Joanne Redwood - Juliane Liska Greil - E-Book

Joanne Redwood E-Book

Juliane Liska Greil

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Beschreibung

Die Zeiten am Anfang des 13. Jahrhunderts sind unruhig, und der König von England ist schwach. Barone kämpfen um die Vormacht im Lande. Als Roderick Brackton seinen königstreuen Rivalen Erwan Redwood durch eine falsche Anklage ausschaltet, ist er sich sicher, dass er keinen Widerstand mehr zu befürchten hat. Zumal er auch die Güter und Ländereien Redwoods zugesprochen bekommt und dadurch noch mächtiger ist. Doch Redwoods einzige Tochter, die achtzehnjährige Joanne, kann entkommen. Sie schwebt in ständiger Gefahr vor ihren Verfolgern. Um zu überleben und die Unschuld ihres Vaters zu beweisen, gibt es für Joanne nur eine Möglichkeit: Sie muss kämpfen lernen. Aber das ist für eine junge Frau in dieser Zeit nahezu unmöglich ...

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Seitenzahl: 164

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Juliane Liska Greil ist eine junge Schriftstellerin aus Siegen. Ihr erstes Buch „Das Geheimnis um Jackie Johnson“ veröffentlichte sie 2008 im Alter von 9 Jahren. Zwei Jahre später folgte die Fortsetzung „Verschollen in der Vergangenheit“, ein weiterer Zeitreiseroman mit Jackie Johnson und dem Erfinder Max Mankel. 2012 kam „Elf Tage Zeit“ heraus, ein spannendes Abenteuer aus dem Mittelalter. Mit „Joanne Redwood“ legt sie nun ihren vierten Roman vor. Weitere Bücher sind in Vorbereitung.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Epilog

Nachwort

Prolog

Im Namen von King Henry, König von England, klage ich Erwan Redwood, Earl of Thone, und alle Mitglieder der Familie Redwood des Hochverrates an. Sie sollen die Rebellion der Barone im Süden Englands unterstützt haben.

„Auf den Wagen!“, befahl der Sheriff barsch.

Sir Erwan Redwood reckte das Kinn und kletterte hinauf. Die Männer des Sheriffs hatten ihn und seine Gemahlin im Namen des Königs festgenommen. Wegen Hochverrats! Ausgerechnet sie!

Der Burgherr ließ seine auffallend grünen Augen umherwandern. Lady Mary, die sich im Karren zusammenkauerte, wirkte wie betäubt. Sir Erwan rutschte zu ihr und nahm ihre Hand.

„Wo ist Joanne?“, raunte sie.

Er sah auf. „Ich weiß es nicht!“

Ihre achtzehnjährige Tochter Joanne war nirgendwo zu sehen. Anscheinend hatten die Männer des Sheriffs sie nicht gefunden.

In diesem Moment ruckelte der Karren los. Er wurde von zwei Pferden gezogen und von einem Trupp Soldaten bewacht.

„Sie ist ihnen entkommen“, flüsterte Sir Erwan.

„Aber … wie soll sie alleine fertig werden?“

Sir Erwan nahm seine Gemahlin in die Arme.

„Joanne ist klug und willensstark!“, sagte er mit Stolz in der Stimme. „Sie wird sich zu unseren Freunden durchschlagen. Diese werden für sie sorgen, bis die Angelegenheit geklärt ist.“

Angst glomm in Lady Marys Augen auf.

„Glaubst du, dass uns etwas passieren wird?“

Sir Erwan seufzte.

„Roderick Brackton hat mich angeklagt. Er will unsere Ländereien. Durch sie würde er noch mächtiger.“

„Aber er wird sie doch nicht bekommen?“

„Wenn er mit der Anklage Erfolg hat, ja. Dann wartet der Verrätertod auf mich: Hängen, Ausweiden und Vierteilen! Und Brackton bekommt unsere Ländereien zugesprochen.“

Seine Gemahlin schlug die Hand vor den Mund.

„Bitte sag, dass das nicht wahr ist! Wir haben nichts getan!“

„Brackton wird Zeugen gekauft haben, und er besitzt großen Einfluss. Wenn ich meine Unschuld nicht beweisen kann, muss ich ein Gottesurteil fordern. Das wird der König mir nicht verweigern. Der Gewinner im Zweikampf beweist, dass er schuldlos ist. Und Brackton wird für seine Lügen bezahlen!“

„Ich fühle mich wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird“, murmelte Lady Mary.

