Joey - Wie ein blindes Pferd uns Wunder sehen ließ - Jennifer Marshall Bleakley - E-Book

Joey - Wie ein blindes Pferd uns Wunder sehen ließ E-Book

Jennifer Marshall Bleakley

5,0

Beschreibung

Auf dem Höhepunkt seiner Karriere als Sportpferd ist Joey der Traum eines jeden Pferdebesitzers. Doch eine Verletzung sorgt für das vorzeitige Karriereaus, und Joey wird von einem Besitzer zum nächsten weitergereicht. Am Ende findet man ihn in einem schäbigen Unterstand - verwahrlost, verängstigt und blind. In diesem Zustand kommt Joey auf "Hope Reins" an, einer Pferderanch, die sich auf die Arbeit mit traumatisierten und psychisch belasteten Kindern spezialisiert hat. Hier blüht das geschundene Pferd auf und zeigt, was wirklich in ihm steckt. Denn die Veränderungen, die Joey bei den Kindern und Mitarbeitern bewirkt, grenzen so manches Mal an ein Wunder ... Eine wahre und zutiefst bewegende Geschichte über Treue, Freundschaft und Heilung, die aufzeigt, dass Gott ein Herz für die Zerbrochenen hat. Und dass es sich lohnt, ihm zu vertrauen und voller Zuversicht weiterzugehen.

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Über die Autorin

Jennifer Marshall Bleakley hätte sich niemals träumen lassen, einmal ein Buch über Pferde zu schreiben – bis sie Joey traf. Als ehemalige Trauerbegleiterin für Kinder und Familien interessierte sie sich für die Arbeit auf Hope Reins, wo sie den blinden Appaloosa kennen- und lieben lernte und beschloss, seine bewegende Geschichte zu Papier zu bringen. Mit ihrem Mann und zwei Kindern lebt sie in Raleigh, North Carolina.

Ich widme dieses Buch meinen Eltern, Bill und Julie Marshall, die davon überzeugt waren, dass ich dies schaffen würde, lange bevor ich selbst daran glauben konnte.

***

Ebenso widme ich es allen, die im Gefängnis der Dunkelheit, der Hoffnungslosigkeit und des Schmerzes sitzen. Ich bete, dass diese Geschichte dazu beiträgt, ihre Augen für kleine Lichtstrahlen und Hoffnungsspuren zu öffnen.

Liebe Leserinnen und Leser,

ich habe Joeys Zeit auf HopeReins so wirklichkeitsgetreu wie möglich dargestellt, basierend auf Interviews und Erinnerungen von Personen, die mit seiner Rettung, Pflege und seinem Training befasst waren. Einige Namen und Details habe ich verändert, um die Privatsphäre der betreffenden Personen zu wahren. Auch habe ich mir gewisse schriftstellerische Freiheiten herausgenommen, um eine schlüssige Geschichte zu schreiben, und manche Ereignisse und zeitliche Abläufe gekürzt. Während ich dies schreibe, befinden sich noch immer viele der Pferde, die Teil von Joeys Geschichte sind, auf HopeReins.

Jennifer Marshall Bleakley

***

Von den Tieren draußen kannst du vieles lernen, schau dir doch die Vögel an! Frag nur die Erde und die Fische im Meer; hör, was sie dir sagen!

Hiob 12,7–8

PROLOG

Es regnete in Strömen, als Penny auf den langen Schotterweg einbog, den sie mit der benachbarten Pferdefarm teilte. Sie hatte zwei Monate fern von ihrer Heimat Virginia in Florida verbracht, um ihre sterbende Mutter zu pflegen, und der Anblick der weitläufigen grünen Weide war eine wohltuende Begrüßung für sie. Als sie über den Schotter fuhr, erblickte sie plötzlich eine Gruppe von Pferden.

Wie seltsam, dachte sie. Was machen die Pferde bei diesem Unwetter draußen? Sie fuhr langsamer und lehnte sich vor, bemüht, durch den dichten Regenschleier zu sehen. Plötzlich riss sie die Augen auf.

„Ach du meine Güte!“, keuchte sie. Sie bremste scharf, wendete rasch ihren Pick-up und fuhr geradewegs auf den privaten Zufahrtsweg der Farm, das „Durchfahrt verboten“-Schild kurzerhand ignorierend.

Sie öffnete das Metallgatter und stapfte durch den Matsch und die Jauche auf die Pferdeherde zu. Als sie sich den Pferden bis auf wenige Meter genähert hatte, blieb sie abrupt stehen. Die Tiere waren vollkommen ausgemergelt, einige konnten kaum noch aufrecht stehen. Neben ihnen, unter einer alten Eiche, lagen zwei bewegungslose Pferde. Ihre Mähnen waren vom Matsch verfilzt und ihre Flanken auf groteske Weise eingefallen. Penny spürte, wie sich ihr Magen verkrampfte.

Was ist hier los?

Sie stellte sich zum Schutz vor dem Regen unter den Baum, holte ihr Handy hervor und wählte den Notruf.

„Notrufzentrale, was kann ich für Sie tun?“

„Ich rufe von der Nash Farm in Powhatan County nahe dem US-Highway 60 an“, begann Penny mit zitternder Stimme zu sprechen. „Hier sind mehrere stark ausgezehrte Pferde auf der Weide, einige scheinen bereits verendet zu sein.“

„Wie viele tote Pferde sind es?“, fragte die Stimme am anderen Ende der Leitung in sachlichem Ton.

„Mindestens zwei“, erwiderte sie, während sie über die Weide blickte. Ihr Blick blieb an den Ställen in der Ferne haften.

„In Ordnung, Madam, in Kürze wird jemand von der Polizei und der Tierrettung bei Ihnen sein.“

Penny bedankte sich und stopfte ihr Handy in ihre Jackentasche, bevor sie auf die Ställe zuging. „Bitte, Gott, lass mich dort drüben keine weiteren kranken oder toten Pferde finden“, betete sie.

Kalter Regen rann über ihr Gesicht, während sie ihre Beine zwang, sie bis zu den Ställen zu tragen, die oben auf einem sanften Hügel standen. Daneben befand sich das ranchartige Farmhaus. Einer der Fensterläden hing schief in den Angeln und der untere Teil eines Fensters war zugenagelt.

Sie konnte sich nicht mehr erinnern, wann sie den Eigentümer zuletzt gesehen hatte. Es war ein Mann, der es sich zum Hobby gemacht hatte, Pferde zu sammeln, in der Hoffnung, sie mit Gewinn verkaufen zu können.

Ist er es leid geworden und fortgegangen? Ihre Gedanken wanderten zu den toten und sterbenden Pferden zurück. Wie um Himmels willen kann man so etwas tun?

