Jezebel Files - Wenn der Golem zweimal klingelt - Deborah Wilde - E-Book

Jezebel Files - Wenn der Golem zweimal klingelt E-Book

Deborah Wilde

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Beschreibung

Als Privatdetektivin in Vancouver hat Ashira Cohen schon einige Fälle gelöst. Daher scheint es bloße Routine zu sein, als sie ein verschwundenes Mädchen aufspüren soll … bis die Sache eskaliert. Ein Schlag auf Ashs Hinterkopf tut nicht nur weh, sondern enthüllt ein seltsames Tattoo – und sie verfügt plötzlich über magische Fähigkeiten, die sie eigentlich gar nicht haben dürfte. Als wenn das nicht verstörend genug wäre, hat sie nun keine andere Wahl, als mit Levi Montefiore zusammenzuarbeiten, ihrem Rivalen seit Jugendzeiten. Levi ist mittlerweile Oberhaupt der magischen Gemeinschaft – und eine ziemliche Landplage, wenn man Ash fragt. Er soll ihr helfen, dem Rätsel ihrer Magie auf den Grund zu gehen. Doch als noch mehr Jugendliche entführt werden, hat dieser Fall oberste Priorität. Ash beginnt zu ermitteln und stürzt kopfüber in ein bizarres Wunderland, in dem tödliche Gefahren lauern. Und Golems – wer hat denn bitte schön die Jungs aus Lehm losgelassen? Je tiefer Ash ihre Nase in die Angelegenheiten der magisch Begabten steckt, desto dunklere Abgründe tun sich vor ihr auf. Und sie muss aufpassen, dass ihr Kopf nicht als nächster rollt …

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DEBORAH WILDE

WENN DER GOLEM ZWEIMAL KLINGELT

JEZEBEL FILES 1

Aus dem Englischen von Julia Schwenk

Über das Buch

Als Privatdetektivin in Vancouver hat Ashira Cohen schon einige Fälle gelöst. Daher scheint es bloße Routine zu sein, als sie ein verschwundenes Mädchen aufspüren soll … bis die Sache eskaliert. Ein Schlag auf Ashs Hinterkopf tut nicht nur weh, sondern enthüllt ein seltsames Tattoo – und sie verfügt plötzlich über magische Fähigkeiten, die sie eigentlich gar nicht haben dürfte.

Als wenn das nicht verstörend genug wäre, hat sie nun keine andere Wahl, als mit Levi Montefiore zusammenzuarbeiten, ihrem Rivalen seit Jugendzeiten. Levi ist mittlerweile Oberhaupt einer magischen Gemeinschaft – und eine ziemliche Landplage, wenn man Ash fragt.

Er soll ihr helfen, dem Rätsel ihrer Magie auf den Grund zu gehen. Doch als noch mehr Jugendliche entführt werden, hat dieser Fall oberste Priorität. Ash beginnt zu ermitteln und stürzt kopfüber in ein bizarres Wunderland, in dem tödliche Gefahren lauern. Und Golems – wer hat denn bitte schön die Jungs aus Lehm losgelassen? Je tiefer Ash ihre Nase in die Angelegenheiten der magisch Begabten steckt, desto dunklere Abgründe tun sich vor ihr auf. Und sie muss aufpassen, dass ihr Kopf nicht als nächster rollt …

Über die Autorin

Deborah Wilde ist Weltenbummlerin, ehemalige Drehbuchautorin und Zynikerin durch und durch. Sie schreibt mit Vorliebe witzige Romane für Frauen in den Genres Urban Fantasy und Paranormal Romance.

In ihren Geschichten geht es um selbstbewusste, toughe Frauen, starke weibliche Freundschaften und Romantik mit einer Prise Charme und Feuer. Sie mag Happy Ends, und es ist ihr wichtig, dass auch der Weg dorthin ihre Leser:innen zum Lachen bringt.

Die englische Ausgabe erschien 2020 unter dem Titel »Blood & Ash« bei Te Da Media Inc.

 

Deutsche Erstausgabe Januar 2022

 

© der Originalausgabe 2020: Deborah Wilde

© Verlagsrechte für die deutschsprachige Ausgabe 2022:

Second Chances Verlag, Inh. Jeannette Bauroth,

Eisenbahnweg 5, 98587 Steinbach-Hallenberg

 

Alle Rechte, einschließlich des Rechts zur vollständigen oder auszugsweisen Wiedergabe in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Alle handelnden Personen sind frei erfunden, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

 

Umschlaggestaltung: Frauke Spanuth, Croco Designs

unter Verwendung von Motiven von agsandrew, Maksim Shmeljov, faestock, yurkaimmortal, robin_ph

alle stock.adobe.com

 

Lektorat: Ulrike Gerstner, Stephanie Langer

Korrektorat: Julia Funcke

Satz & Layout: Second Chances Verlag

 

ISBN: 978-3-948457-33-4

 

www.second-chances-verlag.de

 

 

Inhaltsverzeichnis

Titel

Über die Autorin

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Weitere Bücher von Deborah Wilde

Danksagung

KAPITEL 1

 

Es gab doch wirklich nichts Schöneres, als in einer Rostlaube mit kaputter Heizung zu sitzen und gegen Bezahlung einen Teenager zu filmen.

Charlotte Rose Scott, meine Zielperson, hatte perfekt frisierte Haare, große blaue Augen und war derart aufgedreht, dass ich ihr am liebsten eine Schlaftablette zugeschanzt hätte. Nicht, dass ich eine an ein Kind verschwenden würde.

Momentan verwendete die Sechzehnjährige ihre Energie für einen kleinen Einbruch. Bisher hatte sie alle nur denkbaren Möglichkeiten zum Einsteigen in das Haus im Craftsman-Stil abgeklappert, das sich eine halbe Weltreise von ihrem eigenen Zuhause entfernt befand. Erst hatte sie es mit Rütteln an den Sicherheitsgittern vor den Fenstern versucht, jetzt erklomm sie ein wenig ungeschickt ein unbepflanztes Rankgerüst, um zum Balkon im ersten Stock zu gelangen.

Endlich konnte sie die Turn- und Ballettstunden mal für was Sinnvolles einsetzen. Mit Kunst und Kultur verdiente man kaum Geld, doch Kriminalität war immer eine Alternative mit viel Potenzial.

Ich schob eine frische Speicherkarte in meine Kamera und rieb mir nebenbei über mein rechtes Bein. Die lange Wartezeit in der feuchtkalten Luft verursachte einen dumpfen Schmerz von dem Metall, das meinen Oberschenkelknochen zusammenhielt. Ich griff nach der Familienpackung Schmerzmittel, die ich auf den Beifahrersitz geworfen hatte, und schluckte ein paar der Tabletten trocken runter.

Charlotte ruckelte am Griff der Schiebetür, was mich eine Grimasse schneiden ließ. Klar, noch ein paar Fingerabdrücke mehr, warum auch nicht? Wenn es meinem Auftrag nicht komplett entgegengestanden hätte, hätte ich ihr gerne beigebracht, wie man einen Einbruch ordentlich bewerkstelligte, um uns beiden weitere Peinlichkeiten zu ersparen.

Ich zoomte die Szene heran und machte mich bereit, C. R. in flagranti abzulichten. Und vielleicht ein paar Antworten zu kriegen. Komm schon, du kleines Pubertier. Warum fängst du auf einmal mit Raub an, das passt überhaupt nicht zu dir. Für das hier hast du sogar deine Klavierstunde abgesagt, und dabei liebst du deinen durchgetakteten Teenager-Alltag doch so sehr.

Was übersah ich?

Als sie auch dort keinen Erfolg hatte, kletterte sie das Rankgerüst wieder hinunter und versuchte, die stabile Hintertür aufzubekommen, indem sie sich dagegenwarf. Dass sie direkt mit einem leisen Aufschrei nach hinten taumelte, wunderte mich kein Stück. Amateure waren wirklich nicht auszuhalten.

Mein Handy vibrierte in meiner Hosentasche, und ich fischte es heraus. Meine beste Freundin und Teilzeitangestellte Priya Khatri hatte die Infos zu den Besitzern des Hauses rübergeschickt. Woher kannte ich den Namen nur? Oh, verdammte Scheiße. Ich wurde nicht dafür bezahlt, Charlotte Rose vor einem richtig dummen Fehler zu bewahren. Sie war nicht mein Problem. Aber …

Sie rieb sich gerade den Ellenbogen, den sie sich an der Tür angeschlagen hatte, und biss sich mit Tränen in den Augen auf die Unterlippe.

Grummelnd schaltete ich die Kamera aus und verließ Moriarty – alias mein Auto. Ich bugsierte mein armes steifes Bein mit beiden Händen auf den Asphalt und klemmte mir die Finger unter die Achseln. Mein Atem kondensierte in der kalten Luft, als ich zu dem winzigen Garten hinkte, in dem gerade das Verbrechen des Jahres stattfand.

»Hey, Einbrecher-Barbie!«, rief ich Charlotte Rose zu. »Die Show ist vorbei.«

Sie erstarrte einen Moment lang und löste sich dann in Luft auf.

Ich blinzelte und starrte perplex auf den leeren Fleck. »Charlotte Rose Scott, beweg deinen Hintern sofort wieder hierher, und erklär mir, woher die Magie kommt, die du eigentlich nicht besitzen dürftest!«

Ich hatte meine Hausaufgaben gemacht, bevor ich diesen Fall übernommen hatte. Sie war ganz sicher eine Weltige. Keine Kräfte. Null. Nada.