„Wir dürfen keine Schwäche zeigen. Diesen Gefallen tun wir ihnen nicht! Ein Redwood gibt niemals auf! Mary, du musst jetzt stark sein, dann wird alles gut. Ich hole uns hier raus, das verspreche ich!“

„Lass uns beten. Solange Gott bei uns ist, wird uns nichts passieren!“ Lady Mary faltete die Hände.

Sir Erwan krallte seine Finger grimmig in die Umrandung des Karrens. Mit schmalen Lippen und zusammengekniffenen Augen starrte er feindselig ins Leere. Er wünschte, er hätte den unerschütterlichen Glauben seiner Frau.

Der Karren rumpelte über die Waldwege. Plötzlich ertönte ein Ruf.

„In Deckung!“

Sir Erwan wirbelte herum. Aus den Büschen kamen mit Bögen bewaffnete Leute hervorgesprungen.

Der Erste, der durch einen Pfeil getötet wurde, war der Sheriff.

Ein weiterer Pfeil flog durch die Luft und bohrte sich mit einem knarzenden Geräusch in Sir Erwan Redwoods Brust. Kein Laut entfuhr seiner Kehle. Er fiel einfach um.

Vögel zwitscherten in den Bäumen. Der Wind strich ihm über die Stirn. Der grelle Todesschrei Lady Marys im Kampflärm war das Letzte, was er im Sterben hörte.

1

Zwölf Stühle standen um den Tisch herum, doch nur elf waren belegt. Der Wein in den Bechern der anwesenden Ritter war unberührt. Die Stimmung wirkte angespannt.

„Wie ihr wisst, ist Erwan Redwood getötet worden“, sagte Sir Robert in das Schweigen. „Es hat gedauert, bis wir Ritter des Bundes zum Schutz des Königs gegen die Aufständischen uns treffen konnten. Alle, die mit Redwood befreundet waren, stehen unter Beobachtung.“

Sir Robert strich sich über das angegraute halblange Haar. Eine eigenwillige Locke fiel ihm in die hohe Stirn. Mit verkniffenen Mundwinkeln musterte er die Anwesenden.

Ein junger kräftiger Ritter mit langen dunklen Haaren und eleganter Kleidung erhob die Stimme. „Es heißt, Redwood und der Sheriff wurden von Geächteten aus Leofrics Bande umgebracht.“

„So erzählt man es, Nial“, antwortete Sir Robert. „Doch Leofrics Männer wurden am selbigen Nachmittag weiter nördlich gesichtet. Ich glaube nicht, dass sie mit dem Überfall zu tun hatten. Sie würden sich nicht an den Sheriff und seine Männer wagen.“

„Brackton steckt dahinter“, meinte Sir Baldric, ein älterer Ritter mit grauen kurzen Haaren. „Seine Beweise sind erkauft. Durch Redwoods Tod kann sich dieser aber nicht mehr gegen die unglaublichen Vorwürfe verteidigen.“

„Wir müssen Redwoods Tod rächen und Brackton der falschen Aussage überführen!“, sagte Sir Nial.

„Die Zeit ist noch nicht gekommen!“, meinte Sir Robert und strich über seinen Kinnbart.

„Verdammt! Die Lage spitzt sich zu! Die Rebellion der Barone im Süden breitet sich aus. Bald können auch wir nicht mehr in Frieden leben! King Henry ist schwach, er lässt sich von Brackton beeinflussen! In naher Zukunft ist Brackton der eigentliche Herrscher des Landes! Nun hat er Redwood aus dem Weg geräumt. Den Einzigen, der ihm standhielt! Wir müssen handeln!“ Nial sprang auf. Sein Stuhl knallte auf den Holzboden.

„Ihr seid jung und hitzig. Solch eine Sache muss man mit Vernunft angehen!“

„Ruhe!“, rief Sir Baldric. „Es ist wahrlich keine Zeit für Streitereien! Wir haben die Aufgabe, das Königreich vor den Rebellen zu schützen! Und es scheint, dass Brackton gemeinsame Sache mit den Baronen macht.“

Für einen Moment herrschte Stille.

„Redwood hatte die größten Ländereien“, sagte Sir Robert. „Da Brackton sie nun bekommen hat, ist er umso stärker. Redwood war der Einzige, der Brackton hätte aufhalten können.“

Wieder herrschte Schweigen.