Sie hüllte sich noch fester in ihre Regenjacke und beschleunigte ihre Schritte. In ihrem Magen spürte sie einen brennenden Knoten. Nie zuvor hatte sie eine solche Wut verspürt. Als sie sich den Ställen näherte, sah sie die verstreut herumstehenden, leeren Futtertröge. Es war November, das Gras war fast komplett abgegrast. Wann haben diese armen Tiere wohl zum letzten Mal etwas zu fressen bekommen?

Als sie schließlich die vier Holzställe erreichte, atmete sie tief ein und zwang sich, ins Innere zu schauen. Sie waren alle leer. Gott sei Dank, atmete sie auf. Doch dann, als sie gerade umkehren wollte, sah sie einen Huf aus dem letzten Stall ragen.

„Nein, nein, nein …“, flehte sie, während sie zu dem am Boden liegenden Pferd rannte.

Sie kniete sich nieder, Matsch und Pferdemist drangen durch ihre Jeans. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie den vertrauten blonden Schweif des Pferdes erblickte, das sie früher so gern von der anderen Seite des Zauns aus bewundert hatte. Sein freundliches Wesen hatte sie an ein Pferd erinnert, das sie als Kind geritten hatte. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, als sie behutsam die Flanke des Tiers berührte. Die Rippen malten sich deutlich unter der Haut ab. Schnell zog sie ihre Hand zurück. Der Regen fiel nun noch dichter, und schlammige Rinnsale flossen über den Körper des Pferdes, sodass hier und da das schwarz-weiß gescheckte Fell zu sehen war, das unter einer dicken Schmutzschicht verborgen war.

Drei tote Tiere, klagte sie.

Die Stille wurde vom Zuschlagen des vorderen Gatters durchbrochen. Die Vertreter der Behörden waren eingetroffen. Penny stand auf und ging über die Weide zurück, um sie in Empfang zu nehmen. Sie war von Kopf bis Fuß durchnässt und roch nach Mist, aber das kümmerte sie nicht.

Mitarbeiter der Tierrettung hatten bereits damit begonnen, die entkräfteten Pferde auf Anhänger zu führen, während andere Gerätschaften entluden, um die toten Tiere zu transportieren. Penny stand zitternd im Regen und beantwortete die Fragen des Sheriffs, als ein Schrei die von Wehmut erfüllte Stille zerriss. „Hey! Dieses hier lebt noch!“

Penny lief zurück zu den Stallungen, wo ein Mitarbeiter der Tierrettung seine Hand vor die Nüstern des am Boden liegenden Pferdes hielt.

„Sind Sie sicher?“, fragte sie hoffnungsvoll.

Der junge Mann sah zu ihr hoch und lächelte. Rinnsale tropften von seiner blauen Kappe.

„Ja. Ich spüre den Atem durch die Nüstern und ich kann einen schwachen Herzschlag fühlen.“

„Oh, Gott sei Dank!“, rief sie und kämpfte gegen die aufkommenden Tränen.

„Madam, kennen Sie den Eigentümer der Farm?“, fragte der Sheriff.

Penny hörte die Frage, doch sie konnte die Augen nicht von dem Pferd abwenden. Es atmete! Die wundervolle Kreatur lebte noch!

„Madam?“ Der Sheriff sah Penny an und versuchte es erneut. „Kennen Sie dieses Pferd?“

Zum zweiten Mal innerhalb einer Stunde ließ sich Penny neben dem Tier auf die Knie fallen.

„Ja, ich kenne es“, sagte sie und berührte sachte das Gesicht des Pferdes, das sie vermutlich nie wiedersehen würde. „Sein Name ist Joey.“

KAPITEL 1

Kim Tschirret fragte sich, ob sie das Richtige tat. Nervös ballte sie die Hände in ihren Jackentaschen zu Fäusten und kaute auf ihrer Unterlippe, während sie in der Scheune wartete.

„Ich bin so aufgeregt“, flüsterte sie ihrer Freundin Barb Foulkrod zu, die sich großzügig bereit erklärt hatte, frühmorgens von North Carolina nach Virginia zu fahren, um mit ihr zusammen das Pferd abzuholen, von dem Kim pausenlos erzählte. Als sie ankamen, wurden sie von Tom Comer, dem Eigentümer der weitläufigen Farm, warmherzig begrüßt. Tom hatte eigene Pferde, hielt aber auch einige bedürftige Pferde für die Pferderettungsgesellschaft in Pflege.

Barb legte beschwichtigend eine Hand auf Kims Rücken. Sie und Kim – beide Anfang vierzig und beide mit einer langen blonden Ponyfrisur – hätten Schwestern sein können.

„Vertrau deinem Bauchgefühl, Kim“, flüsterte sie zurück.

Vertrauen. Aus Barbs Mund klang das so einfach.

Theoretisch gesehen gab es keinen Grund, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, ob sie einem vor Kurzem geretteten Pferd ein dauerhaftes Zuhause bieten wollte. Schließlich benötigte die Pferdetherapie-Ranch, die Kim in Raleigh betrieb, neue Pferde. Aber dieses Pferd? Vielleicht war sie doch zu voreilig gewesen.

Als sich die Stalltür öffnete, kam das trotz seiner Magerkeit schönste Pferd heraus, das Kim je gesehen hatte. Sie hielt den Atem an. Es war wundervoll. Es hielt den Kopf hoch. Eine cremeweiße Mähne wehte in der leichten Brise. Es sah majestätisch aus.

„Oh Mann …“, flüsterte sie.

Sie hatte schon früher Appaloosas gesehen. Tatsächlich wartete voller Ungeduld ein weiteres Pferd dieser Rasse in dem gemieteten Pferdeanhänger, den sie in der Auffahrt geparkt hatte. Sie hatte diese Rasse von jeher geliebt – mit ihrem reich gesprenkelten Fell, der getüpfelten Nase, den menschenähnlichen Augen. Doch nie zuvor hatte sie ein solches Prachtexemplar gesehen. Es war ein Leopard-Appaloosa, sein weißes Fell war mit Hunderten schwarzer Flecken gesprenkelt. Der vordere Teil seines Körpers war mit kleinen, eng zusammenliegenden Sprenkeln übersät, während der Rücken mit größeren Flecken verziert war. Kim musste an das Fell eines Dalmatiners denken.

