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Johannas wächst die ersten Lebensjahre unbeschwert und unbekümmert auf dem Lande auf, Sie genießt das Leben mit ihrer Familie und den Tieren auf dem heimischen Bauernhof, bis sie eines Tages brutal vergewaltigt wird und ihr Leben seine Unschuld verliert. Niemand erfährt etwas von der schändlichen Tat, denn Johanna frisst alles still in sich hinein. Doch Johannas Wesen verändert sich langsam, -von Monat zu Monat, -von Jahr zu Jahr, während in ihrem Inneren immer wieder der als Kind erlebte Horror abläuft. Irgendwann glaubt sie zu wissen, was ihr Sinn des Lebens ist. Sie will in die Geschichte der Welt eingehen, berühmt sein für alle Zeiten. So plant sie schließlich das schier Unvorstellbare.
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Seitenzahl: 311
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Johannas Gerechtigkeit
( Rache einer Vergewaltigten )
Für Maria, Jasmin, Marvin, Kevin und Maxi,
sowie alle im Diesseits und Jenseits, die mir am Herzen liegen.
Eventuelle Ähnlichkeiten der Charaktere mit realen Personen können durchaus gewollt sein.
Johannas Gerechtigkeit
( Rache einer Vergewaltigten )
Martin Wischmann während seines Sololaufes - Eintausend Kilometer durch Arizona
Liebe Leserin, lieber Leser,
zuerst einmal möchte ich ihnen von Herzen danken, dass sie sich für dieses Buch entschieden haben. Dies zeigt, dass wir, -zumindest stellenweise Denkähnlichkeiten haben. Ja, ich glaube, Sie und Ich haben einiges gemein, auch in Bezug auf Zwischenmenschliches. Sicher gibt es für jeden von uns angenehme, herzallerliebste Mitmenschen, für die wir, ohne mit der Wimper zu zucken, jederzeit bereit wären, bei lebendigem Leibe ein lebenswichtiges Organ zu spenden, aber garantiert auch die ein oder andere abgrundtief gehasste Person der geborenen Kotzbrocken, der wir wünschen, dass sie mit dem Gesicht voraus in einen laufenden Flugzeugpropeller gerät. Ich denke, bei der folgenden Geschichte, die sich im Grunde genommen überall hätte abspielen können, -vielleicht auch ereignet hat, ist es genauso. Sie werden Personen und Charaktere kennenlernen, die sie mögen, ins Herz schließen, womöglich sogar lieben, aber auch das Abscheuliche, Schändliche, nicht für möglich gehaltene Grauenvolle wird ihnen begegnen. Die Geschichte beginnt harmonisch im Kreise der Familie und nimmt alsbald Kurs in Richtung Hölle. Wer Seelenpein, Psycholeid und Gewalt, -urplötzlich in den friedlichen Alltag brechend, selbst in geschriebener Form nicht zu ertragen im Stande ist, sollte das Buch zur Seite legen oder sich unter einer dicken, warmen Decke schutzsuchend gemütlich einkuscheln, wodurch das gelesene Wort jedoch nicht weniger Lieblich oder Entsetzlich wird. Je nachdem! Ich wünsche ihnen das Leben, dass sie verdienen.
Martin Wischmann
„Wer tut nur so etwas? Welcher Irre erschießt einen Bürgerrechtler, der für Gewaltlosigkeit eintritt?“, fragte Rudolf Wenk seinen am Frühstückstisch sitzenden Schwiegervater Karl König, während im Hintergrund weiter die aktuelle Nachrichtenmeldung aus dem alten Küchenradio drang. „Ich weiß es nicht, Rudolf“, entgegnete der Endfünfziger, „vielleicht handelt es sich bei dem Attentäter um einen Fanatiker, der etwas dagegen hat, das unterschiedliche Kulturen in Frieden miteinander leben. Der Hass unter den Menschen ist so alt wie diese Welt, seit Urzeiten, seit dem Mord von Kein an seinem Bruder Abel, so man an die Bibel glaubt. Ich garantiere dir, dass der gestrige Mord an Martin Luther King nicht der letzte seiner Art bleiben wird. Gestern war es ein farbiger Bürgerrechtsaktivist, der in Amerika gewaltsam aus dem Leben gerissen wurde, morgen ist es vielleicht ein weißer Politiker in Europa, …oder jemand wie du und ich.“ „Überleg mal“, sagte Rudolf, während er aus einer mit Blumenmotiven verzierten, zart rosafarbenen Porzellan- Kaffeekanne kräftig duftenden schwarzen Kaffee in zwei gleichermaßen verzierte Kaffeetassen goss, „sie sagten, dass Martin Luther King nur neununddreißig Jahre alt wurde, gerade mal zwölf Jahre älter, als ich gerade bin. Wie die Zeit so spielt, drüben in Memphis verlor ein Friedliebender sein Leben und hier bei uns in Deutschland, im schönen Hessenland wird zur gleichen Zeit, am 04. April 1968 ein Baby geboren. Ich kann es noch gar nicht fassen, nun Vater eines kleinen Mädchens zu sein.“ „Du sagst es, Rudolf“, stimmte Karl König nickend zu, „es ist auch für mich ein Wunder, zum zweiten Mal Großvater, …Opa zu sein. Ein Jammer, dass meine liebe Erika es nicht mehr erleben durfte. Sie war noch so jung, als sie starb. Und jetzt, …jetzt wäre sie zweifache Großmutter und hätte ihre wahre Freude an den Enkelkindern.