„Seine ganze Familie wurde des Hochverrats angeklagt! Ihre Titel und ihre Besitztümer wurden ihnen aberkannt!“, knurrte Sir Baldric. „Wie konnte King Henry nur diese falschen Anschuldigungen glauben?“

„Es heißt, Redwoods Tochter Joanne ist vor der Festnahme entkommen.“

„Wir müssen sie finden und ihr helfen!“

„Aber wir verstoßen gegen das Gesetz.“

„Sie ist Redwoods Tochter. Das sind wir ihm schuldig!“, meinte Sir Robert.

Die Ritter erhoben die Becher.

„Auf Erwan Redwood!“

Plötzlich klopfte es an der Tür. Es war die Magd Peronell.

„Da ist ein Herr und möchte Euch sprechen“, sagte sie.

Sir Robert schaute sich unruhig in der Runde um. „Eine Falle?“

„Ist er allein?“, fragte Sir Baldric.

„Er ist allein und sagt, er bringe Neuigkeiten über Erwan Redwood“, antwortete Peronell und blieb unschlüssig in der Tür stehen. „Soll ich ihn hereinlassen?“

„Bring ihn herein“, befahl Sir Robert. Wer mochte der mysteriöse Unbekannte sein?

Es klopfte wieder. Eine Person in einem schwarzen Umhang trat ein. Die Kapuze hielt der Fremde tief ins Gesicht gezogen.

„Was wollt Ihr?“, fragte Nial und trat aus dem Schatten auf den Ankömmling zu. Seine rechte Hand hielt er griffbereit auf dem Schwert an seiner Seite.

„Ich bin hier im Namen Sir Erwan Redwoods.“

„Sir Erwan Redwood? Seid Ihr ein Freund von ihm?“

„Ich bin seine Tochter!“

Die Person schlug die Kapuze zurück.

Ein Raunen ging durch den Raum.

„Joanne Redwood!“, entfuhr es Sir Baldric.

Die junge Frau wirkte abgemagert. Unter ihren tiefgrünen Augen lagen dunkle Schatten. Sir Robert erschrak. Fast hätte er sie nicht wiedererkannt.

„Lady Joanne! Wie geht es Euch? Ich werde Peronell rufen, dass sie Essen und ein Bett für Euch herrichtet!“

„Wartet, Sir Robert. Das ist sehr fürsorglich, aber ich möchte hier bleiben.“

Joanne Redwood setzte sich auf den zwölften Stuhl. Den Stuhl ihres Vaters. Die Ritter tauschten verstohlene Blicke aus.

„Wie habt Ihr es geschafft, zu entkommen?“

„Ich konnte mich verstecken. Oscar, unser Wildhüter, hat mir geholfen. Ihm verdanke ich mein Leben. Ich verbarg mich in einer Hütte im Wald, und er brachte mir manchmal zu essen und Neuigkeiten.

Wie Ihr wisst, hat Roderick Brackton meinen Vater des Hochverrats angeklagt. Ich glaube, dass er meine Eltern und die Männer des Sheriffs ermorden ließ, damit sich mein Vater nicht gegen die Anschuldigungen wehren konnte.“

„Diese Möglichkeit haben wir auch in Erwägung gezogen“, sagte Sir Robert. „Brackton bereichert sich am Tod Eures Vaters.“

Die anderen Ritter nickten.

„Ich freue mich, dass Ihr an die Unschuld meines Vaters glaubt!“, fuhr Joanne fort. „Zuerst wusste ich nicht, was ich tun sollte. Dann fiel mir ein, dass mein Vater sich oft mit Freunden in diesem Gasthaus getroffen hatte.“

„Eine kluge Entscheidung, Lady Joanne! Wir können Bracktons Pläne im Moment nicht durchkreuzen, aber wir werden für Euch sorgen. Ihr hattet eine fürchterliche Zeit. Wollt Ihr Euch ausruhen und zu Bett gehen?“

„Danke, es geht mir gut! Ich bin hergekommen, weil mein Herz nach Vergeltung dürstet.“ Joanne atmete tief ein und aus.

„Wir werden Eure Eltern rächen, wenn die Zeit reif ist“, sagte Sir Robert.

„Ihr MÜSST ihn rächen und unsere Familienehre wieder herstellen!“ Joanne schaute verzweifelt im Raum umher.

Sir Robert legte seine Hand auf ihre, doch Joanne zog ihre Hand weg.

