtot nicht so viel zählt, wie der Kompositeur am Hofe Ludwigs des Vierzehnten.» Und als wisse er nichts von der Gegenwart seines Gegenübers, fuhr Marchand der Frau, die ihm an der Schulter klebte, mit der Hand zwischen die Brüste.

Volumier musste schlucken. «Kurfürst von Sachsen, König von Polen, mein Herr! Und an Ihrer Stelle würde ich es vermeiden, mich über meinen Herrscher zu mokieren, denn …» Er stockte. Er war sich nicht sicher, ob er Augusts Befehl angesichts dieser Begleitumstände tatsächlich ausführen konnte.

«Seien Sie mein Gast», sagte Marchand da. «Immerhin teilen wir die gleichen Leidenschaften.»

«Das glaube ich kaum.» Volumier rümpfte die Nase.

«Ich rede von der Musik, Monsieur», fühlte Marchand sich bemüßigt zu betonen. Er wandte sich von seiner Begleiterin ab und Volumier zu.

Und plötzlich entdeckte der einen liebevollen Zug, eine zärtliche Hingebung an diese höchste aller Künste, einen Gleichklang der Empfindungen, der es ihm im Zweifelsfall doch ermöglichen konnte, sich mit dieser Kanaille gemeinzumachen. Volumier zog sich einen Schemel heran und nahm am Tisch Platz. «Genau darauf wollte ich zu sprechen kommen!»

In diesem Moment aber schien Marchand das Interesse schon wieder verloren zu haben. Stattdessen widmete er sich mit größter Sorgfalt dem Dekolleté seiner Begleiterin. Und erdreistete sich sogar – vor aller Augen! –, nicht nur den Zwischenraum auszutasten, sondern sogar explizit jene Körperteile, die den Zwischenraum formten. Waren dies dieselben Finger, die der Orgel die himmlischsten Töne entlockten?

Volumier kochte innerlich vor Wut. Und doch konnte er die Blicke nicht von Marchands wandernden Fingerkuppen wenden. Denn als er den Hofkompositeur so unverfroren in aller Öffentlichkeit ein Weib liebkosen sah, da hatte er dessen Begleiterin doch etwas zu sagen. Er beugte sich weit vor und sagte auf Flämisch: «Sie wissen hoffentlich, dass jener Herr Frau und Kinder auf einem Berg von Schulden hat sitzenlassen?»

«Was geht’s mich an!», erwiderte die Frau in demselben Idiom und fügte hinzu: «Mischen Sie sich nicht in anderer Leute Affären!»

«Oh, ich fürchte, es sind durchaus meine Affären», bemerkte Volumier mit niedergeschlagenen Augen.

Und als er wieder aufsah, grinste Marchand ihn an: «Sie sind Flame!»

Volumiers Lippen zitterten. «Es war mir eine Ehre, Ihre Bekanntschaft zu machen.»

Er erhob sich, um zu gehen, doch Marchand hielt ihn am Arm zurück. «Sagen Sie mir eines: Weshalb suchten Sie mich auf? Doch sicherlich nicht, um mir eine Moralpredigt zu halten!»

Volumier sah ihm lange in die Augen, verzichtete aber auf eine Erwiderung. Dann wischte er mit einer Handbewegung alle Überlegungen beiseite und atmete tief durch. «Es geschah einzig aus dem Grund, weil ich von Ihrer Kunst gehört habe. Sie soll ganz außerordentlich sein.»

Als die Rede darauf kam, straffte sich Marchands Körper in eigentümlicher Weise. Die Schokoladenflecken auf dem Rock, die verrutschte Perücke, das von Schweiß und Ausdünstungen entstellte Gesicht – sein Anblick war nicht gerade vorteilhaft, und doch zeigte er plötzlich einen Ausdruck von Würde. «Mynheer Woulmeyer, wenn Sie wegen meiner Musik gekommen sind, davon haben Sie noch keinen Ton gehört. Und doch haben Sie Ihr Urteil bereits gefällt. Solch eine Haltung ist eines Kenners unwürdig!»