„Nun, hier ist er“, sagte Tom. „Das ist Joey.“

Kim und Barb kamen langsam näher und Kim hielt ihre Hand als freundliche Begrüßungsgeste unter die Nüstern des Pferdes. „Hi, Joey. Schön, dich kennenzulernen.“

Der Appaloosa sog ihren Geruch ein, dann blies er begrüßend durch die Nüstern. Seine schwarz-rosa Lippen versuchten, versteckte Leckerbissen in ihrer geschlossenen Faust aufzuspüren. Kim hob ihre Hand höher, um die kräftige Backe zu streicheln, wobei ihr Zeigefinger auf mehreren unterschiedlich großen Sprenkeln verweilte – ein großer Tupfer mit einem tiefschwarzen Zentrum wurde von einem helleren Ring umgeben, ein mittelgroßer Fleck hatte die Form einer Birne, und dann waren da noch mehrere kleine Tupfer, die ineinander übergingen und das weiße Fell an dieser Stelle grau erscheinen ließen.

„Wie schön du bist!“, sagte sie und kam noch näher.

Joey senkte den Kopf, seine Backe streifte flüchtig ihre Wange. Kim atmete tief ein. Beinahe andächtig genoss sie die Berührung, den Augenblick. Frau und Pferd standen einige Herzschläge lang zusammen, bevor Joey den Kopf senkte und nach einem Büschel Gras suchte.

„Tom, vielen Dank, dass du an uns gedacht hast“, sagte Kim. „Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob wir für diese Herausforderung bereit sind – aber irgendetwas an diesem Burschen hier berührt mich zutiefst.“

Tom nickte. „Vertrau mir, es geht mir genauso. Der Junge ist etwas Besonderes, da gibt es keinen Zweifel. Aber ich muss gestehen, dass ihr meine siebte Anlaufstelle wart, als ich an jenem Tag telefonierte. Ich hatte alle meine Kontakte angerufen, aber niemand wollte ihn. Zu viel Arbeit, so hieß es.“

Kim spürte Angst hochkommen. Was würde zu viel Arbeit sein? Seit dem ersten Anruf hatte sie mehrmals mit Tom gesprochen und ihm zahllose Fragen über Joeys Pflege gestellt. Aber hatte sie überhaupt begriffen, auf was sie sich da einließ? Wahrscheinlich nicht. Und doch brauchte sie Joey nur anzuschauen, um zu wissen, dass sie nicht ohne ihn gehen würde.

„Ganz ehrlich – ich habe darüber nachgedacht, ihn einfach hierzubehalten“, fuhr Tom fort. „Ich meine, wir haben ja genug Platz.“ Er wies auf die großen Stallungen und Weiden hinter sich. „Aber nachdem ich ihn zusammen mit meinen Kindern gesehen habe und erkannte, wozu er fähig ist, da wusste ich, dass er an einen Platz gehört, wo er etwas bewirken kann. Als mein Freund Eddie mir von eurer Ranch erzählte, war mir klar, dass sie der richtige Platz für Joey ist.“

Kim hatte wochenlang wegen dieses Pferdes gebetet und Gott gefragt, ob sie die richtige Entscheidung für Hope Reins – die Pferdetherapie-Ranch, die sie ein Jahr zuvor gegründet hatte – traf. Nun, im Februar 2011, hatten sie bereits acht Pferde und drei Dutzend ehrenamtliche Helfer. Als Tom sie ganz plötzlich anrief und ihr von Joey erzählte, erklärte sie sich bereit, ihn aufzunehmen, ohne ihn vorher gesehen zu haben – das hatte sie nie zuvor getan!

Jedes der anderen Pferde auf Hope Reins war sorgfältig ausgesucht worden. Tagelang wurden potenzielle Kandidaten beobachtet und vom Mitarbeiterteam diskutiert, manchmal dauerte diese Prozedur sogar Wochen oder Monate. Erst dann durften sie zur Herde stoßen. Es war eine einzigartige Gruppe von Pferden, die ausnahmslos aus schwierigen Verhältnissen gerettet worden waren. Unzählige Forschungsstunden wie auch persönliche Erfahrung hatten in Kim die Überzeugung gefestigt, dass oft eine tiefe, besondere Bindung entstand, wenn seelisch verletzte Kinder mit Pferden arbeiteten, die selbst Schmerz oder Misshandlung erlebt hatten.

Die Ranch war darauf ausgelegt, Pferde mit seelisch verletzten Kindern zusammenzubringen, und so musste Kim sichergehen, dass ein Pferd gut mit Kindern arbeitete, bevor sie sich entschied, es aufzunehmen. Nicht jedes Pferd genügte ihren Ansprüchen.

In den vergangenen Monaten hatte Kim mehrere Pferde abgelehnt, weil sie nicht über den für die Einzeltherapie mit Kindern erforderlichen Charakter verfügten. Wenn ein Pferd aggressiv oder zu ängstlich war oder mehr Zuwendung benötigte, als Kim und ihre Helfer aufbringen konnten, dann wurde es nicht aufgenommen. Es brach ihr jedes Mal das Herz, ein Pferd abzulehnen, doch sie musste an das Wohlergehen der Kinder denken. Sie konnte es sich nicht leisten, ein Pferd aus einer Laune heraus anzunehmen.

Als Tom anrief und erzählte, dass sein Fünfjähriger Joey ohne Sattel ritt, war Kim sofort bereit, ihn aufzunehmen. Dennoch hatte der Appaloosa Bedürfnisse, die dem Vorstand von Hope Reins Sorgen bereiteten. Wer würde es ihnen verdenken?, dachte Kim. Es kam nicht alle Tage vor, dass man sich um ein blindes Pferd kümmern musste.

Blind.

Dieses Wort hatte Kim natürlich zu denken gegeben. Doch Joey brauchte ein Zuhause, und aus Gründen, die sie nicht benennen konnte, war sie tief in ihrem Innern davon überzeugt, dass Hope Reins Joey brauchte. Und so hatte sie bereitwillig zugestimmt, ihn aufzunehmen, obwohl sie keine Ahnung hatte, wie sie die 3.000 Dollar aufbringen sollten, die jährlich für seine Grundversorgung erforderlich waren.

Joeys Kopf verweilte über einem Grasbüschel, seine Lippen knabberten an einzelnen Halmen. Barb und Kim hörten sich Toms Geschichte mit Joey an. „Also ist Joey erst seit zwei Monaten bei euch?“, fragte Barb.