„Wie könnt Ihr nur so ruhig dasitzen? Das sollen die ruhmreichen und ehrenhaftesten Ritter des Landes sein? Wenn Ihr nicht den Mut aufbringt, so werde ich selbst Vergeltung üben!“

Nial lachte. „Wie stellt Ihr Euch das vor, Mylady?“

Joanne lehnte sich zurück. Ihre grünen Augen funkelten. „Wenn Aussage gegen Aussage steht, kann man ein Gottesurteil fordern. Der Kläger und der Angeklagte müssen einen Zweikampf bestreiten, und der Gewinner bekommt Recht!“

„Das ist wahr, Mylady. Aber Ihr …“

„Ich bin die einzige Redwood, die den Verrat überlebt hat!“

„Das ist richtig, aber Ihr seid eine Frau und kein Ritter! Wie wollt Ihr einen Zweikampf gewinnen?“

„Gott wird mir helfen!“

„Das ist lächerlich!“

Joanne starrte Nial hasserfüllt an. Dann stand sie auf und stürmte aus der Tür.

Sir Robert schüttelte den Kopf. „Euer Verhalten ist gegen die Ritterehre, Nial! Ihr habt Recht, aber das gibt euch nicht die Erlaubnis, so mit einer Dame zu sprechen.“

Nial seufzte.

Ein Ritter erhob sich. „Ich versuche, sie zu besänftigen!“

Sir Robert stimmte ihm zu.

„Was machen wir mit ihr?“, fragte Sir Baldric.

„Wir könnten sie in ein Kloster bringen.“

„Ich weiß nicht“, warf Sir Baldric ein. „Sie scheint unter einem Schock zu stehen. Kein Wunder, was das arme Ding durchmachen musste. Aber es wäre nicht klug, sie in ein Kloster zu geben. Sie könnte auf törichte Gedanken kommen und fliehen. Wir sollten ein Auge auf sie haben.“

Sir Robert räusperte sich. „Ich nehme sie mit auf meine Burg.“

„Das ist wohlgesprochen“, sagte Sir Baldric. „Doch wie wollt Ihr sie verbergen?“

„Das ist wahrlich ein Problem. Niemand darf sie erkennen, sonst bin ich der Nächste, der des Hochverrats angeklagt wird.“

„Aber irgendjemand wird sie erkennen, das ist sicher“, meinte Sir Baldric. „Eure Burg ist nicht abgeschieden, und Lady Joanne schon bei einigen Anlässen gesehen worden.“

„Sie könnte sich als junger Mann verkleiden. Sie hat uns bei ihrer Ankunft auch so getäuscht. Brackton und sein Gefolge suchen nach einer jungen Frau.“ Nial grinste über seinen Vorschlag.

Sir Baldric schüttelte heftig den Kopf. „Das kann man einer Lady nicht zumuten.“

Sir Robert rieb sich das Kinn.

„Ich könnte sie als Sohn meines Freundes Belsington ausgeben. Belsington lebt im Norden und hat viele Söhne. So schnell wird niemand dahinter kommen. Sie könnte lange krank gewesen sein und deswegen noch kein Knappe. Das würde auch erklären, dass sie kleiner und zierlicher ist, als andere Knappen.“

„Und ihre langen Haare? Die müsste sie abschneiden“, sagte Nial. „Wird sie das machen?“

„Aber das geht doch nicht“, entrüstete sich Sir Baldric.

Sir Robert seufzte. „Hat jemand eine bessere Idee?“

Niemand antwortete.

2

Der Morgen dämmerte. Joanne benetzte ihr Gesicht mit kühlem Wasser. Die Kälte weckte ihre Lebensgeister.

Sie wusch sich gründlich von Kopf bis Fuß. Es war, als würde sie nicht nur den Schmutz entfernen, sondern den ganzen Schmerz, die Trauer, die Erniedrigung, die Todesangst.

Joanne betastete die Stirn. Eine Schramme erinnerte sie an ihre spektakuläre Flucht. Eine Haaresbreite war sie vom Tod entfernt gewesen. Sie war ihm noch einmal entronnen. Doch für wie lange? Joanne hatte keine Kenntnisse über die Intrigen, Verschwörungen und Bündnisse im Königreich. Aber sie konnte eins und eins zusammenzählen und wusste, dass ihre Karten schlecht standen. Wahrscheinlich würde sie sich ein Leben lang verstecken müssen. Ein Leben in Furcht und Angst. Joanne schluckte.

Es sei denn, die Ehre ihrer Familie würde wiederhergestellt. Doch wie? Die Freunde ihres Vaters hatten genug damit getan, ihr, einer Vogelfreien, zu helfen. Sie sollte dankbar dafür sein und nicht mehr verlangen.