Volumier, der sich schon abgewandt hatte, hielt inne. Dann drehte er sich erneut zu dem Musiker. «Ihre Kompositionen kenne ich wohl. Habe mich sogar schon an einigen Abschriften, die an unseren Hof gelangten, versucht und zähle mich seitdem zu deren Bewunderern. Ich weiß aber nicht, ob mich Ihr Spiel noch interessiert.»

Marchand hob die Arme und ließ sie wieder sinken. «Daran kann ich wohl nichts ändern, Mynheer.»

Volumier wandte sich endgültig zum Gehen. Doch Marchands Worte hatten ihn nachdenklich gestimmt. Und als er schon bei der Tür war, fing ihn die Kanaille doch noch ein. «Zur Vesper in der St.-Michael-und-St.-Gudula-Kirche. Oder, wie Ihr sagen würdet …» Marchand stutzte, da er es nicht wusste, und seine Begleiterin sprang ihm bei: «Sint-Michiels en Sint-Goedelekathedraal.»

Marchand wiederholte den flämischen Namen in gröbster Entstellung und wollte sich ausschütten vor Lachen. Volumier versteinerte. Die Kirche war ihm seit Kindesbeinen vertraut, sein Elternhaus stand in Hörweite des Geläuts. Er wandte sich ab.

«Mynheer», rief ihm Marchand hinterdrein. «Zögern Sie nicht allzu lang! Es könnte sein, dass Sie sonst unter der Empore stehen müssen. Dann können Sie mich gar nicht sehen. Aber keine Angst, hören werden Sie mich.»

Und begleitet vom Hohnlachen des Musikers verließ Volumier den Ort.

·

Der Groll gegen den Franzosen hielt Volumier lange gefangen. Dass dieser Mensch ihn in eines der schäbigsten Viertel Brüssels locken konnte! Ihn gezwungen hatte, diese Frau mit ihrem geschminkten Mund anzuschauen und ihrer beider schamloses Turteln! Dass er ihn genötigt hatte, Weibsbildern zu begegnen – sie verdienten keinen anderen Namen! –, die auf ihn zutorkelten, sich an ihn klammerten und nicht schämten, seine Geldkatze zu betasten, um zu ermitteln, ob er zahlungskräftig sei. Die ihre Hände mit solch unverfrorener Leichtigkeit unter seinen Rock schlüpfen ließen, dass es ihm den Atem raubte. So war es ihm nach seinem Abschied aus der Chocolaterie auf dem Rückweg in seine Herberge ergangen, und es widerte ihn noch aus der Erinnerung heraus an. Dies alles ließ seine Wut wachsen und seinen Entschluss reifen, Marchand niemals seinem Herrscher vorzuführen.

Doch dann, am nächsten Morgen, nachdem er eine quälende Nacht bei offenen Augen und intensiver Selbstbefragung verbracht hatte, befreite er sich von den leidenschaftlichen Gefühlen. Schließlich hatte er den Auftrag seines Königs zu erfüllen.

Und während er sich mit kaltem Wasser rasierte, überlegte Volumier, ob Marchand überhaupt jemals in Augusts Augen bestehen konnte. Er kannte seinen Herrscher gut genug, um dessen Urteil abschätzen zu können. August war, wie Marchand, getrieben von Leidenschaften. Die direkte, unmittelbare Art, sich mit Frauen zu umgeben, darin waren er und Marchand sich vollkommen ähnlich. Doch August würde Marchand nicht als Menschen bewerten, sondern als Musiker. Allein an den musikalischen Leistungen würde man ihn in Dresden messen. Denn wohin kam man, wenn man zuvörderst die menschlichen Qualitäten eines Künstlers beurteilte?

Also beschloss Volumier, nicht seinem ersten Impuls zu folgen und abzureisen, sondern Marchands Spiel anzuhören.

·

Das Äußere