John Sinclair 2004 - Ian Rolf Hill - E-Book

John Sinclair 2004 E-Book

Ian Rolf Hill

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Beschreibung

London brannte!

Die halbe Stadt schien in Flammen zu stehen, deren Widerschein sich gespenstisch an den tief hängenden Wolken abzeichnete und wie eine Gestalt gewordene Szene aus Dantes Inferno wirkte. Die Stadt war in Aufruhr, und die zahllosen Stimmen, die sich zu panischem Geschrei aufbäumten, wurden überlagert vom Prasseln, Knacken und Bersten der verbrennenden Häuser. In den Gassen rannten die Menschen wie verängstigte Tiere hin und her.

Der Mann, der dieses Inferno zu verantworten hatte, stand mit tränengefüllten Augen auf dem Turm der Kirche St. Magnus und beobachtete ohnmächtig, wie die Menschen in schierer Verzweiflung ihre Güter in die Themse warfen oder gleich selbst in die kalten Fluten sprangen.

Auf dem Wasser spiegelte sich das Feuermeer, das die Bewohner von London mit gierigen Flammenzungen zu verzehren und mit sich in die Hölle zu reißen drohte.

Ja, es war eine Hölle. Eine Hölle, die der Mann auf dem Kirchturm entfacht hatte.

Und dieser Mann war ich - John Sinclair ...

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Inhalt

Cover

Impressum

Die Pest-Gerippe

Leserseite

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln

Verlagsleiter Romanhefte: Dr. Florian Marzin

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: shutterstock/Kiselev Andrey Valerevich

eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln

ISBN 978-3-7325-4132-4

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

www.bastei.de

Die Pest-Gerippe

von Ian Rolf Hill

London brannte!

Die halbe Stadt schien in Flammen zu stehen, deren Widerschein sich gespenstisch an den tief hängenden Wolken abzeichnete und wie eine Gestalt gewordene Szene aus Dantes Inferno wirkte. Die Stadt war in Aufruhr, und die zahllosen Stimmen, die sich zu panischem Geschrei aufbäumten, wurden überlagert vom Prasseln, Knacken und Bersten der verbrennenden Häuser. In den Gassen rannten die Menschen wie verängstigte Tiere hin und her.

Der Mann, der dieses Inferno zu verantworten hatte, stand mit tränengefüllten Augen auf dem Turm der Kirche St. Magnus und beobachtete ohnmächtig, wie die Menschen in schierer Verzweiflung ihre Güter in die Themse warfen oder gleich selbst in die kalten Fluten sprangen.

Auf dem Wasser spiegelte sich das Feuermeer, das die Bewohner von London mit gierigen Flammenzungen zu verzehren und mit sich in die Hölle zu reißen drohte.

Ja, es war eine Hölle. Eine Hölle, die der Mann auf dem Kirchturm entfacht hatte.

Und dieser Mann war ich – John Sinclair …

Davor und zugleich danach …

Wie die Ameisen, dachte Sir Archibald Denning und schmunzelte, als ihm dieser Vergleich beim Betrachten der Ausgrabungsstätte in den Sinn kam. Und er lag damit gar nicht mal so falsch, denn der Komplex nahe der Liverpool Street Station im Herzen Londons ähnelte wirklich einem gigantischen Ameisenbau. Allerdings wuselten keine riesigen Insekten durch selbstgebaute Gänge, vielmehr bemühten sich zahlreiche Menschen in orangefarbenen Overalls und mit Schutzhelmen darum, die Zeugnisse der Vergangenheit so unbeschadet wie irgend möglich zu bergen, zu katalogisieren und zu analysieren.

Es erfüllte den knapp siebzig Jahre alten Professor für Archäologie mit Stolz, als er mit eigenen Augen sah, wie emsig und leidenschaftlich die Wissenschaftler ihre Arbeit verrichteten, ungeachtet ihrer Stellung und ihres Alters. Egal ob promovierter Archäologe oder Historiker, Student oder wissenschaftlicher Assistent, dieser Fund war eine Sensation, und jeder Einzelne der über hundert Mitarbeiter fühlte sich geehrt, daran teilzuhaben.