Joanne lief die Treppen hinunter. Es war ungewohnt, kein Kleid zu tragen, sondern enge Beinlinge. Das Mieder, in das sie eingeschnürt war, um ihre weiblichen Rundungen zu verbergen, fühlte sich ebenfalls befremdlich an.

Sir Baldric saß an einem Tisch der Gaststube. Er lächelte sie an.

„Guten Morgen, Lady Joanne. Habt Ihr gut geschlafen?“

„Bitte nennt mich nicht Lady Joanne! Ich bin jetzt John Belsington, der Knappe!“

„Verzeiht. Kommt, wir haben einiges zu erledigen! Zuerst müssen Eure Haare geschnitten werden.“

Sir Baldric führte sie in die leere Küche.

„Peronell!“

Die alte Frau kam hereingeschlurft.

„Guten Morgen, Mylady.“

Sie drückte Joanne mit einem herzerwärmenden Lächeln auf einen Küchenstuhl.

„Ich kannte Euren Vater. Er würde den König niemals verraten.“

Joanne presste die Lippen zusammen.

Peronell setzte ihr einen Topf auf den Kopf.

„Alle sollen sie ab, Mylady? So schöne Haare! Warum macht Ihr das, Mylady? Und warum seid Ihr gekleidet wie ein Mann?“

Joanne zögerte. Durfte sie Peronell etwas erzählen? Die Ritter schienen ihr zu trauen.

„Ich muss mich als junger Mann ausgeben, damit mich niemand erkennt!“, sagte sie.

Peronell seufzte. „Sowas hatte ich befürchtet!“

Joanne schwieg. Stumm sah sie zu, wie ein braunes Haarbüschel nach dem anderen zu Boden fiel. Schließlich nahm Peronell den Topf ab. Sie begutachtete ihr Werk und schüttelte den Kopf.

„Eure herrlichen Haare, Mylady!“, jammerte sie.

Joanne sah in einen mit Wasser gefüllten Eimer. Ein fremdes und gleichzeitig bekanntes Gesicht spiegelte sich auf der Wasseroberfläche. Mit kurzen Haaren sah sie so anders aus. Ob sie wie ein Knappe wirkte?

„Ich bin John Belsington“, murmelte sie.

Joanne schlüpfte in die Gaststube. Inzwischen saßen einige Leute an den Tischen. Die Ritter des Bundes belegten einen Tisch in einer Ecke. Sie waren gekleidet wie gewöhnliche Reisende, um nicht aufzufallen.

Der einzige freie Platz war neben Sir Nial. Joanne holte tief Luft und trat an den Tisch. Alle Blicke richteten sich auf sie.

„Guten Morgen“, sagte Joanne und setzte sich auf die Bank. Nial musterte sie von der Seite. Joanne schoss das Blut ins Gesicht. Sie blickte auf den Tisch und betrachtete die Kerben in dem dunklen Eichenholz.

„Hier, esst etwas! Wir haben einen langen Ritt vor uns!“ Der junge Mann, der Joanne gegenübersaß, reichte ihr eine Schüssel und einen Löffel.

„Danke.“

„Ich bin Cedric Gray, Sir Roberts Sohn.“

Joanne bemerkte, dass er die gleichen meeresblauen Augen wie sein Vater hatte.

Nial stand auf.

„Ich werde aufbrechen.“

Joanne war erleichtert, dass er ging.

Einige Minuten später erhob sich auch Sir Robert.

„Da wir nun vollzählig sind, können wir losreiten! John, geht mit Cedric und sattle die Pferde!“

Joanne nickte und folgte Vater und Sohn nach draußen. Die Sonne schien tief am Himmel, und es war kalt. Joannes Zähne klapperten und sie war froh, als sie den warmen Stall erreichten. Drinnen roch es nach Heu und Pferden. Sie hörte ein leises Wiehern.

Die Ritter hatten ein Pferd für Joanne von Peronell gekauft. Es war eine gutmütige, alte Stute. Joanne stand zögernd vor ihr. Sie konnte gut reiten, wusste aber nicht, wie man ein Pferd sattelt. Das hatte sie nie selbst machen müssen. Cedric bemerkte ihre Unsicherheit und lachte. Er kam hinüber und zeigte es ihr.

„Das müsst Ihr schnellstens lernen, damit Ihr nicht auffallt“, sagte er.