„Genau. Anfangs brauchte er sehr viel Zuwendung und Pflege“, sagte Tom, während er nachdenklich über Joeys Rücken strich. „Zuerst wurde er auf der Ranch von einer Tierärztin versorgt, die Pferde in Pflege hält. Sie schaffte es, dass er wieder ein wenig mehr Fleisch auf die Rippen bekam. Sie war auch diejenige, die erkannte, dass er blind ist.“

„Ist die Blindheit auf die Mangelernährung zurückzuführen?“

Tom zuckte die Schultern. „Das kann man nicht mit Sicherheit sagen. Die Tierärztin meinte, diese Rasse sei für Augenkrankheiten anfällig – Grauer Star und Mondblindheit und solche Dinge. Sie hat beides bei Joey diagnostiziert.“

Kim sah in Joeys mandelförmige Augen. Er sah nicht anders aus als andere Pferde. Seine Augen waren nicht verhangen oder fixierten einen Punkt in der Ferne. Stattdessen schien sein Blick den ihren zu treffen. Doch Kim wusste, dass der äußere Anschein oft trügt. Manche Narben sind unsichtbar.

„Als wir letztes Mal miteinander sprachen, hast du erwähnt, Joey sei ein Champion-Springpferd gewesen. Kannst du mir mehr dazu erzählen?“ Kim war begierig, so viel wie möglich über ihren neuen Schützling zu erfahren.

Joey ging ein paar Schritte vorwärts, um sich einem neuen Grasbüschel zuzuwenden, während Tom Kim und Barb alles erzählte, was er über Joeys Geschichte wusste. Ein Freund hatte Joey Jahre zuvor als talentiertes Springpferd und preisgekröntes Dressurpferd gesehen, und Tom erinnerte sich, dass Joey und sein Reiter auf dem besten Weg gewesen waren, sich für die Olympischen Spiele zu qualifizieren. Doch dann erlitt das Pferd eine Verletzung, die seiner Karriere ein Ende machte. Joey wurde schließlich an eine Frau und ihre Tochter verkauft, die ihn im Stall des Freundes unterstellten.

Tom griff in seine Jackentasche und holte eine Möhre hervor. Er schnalzte mit der Zunge. Joey hob seinen breiten Kopf und nahm behutsam die angebotene Leckerei aus seiner Hand.

„Nach einigen Jahren ließ sich die Frau scheiden und musste Joey verkaufen. Wenig später landete er bei jenem Pferdesammler. Mehr weiß ich nicht.“

Kim hätte am liebsten den ganzen Tag lang Geschichten über Joey gehört, doch sie hatten noch eine dreistündige Fahrt vor sich und sie wollte die neuen Pferde vor Einbruch der Dunkelheit ausladen.

Vor allem wünschte sie sich mehr Zeit, um mit Tom über die tägliche Versorgung des Pferdes zu sprechen. Er hatte ihr am Telefon einige hilfreiche Tipps gegeben, darunter den Vorschlag, Joey so bald wie möglich ein anderes Pferd als Gefährten zur Seite zu stellen, die Heu- und Wassertröge nahe am Zaun zu platzieren, damit er nicht in sie hineinlief, und mit ihm die Weide abzuschreiten. Doch würde das reichen?

Kim holte tief Luft. „Wir sind dir unendlich dankbar für alles, was du für Joey getan hast. Wir würden uns freuen, wenn du uns ab und zu auf Hope Reins besuchen kommst.“

„Ja, das wäre schön“, sagte Tom und legte den Führstrick in Kims Hand, bevor er Joey ein letztes Mal zwischen den Ohren kraulte. „Er gehört dir.“

Eine Welle der Panik stieg in Kim auf. Die Zweifel waren so stark, dass sie beinahe den Führstrick losgelassen hätte. Barb spürte ihre Verunsicherung und legte ihrer Freundin einen Arm um die Schultern. Ja, dachte Kim, ich schaffe das.

Als sie sich dem Pferdeanhänger näherten, hörten sie das Stampfen von Hufen und ein lautes, aufgeregtes Wiehern aus dem Innern des Anhängers, sodass sie abrupt stehen blieben. Joeys Ohren waren gespitzt, als ob er fragte: Was ist das denn?

„Das ist Speckles“, erklärte Kim. „Er ist auch ein Appaloosa und scheint im Moment nicht so ganz zufrieden zu sein. Aber ich denke, das wird sich geben, wenn wir erst unterwegs sind.“ Jedenfalls hoffe ich das. Tatsächlich war Speckles vom ersten Augenblick an, als Barb und sie ihn abgeholt hatten, schwierig gewesen. Sie hoffte, dass sie mit ihm keine falsche Entscheidung getroffen hatte.

Als Joey sicher im Anhänger stand und die beiden Pferde einander beschnupperten, tätschelte Tom noch einmal Joeys Hinterteil.

„Okay, Joey, an die Arbeit. Du wirst das gut machen!“

Ja, dachte Kim, als die Farm aus ihrem Blickfeld verschwand, Joey hat eine besondere Geschichte.

Wie gut, dass sie nicht zu früh geendet hatte.

KAPITEL 2

Drei Stunden später bog der Chevrolet Tahoe, der den Pferdeanhänger zog, auf den Schotterweg ein, der zu Hope Reins führte – ein acht Hektar großes Grundstück mit ausladenden Eichen, weitläufigen Weiden, weißen Pferdezäunen und gewundenen Wäldern, etwas abseits des Highway 50 in North Raleigh gelegen. Hochgewachsene Kiefern, wie Wachposten anmutend, warfen lange Schatten über die kurvenreiche Zufahrt.

„Willkommen zu Hause, Jungs“, sagte Kim und warf im Rückspiegel einen Blick auf ihre beiden Reisegefährten. „Es wird euch hier gefallen.“

Rechts neben dem Zufahrtsweg befand sich die größte Weide von Hope Reins, auf der die größeren Wallache, Deetz und Cody, gehalten wurden. Die zweieinhalb Hektar große Weide verfügte über einen Schutzunterstand, mehrere Wassertröge und ein Wäldchen, das Schatten spendete. Und dann war da dieses besondere Merkmal: ein dreieinhalb Meter hohes weißes Holzkreuz als sichtbare Erinnerung daran, dass Hope Reins ein Geschenk Gottes war.

Die Idee für Hope Reins kam Kim bei der Lektüre des Buches Hope Rising von Kim Meeder, in dem die Autorin von ihrer Organisation in Oregon berichtet, die seelisch verwundete Kinder und gerettete Pferde zusammenbringt. Kim las das Buch zweimal innerhalb einer Woche, völlig fasziniert von dem Konzept. Seite für Seite wurde beschrieben, wie Kinder eine Beziehung zu einem Pferd aufbauten – zu Pferden, die wie Spiegel für sie waren. In einem Pferd, das ebenfalls Schmerz oder Misshandlung erlebt hat, erkennen seelisch verletzte Kinder nicht nur Teile ihrer eigenen Geschichte – sie lernen auch sich selbst besser kennen, da Pferde häufig das spiegeln, was sie bei Menschen wahrnehmen.