“ Mit einem knappen, „Tja, wirklich traurig“, stimmte Rudolf kopfnickend seinem Schwiegervater zu, während er mit den beiden fast randvollen Kaffeetassen, behutsam Richtung Küchentisch schritt und sie dort vorsichtig abstellte. Die beiden Männer genossen sichtlich zufrieden den starken Bohnenkaffee, dessen wohliges Aroma die gesamte Räumlichkeit der Küche ausfüllte. Der hochgewachsene, schlanke Rudolf saß mit einem dunkelblauen Trainingsanzug bekleidet auf einem der knarrenden, alten Holzstühle und blickte entspannt aus dem Küchenfenster, hinüber zu der im Morgennebel liegenden Wiese, die sich hinter dem Haus anschloss. Der legere Trainingsanzug wurde von Rudolf gerne in der Freizeit getragen, denn im Berufsleben waren gut geschnittene Anzüge mit Krawatte und Lackschuhen Pflicht, denn als Versicherungsvertreter kam es für ihn auf ein gepflegtes Äußeres an. Aus dem gleichen Grund trug er sein mittelblondes Haar stets akkurat frisiert und kurz, Vorgaben des Arbeitgebers, denen sich Rudolf wortlos unterordnete. Karl hingegen, saß mit einer abgewetzten Jeanshose und bis zu den Ellbogen hochgekrempelten Hemdsärmeln, einen Arm auf den schweren Eichenholz Küchentisch gestützt da und schlürfte den Kaffee Zug um Zug auf. Sein rot-weiß kariertes Hemd hatte einige Flecken an der linken Seite, denn der Mann betrieb eine kleine Landwirtschaft, bestehend aus Kühen, Rindern, Schweinen und Hühnern auf dem Anwesen, welches seit Generationen als Birkenhof bekannt war, da um das Anwesen herum zahlreiche, meist ältere Birken standen. Auch an diesem Morgen hatte der stämmige Mann mit dem dunklen, dichten Schnurrbart, -den man in der Region Schnorres nannte, und den kleinen freundlichen Augen schon die Tiere gefüttert und die Ställe ausgemistet, bevor er den wohlverdienten Kaffee zu sich nahm. Für gewöhnlich kochte seine Tochter Marianne Wenk, die vierundzwanzigjährige Ehefrau von Rudolf den Frühstückskaffee, ebenso half sie seit ihrer Kindheit mit ganzer Kraft auf dem Hof mit. Somit wusste man auf dem Hof, was echte Arbeit ist, denn in der Landwirtschaft gibt es keine Stechuhr und keine Feier- und Sonntage und Karl beneidete gerade in den letzten Jahren, seid seine Kraft spürbar nachließ, einige seiner ehemaligen Schulkameraden, die Beamte oder bleistiftspitzende Staatsdiener, wie er sie augenzwinkernd nannte, geworden waren, denn am Schreibtisch würde seiner Meinung nach Alles, aber keine Sache stattfinden, die den Begriff Arbeit verdiene, was nicht selten zu Unstimmigkeiten führte. Doch in den letzten fünf Wochen war Karl auf sich alleine gestellt, aufgrund der Schwangerschaft seiner Tochter. Karl fiel die harte Arbeit als Landwirt schon lange nicht mehr so leicht wie früher, darum war er froh, als ihm Rudolf am Vorabend die Nachricht der glücklich verlaufenen Geburt aus dem Krankenhaus mitbrachte. Mutter und Kind waren wohlauf. Dies freute freilich alle miteinander am meisten, denn die bodenständige Familie war sich immer bewusst darüber, dass einzig die Gesundheit das höchste Wohl auf Erden, -das größte Glück überhaupt darstellt. Sowohl Rudolf als auch seine noch im Krankenhaus befindliche Ehefrau Marianne waren von ihren Eltern an den christlichen Glauben angelehnt erzogen worden. Zwar nicht beinhart streng, aber Werte wie Nächstenliebe, Menschlichkeit und Anstand waren hoch angesetzte, wichtige Werte, -das Anhäufen und Vermehren von Besitztümern und Reichtümern war ihnen, -selbst nur als Denkansatz völlig fremd und unverständlich. Die Familie lebte Tag für Tag und wusste, dass jeder neue Morgen, der Beginn eines weiteren Arbeitstages war. Gewiss, die Arbeitszeiten von Rudolf, der bei einer mittelständigen Versicherungsgesellschaft seit gut fünf Jahren beschäftigt war, waren seit Jahren die gleichen, -er arbeitete von Montag bis Freitag, je von neun bis achtzehn Uhr und hatte etwa vier Wochen Urlaub pro Jahr. Im Grunde war bei ihm jede einzelne Arbeitsstunde gleich, glich wie ein Ei dem anderen. Hätte er an einem einzigen Tag im Jahr auch nur drei Minuten nach achtzehn Uhr Feierabend gehabt, hätte er es rot im Kalender vermerkt, Die freien Tage am Wochenende nutzte Rudolf jedoch immer, um sich von der “schlauchenden Arbeitswoche“, wie er es nannte, -häufig von Schwiegervater Karl belächelt, zu erholen. Auf dem Hof, bei der Landwirtschaft, half er so gut wie nie, was seinem Schwiegervater von Anbeginn der Ehe mit Marianne missfiel. Karl hätte sich einen Schwiegersohn gewünscht, der mit ganzer Kraft in die Landwirtschaft eingestiegen wäre, denn so wie jetzt würde der Hof nicht mehr lange zu bewirtschaften sein, …vermutlich. Karls Hoffnung war es, dass er mit nunmehr neunundfünfzig Jahren noch so lange zusammen mit Tochter Marianne die Arbeit würde leisten können, bis ein Mitglied der nächsten Generation auf dem Hof vollzeitig einsteigen würde. Aber der Nachwuchs müsste dies auch wollen. Und würden die Jahre bis dahin nicht doch zu lange für Karl werden? Das neugeborene Mädchen wäre frühestens in zwei Jahrzehnten vor die Entscheidung zu stellen, den Hof zu übernehmen, Interesse ihrerseits vorausgesetzt. Ungefähr gleich lange würde der zweijährige Erstgeborene von Rudolf und Marianne noch Bedenkzeit haben, dessen war Karl sich bewusst. Die große Verantwortung einen selbst kleinen Bauernhof zu führen, durfte nicht