Aber ganz offensichtlich stimmte das nicht. Und jetzt hatte ich – dank dieser unvorhergesehenen Magie-Episode – ein verdammt großes Problem mit House Pacifica.

Flackernd tauchte ein Teil von Charlotte Rose wieder in meinem Blickfeld auf. Ihre Faust mit ausgestrecktem Mittelfinger. Zugegeben, die kleine Mistkröte beherrschte ihre Unsichtbarkeitsmagie beeindruckend gut.

»Lassen Sie sie in Ruhe!« Auf einmal kam ein anderes Mädchen, etwa im gleichen Alter, in den Garten gerannt. In ihrer Stimme schwang ein leichter melodischer Akzent mit, und auf ihrer verwaschenen Jeansjacke prangte in dicken, silbernen Buchstaben ein »Fuck Patriarchy«. Doch nicht nur die Jacke hatte sie offenbar selbst gestaltet, auch die unebenen Enden ihrer schwarz gefärbten Haare deuteten auf ihr eigenes Tun hin. An den Füßen trug sie ausgetretene Hightops.

Interessante Mittäterin.

Victoria Scott hatte mich dafür angeheuert, ihrer Tochter nachzuspionieren, weil diese sich »zunehmend zurückzog« und deswegen natürlich mit großer Wahrscheinlichkeit ein Drogenproblem haben musste. Zu dem Gespräch in ihrer nach Vanille duftenden, schweineteuren Designerküche hatte sie ein Leinenkleid getragen, das sicher mehr gekostet hatte als die Reparaturen, die mein Auto dringend benötigte. Die fein säuberlich sortierten Kochbücher in den Küchenregalen stammten allesamt von irgendwelchen berühmt-berüchtigten Gourmets und waren garantiert noch nie zum Kochen benutzt worden.

Jede Wette, dass diese unstandesgemäße Freundin nicht zu Victorias Vorstellung von einem Start in ein gutes Leben gehörte.

»Bleib zurück«, wies ich das Mädchen an. »Und wenn du weißt, was gut für dich ist, verklickerst du Charlotte Rose, dass sie wieder auftauchen soll.«

Sie beschwor einen Windstoß und schickte ihn in meine Richtung.

Ich wurde nach hinten gerissen, stolperte dabei über einen Plastikliegestuhl und stieß mir den Kopf so hart an der Hausecke, dass ich kurz Sterne sah. Mein rechtes Bein gab für einen Moment unter mir nach, als ich gegen die Holzverkleidung prallte und nach vorne taumelte. Beinahe hätte ich mich übergeben, doch ich biss die Zähne zusammen und tastete nach meinem Hinterkopf. An meinen Fingern klebte frisches Blut.

Wundervoll. Ein angefressener Luftelementar. Das hatte mir heute noch zu meinem Glück gefehlt.

Hastig suchte ich nach dem kleinen Kästchen in meiner Jackentasche und drückte auf den Knopf, der darauf angebracht war. Es sandte einen kaum hörbaren, hochfrequenten Ton aus, und das fremde Mädchen krümmte sich zusammen. Charlotte Rose wurde mit einem schmerzerfüllten Stöhnen wieder sichtbar, die Hände auf die Ohren gepresst.

Mir wurde ebenfalls schwindelig, und ich musste mich mit einer Hand an der Hauswand abstützen. Eigentlich hätte diese ziemlich illegale Schallwaffe keine Auswirkungen auf mich haben sollen, weil ich bereits mit ihr trainiert hatte.

Hallo, Gehirnerschütterung. Das Positive daran: Der Fall war intellektuell zwar nicht besonders anspruchsvoll gewesen, aber immerhin hatte ich ihn gelöst, also würde ich zumindest dafür bezahlt werden. Jetzt, wo Charlottes wahre Natur ans Licht gekommen war, spielten die abrechenbaren Stunden keine Rolle mehr. Ich musste das Mädchen so schnell wie möglich nach Hause bringen, bevor das Ganze für sie mit einer Vorstrafe endete. Also kämpfte ich die Übelkeit nieder und verpasste den beiden kriminellen Kleinkindern jeweils ein Paar Handschellen, bevor sie ihre Sinne wieder beisammenhatten.

Dann zog ich mein Handy aus der Tasche und tippte eine Nummer ein.

»Hier ist Ashira Cohen«, sagte ich, nachdem Victoria sich gemeldet hatte. »Erklären Sie Ihrer Tochter, dass sie zu mir ins Auto steigen darf.«

Victoria faselte etwas davon, dass sie keine Ahnung hätte, wer ich war oder wovon ich sprach, doch ich unterbrach sie mit einem entnervten Schnauben. Nicht das schon wieder. Die Leute hielten es immer für klug, es einfach zu leugnen, wenn sie einen Privatermittler anheuerten und dabei erwischt wurden. Klappte nie.

»Schluss mit dem Unsinn. Wenn ich Ihnen aus dem Schlamassel helfen soll, den Sie sich mit Ihrer unregistrierten Nefesh-Tochter eingebrockt haben, erlauben Sie, dass ich sie nach Hause fahre.«

Victoria antwortete mit einem kleinlauten »Ja«. Oh ja, du stimmst besser so was von zu.

Heutzutage heuerten die meisten lieber magiebesitzende Privatdetektive an, da sie die zusätzlichen Fähigkeiten der Nefesh als Bonus betrachteten. Ich war der einzige weibliche PD in der Stadt, stand kaum in Kontakt mit meinen gut vernetzten männlichen Kollegen und war durch und durch eine Weltige. Das bedeutete, dass ich mir den Arsch aufriss, um mir eine Nische zu schaffen, in der ich arbeiten konnte, und das würde ich sicher nicht für Victoria aufs Spiel setzen.

Ich reichte Charlotte Rose das Telefon, woraufhin sie ihrer Mutter schweigend zuhörte und mich dabei finster anstarrte. Ihrem Blick begegnete ich lediglich mit einer hochgezogenen Augenbraue. Solche Rotzgören waren unerträglich. Und ich musste es ja wissen.

C. R. gab mir das Handy zurück und griff nach den gefesselten Händen ihrer Freundin, während die beiden näher zusammenrückten.

»Ich habe Rechte«, jammerte das andere Mädchen, und es klang, als würde sie versuchen, ihre Handschellen mithilfe von Wind loszuwerden.

»Nope«, erwiderte ich. »Die hast du nach Artikel 7.5, ›Überproportional dummes Handeln‹, verwirkt. Und spar dir die Mühe. Die Handschellen unterdrücken Magie.«

»Sie sind nicht von der Polizei, Sie haben sich nicht ausgewiesen. Und wenn Sie selbst Magie besitzen würden, hätten Sie sie genutzt. Das heißt, Sie sind keine Nefesh und dürfen solchen Kram gar nicht haben. Oder ihn gegen mich verwenden.«

Das stimmte. Die Handschellen zählten eindeutig zur Kategorie »Vom Lkw gefallen«, aber eine Frau muss eben tun, was eine Frau tun muss. Ich durfte nicht an Magiefällen arbeiten, aber das hieß nicht, dass ein weltiger Fall kein magisches Ende nehmen konnte – wie dieser hier. »Ach ja? Und woher willst du das wissen?«

»Fernsehen«, antwortete das Mädchen. »Also, wer sind Sie?«

Ich zeigte ihr meine Ermittlerlizenz. »Eine echte Privatdetektivin, die besser weiß als du, welche Hilfsmittel sie benutzen darf.«

Charlotte Rose plusterte sich auf. »Ich lasse nicht zu, dass sie dir was tut, Meryem.«

»Wie süß. Das ist … ein Irrtum.« Ich scheuchte die Mädchen zu Moriarty und versuchte dabei, nicht zu stark zu hinken. Gegenüber solchen Teenie-Monstern durfte man keine Schwäche zeigen.

Seltsamerweise hatte ich immer noch den Geruch von Blut in der Nase – beinahe, als würde es nur so aus mir raussprudeln. Das roch gar nicht mal so übel, irgendwie erdig und warm. Erneut griff ich mir an den Hinterkopf. Ein paar meiner Haarsträhnen klebten zusammen, aber immerhin war die Blutung selbst bereits versiegt.

Meryem weigerte sich, in meine Luxuskarosse einzusteigen, und presste eins ihrer Handgelenke demonstrativ gegen ihre Brust, nachdem ich ihr die Handschellen abgenommen hatte. Als hätte sie dauerhafte Nervenschäden davongetragen. »Wollen Sie mich entführen?«

Was für eine Dramaqueen. »So gerne ich noch länger deine Gegenwart genießen würde … nein.«

»Dann gehe ich allein nach Hause.«

»Mer …« Charlotte Rose seufzte. »Pass auf dich auf, okay?« Sie gab Meryem einen kurzen Kuss.

Ihre Freundin errötete und scharrte mit einem Fuß über den Boden. Selbst ich fand das Pärchengehabe der beiden niedlich, obwohl ich unromantisch bis zum Gehtnichtmehr war.

»Hier.« Ich fischte meine wohl letzten vierzig Dollar aus meinem Geldbeutel.

»Sie können mich mal. Ich brauche keine Almosen«, lehnte Meryem mein Angebot ab.

Vielleicht nicht, aber sie trug nur eine Jeansjacke und fror garantiert bei dem bescheidenen Märzwetter. Ihr Zuhause war vermutlich alles andere als schön, wenn sie überhaupt eins hatte. Doch trotzig, wie sie war, würde ich sie mit Sicherheit vertreiben, wenn ich allzu nett zu ihr war – was bei mir ohnehin nur selten vorkam.