Dabei führte Sir Archibald gar nicht die Aufsicht über dieses Projekt, sondern war vielmehr auf Einladung seiner früheren Studentin Alison Felter hier, die bis zu seiner Pensionierung als seine persönliche Assistentin gearbeitet hatte.

Jetzt, fünf Jahre später, war sie eine hochdekorierte Wissenschaftlerin des Museum of London Archaeology und die Kapazität, wenn es um die Vergangenheit der Metropole ging.

Und wie sie die sechzig Archäologen und ihre vierzig Studenten und Assistenten im Griff hatte, nötigte ihm unweigerlich Respekt ab.

»Ist es nicht ein erhabener Anblick?«

Sir Archibald schrak zusammen, als er dicht neben sich die Stimme seiner früheren Assistentin hörte. Es war zwar alles andere als ruhig an der Ausgrabungsstelle inmitten der Millionenstadt, doch der alte Professor mit dem schütteren weißen Haar und dem nicht minder weißen Vollbart hatte in diesen Augenblicken der stillen Einkehr nicht mit der direkten Anrede gerechnet.

Er zuckte zusammen und verlagerte sein Gewicht auf das rechte Bein, wobei er sich auf den Gehstock stützte. Steif drehte er sich nach links, ignorierte dabei die stechenden Schmerzen in seinem linken Bein und blickte Alison Felter an, die ihm ihr Profil zuwandte und geradeaus auf die freigelegte Fläche des ehemaligen Friedhofs von Bedlam blickte.

Doktor Alison Felter war eine attraktive Frau Anfang Vierzig, die ihre dunklen Haare modisch kurz trug. Runde Wangen und ein kleiner Mund mit vollen Lippen verliehen ihrem Gesicht etwas Puppenhaftes. Allerdings durfte man nicht den Fehler machen, die Wissenschaftlerin zu unterschätzen. Wenn es um ihren Job ging, war sie knallhart.

Wie sie es trotzdem schaffte, nebenher eine glückliche Ehe zu führen und zwei Kinder aufzuziehen, war ein weiterer Beweis für ihr Durchsetzungsvermögen und ihre Zielstrebigkeit. Sie verlangte von ihren Mitarbeitern nicht mehr, als sie selbst zu geben bereit war, und die meisten würden für sie durch das sprichwörtliche Feuer gehen. So konnte sich Dr. Felter blind darauf verlassen, dass die Ausgrabungen auch ohne ihre Anwesenheit, an sechs Tagen die Woche, sechzehn Stunden pro Tag effizient weiterliefen.

Sir Archibald nickte. »Erhaben trifft den Nagel auf den Kopf, meine liebe Alison. Ich bin stolz auf dich und das, was du erreicht hast. Diese Ausgrabung muss für dich ein Geschenk des Himmels sein.«

Die Archäologin wandte den Blick von den Arbeitern ab und ihrem Mentor zu, wobei sie die Lippen zu einem strahlenden Lächeln verzog. »Ich danke dir, Archie. Ja, es ist ein Geschenk und zugleich ein wahr gewordener Traum. Das ist es doch, wofür wir Archäologen leben und arbeiten. Die Zeugnisse unserer Herkunft für die Nachwelt zu erhalten. Ein Schatz, der mehr wert ist als alles Gold und Geld der Welt.«

Sir Archibald lächelte. »Schön gesagt, nur frage ich mich, ob das schon alles ist, was du mir zeigen wolltest.«

Alison schmunzelte. »Reicht das etwa nicht?«

Der altgediente Professor entlastete sein rechtes Bein, das steif zu werden drohte, und humpelte einen kleinen Schritt nach vorne, bis an die Absperrung der Aussichtsplattform, von der aus man einen fantastischen Blick in die Grube hatte, in der zurzeit ungefähr dreißig Frauen und Männer in orangefarbenen Overalls zahllose Knochen und Skelette aus der Erde befreiten.