überstürzt entschieden werden. Ein Bauernhof bedeutet harte Arbeit, im Grunde rund um die Uhr und war das genaue Gegenteil der Ponyhofromantik, die viele unwissende Großstädter auf dem Land vermuteten, wie Karl es immer wieder betonte, wenn das Thema auf die Zukunft des Hofes fiel. Karl meinte stets, dass er einen echten Mann an den Händen erkenne. Sind die Handflächen weich und rosafarbig hat der Weichling, wie er es nannte, auf dem Land nichts zu suchen. Nach Karls Philosophie mussten Männerhände hart, rau und von dicker Hornhaut bedeckt sein, -einen Händedruck, gleich eines Schraubstockes ausüben können und völlig temperaturunempfindlich sein. Karl wusste, was Anpacken bedeutet, weil er von Kindesbeinen an das Arbeiten, das schwere Arbeiten gewohnt war. Die Zeit, einen halben Tag die Füße hochzulegen, hatte ein Bauer nicht, denn jedes Tier, egal ob Milchvieh, Borsten- oder Federvieh musste versorgt werden, mit allem was dazu gehörte. Dieser Verantwortung musste sich jeder ernsthafte Anwärter auf die Hofübernahme bewusst sein. Schon lange kreisten die Gedanken von Karl um das Thema der Hofzukunft. Und auch wenn er ein wenig traurig darüber war, das Rudolf am Hof kein Interesse zeigte, so war er doch andererseits auch stolz auf seinen Schwiegersohn, denn in seiner Arbeit als Versicherungsangestellter blühte er auf und führte den Job zuverlässig und mit großem Fleiß aus. Immer wieder betonte Karl auch, dass Rudolf gutes Geld verdiene, ohne sich zu überanstrengen. Meist schoss Karl solche Verbalpfeile ab, wenn er müde gearbeitet und leicht gereizt war, aber es blieb stets bei einem Satz. Aber im Herzen wusste Karl, das Rudolf ein treusorgender Ehemann und Familienvater war. Einzig die Auffassung von Arbeit unterschied die zwei Männer, ansonsten respektierten sich beide gegenseitig. Während Rudolf noch ein wenig in seiner Aktentasche, die auf dem Stuhl neben ihm stand, herumkramte, wie er es immer tat, bevor er sich auf den Weg zu seinem Arbeitsplatz machte, trug Karl, dessen Gedanken noch immer bei der Zukunft des Hofes waren, die beiden leeren Kaffeetassen, zu dem kleinen Spülbecken unweit des Esstisches. „Karl“, sagte Rudolf, während er seine Aktentasche verschloss, „ich werde heute nach der Arbeit rüber zum Krankenhaus fahren. Der Arzt hat gemeint, dass Marianne und das Baby, wenn nichts dazwischen kommt, heute Abend nach Hause dürfen. Freust du dich auf Johanna?“ „Johanna, …an den Namen muss ich mich erst noch gewöhnen, …natürlich freue ich mich auf die kleine Krott. Du weißt ja, wie ich es meine. Hier in unserer Gegend bezeichnen wir liebevoll ein kleines Mädchen als Krott, es ist sozusagen eine süße kleine Kröte.“ Während Rudolf wortlos zu den Kleiderhaken ging, welche an der Rückseite der Küchentür befestigt waren, um seine hellgraue Anzugjacke abzuhängen, fuhr Karl fort: „Rudolf, warum hängst du denn deinen Wams, -deine Jacke immer in der Küche auf? Sie nimmt doch den Geruch des Essens an.“ „Mach dir keine Gedanken“, erwiderte Rudolf, „ die Jacke ist nicht so empfindlich. Die Küche wird auch in Zukunft ein guter Platz für sie sein, …sicher besser als unser Schlafzimmer, wenn es nach den vollgeschissenen Windeln von Johanna stinkt. Oje, …bei Marianne darf ich nichts von stinkenden Windeln sagen, …du weißt doch, …für Mütter stinken die Windeln nicht, sie muffeln höchstens.“ „Wie wahr“, ergänzte Karl, „wenn ich daran denke, wieviel Stoffwindeln Marianne in den nächsten Monaten waschen muss. Da hat sie viel zu tun, …aber so ist das halt, … Windelwaschen ist Frauenarbeit.“ „Gottlob, da hast du recht“, nickte Rudolf, „ich habe vorsorglich einen ganzen Schwung neuer Stoffwindeln gekauft, falls Marianne mit der Wäsche nicht nachkommt. Gott sei Dank ist der kleine Dietrich seit einigen Wochen aus den Windeln raus, so hat Marianne nicht noch die doppelte Arbeit. Obwohl Dietrich mit seinen zweieinhalb Jahren eigentlich ganz früh sauber ist, zumindest im Vergleich zu mir. Meine Mutter hat mir immer vorgehalten, dass ich noch an meinem vierten Geburtstag Windeln anhatte.“ „Großer Gott“, fuhr Karl auf, „da war deine Mutter aber nicht zu beneiden, bei so einem hosenscheißenden Balg, oder?“ „Ja, so war ich eben“, antwortete Rudolf, „nun muss ich mich aber fertigmachen. Die Arbeit ruft.