»Sieh es als Schmerzensgeld.« Ich hielt ihr die Scheine entgegen, und sie verschwanden so schnell in ihrer Tasche, dass ich mir einen gedanklichen Vermerk machte, dem Mädchen Hilfe zukommen zu lassen.

»Danke.« Sie schaute mir kurz verunsichert in die Augen.

»Verschwinde, bevor ich es mir anders überlege.«

Meryem drückte noch einmal Charlottes Hand und machte dann die Biege.

Ich hantierte ungeschickt mit dem Türgriff, da es plötzlich scheinbar zwei davon gab, ehe ich mich erleichtert auf den Fahrersitz sinken ließ. Ein paarmal tief durchatmen, dann öffnete ich die Beifahrertür, wobei die Schmerztabletten versehentlich im Fußraum landeten. C. R. stieg ein, hielt aber sorgfältig Abstand zu mir.

Ich griff nach dem Lappen, den ich eigentlich dazu nutzte, die Windschutzscheibe freizuwischen, da das Gebläse schließlich nicht funktionierte, und trocknete mich damit notdürftig ab. Meine Haare klebten mir schweißnass am Hals. Ich ignorierte Charlotte Roses Grimasse genauso wie ihr genervtes Schnauben und Schnaufen.

Nachdem ich halbwegs wiederhergestellt war und die Welt sich nicht mehr ganz so stark drehte, tätschelte ich Moriarty das Armaturenbrett und redete ihm gut zu: »Wer ist ein feiner Junge?« Im Stillen betete ich, dass er nicht ausgerechnet jetzt endgültig den Geist aufgab. War ja nicht so, als hätte er nicht schon ein paarmal seinen eigenen Tod vorgetäuscht. Doch der Motor protestierte beim Anspringen nur verhalten.

C. R. und ich schwiegen während der ersten Hälfte der Fahrt.

»Werden Sie mich outen?«, fragte sie irgendwann.

Ich hielt an einer roten Ampel und schaute zu ihr. Die Welt kippte zur Seite, und ich klammerte mich ans Lenkrad, bis mein Gleichgewichtssinn sich wieder beruhigt hatte.

Charlottes Tonfall klang aggressiv, doch ihre Pupillen waren leicht geweitet.

Langsam drehte ich den Kopf zurück, damit mein Hirn nicht wieder durcheinanderkam. »Auch wenn es nicht so aussehen mag, folge ich durchaus einem moralischen Kompass. Es ist deine Sache, deiner Mutter von Meryem zu erzählen. Also, warum Unsichtbarkeitsmagie?«

»Mom hat früher immer ein Spiel mit mir gespielt, bei dem sie mir eine Decke über die Augen gezogen und dabei gesagt hat: ›Wo ist Charlotte Rose?‹ Offenbar war ich verrückt danach.«

Hmhm. Nette Antwort, aber da steckte mehr dahinter. Alle Nefesh besaßen von Geburt an Magie, doch ihre spätere Manifestation wurde erst in der Kindheit geprägt, wobei die psychologischen Primärtriebe eine wesentliche Rolle spielten.

Die Ampel wurde grün, und ich trat aufs Gas. Moriarty setzte sich ruckelnd in Bewegung. »Und der versuchte Einbruch?«

»Ich wollte nichts stehlen«, brauste sie auf.

Ich sagte nichts dazu, sondern ließ sie schmoren. Nach zwei Blocks hielt sie es nicht mehr aus.

»Das war das Haus meiner biologischen Mutter«, gab sie zu. »Ich wollte rausfinden …«

»Wie Darleens Leben ohne dich aussieht?«

Charlotte Rose zuckte die Schultern, und über ihr Gesicht huschte eine Vielzahl von Emotionen, die sie unter trotzigem Desinteresse zu verstecken versuchte. Dann ging ihr wohl etwas auf. »Sie wussten das? Haben Sie mich deswegen aufgehalten?«

Ich bog zügig links ab. »Ich bin davon ausgegangen, dass du dein großes Wiedersehen mit ihr nicht im Jugendgefängnis feiern willst.«

Sie verschränkte die Arme und starrte stur geradeaus.

Gott sei Dank war es nicht mehr weit, denn als wir vor ihrem großen Elternhaus im Tudor-Stil ankamen, fühlte sich meine Haut bereits zwei Nummern zu klein an, und zwischen meinen Schulterblättern juckte es wie verrückt – natürlich genau an der Stelle, an die ich nicht rankam. Ich parkte neben dem teuren SUV in der Einfahrt.

Dieses Mal durfte ich sogar ins Wohnzimmer, das durchgestylt rustikal eingerichtet war. Naturbelassenes Holz, ein aus groben Steinen gemauerter Kamin, der Tannennadelduft abgab, und große, pastellfarbene Prints mit Weisheiten wie »Lache. Lebe. Atme«, die mich eher aufforderten: »Würge. Flüchte. Saufe.«

Victoria empfing uns in einem violetten Yoga-Outfit, in dem man sich bestimmt gut bewegen konnte, auch wenn ich stark bezweifelte, dass sie in dem Aufzug Sport trieb: Sie war komplett geschminkt, hatte die blond gesträhnten Haare zu einem Chignon aufgesteckt und trug riesige Diamantohrringe. Innerer Frieden durch Tiffany. Namaste, Bitches.

»Charlotte Rose«, begann Victoria. »Was ist passiert?«

»Du hast sie angeheuert, um mir nachzuspionieren?« Eigentlich hätte Victoria unter Charlottes Blick in Flammen aufgehen müssen.

»Ich habe sie engagiert, weil ich Angst hatte, dass meine Tochter drogensüchtig ist!« Victoria stemmte die Hände in die Hüften, und im Nu entbrannte ein lautstarker Streit zwischen Mutter und Tochter.

Ich stieß einen schrillen Pfiff aus, der einen Schmerzblitz durch meinen Schädel jagte. Mit halb zusammengekniffenen Augen massierte ich mir die Schläfen. Alles in Ordnung. Nichts, was ein paar Aspirin und eine Nacht ungestörter Schlaf nicht wieder richten konnten. »Deine Mutter hat sich Sorgen um dich gemacht. Ja, sie war auch misstrauisch und ziemlich paranoid, aber vor allem war sie besorgt. Charlotte Rose nimmt keine Drogen. Das können Sie später untereinander klären.«

Victoria setzte sich neben ihre Tochter aufs Sofa. »Warum hat sie sich dann so verhalten?«

Sie hatte mich beauftragt, ihr Antworten zu beschaffen, und die hatte ich auch, aber so einfach war die Situation dann doch nicht. »Sie wollte mehr über ihre biologische Mutter erfahren. Das ist ganz normal und hat nichts mit Ihnen zu tun.«

Victoria zupfte an ihrem Ärmel herum.

»Mom?« Charlotte Rose streckte eine Hand aus, und ich wappnete mich innerlich schon gegen die Abweisung durch ihre Mutter, die gleich folgen würde, doch überraschenderweise griff Victoria danach.

»Ich hätte mir gewünscht, dass du damit zu mir gekommen wärst, aber ich verstehe das. Als wir dich adoptiert haben, hat Darleen uns ihre Bereitschaft signalisiert, sich mit dir zu treffen, wenn du das möchtest. Nur müssen wir das richtig machen, okay?«

»Okay.«

Victoria lächelte mich an und erhob sich. »Vielen Dank. Wenn Sie mir dann Ihre Rechnung schicken …«

»Hinsetzen.«

Wie ein Sack Mehl ließ sie sich zurück auf die Polster fallen.

Ich lehnte mich gegen den zerkratzten Ohrensessel und hoffte, dass es lässig aussah, wie ich den Ellenbogen auf der Lehne abstützte, und nicht, als könnte ich mich nur so aufrecht halten. »Victoria, ich habe Sie bei unserem ersten Gespräch explizit danach gefragt, ob es irgendeine Verbindung zu den Nefesh geben könnte, die mich daran hindern würde, den Fall zu übernehmen. Ich bin von Gesetzes wegen nicht berechtigt, Fälle anzunehmen, bei denen Magie im Spiel ist.«

Dieses blödsinnige Gesetz sollte angeblich Weltige wie mich schützen. Klar doch. Tatsächlich diente es wohl eher dazu, dem House Geld in die Taschen zu wirtschaften, denn alle Nefesh zahlten in den Steuertopf des House ein. Aber es war, wie es war, und wenn House Pacifica herausfand, was heute passiert war, erwartete mich eine hohe Geldstrafe. Solche Sachen nahmen sie sehr ernst, und ich war jetzt schon mehr als pleite. Das würde mir den Rest geben.

»Magie?« Eine leichte Röte überzog Victorias Wangen.

Ich starrte sie unverwandt an, bis sie die Schultern nach unten sinken ließ.

»Ihre biologische Mutter stammt aus einer guten Weltigen-Familie, und auf der Geburtsurkunde war kein Vater eingetragen«, erklärte Victoria. »Während der Adoption deutete nichts darauf hin, dass Charlotte Roses biologischer Vater vielleicht ein Nefesh war.«

»Ja, das haben meine eigenen Nachforschungen auch ergeben. Aber Sie wussten von Charlotte Rose und haben es mir verschwiegen.« Ich kugelte mir beinahe den Arm aus in dem Versuch, das lästige Jucken zu lindern, aber ich kam einfach nicht an die Stelle ran. »Warum ich? Sie hätten einfach einen Nefesh-PD anheuern können.«

»Ich wollte nicht, dass jemand Verdacht schöpft. Und Sie waren billiger«, gab sie zu.