Joanne lächelte und schwang sich in den Sattel. Es war ungewohnt für sie, nicht im Damensitz zu reiten.

Sie ritten los. Auf dem Weg fielen nur wenige Worte. Jeder hing seinen Gedanken nach.

Gegen Mittag erstreckte sich vor ihnen ein Dorf mit lehmfarbenen strohgedeckten Hütten und einem Platz in der Mitte.

„Das ist Grayvillage!“, sagte Cedric.

Er deutete auf einen Hügel. „Und das ist unsere Burg!“

Joanne sah hinüber. Die Burg war kleiner als Redwood Castle und schien älter zu sein. Joanne zählte vier Türme.

Die Drei gaben den Pferden die Sporen und galoppierten die Anhöhe hinauf. Durch die geöffnete Zugbrücke ritten sie auf den Burghof.

Alle starrten sie an. War ihre Tarnung gut genug? Joannes Herz klopfte bis zum Hals.

Sir Robert stieg vom Pferd und übergab die Zügel einem herbeigeeilten Stallburschen. Joanne und Cedric taten es ihm gleich. Als der Bursche die Pferde zum Stall führte, trat Joanne an Sir Robert heran und fragte leise: „Was nun?“

„Geduld!“, antwortete er. „Lasst mich nur machen.“

Eine blonde Schönheit lief auf die drei „Männer“ zu. Als sie Joanne bemerkte, runzelte sie die Stirn.

„Wer seid Ihr?“

„John Belsington, Mylady!“, sagte Joanne und verbeugte sich.

„Darf ich vorstellen? Diese junge Dame hier ist Linden, Cedrics Schwester.“ Sir Robert nahm seine Tochter lachend in den Arm und drückte sie fest.

Linden hatte große, blaue Augen und goldblonde Locken. Neben ihr kam sich Joanne richtig schäbig vor. Linden war eine Frau, wie sie Nial gefallen würde. Hübsch und jung! Eine die beschützt werden musste und die nicht widersprach.

Joanne schnaubte. Wenn sie an seine Worte von gestern dachte, kochte es in ihr hoch.

„Dies ist meine Gemahlin, Lady Ellyn.“ Sir Robert zeigte auf eine edel gekleidete Dame. „John ist der Sohn meines Freundes Belsington und unser neuer Knappe. Er hat eine lange Krankheit hinter sich, deshalb ist er noch etwas schwach. In seinem Zustand kann er unmöglich im Schlafsaal der Knappen schlafen. Ich habe gedacht, ihn in dem kleinen leerstehenden Gemach unterzubringen.“

Lady Ellyn stimmte ihrem Gemahl zu. „Ihr könnt gerne eine Weile dort verbringen, John.“

Joanne verbeugte sich. „Ich bin Euch zutiefst dankbar, Lady Ellyn!“

Linden kicherte.

Ja, das war eindeutig eine junge Dame, wie sie Nial gefallen würde.

3

Der stechende Geruch nach abgestandenem Bier stieg ihr in die Nase, und ihr kam die Galle hoch. Joanne hielt sich die Hand vor den Mund.

Draußen hörte sie hastige Schritte hin und her gehen.

„Wo ist die kleine Redwood?“, schimpfte eine männliche Stimme.

Sie durchsuchten den Keller! Joanne brach der Schweiß aus. Gleich würden die Soldaten sie finden. Und sie saß machtlos hier drinnen wie in ihrem eigenen Grab. Joanne schnürte es die Luft ab. Bleib ruhig, Joanne. Bleib ruhig. Sie presste ihre Finger auf den Mund. Oh Gott!

So große Angst hatte sie noch nie in ihrem Leben gehabt. Ach was, Angst. Panik. Pure Panik. Joanne wollte wegrennen, doch sie konnte nicht. Sie saß versteckt in einem Fass, das noch mit einem Rest Bier gefüllt war. Sie konnte sich kaum bewegen. Und die Schritte kamen näher.

Joanne wachte schweißgebadet auf. Sie richtete sich auf und lauschte ihrem klopfendem Herzen.

Alles ist gut, ermahnte sie sich. Sie haben dich nicht gefunden. Du lebst. Du lebst, verdammt noch mal! Joanne schlotterte am ganzen Körper. Wie oft hatte sie diese höllischen Minuten durchlitten? Jede Nacht träumte sie davon. Jeden Tag suchten die Männer des Sheriffs nach ihr. Eines Tages würden sie sie finden.