“ Rudolf spähte auf seinem Weg durch den Hausflur einen kurzen Moment in das offen stehende Schlafzimmer, um einen Kontrollblick auf seinen kleinen Sohn Dietrich zu werfen, der friedlich schlafend in dem kleinen Kinderbettchen, welches direkt neben dem elterlichen Ehebett stand, vor sich hinschlummerte. Dann verschwand er hinter der Badezimmertür. Knapp zehn Minuten später kehrte der Mann in die Küche zurück, fein heraus geputzt in seinem grauen Anzug, dem weißen Hemd und der blassvioletten Krawatte. Dazu die schwarzen Lackschuhe und die vergoldeten Manschettenknöpfe. Der eigentliche Geruch der Küche, bestehend aus einer Mischung von Kaffeearoma und etlicher sonstiger, teils undefinierbarer Geruchsrichtungen, zu denen auch Karl nicht unerheblich beitrug, wurden schlagartig von Rudolfs starkem Rasierwasser überdeckt. Der Mann verwendete das scharfe Wasser allmorgendlich, obwohl es wie Feuer auf der empfindlichen Gesichtshaut brannte. Karl hingegen pflegte überhaupt kein Rasierwasser zu nehmen, denn man könnte seiner Meinung nach die Haut mit reinem Leitungswasser wesentlich pfleglicher behandeln, als mit dem Geldabzockerwasser. „Ich bin fertig, Karl“, rief der Schwiegersohn, während er seine Aktentasche griff und anschließend aus der schmalen Schublade des massiven Holztisches seinen Autoschlüssel hervor holte, „kannst du bitte nachher nach Dietrich sehen? Er schläft noch, …seine frischen Anziehsachen liegen neben dem Bett auf der Kommode. Schau, dass er genug isst, aber pass bitte auf, dass er nicht alleine die steilen Treppen betritt. Meinst du, du schaffst es? Heute Abend sind wir ja alle wieder da. Ich hole Marianne und Johanna vermutlich direkt nach der Arbeit ab.“ „Alles klar“, antwortete Karl nickend, „schließlich habe auch ich schon Kinder großgezogen. Unsere Marianne kam ja mitten im zweiten Weltkrieg zur Welt. Meine Güte, das waren Zeiten, …so etwas kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Und den Luxus von vorgefertigten Stoffwindeln, die man nach Gebrauch nur waschen muss, hatten wir seinerzeit nicht, …wir mussten Stoffreste und dergleichen nehmen. Heute in den Sechzigern habt ihr es so gut.“ „Alles gut“, fuhr Rudolf leicht gereizt seinem Schwiegervater fast ins Wort, „also dann, …bis heute Abend, …mit einem neuen Familienmitglied.“ Karl nickte seinem Schwiegersohn wortlos zu und begab sich, während dieser leise das Haus verließ, zum Schlafzimmer, in dem der kleine Dietrich noch immer ganz leise schnarchend schlief. Der Großvater warf einen kurzen Kontrollblick auf sein Enkelkind und schritt anschließend zur Haustüre hinaus, die er bis zum Anschlag offen stehen ließ, um das Wachwerden des kleinen Dietrich nicht zu versäumen und setzte sich auf die alte, verwitterte Holzbank, die sich unweit der Haustüre an der Hauswand, auf welche das erste morgendliche Sonnenlicht fiel, befand. Er atmete ein paar Mal schwer durch, nachdem er auf der Bank Platz genommen hatte und genoss die warmen Strahlen der Aprilsonne auf seinem Gesicht und den Unterarmen. Die ersten Vögel zwitscherten von den naheliegenden Birkenbäumen, die das ganze Anwesen in Unmengen umgrenzten. Die langsam höher steigende Sonne vertrieb rasch die Morgenkühle, die allmorgendlich noch von den kalten Nächten kündete. Die Aprilnächte waren noch richtig frisch, doch der Frühling war nicht mehr aufzuhalten, dessen war Karl sich bewusst. Sein Blick schweifte über die Teile des Anwesens, die von der Bank aus einzusehen waren. Das gesamte Areal umfasste das zweigeschossige Wohnhaus, eine große, hallenartige Scheune, mehrere Stallgebäude und großflächiges Wiesen- und Weideland. Umgeben war der Hofbereich von mehr oder weniger unberührter Natur, lediglich alle paar Hundert Meter befand sich eine Feldscheune oder ein weiterer Hof, von denen einige jedoch nicht mehr bewohnt waren und zum Verkauf standen. Bis zum nächsten größeren Ort, -der Kleinstadt Weilburg an der Lahn, waren es etwa acht Kilometer entlang der Landstraße. Dort, am malerischen Flusslauf der Lahn gelegen, arbeitete Rudolf und dort besorgte die Familie auch ihre Einkäufe. Frankfurt am Main war die nächstgelegene Großstadt, aber mit etwa fünfzig Kilometer Entfernung war sie so weit weg, dass Rudolf und seine Frau Marianne meist nur ein- bis zweimal im Jahr hinfuhren. Rudolf liebte die zahlreichen Museen der Stadt, Marianne hingegen hätte am liebsten ständig den städtischen Zoo besucht. Karl dagegen verließ so gut wie nie die Umgebung des Hofes. Sein Leben spielte sich fast nur dort ab. Die Stunden, ja fast jede Minute, waren mit einer bestimmten Tätigkeit verbunden und verplant, selbst die morgendliche Ruhepause auf der Bank, vorausgesetzt das Wetter spielte mit. So saß Karl auch diesmal entspannt auf der Bank, bis die Rufe des wachgewordenen Dietrich die morgendliche Stille unterbrachen und den Opa aus dessen Gedanken rissen. „Ma, …Mama“, schallte es aus dem Inneren des Hauses. Der Großvater erhob sich mit einem leichten Stöhnen von seiner Bank, denn seine beiden Kniee schmerzten bereits seit Jahren, besonders wenn er sich aus sitzender oder liegender Position erhob. Karl hatte gerade einmal den Türrahmen der offen stehenden Haustüre durchschritten, da erblickte er bereits, den im Flur stehenden kleinen Enkeljungen. „Na, guten Morgen, mein lieber Dietrich. Gut geschlafen, mein kleiner Enkelsohn?