Ich hatte im Leben zwar noch nicht viel erreicht – was mir meine Mutter gerne und häufig vorhielt –, aber was ich geschafft hatte, hatte ich allein hingekriegt, und ich war mehr als stolz darauf. Meine Fälle mochten nicht wahnsinnig spannend sein – noch nicht –, aber eine Frau muss schließlich irgendwo anfangen, und ich ging meinen Weg auf meine Art. Irgendwann würde ich es schaffen.

Ich gab das Kratzen auf, und meine Wut ebbte langsam wieder ab. Victoria war die Strafe nicht wert, die auf schwere Körperverletzung stand. Auch wenn die Versuchung groß war …

In letzter Sekunde konnte ich mich fangen, sodass ich nicht von dem Sessel abrutschte und auf meinem Hintern landete. Okay, vielleicht war mein Zustand doch ein bisschen schlechter, als ich angenommen hatte. »Mein Rat: Fahren Sie mit Charlotte Rose zu House Pacifica, und drücken Sie auf die Tränendrüse, während Sie sich wortreich entschuldigen. Mom, Sie wussten von nichts. Tochter, du hattest Angst, dass dich deine Adoptiveltern nicht mehr lieben.«

Charlotte Rose biss sich auf die Unterlippe und tauschte einen Blick mit ihrer Mutter aus.

»Ich habe ins Schwarze getroffen, oder?«, meinte ich. »Lassen Sie mich raten. Dad sympathisiert mit den Glaubenssätzen der Reinheitsallianz?« Das erklärte die Unsichtbarkeitsmagie.

»Woher wissen Sie das?« Victorias Stimme klang auf einmal deutlich höher.

»Ich kenne diese Leute gut, und deren politische Einstellung ist in dieser Gegend stark vertreten.«

»Ich kann es ihm nicht sagen.« Charlotte Rose schien echte Angst davor zu haben.

Ich milderte meinen Tonfall ein wenig ab. »Du hast keine andere Wahl. Wenn du es bis morgen nicht machst, muss ich es tun, weil sich alle magisch Begabten bei dem Haus in ihrer Region registrieren lassen müssen. Was Sie beide ganz genau wissen. Aber wenn ich darin verwickelt werde, wird es noch schlimmer …« Hauptsächlich für mich. »… und deshalb ist es in Ihrem eigenen Interesse, wenn Sie mich da raushalten und reumütig zu Kreuze kriechen.«

»Das fühlt sich nicht richtig an«, protestierte Victoria. »Es muss doch eine andere Lösung geben.«

Ich hörte die Stimme meines Vaters, laut und deutlich, in meinem Kopf. Es gibt zwei Arten von Menschen auf dieser Welt, Ash, Liebes. Die einen sind Opfer, die anderen nicht.

Einmal hatte ich den Fehler gemacht, mich bei den Opfern einzureihen, und meine Lektion auf die harte Tour gelernt. Das würde mir kein zweites Mal passieren. Victoria hatte versucht, mich auszutricksen. Mit Betonung auf »versucht«.

»Nein«, erwiderte ich. »Im Moment ist Ihre Tochter eine Unregistrierte. Klären Sie das.«

Charlotte Rose meldete sich erneut zu Wort und hatte dabei in Lautstärke und Tonfall starke Ähnlichkeit mit einer Furie aus der griechischen Mythologie. »Ich lasse mich nicht im House registrieren! Die machen Experimente an Leuten!«

Ihre Stimme schmerzte in meinen Ohren. Zu laut, zu schrill. »Ich unterstelle Levi Montefiore und House Pacifica gerne mal das Schlimmste, aber sie betreiben kein Labor voller irrer Wissenschaftler.« Rasch wischte ich mir den Schweiß von der Stirn. »Sie halten sich an die Regeln, manchmal sogar zu sehr, und glaub mir, es ist deutlich gesünder, auf ihrer Seite zu stehen, als auf der Gegenseite.«

Meine Worte klangen irgendwie seltsam lang gezogen. Shit. Sah so aus, als würde ich einen Abstecher ins Krankenhaus machen müssen. Schnell ermahnte ich Victoria noch einmal, mit House Pacifica in Kontakt zu treten, und erinnerte sie daran, dass Mahngebühren fällig wurden, wenn sie meine Rechnung nicht pünktlich bezahlte. Dann verabschiedete ich mich und ging auf unsicheren Beinen zurück zu Moriarty, dessen Scheinwerfer mich böse anzugrinsen schienen.

Von der Fahrt zur nächsten Notaufnahme bekam ich nicht viel mit. Ich hielt vor dem Eingang und warf meine Schlüssel dem versnobten Mitarbeiter des Parkservice im Feuerwehrmannkostüm zu. Der würde so was von kein Trinkgeld bekommen.

Kaum hatte ich es über die Schwelle geschafft, brach ich bewusstlos zusammen.

KAPITEL 2

 

Als ich die Augen wieder aufschlug, lag ich in einem Bett, und eine Ärztin fühlte meinen Puls.

»Hallo. Ich bin Dr. Samuels.« Ihr Atem roch nach Kaffee, auf einem ihrer Brillengläser prangte ein fettiger Fingerabdruck, und aus der Brusttasche ihres Arztkittels lugte eine halb geöffnete Packung Peanut Butter Cups. Da hatte wohl jemand schon eine ziemlich lange Schicht hinter sich.

Als ich versuchte, mich aufzusetzen, kreiselte die Welt plötzlich in bunten Farben um mich herum. Den hässlichen grauen Deckenfliesen und dem hellblauen Vorhang, der mein schmales Bett von dem daneben trennte, schadete das allerdings nicht wirklich. »Habe ich eine Gehirnerschütterung?«

»Sie haben das Bewusstsein verloren, also gehe ich davon aus. Aber Ihr erhöhter Blutdruck und der kalte Schweiß machen mir gerade mehr Sorge. Wir müssen ein paar Tests durchführen.« Sie notierte etwas auf dem Klemmbrett am Fußende des Betts und versprach, in Kürze wieder bei mir zu sein.

»In Kürze« stellte sich natürlich als relativ heraus, wie immer bei medizinischen Angelegenheiten. Die Untersuchungen und das Warten auf die Ergebnisse dauerten ewig, und da ständig Pflegepersonal vorbeikam, um mich wach zu halten, rief ich Priya an. Die konnte mir gerne Gesellschaft leisten und mir den Aufenthalt hier angenehmer gestalten.

Wenig später eilte sie herein, wie üblich ganz in Pink gekleidet, was ihre dunkle Haut und ihre grünen Augen betonte. An ihren Fingern glänzten Goldringe, und ihr kurzer Bob war wie immer perfekt frisiert. Bei meinem Anruf hatte sie gerade in einem von ihrem halben Dutzend Lieblingscafés gearbeitet, was der Laptop bewies, den sie unter dem Arm bei sich trug.

»Eine Gehirnerschütterung, großartig. Und dann auch noch durch ein Kind. Was soll ich nur mit dir machen, du Pfeife?«

Ich zeigte ihr den Stinkefinger.

Priya zog sich die Jacke aus, wobei ich einen Blick auf das wunderschöne Tattoo einer Lotusblume in Rosatönen und Schwarz auf der Innenseite ihres rechten Handgelenks erhaschte. Das stammte vom letzten Mal, als sie ihre Großeltern in Indien besucht hatte.

Sie warf mir eine zusammengefaltete Decke zu. »Hier. Die hat mir Erika mitgegeben.«

»Danke, Erika. Wer auch immer das ist.« Ich schob die Decke beiseite, unter der ich gerade lag, und kuschelte mich in den Ersatz, der direkt aus dem Wärmeschrank kam.

»Die kleine, ältere Schwester, die dreimal nach dir gesehen hat?« Priya schüttelte den Kopf, sichtlich enttäuscht, dass ich mich während meines Aufenthalts noch nicht mit allen angefreundet hatte. Warum dieser Umstand sie immer noch überraschte, war mir ein Rätsel.

»Natürlich. Erika. Die mit den drei Wellensittichen und dem Asthmatiker-Ehemann. Oder waren es ein Asthmatiker-Wellensittich und drei Ehemänner?«

Priyas strenger Blick verfehlte seine Wirkung komplett, denn es gelang ihr nicht, ein Lächeln zu unterdrücken.

»Genug geplaudert«, meinte ich. »Du musst mal für mich zaubern, Adler.« Ihr Spitzname spielte auf Irene Adler an, die Frau, die Sherlock Holmes in den Originalgeschichten für ihren scharfen Verstand und ihre Gewieftheit bewundert hatte und die ihn als eine von wenigen hatte überlisten können – und auf Raven Adler, eine brillante und erfolgreiche Hackerin.

»Aber natürlich, Holmes.« Sie klappte ihren pinken Laptop auf. So viele Männer hatten Pri und ihre unglaublichen Programmierfähigkeiten schon unterschätzt – und es bitter bereut. Glitzer und Mädchenkram waren ihr Markenzeichen, aber sie war auch ein skrupelloses Genie.

Priya ließ die Knöchel knacksen und legte die Finger dann auf die Tastatur.

»Lösch alle Spuren meiner Recherche über die Scott-Familie aus der Datenbank von House Pacifica.« Ich erklärte ihr die Sache mit Charlotte Roses verborgener Magie und dass niemand einen Hinweis darauf finden sollte, dass ich mit der Familie in Verbindung gestanden hatte.