Kim begriff diese Dynamik nur zu gut. Sie war bei einem emotional distanzierten, alkoholabhängigen Vater aufgewachsen, dessen Fehlverhalten von der Mutter unterstützt wurde, und Kim fand die bedingungslose Liebe, nach der sie sich sehnte, schließlich bei ihrem geliebten Pferd, einem Saddlebred namens Country. Kims Vater drängte sie ständig, an Wettbewerben teilzunehmen und sich durch Leistung hervorzutun, damit er selbst gut dastand. Doch Kim wollte nichts anderes, als Zeit allein mit ihrem Pferd zu verbringen. Sie konnte stundenlang reiten, ihr Pferd striegeln und mit ihm reden. In einem Umfeld, in dem sie sich die meiste Zeit über unsicher und schutzlos fühlte, gab Country ihr Stabilität und jene Annahme, die ihr so schmerzlich fehlte. Erst als sie aufs College ging, wurde ihr Pferd verkauft.

Viele Jahre später hatte Kim beinahe vergessen, wie viel Country ihr in jenen prägenden Jahren bedeutet hatte. Doch dann wurde sie durch den Tod ihrer Mutter aus der Bahn geworfen, und eine Freundin überzeugte sie, wieder mit dem Reiten anzufangen. Es war wie eine Therapie, wie ein heilender Balsam für sie. Je mehr sie ritt, desto mehr fragte sie sich, ob Gott vielleicht einen größeren Plan für sie hatte.

Eines Tages tippte Kim in der Bibliothek die Worte „Jesus und Pferde“ in die Online-Suchmaschine ein. Dabei stieß sie auf das Buch, dessen Autorin den gleichen Vornamen hatte wie sie. Gottes Wege sind geheimnisvoll. Schon bald wurde sie den Gedanken nicht mehr los, ein ähnliches Programm in Raleigh ins Leben zu rufen.

Zugegeben, die Idee schien etwas weit hergeholt. Sie ritt erst seit Kurzem wieder und hatte absolut keine Ahnung, wie man eine voll funktionierende Ranch betrieb. Wie auch immer – bevor man eine Ranch betreiben konnte, musste man erst einmal eine Ranch besitzen.

„Ich bin doch nur eine Hausfrau und Mutter“, klagte Kim gegenüber ihrer Freundin Lori an einem sonnigen Nachmittag in einem Fast-Food-Restaurant, während sie ihren Kindern beim Spielen auf dem Indoor-Spielplatz zusahen. „Gott würde wohl kaum ausgerechnet mich dazu berufen, eine solche Sache aufzuziehen, oder? Ich meine, seit Chances Geburt habe ich nicht mehr gearbeitet“, sagte sie und lächelte ihrem fünfjährigen Sohn zu. Er drehte den Kopf, als er seinen Namen hörte, bevor er losrannte, um seine fast vierjährige Schwester Isabel einzuholen. „Wahrscheinlich bin ich nur besonders von diesem Buch beeindruckt, nicht wahr?“

Lori hörte geduldig zu, während Kim von ihrer Vergangenheit, dem Buch und ihrem verrückten Traum erzählte, eine Therapie-Ranch mit Kindern und Pferden aufzubauen. Als sie fertig war, atmete sie tief durch und wartete. Loris Meinung war ihr sehr wichtig; sie war sowohl ihre Freundin als auch ihre geistliche Mentorin.

„Ich finde, das ist eine großartige Idee“, sagte Lori.

Kims Augen wurden ganz groß.

„Es ist offensichtlich, dass du von dieser Sache begeistert bist. Du hast persönliche Erfahrung mit Pferden, und du hast einen Ehemann, der dich liebt und unterstützt.“ Lori lehnte sich zurück und musterte ihre Freundin aufmerksam. „Nichts wie ran! Wenn es Gottes Wille ist, dann wird er dafür sorgen, dass es klappt.“

Ist es wirklich so einfach? Muss ich nur Gott vertrauen und den ersten Schritt gehen, damit aus dem Traum Wirklichkeit wird? Als Kim das Fast-Food-Restaurant verließ, spürte sie sowohl freudige Aufregung als auch Furcht. Es gab noch eine wichtige Sache zu klären – sie musste sichergehen, dass ihr Mann Mike einverstanden war.

„Ist es dir wirklich ernst?“, fragte Mike später am Abend, nachdem die Kinder im Bett waren. „Ich weiß, dass du schon eine Weile darüber nachdenkst – tatsächlich hast du in letzter Zeit kaum noch von etwas anderem geredet –, aber bist du dir sicher, dass du weißt, worauf du dich da einlässt?“

„Ich denke schon“, erwiderte Kim und schaute auf ihre fest gefalteten Hände. „Seit einem Monat denke ich ständig darüber nach und werde den Gedanken an die Farm einfach nicht mehr los. Ich habe darüber gebetet, wir haben darüber gebetet, ich habe mit meiner Schwester, mit Lori und mit Pastor Scott geredet. Und dann habe ich während meiner Andacht heute Morgen diesen Vers gelesen: ‚Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus! Er ist der barmherzige Vater, der Gott, von dem aller Trost kommt! In allen Schwierigkeiten ermutigt er uns und steht uns bei, sodass wir auch andere trösten können, die wegen ihres Glaubens angefeindet werden. Wir ermutigen sie, wie Gott uns ermutigt hat.‘“ 1 Kim drehte sich auf dem Sofa so, dass sie ihrem Mann ins Gesicht sehen konnte.

„Vielleicht hat Gott zugelassen, dass ich von Country getröstet wurde, damit ich eines Tages dafür sorgen kann, dass andere seelisch verletzte Kinder Trost bei Pferden finden.“

Sie setzte sich in den Schneidersitz. Es war so entspannend, mit Mike zu reden. Es war schon immer so gewesen, schon damals vor fünfzehn Jahren, als sie sich kennenlernten.

„Ich habe sogar schon einen Namen für die Ranch!“, sagte sie, bevor sie eine dramatische Pause einlegte.

„Okay, spann mich nicht auf die Folter!“

„Hope Reins 2. Das klingt ganz ähnlich wie ‚God reigns – Gott regiert‘. Was hältst du davon?“

Mike schwieg einen Moment lang. Kim hielt den Atem an. Seine Meinung war für sie extrem wichtig. Und wenn ihm der Name nicht gefällt?

„Ich finde, das ist der perfekte Name, Schatz. Ich würde sagen … wir sollten es versuchen!“, sagte Mike, wobei er sie zärtlich ansah.