“, begrüßte der Großvater den Zweijährigen, der sofort seine Ärmchen nach vorne streckte, um hochgehoben zu werden. Karl beugte sich etwas ungelenk zu dem Kind herunter, nahm den kleinen Blondschopf auf seinen rechten Arm und trug ihn in die Küche, um ihn auf der gepolsterten Eckbank wieder abzusetzen. Der lächelnde Junge sah sich suchend im Raum um, während er „Mama... Mama“ sagte. „Die Mama kommt später“, sagte Karl dem leicht unruhigen Kleinkind, während er Milch in eine hellblaue Tasse goss und anschließend mit dem großen Brotmesser eine Scheibe von dem säuerlich riechenden Brotlaib abschnitt, um sie sogleich mit Butter und Erdbeermarmelade zu bestreichen. „Weißt du, kleiner Mann“, fuhr der Opa fort, während er dem Jungen die Milch und das Brot servierte, „die Mama kommt später. Sie bringt ein neues Baby mit, …mit dem kannst du dann fein spielen. Es heißt Johanna, …Joohaannaa, Johanna und Dietrich, verstehst du?“ Der kleine Blondschopf mit dem wild zerzausten Haar, sah Karl ungläubig an, während er mit beiden Händen eifrig damit beschäftigt war, das klebrige Marmeladenbrot zu verspeisen. Bald war das halbe Gesicht des Kindes erdbeerrot verschmiert. Karl, der sich unterdessen mit seiner zweiten Tasse Kaffee neben das Kind gesetzt hatte, schaute milde lächelnd dem kleinen Dietrich, -dem Dreikäsehoch, wie er ihn auch hin und wieder nannte, beim Essen zu. „Nachher hilfst du mir auf dem Hof, mein Kleiner, in Ordnung? Damit du Schritt für Schritt daran gewöhnt wirst, wozu des Menschen Hände gebraucht werden und du echte harte Männerhände bekommst“, stellte der Senior oberlehrerhaft mit erhobenem Zeigefinger in den Raum, obwohl er es ja nicht ganz ernst damit meinte. Es ging Karl vielmehr darum, den Jungen zu beschäftigen und ihn dennoch auf dem weitflächigen Hofgelände nicht aus den Augen zu verlieren. Dietrich, der sich nach dem Frühstück nur widerstrebend von seinem Opa frischmachen und umziehen ließ, folgte diesem anschließend hinaus auf den im strahlenden Sonnenschein liegenden Hof. Das Kind sah lustig aus, mit seinen blauen Gummistiefeln, der mit Hosenträgern gehaltenen Jeanshose, dem roten Wollpulli und der ebenso roten Wollmütze. Die Zwei liefen zielstrebig auf den Hühnerstall zu, aus dessen Innerem es bereits lautstark gackerte. Bei dem Stall handelte es sich um ein komplett aus Holz errichtetes Gebäude, in dem die etwa fünfzig Hühner und vier Hähne die Nächte verbrachten. Die Fensteröffnungen des Stalles waren zum Teil mit schmutzigen Scheiben, durch welche man nicht mehr schauen konnte, bestückt, zum Teil aber auch mit engmaschigem Drahtzaun versehen. Die Zaunmaschen waren so eng, dass kaum ein Finger von Karl hinein passte. Das wichtigste war, das der Hühnerstall bei Nacht dicht abgeschlossen war, es durfte nicht der geringste Spalt nach Außen vorhanden sein. Zu groß wäre das Risiko gewesen, das ein Fuchs oder ein Marder ein Huhn gerissen, also getötet hätte, um es zu verspeisen. Die Lautstärke der Hühner wurde noch mehr, als Karl mit lautem Gepolter die quietschende, schwergängige Holztür des Stalles öffnete und in den kleinen, vom Hauptstall mit einer Holzwand getrennten Raum trat, in dem sich die Futtervorräte der Tiere befanden. Während Karl auf die drei Säcke, die auf einer Holzpalette auf dem Boden standen und jeweils so hoch wie der kleine Dietrich waren, zuging, sagte er zu seinem Enkel: „So Dietrich, nimm dein kleines, rotes Eimerchen dort aus der Ecke und komme zu mir.“ Der Junge sprang vor Freude mehrmals auf der Stelle nach oben, was ein lautes Poltern auf dem Bretterboden und ein schreckhaftes Herumflattern des Federviehs im Hauptstall zur Folge hatte. „Pariere, du Balsch! Erschrecke nicht die Hühner mit deinem Getrampel“, wies der Mann seinen Enkel mit ernster Stimme an, wobei der Ausdruck Balsch, -die hessische Variante des Wortes Balg für ein ungezogenes Kind, -von Karl in keinster Weise böse gemeint war. Dietrich nahm also seinen kleinen, roten Eimer vom Boden und ging zu seinem Großvater, der vor den Futtersäcken stehend, inzwischen eine gelbe Plastikschaufel in die rechte Hand genommen hatte. „Halte den Eimer schön hoch“, wies der Mann, das immer noch leicht hopsende Kind an, 2und halte endlich still!“ Als der Kleine schließlich seinen Eimer ruhig vor sich hielt, entnahm Karl mit der Schaufel aus jedem der drei Futtersäcke eine geringe Menge der jeweiligen Futtermischung, die hauptsächlich aus Getreide und Saatgut bestand und füllte damit das kleine Eimerchen fast bis zum Rand. Einen etwas größeren und verbeulten Blecheimer füllte er ebenfalls fast randvoll auf, legte danach die Schaufel beiseite, nahm den Eimer in die linke Hand und rief mit erhöhter Lautstärke, um das laute Gackern der Hühner und Hähne zu übertönen seinem Enkel zu: „Komm Dietrich, nimm dein Eimerchen und folge mir. Komm, mach schon, wann wollen wir denn fertig werden?“ Karl ging mit dem großen Eimer voran aus dem Hühnerstall heraus, dicht gefolgt von Dietrich. Beide gingen um den Holzbau herum, bis zur Rückseite, wo sich eine Schiebetüre, die an beiden Seiten mit jeweils einer Holzschiene fixiert war, befand. Karl schüttete einige Meter von der geschlossenen Türe entfernt, den Inhalt seines Eimers in einem weiten Halbkreis auf den graslosen, von den Hühnern kahlgefressenen Erdboden. Unaufgefordert tat der kleine Dietrich das gleiche wie sein Opa. Kaum war das kleine Eimerchen leer, stellte das Kind ihn zur Seite und las verschiedene Futterkörner vom Boden wieder auf. Am meisten schienen ihn die sonnengelben Maiskörner zu interessieren, denn im Nu hatte er wieder zwölf bis vierzehn eingesammelt und in seinen nahe stehenden Eimer zurück geworfen. „Geh zur Seite, Dietrich, … geh weg vom Futter“, rief ihm der Großvater entgegen, „ich lasse jetzt die Hühner raus. Gib acht.