Nebenbei rubbelte ich meinen Rücken am Kissen, weil es mich immer noch wie verrückt zwischen den Schulterblättern juckte, doch davon pochte mein Kopf nur umso heftiger. Bei den Untersuchungen war keine Hirnblutung festgestellt worden, und eine Schwester – nicht Erika – hatte mir ein Schmerzmittel vorbeigebracht, dessen Wirkung jedoch auf sich warten ließ.

»Apropos House Pacifica …«, warf Priya ein.

»Was denn nun schon wieder?« Ich steckte die Decke um meine Füße herum fest.

»Du hast eine E-Mail.«

Mit einer Geste gab ich ihr zu verstehen, dass sie sie öffnen sollte. Dass sie all meine Passwörter kannte, hatte ich schon vor Jahren akzeptiert. »Welche Kunde ereilt mich heute von Seiner Lordschaft?«

Priya röhrte laut auf. Und ja, die knapp eins achtzig große indokanadische Schönheit lachte wie ein Esel kurz vor dem Erstickungstod. Sie klickte auf die E-Mail und las sie mit tiefer, kratziger Stimme vor.

 

Verehrte Miss Cohen,

hocherfreut und gleichermaßen geehrt durfte ich feststellen, dass Sie, eine stadtbekannte Privatdetektivin, so viel Interesse an der Datenbank unseres Hauses hegen, dass Sie sich ein Profil mit höchster Sicherheitsstufe verschafft haben, um auf unsere Informationen zuzugreifen. Meine Kreditkarte zu nutzen, um die Zahlungen für selbigen Zugang zu tätigen (hallo, Priya), war klug, fällt jedoch unter die Tatbestände des Betrugs und des Diebstahls, weswegen Ihr Log-in deaktiviert wurde.

Aus Respekt unserer langjährigen Bekanntschaft gegenüber und weil es keinen Spaß macht, nach jemandem zu treten, der bereits am Boden liegt, werde ich großzügigerweise von einer Anzeige absehen. Sollten Sie ernsthaftes Interesse daran hegen, eine Bezahlung zu hinterlegen – und ich betone, dass hier legale Währungen zu verwenden sind; weder Schuldscheine noch Eier oder sexuelle Gefälligkeiten werden akzeptiert oder sind erwünscht –, wird House Pacifica Ihren Antrag auf entsprechenden Zugang sehr gerne prüfen.

Ergebenst,

Levi Montefiore

Oberhaupt von House Pacifica

 

»Er hat mich in CC gesetzt«, fügte Priya hinzu. »Wie nett von ihm, mich zu erwähnen.«

»Das … Betrug? Sexuelle Gefälligkeiten?« Ich deutete mit einem Finger auf den Laptop, als könnte ich durch ihn hindurchgreifen und Levi eine verpassen. »Das hätte er wohl gerne.«

»Na ja, also …«

Mit offenem Mund starrte ich meine beste Freundin an.

»Du lebst schon eine ganze Weile wie eine jüdische Nonne. Die es nicht mal gibt. Bevor du also anfängst, sexuelle Gefälligkeiten an Gott und die Welt zu verteilen …«

»Ja. Ich habe schon richtig große Pläne, mir alles aufzureißen, was nicht bei drei auf den Bäumen ist.«

»… könntest du vielleicht erst mal ein bisschen üben. Kai hat vorhin geschrieben. Er und Aiden machen heute früher Schluss.«

»Ich werde nicht mit Aiden schlafen.«

Priya spitzte die pink geschminkten Lippen. »Er ist süß, und aus irgendeinem unerfindlichen Grund mag er dich, was ich bemerkenswert finde, weil du nie mehr als einsilbige Antworten für ihn übrig hast.«

»Warum bist du noch mal mit Kai zusammen? Er ist die personifizierte Langeweile.«

»Er ist nett.«

Nein, er war eine sichere Wahl, ließ sich gut lenken, und nachdem ihr Sechsmonatiges kurz bevorstand, würden sie sich bald einvernehmlich trennen. So war das bei jeder einzelnen von Priyas Beziehungen in den letzten Jahren gelaufen. Dass sie nie sonderlich traurig darüber war, hätte ihr eigentlich schon einen Hinweis darauf geben sollen, dass sie mit den falschen Männern ausging. Hoffentlich würde sie sich irgendwann auf den richtigen einlassen können.

»Er ist ein Herzchen.« Ich drehte ihr den Rücken zu. »Einmal kratzen bitte.«

Sie seufzte unwillig, aber ich spielte die Beste-Freundin-liegt-in-einem-Krankenhausbett-Karte aus und bekam meinen Willen.

Beinahe hätte ich vor Erleichterung aufgestöhnt.

»Nenn mir einen guten Grund, warum du nicht auf Aiden stehst.«

»Er benutzt seinen Mund zum Reden. Links. Höher. Höher. Andere Seite. Mehr. Nein, da. Aaah.«

Priya hörte auf zu kratzen. »Du bist unmöglich.«

»Perfekt. Lass uns genau das in eine Antwort verpacken, bei der Levi an die Decke gehen wird.« Ich lehnte mich wieder in die Kissen zurück. »Los, tipp.«

Ihre linke Augenbraue zuckte, ein untrügliches Zeichen dafür, dass sie mir am liebsten gesagt hätte, was ich sie mal konnte, schließlich war sie nicht meine Sekretärin. Allerdings würde sie auch nie jemanden an ihren Laptop lassen. »Schieß los. Dieses eine Mal und auch nur, weil du so bemitleidenswert bist.«

»Das ist nur eine Momentaufnahme.«

Sie schaute mich unverwandt an.

»Lassen wir das.« Ich räusperte mich. »›Büro von Ashira Cohen, Cohen Investigations‹.« Priya tippte gehorsam meine Nachricht.

 

Verehrtes Erhabenes Oberhaupt

(glücklicherweise nicht meins),

erlauben Sie mir, Ihr Gedächtnis aufzufrischen. Sie erinnern sich gewiss an die Wohltätigkeitsveranstaltung im Science World zu Beginn diesen Jahres, bei der sich unsere Wege unerfreulicherweise kreuzten. Es ist wohl kaum meine Schuld, dass Sie krankhaft kompetitiv, mir aufgrund Ihrer mangelhaften Wasserbomben-Wurffähigkeiten jedoch unterlegen sind. Nach der Niederlage im entsprechenden Wettbewerb schuldeten Sie mir genau 1537 Dollar, woraufhin Sie mir Ihre Kreditkarte überreichten und verkündeten, dass ich »ein bisschen Spaß haben und mich zuschütten« sollte. Sie haben sich schon immer überaus gewählt ausgedrückt, Mr Montefiore.

Ich bitte Sie daher, Ihre Kreditkartenabrechnung und Ihr Gedächtnis einer Prüfung zu unterziehen, da Ihnen offenbar nicht präsent ist, dass ich an diesem Abend keinerlei Getränke auf Ihre Rechnung bestellt habe. Stattdessen teilte ich Ihnen direkt mit, dass ich Zugang zur Datenbank Ihres Hauses wünsche, und obwohl Sie mich wie der überhebliche Mistkerl angegrinst haben, der Sie sind, haben Sie dies auch nicht explizit abgelehnt.

Aus diesem Grund habe ich mir erlaubt, den ausstehenden Betrag von 1537 Dollar zur Erstellung eines Premium-Accounts für den Zugriff auf die Aufzeichnungen von House Pacifica zu nutzen. Die Jahresgebühr dafür beträgt 1200 Dollar.

Ich ersuche Sie daher, meinen Zugang wieder freizuschalten und darüber hinaus die noch geschuldete Summe von 337 Dollar auf mein Firmenkonto zu überweisen. Sollte dies nicht binnen einer Frist von dreißig Tagen geschehen, werden entsprechende Verzugszinsen fällig.

Ergebenst,

Ashira Cohen

 

»Darf ich als PS noch ›Leck mich‹ dazuschreiben?«, fragte ich.

»Geh lieber auf Nummer sicher«, riet mir Priya und schickte die E-Mail ab.

»Das hat man nun davon, wenn man sich an die Regeln hält. Man wird des Betrugs beschuldigt, und das mit dem Ei damals in Camp Ruach wird mir auch ewig unter die Nase gerieben.« Ich nahm ein paar Schlucke von dem lauwarmen Wasser, das eine Schwester – diesmal tatsächlich Erika – mir dagelassen hatte. Ein sehr unbefriedigendes Erlebnis, also nutzte ich den Strohhalm lieber, um mich am Rücken zu kratzen. »Was ist mit dem Suchverlauf?«

»Schon gelöscht«, meinte Priya.

»Du bist die Beste.«

Der Vorhang, der mein Bett umgab, wurde beiseitegezogen, und Dr. Samuels kam herein. Sie warf einen Blick auf das Klemmbrett und nickte Priya grüßend zu. »Sie haben nur eine leichte Gehirnerschütterung, und Ihre anderen Symptome scheinen sich bereits zu bessern. Wie geht’s dem Kopf?«

Ich zuckte die Schultern. »Besser als vorher. Aber der Juckreiz ist noch genauso schlimm.«

Ihr Blick fiel auf meinen Behelfsrückenkratzer, und sie lächelte. »Ich kann Ihnen eine cortisonhaltige Salbe verschreiben. Sie hatten Glück. Wäre der Winkel des Schlags nur ein wenig anders gewesen, wäre Ihr Zustand weitaus kritischer. Ihr Gott hat wohl auf Sie aufgepasst.«

»Hm?« Ich war wohl die am wenigsten religiöse Jüdin der Welt. Ich meine, ich machte aus Challah Sandwiches mit Speck. Was vor allem daran lag, dass die leichte Süße dieses Hefezopfs einfach perfekt zu den Röstaromen von beinahe verbranntem Bacon passte. Bevor ich noch anfing zu sabbern, konzentrierte ich mich lieber auf ihre Antwort.