„Moment mal! Meinst du das ernst?“, lachte Kim.

„Ich habe dich nie zuvor so gesehen. Du bist anders. Voller Energie. Irgendetwas Wichtiges passiert hier gerade. Also – lass uns schauen, wohin uns das führt.“

„Aber das wird für unsere Familie große Veränderungen mit sich bringen“, wandte Kim ein. „Ich weiß, dass du in deinem neuen Marketing-Job von zu Hause aus arbeiten kannst, aber du kannst ja wohl kaum ernsthaft arbeiten und nebenbei auf die Kinder aufpassen. Und wir können es uns nicht leisten, eine Nanny zu bezahlen, bis Isabel und Chance in die Schule kommen. Und die Vorlaufkosten … Wir haben nicht so viel auf der hohen Kante! … Und … Mike, ist das nicht alles völlig verrückt? Wie sollen wir das schaffen?“

Mike nahm die Hände seiner Frau. „Beruhige dich und atme tief durch. Wir werden über eine Menge Dinge nachdenken müssen, aber lass uns einfach einen Schritt nach dem anderen gehen, okay? Du willst dieses Projekt und du kannst es schaffen. Der Rest wird sich fügen.“

Er sah ihr in die Augen. „Ich glaube an dich.“

***

Einen Traum zu haben, ist eine Sache – diesen Traum Wirklichkeit werden zu lassen, eine ganz andere.

Doch immer einen Schritt nach dem anderen. Kim stellte Berechnungen an. Sie würde mindestens einen guten halben Hektar Land pro Pferd benötigen. Eine angemessen große Ranch müsste rund acht Hektar Land umfassen. Doch in der Gegend von North Raleigh acht Hektar Nutzland zu finden, das bezahlbar war, stellte eine echte Herausforderung dar.

Immer wieder hörte Kim: „Du wirst nie das passende Land dafür finden“ oder: „Das wird ein Vermögen kosten“.

„Wenn ich jedes Mal einen Dollar bekäme, wenn mir jemand sagt, dass ich nie ein geeignetes Stück Land finden werde, dann könnte ich bereits halb North Carolina kaufen!“, bekannte Kim gegenüber Mike, nachdem sich eine weitere Spur als Enttäuschung herausgestellt hatte.

Mehrere Wochen später begannen Zweifel an Kim zu nagen. Ist das wirklich Gottes Wille für mich? Entmutigt und erschöpft beschloss sie, das Projekt für einige Tage auf Eis zu legen und mit Chance und Isabel zu einer Ostereier-Suche zu fahren, die von einer Kirchengemeinde auf deren ländlich gelegenem Grundstück veranstaltet wurde, das nur fünfzehn Minuten von ihrem Haus entfernt lag.

Als sie mit den Kindern auf die Menschenmenge zuging, die sich neben einer ausladenden Eiche versammelt hatte, nahm Kim die gesamte Szenerie in sich auf. Die bunten Eier waren auf einem gemähten Feld verstreut worden, während eine Handvoll Pferde auf den angrenzenden Weiden grasten. Es schien zwei Zufahrtswege zu geben, und sie sah auch ein weiteres, überwuchertes Feld auf dem Gelände. Was ist das für ein besonderer Ort?

„Mama! Es geht los!“, rief Chance und ergriff ihre Hand. „Komm schnell! Die Eier sind sonst alle weg!“

„Ja! Schnell!“, sagte sie und nahm die kleinen Hände ihrer Kinder, während sie auf das bunte Treiben zurannten.

Nach zehn Minuten hatten Chance und Isabel ihre Körbe mit Eiern prall gefüllt.

„Können Isabel und ich spielen gehen?“, fragte Chance, der mehrere Hüpfburgen neben dem Parkplatz erspäht hatte.

„Natürlich. Ich bleibe hier und passe auf eure Körbe auf.“ Während sie Chance und Isabel zusah, kam ein Mann lächelnd auf sie zu und stellte sich vor: „Guten Tag, ich bin Will Warren, Finanzverwalter der Bay Leaf Baptist Church. Ich freue mich, dass Sie kommen konnten. Ich hoffe, Ihre Kinder hatten viel Spaß beim Eiersuchen.“ Sie tauschten noch einige Nettigkeiten aus, und als er sich gerade anderen Besuchern zuwenden wollte, rief Kim plötzlich aus: „Gehört Ihrer Kirche das ganze Land hier?“

Der Mann sah Kim eine Weile prüfend an, bevor er antwortete: „Ja, es gehört uns. Es wurde uns vor einem Jahr von einer Dame vermacht, die viele Jahre lang Mitglied unserer Kirche war. Sie hatte keine Verwandten und legte in ihrem Testament fest, dass unsere Kirche das Grundstück ihrer Familie erhalten sollte. Es ist ein wundervolles Anwesen“, fuhr er fort. „Aber ich muss zugeben, 28 Hektar sind für uns ein wenig zu viel. Wir wissen nicht so recht, was wir damit anfangen sollen, abgesehen von einer jährlichen, groß angelegten Ostereier-Suche“, fügte er mit einem Augenzwinkern hinzu.

Kims Herz schlug so heftig, dass sie meinte, der Mann müsse es hören. „Ja. Es ist wirklich ein wunderschönes Grundstück“, erwiderte sie.

Als sie mit ihren Kindern zum Parkplatz ging, schaute Kim sich genauer um. Es gab keine Umzäunung, keine Versorgungsleitungen und zu viele Bäume, aber tief in ihrem Innern spürte sie: Es könnte funktionieren. Vor ihrem inneren Auge sah sie in der Ferne des Anwesens eine Reitanlage und eine Futterscheune neben den Parkplätzen. Sie konnte sich leicht abgegrenzte Weiden und Pfosten zum Anbinden über die ganze Landschaft verteilt vorstellen. Aber 28 Hektar in einer erstklassigen Lage? Eine rasche Google-Suche auf ihrem Smartphone offenbarte die entmutigende Wahrheit: Der geschätzte Wert des Grundstücks belief sich auf sieben Millionen Dollar! Es wäre einfach perfekt gewesen, dachte Kim, während sie ihre Tochter im Autositz festschnallte. Doch für den Rest des Tages konnte Kim den Gedanken an das Grundstück einfach nicht abschütteln. Und so beschloss sie – auch wenn die Aussicht auf Erfolg gering war –, mit Will Warren Kontakt aufzunehmen. Sollte es zu nichts führen, hätte sie wenigstens einen weiteren Schritt nach vorn gemacht.