“ Der Junge reagierte allerdings nicht, so dass er, als Karl mit einer ruckartigen Bewegung, die etwa ein mal ein Meter große Schiebetüre nach oben riss, immer noch mitten in den Futterkörnern stand. Mit ohrenbetäubendem Geschrei versuchten alle Hühner gleichzeitig nach außen zum begehrten Futter zu gelangen. Alle rannten, sprangen oder flogen sogar ein paar Meter weit aus dem plötzlich offen stehenden Käfig hinaus in die allmorgendlich neugewonnene Freiheit. Tag für Tag schienen sie die gleiche Freude zu empfinden, wenn Karl oder seine Tochter Marianne die Türe öffnete. Dietrich ließ sich von dem Gewimmel aus Hühnern, krähenden und miteinander raufenden Hähnen, umherfliegenden Federn und dem Lärm des Federviehs nicht stören. Scheinbar unbeeindruckt von der Menge der Tiere, inmitten derer er sich befand, stolzierte er mit dem Plastikeimer umher. Zeitgleich betrat Karl die gegenüberliegende Haupttür des Hühnerstalles, um durch eine Zwischentür, die sich neben den drei Futtersäcken befand, in den Ruhebereich der Hühner zu gelangen. Dieser im Halbdunkel nur spärlich von zwei dick eingestaubten Glühbirnen beleuchtete Raum war mittels einiger, etwa eineinhalb Meter hohen hölzernen Zwischenwände in vier kleinere Räumlichkeiten unterteilt. Der Boden war durchgehend mit Stroh, meist steinhart festgetreten, bedeckt. Je eine Hälfte der abgeteilten Räume war mit kinderunterarmdicken, waagerecht von Zwischenwand zu Wand angebrachten Holzstangen versehen, die in einer Höhe von einem knappen Meter den Hühnern als Sitz – und Ruheplatz dienten. An den Längsseiten der Räume standen mit Heu gefüllte hölzerne, ehemalige Gemüsekisten, die zum Teil mit frisch gelegten weißen oder hellbraunen Eiern bestückt waren. Diese Eier waren Karls Ziel beim Betreten des Hühnerstalles. Ei für Ei legte er behutsam in den flachen Weidekorb, der an einer Wandseite an einem Haken hing. Karl kontrollierte mehrmals am Tag die Kisten nach frisch gelegten Eiern. Zudem erneuerte er alle zwei bis drei Tage die Strohschicht auf dem Boden und das Heu in den Legekisten. Die drei flachen Wasserschalen in der Stallung musste er an manchen Tagen sogar zweimal auffüllen, zum einen weil die Hühner, -vor allem im heißen Sommer viel Durst hatten und tranken, zum anderen weil oftmals Stroh vom Boden in die Schalen gelangte und das Trinkwasser aufsog. Beim Blick aus dem Stall, stellte Karl mit Schrecken fest, das sein Enkel mitsamt dem roten Eimer zurück ins Wohnhaus ging und etwa zehn Hühner dem Jungen folgten, denn ein Eimer ließ das Geflügel stets Essbares vermuten. Karl lief mit ungelenken, für ihn flotten Schritten hinterher, bis in die Küche, wo der kleine Dietrich bereits den Eimerinhalt, -die aufgesammelten Maiskörner, komplett ausgeschüttet hatte und sich die Hühner freudig darüber her machten. Karl klatschte mit ernstem Blick laut in die Hände und rief dabei: „Raus aus der Küche. Haut ab, ihr Mistviehcher!“ Voller Aufregung rannten fast alle zielstrebig durch den Hausflur nach draußen. Eines aber huschte unter die Eckbank, rannte aber schließlich doch davon, als Karl mit der flachen Hand zweimal auf die Sitzfläche der alten Eckbank schlug. Dietrich hatte von dem ganzen Durcheinander einen derartigen Schrecken bekommen, das er heulend in der Mitte der Küche stand. Sein Großvater trat gemessenen Schrittes auf ihn zu und überlegte einen kurzen Moment, ob er den Kleinen übers Knie legen sollte, um ihm den Hosenboden zu versohlen, so wie es Karls Vater vor etwa einem halben Jahrhundert fast tagtäglich mit dem kleinen Karlchen tat. Als er dem kleinen Kind jedoch in die verweinten, roten Augen blickte, ließ er mit den Worten, „Mein Vater oder mein Großvater hätten mir den Hintern grün und blau versohlt, wenn ich die Hinkel, …die Hühner ins Haus gelockt hätte. Na ja, ich bin Jahrgang 1910. Und du, du bist Jahrgang 1966, …andere Zeiten, andere Sitten“, von dem Gedanken ab. „Komm Dietrich“, sagte stattdessen der Mann zu dem Kind, „wir gehen wieder rüber in den Stall, der Korb mit den Eiern steht noch da. Komm mit.“ An diesem Tage wurde Karl König so richtig bewusst, was es bedeutet, wenn man alleine das Vieh auf dem Hof versorgen muss, -die Hühner, Schweine, Kühe und Rinder, -sie auf die Weiden bringen und das Milchvieh melken muss, das Misten der Ställe und das abendliche Füttern nicht zu vergessen. Dazu noch ein kleines Kind betreuen und versorgen. Karl war bereits am Mittag körperlich und geistig fix und fertig, -krummgebuckelt, wie er selbst sagte. Er sehnte den Abend und die Rückkehr von Marianne, Rudolf und der neugeborenen Johanna herbei.