»Das Tattoo«, erklärte die Ärztin. »Ungewöhnlich, aber in meinem Beruf sieht man alle möglichen Formen von religiösen Bekenntnissen.«

Der Strohhalm rutschte mir aus den Fingern und fiel zu Boden. »Moment. Welches Tattoo?«

»Ihr Davidstern?« Auf meinen verständnislosen Blick hin tippte Dr. Samuels auf einen Punkt rechts an ihrem Kopf. Da, wo ich den Schlag abbekommen hatte. »Unter Ihren Haaren. Wir mussten eine kleine Stelle freirasieren, während Sie bewusstlos waren, um die Beule zu untersuchen.«

Ich hörte ihre Worte, doch deren Sinn erschloss sich mir nicht. Klar, ich hatte schon mal blaue Flecke an meinem Körper gefunden, von denen ich nicht wusste, woher sie stammten, aber ein Tattoo? Ich hatte mich nie bis zur Besinnungslosigkeit betrunken. Damit konnte es nur aus meinen frühen Kindertagen oder von dem einen Mal stammen, als ich mit dreizehn ins Krankenhaus gemusst hatte.

Die Ärztin schaute mich an, als wollte sie am liebsten eine Entzugsklinik verständigen, und selbst Priya wirkte besorgt. Man sollte sich schon daran erinnern, wenn einem der Kopf tätowiert worden war.

Ich zwang mich zu einem Lachen. »Oh, das. Das habe ich so vor einem Jahr stechen lassen.«

Dr. Samuels runzelte die Stirn. »Wie schade, dass eine Narbe mittendurch bleiben wird.«

»Ja, sehr schade. Aber ich bin mir sicher, dass Gott dafür Verständnis hat.« Es erschien mir sinnvoll, diese Aussage mit etwas Religiösem zu unterstreichen, also machte ich eine ausladende Geste. »Borei p’ri hagafen.« Das war der Segensspruch für den Wein am Sabbat, aber mir fiel beim besten Willen nichts anderes ein, was passend fromm klang.

»Borei p’ri hagafen«, erwiderte Dr. Samuels.

Priya gab ein ersticktes Husten von sich, ihre Schultern zuckten.

Und nun, da wir uns gegenseitig mit Trauben gesegnet hatten …

»Kann ich gehen?«

Dr. Samuels kritzelte etwas auf ihren Rezeptblock. »Hier ist eine Liste mit Symptomen. Wahrscheinlich wird nichts davon auftreten, aber wenn doch, rufen Sie bitte einen Rettungswagen. Abgesehen davon können Sie in den nächsten Tagen Paracetamol gegen die Kopfschmerzen nehmen.«

Anschließend stellte sie mir die Entlassungspapiere aus, nachdem sie sich versichert hatte, dass Priya mich nach Hause fahren würde.

Der Vorhang war kaum hinter ihr zugefallen, da schob Priya auch schon meine langen braunen Haare beiseite. Sie stieß einen Pfiff aus. »Komische Motivwahl für ein Tattoo. Warum hast du dir das stechen lassen?«

»Habe ich nicht«, zischte ich.

»Okay, das ist seltsam und beunruhigend. Hmm. Wenn ich ein Tattoo für dich aussuchen müsste, wäre das sicher nicht meine erste Wahl.«

»Ach was. Wie groß ist es?«

»Etwa zwei bis drei Zentimeter. Schwarze Linien, keine Farbe.«

Ich schaute sie über die Schulter hinweg aus verengten Augen an. »Nur aus Neugierde: Was für ein Tattoo würdest du bei mir vermuten, wenn ich eins hätte?«

»Arschgeweih, Süße. Was Hübsches mit Glamour, damit Big Daddy was zu gucken hat, wenn er dir den Hintern versohlt.« Sie untermalte ihre Worte mit entsprechender Pantomime, bis sie einen Lachanfall bekam.

Ziemlich daneben, aber ich musste trotzdem grinsen, weil es so albern war, woraufhin sie mir zuzwinkerte.

Vorsichtig betastete ich die tätowierte Stelle mit einem Finger. »Da reist man um die halbe Welt, verfolgt einen vielseitigen, erfüllenden Berufsweg, und plötzlich stellt man fest, dass man mit dem Symbol einer patriarchalen Religion entstellt wurde. Nope. Zählt nicht zu meinen Lebenszielen. Aber es gibt einen Pluspunkt für Anleihen bei Der Report der Magd.«

Priya steckte ihren Laptop zurück in die Transporthülle. »Wer könnte das gewesen sein?«

»Keine Ahnung. Meine Eltern? Aber warum? Die waren nicht religiös. Oder komplett durchgeknallt. Wer kommt denn bitte auf so eine Idee?«

»Deine Großeltern waren sehr orthodox.«

»Ja, und Talia hatte davon ein Trauma. Sie hätte mir nie einen Magen David verpasst.«

»Dein Vater? Um vor dem Allmächtigen besser dazustehen und seine Verbrechen auszubügeln?«

»Das erscheint mir ein bisschen weit hergeholt, selbst für ihn.« Ich faltete die beiden Decken zusammen, die ich benutzt hatte. »Ich kann nur hoffen, dass es nicht Dr. Zhang war. Bewusstlose Kinder zu tätowieren, ist schon eine gravierende Verletzung des hippokratischen Eids.«

»Vielleicht hat man dich damit markiert, und du bist nur knapp einer Organentnahme für den Schwarzmarkt entkommen«, sinnierte Priya.

»Genau. Wir Juden sind besonders beliebt für Nieren und Leber.« Ich bedeutete Priya, sich umzudrehen, und wurde dann endlich das hässliche, dünne Krankenhaushemd los. Nachdem ich meine ausgewaschene Jeans und den violetten Pullover wieder angezogen hatte, schnappte ich mir meine Lederjacke und machte mich mit Priya im Schlepptau auf den Weg zu Moriarty.

Auf dem Beifahrersitz stand ein mit Alufolie abgedecktes Backblech, und mein Auto roch nach Zimtschnecken. Das war viel besser als das Duftbäumchen Marke »Abgestandene Luft im Neuwagen«, das von meinem Rückspiegel baumelte.

»Jetzt wird’s gruselig«, meinte ich. »Tattoos, plötzlich auftauchendes Gebäck, was kommt als Nächstes?«

»Mitleidsschnecken von meiner Mummy. Sie hat mich hergefahren.« Priya besaß eigene Schlüssel für Moriarty, die sie jetzt herausholte, bevor sie hinters Lenkrad stieg.

Ihre Mutter Geeta war einfach die Beste und noch dazu eine begnadete Köchin, die ihrer Tochter oft Mitleidsmahlzeiten für mich mitgab. »In diesem Fall werde ich nicht teilen.«

»Doch, wirst du.« Priya drehte den Schlüssel in der Zündung, ohne sich mit dem Glücksklopfen aufzuhalten, und mein Auto sprang tadellos an. So ein kleiner Mistkerl. »Andernfalls hast du sicher viel Spaß beim Erraten deiner neuen Passwörter.«

Ich nahm die Folie ab, rupfte ein Stückchen von einer Zimtschnecke ab und hielt es ihr hin. Sie steckte es sich in den Mund und fädelte sich dann in den Verkehr auf dem West Broadway ein.

Wie war ich eigentlich in diesen Schlamassel geraten, in dem es nicht mal das Schlimmste war, dass mich eine Kundin belogen hatte, obwohl mich das gut und gerne den Job kosten konnte?

»Wirst du es behalten?«, fragte Priya.

»Nein, ich werde ihm ein gutes Zuhause mit liebevollen Eltern suchen, die ihm ein Leben ermöglichen, wie ich es niemals könnte.«

Sie trat kräftig auf die Bremse, um die Kollision mit einem dummdreisten Fußgänger zu vermeiden, und hielt mich gleichzeitig fest.

Ich schlug mit dem Hinterkopf gegen die Kopfstütze. »Autsch.«

»Sorry.«

»Natürlich werde ich das verdammte Tattoo bei der erstbesten Gelegenheit wieder los.« Ich war mit einem Vater aufgewachsen, der sich die Wahrheit immer so hindrehte, wie er sie gerade brauchte, und der nicht mal in einen Supermarkt gehen konnte, ohne jemanden auszunutzen. Auch deswegen hatte ich keinerlei Toleranz gegenüber Menschen, die andere bescheißen wollten. Insbesondere mich. Dass mich jemand ohne mein Wissen oder meine Zustimmung tätowiert hatte? War das Allerletzte.

Wissen war Macht, doch jetzt gerade fehlte mir beides. Vorsichtig lehnte ich mich im Sitz zurück. Mein Kopf hämmerte wie verrückt, doch immerhin war mir nicht schwindelig.

Regen prasselte gegen die Windschutzscheibe, und das gleichmäßige Vor und Zurück der Wischblätter hätte mich wohl eingeschläfert, wenn es nicht so kalt gewesen wäre. Wenigstens wärmte mir das Blech auf meinem Schoß angenehm die Beine.