Sobald die Kinder ihren Mittagsschlaf machten, setzte sie sich an ihren Computer und begann, eine vierseitige Projektbeschreibung aufzusetzen, in der sie ihre Vision der Therapie-Ranch und ihre Firmenphilosophie darlegte.

Als Mike vom Rasenmähen ins Haus kam, reichte Kim ihm ein Glas Wasser und drückte ihm den Text in die Hand. „Kannst du bitte einen Blick darauf werfen?“, bat sie.

„Das ist gut, Kim“, sagte er, während er die Seiten durchging. „Richtig gut. Aber seit wann hast du eine Firmenphilosophie?“

„Seit etwa zehn Minuten“, sagte sie lachend.

„Unser Ziel ist es, echte Hoffnung und Heilung für jedes Kind zu ermöglichen“, las Mike laut vor. „Wir machen es uns zur Aufgabe, seelisch verletzten Kindern und ihren Familien Trost und Geborgenheit zu bieten, indem wir Einzeltherapie mit einfühlsamen Pferdeführern und einzigartigen Therapiepferden anbieten. Viele der Therapiepferde sind gerettete Pferde, die selbst Vernachlässigung und Misshandlung erlebt haben. All unsere Dienstleistungen sind kostenlos.“

Kim sah die Frage in den Augen ihres Mannes, bevor er sie aussprach: „Hast du gut über diesen letzten Satz nachgedacht? Ich weiß, dass wir darüber gesprochen haben, aber wie willst du deine Mission erfüllen, wenn kein Geld hereinkommt?“

Kim hatte viele Stunden über diese Frage nachgegrübelt. Doch sie hatte genügend Nachforschung betrieben und genug Sozialarbeiter und Seelsorger befragt, um zu wissen, dass die Kinder mit den größten Bedürfnissen in aller Regel diejenigen waren, die am wenigsten bezahlen konnten. Ja, kostenlose Therapie anzubieten würde für sie zusätzliche Arbeit bedeuten: Sie musste Spendengelder beschaffen und Fördermittel beantragen. Doch sie war bereit, alles nur Erdenkliche zu tun, damit sie eine kostenlose Therapie anbieten konnte.

„Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht, wie alles im Einzelnen funktionieren soll, aber ich habe beschlossen, im Blick auf die Geldmittel Gott zu vertrauen.“

Kim spürte, wie sich die Schultern ihres Mannes leicht verspannten, und sie konnte es ihm nicht verübeln. Ich weiß, das klingt riskant.

„In Ordnung, lassen wir es darauf ankommen.“

***

Zwei Tage später saß Kim Will Warren in seinem Kirchenbüro gegenüber.

„Vielen Dank, dass Sie sich Zeit für mich nehmen“, begann sie und versuchte, ihre zitternden Hände zu verstecken. „Ich wollte mit Ihnen über ein Projekt sprechen und darüber, welche Rolle Ihr Grundstück an der Creedmoor Road darin spielen könnte. Ich habe eine Projektbeschreibung für Sie mitgebracht.“ Während Will das Dokument las, versuchte Kim, in seinem Gesicht zu lesen. War es verrückt von ihr gewesen hierherzukommen?

Der Finanzverwalter legte das Dokument hin und lächelte. „Das klingt nach einem außergewöhnlichen Vorhaben“, sagte er, während er aufstand und zu seinem Schreibtisch ging. „Und zudem nach einem, das wir hier gut gebrauchen könnten.“ Er wühlte sich durch mehrere Schubladen, bevor er sich wieder auf den Stuhl neben Kim setzte. Er entfaltete einen großen Papierbogen auf dem Beistelltisch. Eine Flurkarte des Grundstücks!

„Hier sind die Grundstücksgrenzen, die Nutzungsrechte und die Zufahrtswege verzeichnet“, erklärte Will, wobei er auf verschiedene Markierungen zeigte. „Dies ist der Bereich, wo die Eiersuche stattgefunden hat. Hier drüben befindet sich ein Haus für Missionare im Heimaturlaub. Und dieser Bereich hier wird einmal im Jahr für eine Jugendfreizeit genutzt. Der Rest der Fläche ist ungenutzt. Er müsste auf jeden Fall gerodet und gesäubert werden. Und ich könnte mir vorstellen, dass es eine Menge Aufwand bedeutet, ihn für eine Herde von Pferden aufzubereiten.“

Kims Augen flogen hin und her. In den letzten Monaten hatte sie bei ihrer Suche nach einem geeigneten Stück Land ähnliche Flurkarten zu Gesicht bekommen. Sie war so darin vertieft, die Grundstücksgrenzen im Geiste nachzuvollziehen, dass sie beinahe Wills Frage überhörte.

„Würden diese acht Hektar reichen?“

Als die Frage schließlich in ihrem Gehirn angekommen war, rief Kim: „Ob sie reichen würden? Sie wären perfekt!“

„Nun, die Kirche kann Ihnen das Land nicht verkaufen – das ist so im Testament festgelegt –, aber ich werde unserem Hauptpastor und den Ältesten vorschlagen, Ihnen diesen Teil des Grundstücks zu verpachten. Wäre das in Ordnung für Sie?“

„Meinen Sie das ernst?“, fragte Kim, während Freudentränen in ihren Augen glänzten.

„Ich meine es absolut ernst“, versicherte Will. „Ich werde es heute Abend bei unserer monatlichen Besprechung mit den Mitgliedern des Ältestenrates diskutieren“, sagte er. „Wir müssen uns über die Bedingungen einigen.“

Kim hielt den Atem an. Die Bedingungen. Acht Hektar Land in bester Lage in einer rasch wachsenden Gemeinde könnten leicht zum zehnfachen Preis dessen verpachtet werden, was sie aufzubringen imstande war. Kim lächelte höflich, dankte Will noch einmal für seine Zeit und sagte, sie freue sich auf seinen Anruf.

Nun gut. Wenigstens habe ich meine Projektbeschreibung an jemandem ausprobiert.

***

Am Nachmittag des darauffolgenden Tages surfte Kim gerade durch die Immobilien-Webseiten, als ihr Smartphone klingelte.

„Kim, was halten Sie von einem Dollar pro Monat?“, fragte Will Warren.

„Entschuldigung – einen Dollar pro Monat wofür?“

„Für die Pacht“, gluckste Will. „Acht Hektar Land für einen Dollar pro Monat? Was meinen Sie?“

Kim war froh, dass sie auf einem Stuhl saß, denn ihr wurde plötzlich schwindelig.

„Sie meinen, ich könnte das Land für nur einen Dollar im Monat nutzen?“

„Unsere Kirche glaubt an Ihr Projekt, Kim, und es wäre uns eine Ehre, Sie und Hope Reins zu unterstützen.“

Kim war sprachlos. Wie sagte man Danke für ein so überwältigend großzügiges Angebot?