Kurz bevor am Abend die Sonne unterging, war der kleine Dietrich völlig übermüdet in den Armen seines Großvaters eingeschlafen. Er war es nicht gewohnt, ohne seine Mutter zu sein und wehrte sich lange ausdauernd gegen seine größer werdende Müdigkeit, welche aber schließlich doch über ihn siegte. Karl atmete erleichtert durch, legte den Schlafenden behutsam ab, nahm anschließend eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank, schaltete das Radio an und setzte sich, erneut schwer atmend an den Esstisch. Wieder war die erste Meldung, die aus dem Radio drang, die Todesnachricht über den brutal ermordeten Bürgerrechtler Martin Luther King aus Amerika. Die Stimme aus dem Radio sagte: „Der 04. April 1968 wird als dunkler Tag in die Geschichte der Friedensbewegung eingehen.“ Karl ergänzte: „In unsere Geschichte wird der 04. April 1968 als der Geburtstag unserer Johanna eingehen. Aber so ein feiger, hinterhältiger Mord ist schon verabscheuungswürdig, …schlimm. Das Werk eines Irren.“ Die Bierflasche war nach wenigen Minuten schon geleert, so dass Karl, der noch immer Durst verspürte, -Brand hatte, -wie er selbst zu sagen pflegte, eine weitere Flasche aus dem Kühlschrank nahm und abermals am Esstisch Platz nahm. Nach einem zügigen Schluck und einem tiefen Rülpser, rief der Mann aus: „Dem Braumeister, der dieses Bier geschaffen hat, gehört ein Denkmal gesetzt.“ Dem zweiten Bier folgte ein drittes, dem wiederrum die vierte Flasche folgte. Längst hatte der Angetrunkene das Radio abgestellt und saß still in dem fast geräuschlosen Raum. Die Stille der Küche wurde lediglich von dem Ticken der Wanduhr und dem kaum hörbaren, sonoren Brummton des Kühlschrankes gestört. Die Lampe der Küche hatte Karl ausgeschaltet, lediglich die zweistrahlige Wandbeleuchtung des nahen Flures spendete dem Türbereich der Küche einen schmalen Lichtkegel, der sich jedoch im Großraum des Zimmers verlor. Karl liebte diese fast ganz dunkle, indirekte Beleuchtungsweise, aber nur wenn er alleine war. Helle Räume bedeuteten für ihn Leben und Leben bedeutete Menschen. Folglich mochte er keine hell beleuchteten Räume, wenn er alleine war. Wenn Karl alleine in einem hellen Raum saß, musste er an Erika, seine vor Jahren verstorbene Ehefrau denken. Dies machte ihn jedes Mal traurig und trieb ihn in den Alkohol, der seiner Meinung nach der anhänglichste Freund des Einsamen ist. Zu Erikas Lebzeiten hatte der Mann keinen Tropfen Alkohol angerührt. Erika und Karl hatten eine harmonische Ehe geführt, Erika war die erste Frau in Karls Leben und Karl war der erste Mann für Erika. In den dreißiger Jahren, kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges hatten sie sich kennen gelernt und waren mit Ausnahme einiger Kriegsjahre nie voneinander getrennt gewesen. Beide hatten freilich auch schon den ersten Weltkrieg miterlebt, wenn auch nur als kleine Kinder, denn Beide wurden im Jahre 1910 geboren, Karl zwei Monate vor Erika. Während Karl mit der vierten Bierflasche in der Hand in der fast stockdunklen Küche saß, dachte er an Erikas Worte, die in Etwa lauteten: „Wer nicht in Kriegszeiten lebt, keinen Hunger leidet und gesund ist, hat keine Probleme.“ Ja, Erika hatte nach eigenen Worten, seit dem Kriegsende im Jahre 1945 ein problemfreies Leben geführt. Sie sah stets das Positive und konnte es nicht verstehen, wenn Menschen grundlos stritten oder sich sogar ab und zu scheiden ließen. „Diese Menschen dort, sie versündigen sich an ihren Kindern“, sagte sie, als sich in den fünfziger Jahren die Eheleute vom nahen Nachbarhof scheiden ließen, obwohl sie drei Kinder hatten. Für solche Personen hatte sie nur Mitleid und hätte ihnen gerne geholfen, wenn sie nur die Hilfe angenommen hätten. Gedankenversunken und müde döste Karl auf dem Küchenstuhl vor sich hin, die Augen tränenerfüllt durch die Erinnerung an Erika und die Gewissheit, dass sie sich im Jenseits wieder begegnen würden. Karl war sich sicher, das Erika in einer bestimmten Art, stets bei ihm war und dieser Glaube war tröstlich für den Witwer. Da zuckte plötzlich ein Lichtschein durch das Küchenfenster. Er blendete den Mann, der aus dem nachdenklichen Entspannungszustand aufgeschreckt den Blick, der an die Dunkelheit gewöhnt war, Richtung Fenster warf. Nicht mehr ganz Herr der eigenen Sinne, durch den Genuss der vier Bierflaschen, verfolgte Karls Blick den gelbweißen Lichtschein, der auf dem weitflächigen Hofgelände sein Unwesen trieb. Um besser sehen zu können, kniff er kurz die Augen zu, doch die dabei hervortretende Tränenflüssigkeit ließ das Gesehene noch verschwommener erscheinen. Mit den Worten: „Was ist das? Was zum Teufel geht hier vor?