Priya fummelte am Radio herum und drehte die Lautstärke auf, als »Shoop« von Salt-N-Pepa eingespielt wurde. Sie stupste mich mit dem Ellenbogen an, bis ich mitrappte und mit herumhampelte. Das war unser Stimmungsaufheller-Lied, und dem konnte ich nie widerstehen.

Immer noch aus vollem Hals grölend erreichten wir unser Viertel Commercial Drive. Viele nannten es nach wie vor Little Italy, auch wegen der vielen Fahnen in Rot, Weiß und Grün, die von den Straßenlaternen und Fußgängerüberwegen hingen, dabei lebten hier tatsächlich die unterschiedlichsten Menschen. Nachdem Kanada vor einigen Jahren seine Grenzen für eine Nefesh-Flüchtlingswelle geöffnet hatte, konzentrierte sich hier viel Magie. Etliche der Neuankömmlinge stammten aus dem Mittleren Osten und aus Afrika und bevorzugten das vergleichsweise milde Klima in Vancouver.

Priya bremste an einer Ampel und rappte synchron mit Big Twan, während ich aus dem Fenster hinüber zu dem riesigen Kirschbaum im Vorgarten der Gärtnerei Green Thumb schaute. Der magische Baum durchlief einmal pro Stunde die vier Jahreszeiten, unabhängig vom tatsächlich herrschenden Wetter. Um ihn herum ragten nur kahle Äste in den Himmel, doch die Kirsche stand gerade im Übergang vom Frühling zum Sommer in voller Blüte. Zunehmend mehr rosafarbene Blütenblätter segelten zu Boden und machten grünem Laub Platz.

Vor dem Geschäft mühte sich ein Angestellter in einer Arbeitsjacke, auf der das Green-Thumb-Logo prangte, mit einem großen Keramik-Blumenkübel ab, den er schließlich auf den Rücksitz eines Autos wuchtete. Eine Frau mit Glatze und zahlreichen Piercings rückte den Beifahrersitz für ihn nach vorne.

Den Angestellten hatte ich schon ein paarmal gesehen. Er hatte sich den lächerlichen Hipster-Bart abrasiert, aber das wirklich Seltsame an seiner Erscheinung war der verschwommene Schatten, der aus ihm herauswaberte und in die Frau floss. Das Gebilde wirkte seltsam ölig-zäh, und in ihm schien pure Boshaftigkeit zu pulsieren.

Ich konnte den Blick nicht abwenden.

Neben mir rappte Priya weiter, als wäre alles wie immer.

Die Frau im Auto hustete plötzlich, als würde etwas in ihr auf das Schattenwesen reagieren, während der Angestellte ihr munter plaudernd weiter mit ihrem Einkauf half. Ich griff nach der Fensterkurbel, wollte die Scheibe runterlassen und ihr eine Warnung zurufen, als der Schatten plötzlich in der Bewegung innehielt.

Noch hatte er den Mann nicht ganz verlassen und vollkommen von der Frau Besitz ergriffen. Das geisterhafte Wesen drehte sich, als würde es nach etwas suchen, und streckte dann einen Tentakel in meine Richtung aus.

Meine Haut kribbelte, und eisige Kälte drang mir bis in die Knochen. Ich kämpfte gegen den Drang, die Arme schützend um meinen Körper zu schlingen, als könnte ich damit verhindern, dass mir zusammen mit der Wärme auch die Seele entzogen wurde. Die Kurbel drückte ich fest nach oben, um das Fenster dicht zu halten.

In fünf Sekunden würde die Ampel auf Grün schalten, und wir konnten verschwinden. Gähnend richtete ich den Blick wieder nach vorne und täuschte Desinteresse vor, wobei ich peinlich genau darauf achtete, mich nicht zu verspannen.

Der verschwommene Tentakel kam näher, und der Rest des Schattens war nur noch durch einen dünnen Faden mit dem Green-Thumb-Mitarbeiter verbunden, ein Großteil von ihm steckte bereits in der glatzköpfigen Frau. Schwarze Linien schlängelten sich über ihre Hände und ihr Gesicht, doch keiner der Passanten auf dem Gehweg schien etwas zu bemerken.

Auch Priya bekam von alldem nichts mit und sang munter den letzten Refrain.

Zwei Sekunden.

Komm schon, werd grün!

Der Tentakel schmiegte sich seitlich an mein Auto und drückte gegen die Scheibe.

Mir drehte sich der Magen um, und ich schob rasch die zitternden Hände unter meinen Hintern.

Ein Hauch von Dunkelheit drang ins Innere des Wagens …

Und wich wie von einem Gummiband gezogen wieder zurück, in die Frau, deren Gesichtszüge einen Moment lang vollkommen von dem Schatten verhüllt wurden, was ihr im strömenden Regen ein gespenstisches Aussehen verlieh.

Das Wesen riss sich endgültig von dem Mann los. Der griff sich daraufhin mit einer Hand an die Brust und brach zuckend auf dem Asphalt zusammen. Seine Augen starrten blicklos ins Leere.

Der Schatten hatte irgendwann zuvor von ihm Besitz ergriffen, doch nun wurde der Mann anscheinend nicht mehr benötigt.

Der Schatten hatte ihn getötet.

Jetzt befand er sich vollständig in der Frau, auch wenn sich das in keiner Weise optisch oder in ihrem Verhalten zeigte. Wie jede andere gute Bürgerin wählte sie bereits den Notruf, und ich hörte sie dumpf etwas von einem Herzinfarkt ins Handy brüllen, doch es war zu spät.

Priya drehte den Kopf, um hinüberzusehen – und die Ampel schaltete auf Grün.

»Fahr!«, schrie ich sie an.

Sie trat prompt aufs Gas, und das Auto setzte sich in Bewegung.

»Was ist los? Ist dem Kerl was passiert?«, fragte sie.

Ich rang nach Luft. Allein der Anblick dieses Dings hatte mir ein Stück meiner Seele geraubt.

»Hey, du bist wieder blass und schwitzt.«

Weil das einfach nicht echt gewesen sein konnte. Erst ein paar Blocks vor dem Schaufenster von Muffin Top schaffte ich es, meine bis an die Ohren hochgezogenen Schultern zu entspannen.

Reflexartig warfen Priya und ich einen Blick in die Auslage. Das Geschäft hatte die Teeparty beim verrückten Hutmacher aus Alice im Wunderland mit antiken bemalten Holzpuppen nachgebaut, die an einem Tisch saßen. Teekannen schwebten magisch beseelt vor den Gästen in der Luft und gossen dampfenden Tee in zierliche Porzellantassen. In der Mitte des Tischs hüpften bunt verzierte Cupcakes auf und ab, und um die Puppen kreiselten herzförmige Marmeladentörtchen. Über allem tauchte immer mal wieder eine riesige Grinsekatze auf, nur um gleich darauf zu verschwinden.

Ein Schild vor der Tür pries die verschiedenen Leckereien an, die von den Erdelementaren in der Bäckerei hergestellt wurden.

»Ooh, Beatrice hat Marmeladentörtchen gebacken. Sie war sich nicht sicher, ob sie es zeitlich schafft, weil Miguel ein paar Tage mit Fieber im Bett lag.« Priya hielt vor dem Gebäude, das im Erdgeschoss eine Galerie mit ziemlich abgefahrener Kunst und ein griechisches Restaurant beherbergte. Im ersten Stock befand sich unsere Wohnung. »Soll ich mit raufkommen?«

Ich warf einen Blick auf die Uhranzeige meines Handys. »Nein, du bist sowieso schon spät dran für dein Meeting. Nimm das Auto. Und lass sie gerne wissen, dass sie dich ja nicht noch mal um drei Uhr morgens anrufen sollen, weil ihnen wieder etwas Tolles eingefallen ist, das sie geändert haben wollen.«

Seit sechs Monaten arbeitete Priya an der Programmierung eines großen Datenbankprojekts für eine exklusive Restaurantgruppe, die hier in der Stadt ansässig war. Sie fand das Ganze zwar fast genauso sterbenslangweilig wie ich, aber der Auftrag brachte Geld in die Kasse.

»Ich kann ihnen keine Abfuhr erteilen«, gab Priya zu bedenken.

»Wer hat gesagt, dass du gleich die schweren Geschütze auffahren sollst? Ich meine nur, dass du ihnen ein paar Grenzen setzen solltest.«

»Ist schon in Ordnung. Das Projekt ist beinahe beendet.« Genau das hatte sie schon vor zwei Monaten behauptet. Eigentlich hätte Priya diese Woche gar nicht daran arbeiten müssen, vor allem nicht nach den Sechzehn-Stunden-Tagen der letzten.

»Wie geht’s Krishan?« Ich löste meinen Sicherheitsgurt. »Ich habe ewig nichts mehr von ihm gehört.«

Priya warf mir bei diesem abrupten Themenwechsel einen finsteren Blick zu. Weder ihr Vater noch ihr Bruder Krishan waren besonders glücklich darüber gewesen, dass sie ihren sicheren Job mit regelmäßigem Einkommen und Krankenversicherung bei einem großen Versicherungsunternehmen gekündigt und eine Karriere als freiberufliche Programmiererin gestartet hatte. Allerdings würden sie auch immer für ihr Nesthäkchen in die Bresche springen. Krishan, der als Anwalt arbeitete, hatte mich mit einer Liste von Beschäftigungsbedingungen in die Mangel genommen, als Priya bei mir angefangen hatte, bis Geeta eingeschritten war und mich vor ihm gerettet hatte.