Schließlich stammelte sie: „Wie … Wie ist das möglich? Ich hätte mir nie träumen lassen … Oh Gott! Ich danke Ihnen von ganzem Herzen!“

„Es ist uns eine Freude. Nun können Sie sich auf die Suche nach geeigneten Therapiepferden machen, und wenn Sie nach Bay Leaf kommen und den Vertrag unterschreiben, werde ich Sie unserem Hauptpastor, Marty Jacumin, vorstellen.“

„Gerne“, sagte Kim und beendete das Gespräch mit einem glücklichen Lachen.

„Du verblüffst mich immer wieder, Herr“, betete sie, während Tränen über ihre Wangen liefen. „Du hast das, was alle das größte Hindernis nannten, einfach so von der Liste gestrichen!“

Plötzlich war Kim nicht mehr allein im Raum. Chance und Isabel waren hereingekommen, als sie ihre Stimme gehört hatten. Wenig später kam auch Mike herein und wollte die Kinder holen, damit Kim in Ruhe zu Ende telefonieren konnte. Als er ihre Tränen sah, nahm er sie sofort in die Arme.

„Es tut mir so leid, dass es nicht geklappt hat“, sagte er und strich ihr die Haare aus dem Gesicht.

„Nicht geklappt?“, lachte Kim. „Die Kirche verpachtet uns das Land für einen Dollar pro Monat!“

Mikes Gesichtsausdruck war unbezahlbar.

„Gott hat es geschafft! Wir haben einen geeigneten Ort für Hope Reins!“

***

In den nächsten Monaten begann die eigentliche Arbeit. Zunächst musste ein Haufen Formulare ausgefüllt und eingereicht werden, um den Status einer gemeinnützigen Organisation zu erhalten. Dann mussten Versicherungen abgeschlossen werden, ein Unterfangen, das viel kostspieliger war, als Kim vermutet hatte.

„Wir befinden uns in derselben Risikokategorie wie Fensterputzer von Wolkenkratzern!“, klagte Kim, nachdem sie mit einem Versicherungsvertreter gesprochen hatte. Doch die Versicherung musste abgeschlossen werden, bevor die Arbeiten am Grundstück beginnen konnten.

Umfangreiche Veränderungen waren nötig: Das Land musste gerodet und Zäune mussten errichtet werden. Und obwohl diese Arbeiten kostenlos von freiwillig helfenden Kirchenmitgliedern und Nachbarn ausgeführt wurden, hatte Kim den Eindruck, ständig ihre neue Kreditkarte ziehen zu müssen, die sie für Anschaffungen für Hope Reins angelegt hatte. Die Ausgaben sammelten sich an und Kim wurde zusehends nervös. Sie bemühte sich nach Kräften, die Kosten so gering wie möglich zu halten, indem sie Gerätschaften wie Pferdeanhänger auslieh und in den Kleinanzeigen nach einem Traktor zum Schnäppchenpreis Ausschau hielt.

Das Material für die Zäune war ein weiterer Albtraum, denn es kostete eine Unsumme, die Weiden einzuzäunen. Holz und traditionelle PVC-Zäune kamen preislich nicht infrage. Kim suchte nach anderen Optionen und beschloss schließlich, eine Kombination aus flexiblem Zaunmaterial zu kaufen, das aus dünnen PVC-Streifen und beschichtetem Draht bestand. Es würde nicht so malerisch aussehen wie bei den edlen Pferdefarmen in der Gegend, aber immerhin würden die Zäune den Pferden auf Hope Reins Sicherheit geben.

Jeder Tag schien neue Ausgaben, neue Bedürfnisse, neue Probleme mit sich zu bringen – mehr, als Kim allein bewältigen konnte. Sie gründete einen Vorstand, bestehend aus Personen, die sich gut in der Geschäftswelt auskannten. Der Vorstand traf sich zweimal im Monat, um die größeren finanziellen Entscheidungen auf den Weg zu bringen.

Bevor das erste Pferd aufgenommen werden konnte, musste eine anscheinend nie endende Liste abgearbeitet werden. Lagerschuppen für Futter, Nahrungsergänzungsmittel und Geräte mussten aufgestellt werden. Sie brauchten Anbindepfosten, Wassertröge und Heuraufen. Kim verbrachte mehr und mehr Zeit außer Haus, was zu Schwierigkeiten bei der Kinderbetreuung führte.

„Wir können uns eine vollzeitliche Kinderbetreuung nicht leisten, während du noch damit zugange bist, alles aufzubauen“, sagte Mike eines Abends, nachdem Kim vorgeschlagen hatte, vorübergehend eine Nanny zu engagieren.

„Nun, ich kann nicht auf die Kinder aufpassen und gleichzeitig die Arbeiten auf der Ranch überwachen“, schoss sie sofort zurück.

„Und ich kann nicht arbeiten, wenn die Kinder den ganzen Tag lärmend durchs Haus laufen, während ich versuche, Telefonkonferenzen abzuhalten. Zu Hause zu arbeiten bedeutet, wirklich zu arbeiten“, erwiderte Mike gereizt. „Wir müssen eine Lösung finden.“

Kim seufzte. Mike hatte natürlich recht. Aber es gab schon so viele Probleme, die nach einer Lösung verlangten, und dies war nun noch ein Punkt mehr auf der To-do-Liste, eine weitere Bitte um Hilfe. An einigen Tagen nahm Kim die Kinder mit, an anderen Tagen halfen Kims Schwester Christy oder Freunde aus; an wiederum anderen Tagen passte Mike auf sie auf, während er zu Hause arbeitete. Es war nicht der Idealzustand, es war nicht einfach, aber irgendwie schafften sie es.

Als das Projekt Hope Reins in Kims Freundeskreis, innerhalb der Kirche, die ihnen das Anwesen verpachtete, und innerhalb der Vorschulgruppen der Kinder immer bekannter wurde, kamen mehr und mehr Freiwillige samstags zum Helfen. Freunde, Bekannte und Fremde brachten sich ein, indem sie Land rodeten, Schuppen bauten, Zäune errichteten, Holz strichen oder Geld spendeten. Es war eine besondere Erfahrung, so viele Menschen zu sehen, die Hope Reins gemeinsam zum Leben erweckten, eine Erfahrung, die demütige Dankbarkeit in Kim weckte. Gleichzeitig war sie nie zuvor so erschöpft gewesen wie während der sieben Monate, die nötig waren, um das Anwesen auf die Ankunft des ersten Pferdes vorzubereiten: Gabe.