“, wischte sich der Verwunderte mit dem linken Hemdsärmel die Augen trocken. Endlich konnte er wieder scharf sehen, so scharf, dass er erkannte, dass es sich bei dem großen Lichtkegel in Wirklichkeit um zwei nebeneinander befindliche Lichtquellen handelte. Einen Augenblick später erloschen die beiden Lichter und der Mann vernahm durch das gekippte Küchenfenster, das ihm vertraute, leichte Geräusch des Quietschen, das entstand wenn Rudolf die Fahrertür seines Autos öffnete. Mit einem Mal war Karl hellwach. „Sie sind zurück. Meine Güte, sie sind zurück und ich erkenne die Autolichter nicht, ich alter Schluckspecht, ich Schluckowski“, sagte er aufgeregt zu sich, während er versuchte, mit beiden Händen die vier leeren Bierflaschen, so schnell wie möglich in dem Bierkasten neben der Eckbank verschwinden zu lassen. Begleitet von mehreren Jammerlauten, aufgrund der immer wiederkehrenden starken Knieschmerzen, schritt Karl, in der dunklen Küche nur gelenkt von dem schmalen Lichtschein aus dem Flur, hinüber zum Lichtschalter, um die große Küchenlampe, die etwa in Schulterhöhe über dem Esstisch hing, einzuschalten. Kaum war dies geschehen, öffnete sich kaum hörbar und vorsichtig die Haustüre des Bauernhauses. Auf dem Anwesen der Familie König war es völlig normal, dass die Haustüre von früh morgens bis spät abends offenstand, beziehungsweise nicht abgeschlossen war. Dies hatte sich auch nicht geändert, als Marianne vor drei Jahren, -im April 1965 ihren Rudolf Wenk heiratete. Im Grunde war es überall auf dem Land Gang und Gebe, dass die Haustüren nur in der Nacht abgeschlossen wurden. Mit vorsichtigen Schritten und den Worten: „Karl, bist du noch wach? Wir sind zurück“, betrat Rudolf den Flur, dicht gefolgt von seiner Frau Marianne. Gemessenen Schrittes trat der ältere Mann auf die sichtbar stolzen zweifachen Eltern zu und hieß sie herzlich willkommen, fast ohne den Blick von dem geflochtenen, mit rosa Stoff bedeckten Körbchen zu nehmen, dass Rudolf mit der rechten Hand fest umschlossen hielt. „Kommt rein. Kommt in die Küche“, wies Karl mit einer richtungsweisenden Geste seiner Hand, Tochter und Schwiegersohn in die wohltemperierte Räumlichkeit, die als Zentrum des Hauses galt. Rudolf stellte behutsam den Korb, aus dessen Innerem ein leichtes Atemgeräusch zu hören war, auf die Sitzfläche der Eckbank. Seine Frau Marianne setzte sich, nachdem sie ihre Jacke ausgezogen hatte, unmittelbar neben den Babykorb und nahm mit größter Vorsicht die schützende und wärmende Decke von dem Neugeborenen. Karls erste Worte waren beim Blick auf seine vierundzwanzigjährige Tochter: „Du siehst mitgenommen aus, Marianne. Wie geht es dir?“ Die Frau, die sowohl ihrem Vater als auch ihrem Mann, bezüglich der Körpergröße nur bis zu den Schultern reichte, allerdings über einen gewaltigen Körperumfang verfügte, antwortete kurz und knapp: „Gut geht es mir.“ „Wie geht es dem Kind? Ist es wohlauf? Hoffentlich ist es gesund und kräftig“, fuhr Karl fort. Lächelnd nickend nahm die Frau eine zweite, dünnere Decke, welche den Säugling bedeckte zur Seite und gab somit den Blick auf die neue Erdenbürgerin frei. „Allmächtiger“, stieß Karl aus, „das Kind ist ja knallrot…und so faltig. Habt ihr es schon untersuchen lassen und ihm die Brust gegeben?“ Rudolf, der frischgebackene zweifache Papa antwortete schmunzelnd: „Ja ja, Karl. Alles in Ordnung mit Johanna. Und die Farbe und Falten sind doch normal für Neugeborene. Die Falten wachsen sich aus. So war es doch auch vor zwei Jahren bei Dietrich. Erinnerst du dich noch? Übrigens, schläft der Kleine schon? Wie war euer Männertag?“ Karl antwortete nickend: „Dietrich schläft wie ein Siebenschläfer. Er hat mir artig und fleißig auf dem Hof geholfen. Und ihr Beide, habt ihr Hunger? Ich mache euch eine Hausmacher Wurstplatte zu Ehren der neuen Erdenbürgerin. Wollt ihr, habt ihr Kohldampf?“ Beide, Marianne und Rudolf stimmten dem stolzen Großvater zu, der sogleich mit dem Zubereiten der belegten Brote begann. Kaum zehn Minuten später stellte der Senior eine große Porzellanplatte, die förmlich unter den Unmengen der dick belegten und beschmierten Brotscheiben verschwand, auf den Küchentisch. Auf den herzhaften, mit Butter bestrichenen Roggenmischbrotscheiben sah man rohen und gekochten Schinken, Leber -und Blutwurst, Käseaufschnitt und Streichkäse, sowie Salamiwurst. Jede der Brotscheiben war zudem mit einer kleinen, längs aufgeschnittenen Gewürzgurke garniert, ein wahrer Gaumen -und Augenschmaus. Die Wurstplatte war ein typisches Mittag -oder Abendessen auf dem Lande in Mittelhessen, denn es galt seit Altershehr, die auf dem Hof und den Feldern verbrauchte Arbeitskraft wieder mit sättigenden Lebensmitteln aufzufrischen. Demzufolge griffen der täglich hart arbeitende Karl und seine nicht minder fleißige Tochter kräftig zu, während Rudolf, aufgrund seiner körperlich weniger anspruchsvollen Berufstätigkeit bereits nach drei halben Brotscheiben gesättigt war. Karl schmatzte vor sich hin, ließ ab und an seinen Blähungen freien Lauf, dabei immer wieder den Blick auf die kleine, zierliche Johanna gerichtet, die ruhig und friedlich in ihrem Körbchen schlief. Der kleine Dietrich bekam von alldem gar nichts mit. Er schlief und schnarchte unbeeindruckt von den Neuigkeiten um ihn herum. Es wurde in dieser Nacht weit nach Mitternacht, bis der letzte Bewohner des Birkenhofes endlich einschlief und sich unter dem mondklaren Nachthimmel Ruhe ausbreitete, die jedoch mehrmals unterbrochen wurde, weil die kleine Johanna lauthals schreiend auf sich aufmerksam machte.