»Wehe, du rufst ihn an«, drohte sie. »Ich musste mir beim letzten Familienessen schon einen Vortrag von Daddy anhören, dass ich nicht genug esse. Krishan ist noch schlimmer. Am Ende verlangt er eine Arbeitszeitaufstellung und ein Schlaftagebuch von mir.«

»Liebevolle Strenge, Babe. Denk dran, dass deine Kunden dich dringender benötigen als du sie.«

»Ja, ja.« Sie gab mir einen Kuss auf die Wange. »Ruf an, wenn du was brauchst.«

»Mache ich, und danke.« Ich reichte ihr noch eine halbe Zimtschnecke. »Bis später, Adler.«

»Bis dann, Holmes.«

Das Blech auf einer Hand balancierend, eilte ich mit eingezogenem Kopf durch den eiskalten Regen. Meine Zehen fühlten sich bereits taub an, und die Wärme meiner Wohnung lockte mich, weswegen ich einen Zahn zulegte.

»Ashira.« Ein beleibter, rotgesichtiger Mann mittleren Alters tauchte aus dem Eingang des griechischen Restaurants auf, blieb aber unter der breiten Markise stehen. In einem der Schaufenster prangte ein Aufkleber mit dem Emblem der Reinheitsallianz, einer geballten Faust, aus der ein Tropfen Blut quoll. Für eine nichtreligiöse Partei waren diese Leute ganz schön fanatisch.

»Vasilios.« Meine Laune verbesserte sich bei seinem Anblick nicht gerade. Hastig fummelte ich meinen Schlüssel ins Schloss der weißen Metalltür, die noch schäbiger aussah als sonst. Irgendwer hatte eine Delle in eine der unteren Ecken getreten. »Ist gerade ziemlich schlecht.«

»Könnten Sie vielleicht mal mit Ihrer Mutter reden? Ein gutes Wort bei ihr einlegen, damit ich eventuell das Catering bei der nächsten Wohltätigkeitsveranstaltung der Allianz übernehmen könnte?«

Oh, Vasilios. Überreichliche Portionen Lamm mit Ofenkartoffeln passten leider nicht zum Prestige dieser Veranstaltungen. Von seiner automatischen Annahme, dass meine Mutter aufgrund ihres Geschlechts für die Bewirtung zuständig war, einmal ganz abgesehen.

Ich richtete mich zu meinen vollen eins dreiundsiebzig auf. »Sie erwarten von mir, dass ich Talia, die leitende Politikberaterin des Provinzialverbands der Reinheitsallianz, mit Fragen über das Catering belästige?«

Nur weil ich die rassistischen Ansichten der Allianz (oder wie auch immer man den Hass gegenüber Nefesh nannte, der Streit um die angemessene Bezeichnung dafür reichte schon so lange zurück wie die Ablehnung selbst) nicht teilte, würde ich ihm seine sexistischen Vorurteile noch lange nicht durchgehen lassen.

Vasilios wich einen Schritt vor mir zurück. »Nein?«

»Das dachte ich mir«, entgegnete ich mit einem schmalen Lächeln.

Nachdem ich die Tür aufgeschlossen hatte, erklomm ich die schier endlose, schmale Treppe so schnell, wie es mein schmerzendes Bein erlaubte. Ein paarmal konnte ich mir einen Blick über die Schulter nicht verkneifen, um sicherzugehen, dass das Schattenwesen nicht plötzlich wie aus dem Nichts hinter mir auftauchte. Wenigstens wurde ich nicht mehr vom Geruch nach Essig und Bleiche begrüßt, da meine frühere Nachbarin Mrs Hamdi in ein Seniorenwohnheim übergesiedelt war.

Über den Ladeneinheiten im Erdgeschoss befanden sich nur zwei Apartments. Ich teilte mir mit Priya die Dreizimmerwohnung hinter der Tür, die sich weiter vom Treppenabsatz entfernt befand. Sie war ein wenig ungeschickt geschnitten, und nur die Hälfte der Zimmer bekam ordentlich Sonne ab, aber die Dielenfußböden, Türrahmen und Fensterbretter waren noch aus dem Originalholz – und was viel wichtiger war: Die Miete war halbwegs bezahlbar, was in Vancouver eine echte Seltenheit darstellte.

Im Inneren angekommen schloss ich die Tür mit zwei Schlüsselumdrehungen ab und suchte mir einen Weg durch das Labyrinth von Priyas Habseligkeiten, die sich überall im Apartment verteilten, um die Fenster zu überprüfen. Erst dann zog ich meine Motorradstiefel aus und stellte sie neben meinen Schrank, bevor ich mich auf mein sauber gemachtes Bett fallen ließ. Die Heizungswärme vertrieb nur langsam die Kälte aus meinem Körper.

Jetzt, mitten am Nachmittag, war es in meinem Schlafzimmer so dunkel, wie es nur werden konnte. Später würde mich das Flutlicht vom Gebäude gegenüber wie immer blenden. Jede Nacht hatte ich das Gefühl, von Aliens entführt zu werden, und mitunter gestalteten sich meine Träume dementsprechend interessant.

Für den Moment war ich aber ganz zufrieden damit, im Halbdunkel Zimtschnecken direkt vom Blech in mich hineinzustopfen und die Gegenstände um mich herum im Kopf alphabetisch aufzuzählen. Von »Buch« über »Tagesdecke« bis hin zu »Wecker« – und der Reißverschluss des Bettbezugs wurde auch nicht ausgelassen. Dieses Ritual hatte ich mir als Jugendliche angewöhnt, und bis heute vermittelte es mir Ruhe.

Nachdem ich damit durch war, studierte ich den riesigen Wandteppich, der einen Großteil der Wand gegenüber meinem Bett einnahm. Die abstrakte Darstellung des Pariser Eiffelturms in geometrischen Formen trug den Titel Paris im Mondlicht. Das Ding hatte ich zusammen mit dem cremefarbenen, antiken Sofa aus handgeschnitztem Holz und getuftetem Polster von meinen Großeltern geerbt. Meinem persönlichen Geschmack entsprach keins von beidem, aber irgendwie hatte ich mich so sehr an die Sachen gewöhnt, dass ich sie bei meinem Auszug von zu Hause mitgenommen hatte.

Langsam legte sich meine Panik wieder, und schließlich konnte ich – um es mit Sherlocks Worten zu sagen – das Unmögliche ausschließen. Da es mir zweifelhaft schien, dass ich plötzlich die unglaubliche Fähigkeit besaß, böse Kreaturen zu sehen, die außer mir niemand wahrnahm, zog ich das Unwahrscheinliche in Betracht: Diese Begebenheit war die seltsame Spätfolge meiner Gehirnerschütterung, und ich hatte lediglich einen ganz normalen Herzinfarkt beobachtet.

Damit war alles wieder da, wo es hingehörte. Ich zog mein Handy aus der Tasche und wählte den Kontakt meiner Mutter aus. »Hey, Talia.«

»Ashira, machst du dich gerade fertig?« Meine Mutter gab ihrer Assistentin die Anweisung, wann ihr Auto bereitstehen sollte.

Heute war Freitag, was bedeutete … Oh, shit. Die Gala.

Jahrelang hatte Talia gute Miene zum bösen Spiel meines Nefesh-Vaters gemacht, doch das hatte ein jähes Ende genommen, als er uns verließ. Adam Cohen war ein Charismat – er besaß die magische Fähigkeit, Menschen zu umgarnen –, und nachdem er abgehauen war, hatte meine Mutter Magie in die Schublade der manipulativen Dinge gesteckt, denen sie sich nicht beugen wollte und zu denen für sie unter anderem auch Religion gehörte. Sie hatte ihr Jurastudium abgeschlossen, sich der aufstrebenden Reinheitsallianz angeschlossen und war schnell zu einem ihrer einflussreichsten Mitglieder aufgestiegen.

Talias politische Karriere beruhte nicht auf einem inbrünstigen Glauben an die Reinheit menschlicher Blutlinien. Sie war eher ein Ausdruck ihres Frusts und der Bitterkeit wegen ihrer Ehe sowie ihres unbedingten Willens, sicherzustellen, dass »Magie sauber kontrolliert« wurde.

Ich konnte ihre Meinung nachvollziehen, teilte sie aber nicht. Menschen verhielten sich anständig oder eben nicht, in dieser Gleichung spielte Magie keine Rolle. Auch unter den Weltigen gab es mehr als genug Kriminelle und Arschlöcher.

Seit Wochen schickte Talia mir regelmäßig Erinnerungsmemos wegen dieser Gala, da die Familien ihrer Kollegen ebenfalls anwesend sein würden. Da konnte ich mich als pflichtbewusste Tochter nicht vor den Kameras drücken.

Natürlich könnte ich meine Gehirnerschütterung vorschieben, um aus der Nummer rauszukommen, doch dann würde ich mir ewig ihr Gezeter anhören dürfen, dass ich zwar nicht die Werte ihrer Partei unterstützen müsse, sehr wohl aber sie. Darauf hatte ich nicht die geringste Lust. Und ich hatte Fragen zu meinem Tattoo, also musste ich mich für das kleinere Übel entscheiden: mich nach meinem höllischen Tag mit meiner Mutter auseinandersetzen oder noch länger auf Antworten warten?

»Ich werde da sein«, antwortete ich schließlich. »Aber ich will nachher fünf Minuten alleine mit dir.«