»Hätte dein Boss Jack mich hierher eingeladen, würde ich sagen: ja. Bei dir, Alison, weiß ich, dass mehr dahintersteckt. Du brauchst meinen Rat, habe ich recht?«

Plötzlich wurde das Gesicht von Alison Felter ernst, und der Glanz in den braunen Augen der Archäologin erkaltete, ehe sie nickte. »Das stimmt. Ich habe Jack auch noch nicht darüber informiert und wollte zuerst von dir wissen, was du von der Angelegenheit hältst.«

Alison drehte sich wieder der Ausgrabungsstätte zu und streckte den rechten Arm aus. Einige Abschnitte in der Grube waren mit Bauzäunen und Bretterverschlägen von dem restlichen Ausgrabungsfeld getrennt. In der Regel verbargen sich dahinter besonders empfindliche Fundstücke.

Die Ausgrabungsleiterin wies auf eine der separierten Parzellen.

»Glücklicherweise hat Clarice die Gerippe zuerst gefunden, und so konnten wir dafür sorgen, dass nicht zu viele Menschen von der Sache Wind bekommen haben. Erst recht nicht die Presse.«

Sir Archibald riss erstaunt die Augen auf. »Jetzt machst du es aber spannend, Alison. Du weißt, wie wichtig die Presse für unsere Arbeit ist.«

Dessen war sich die junge Frau mehr als bewusst, denn gerade die historischen Forschungszweige waren auf das Wohlwollen der Öffentlichkeit angewiesen. Nicht selten standen wirtschaftliche Interessen im direkten Gegensatz zu den archäologischen Ausgrabungen, die nicht nur mühsam, sondern im Allgemeinen auch sehr zeitaufwändig waren.

Ein Grund dafür, weshalb Alisons Boss Jack Craven, der verantwortliche Chefarchäologe, auf einem so strikten Zeitplan bestand. Es sollte schließlich nicht der Eindruck entstehen, die Steuer- und Spendengelder würden leichtfertig verprasst werden.

Nichtsdestotrotz war dieser Fund derart bedeutsam, dass man kein Risiko eingehen durfte, wichtige Exponate zu übersehen oder gar zu zerstören. Die Exhumierung der gut dreißigtausend Gerippe brauchte eben Zeit, und die konnte ihnen die Presse verschaffen.

Es war wirklich zum großen Teil der breitflächigen Berichterstattung durch die Medien zu verdanken, dass die verantwortlichen Städteplaner die Füße stillhielten, denn genau an der Stelle, wo einst der Bedlam Cemetery lag, sollte eine unterirdische Schalterhalle entstehen.

Ein weiterer Grund für das rege Interesse der Öffentlichkeit und der Presse war, dass sich die Forscher neue Erkenntnisse über den Pest-Erreger mit dem klangvollen Namen Yersinia pestis erhofften. Ein Großteil der hier beigesetzten Leichen stammte nämlich aus den Jahren 1665 und 1666, in denen der Schwarze Tod ein Fünftel der damaligen Stadtbevölkerung dahingerafft hatte.

»Das ist mir bekannt, Archie. Aber solange ich nicht weiß, was es mit diesen Skeletten auf sich hat, möchte ich keinen Journalisten dabeihaben. Ich habe nicht mal Jack davon erzählt, was nicht einfach war, denn er will schließlich über jeden neuen Fund in Kenntnis gesetzt werden und schaut auch öfter persönlich hier vorbei. Und nicht selten in Begleitung eines Fotografen oder Reporters.«

Sir Archibald atmete tief ein. »Also schön, dann zeig mir mal deinen Jahrhundertfund.«

Alison lächelte erleichtert und half ihrem alten Mentor bei dem Abstieg von der Aussichtsplattform hinab in die Grube. Zwei Archäologen kamen ihnen zu Hilfe, als sie sahen, wer der Ausgrabungsstelle einen Besuch abstattete.

Obwohl Sir Archibald längst im Ruhestand war und auch seit zwei Jahren keine Vorlesungen mehr hielt, war er bekannt wie ein bunter Hund. Wer sich ernsthaft mit der Londoner Vergangenheit beschäftigte, kam an »Archo-Archie«, wie er gerne von seinen Studenten genannt worden war, nicht vorbei. Ein Spitzname, den keiner in Gegenwart des Professors offen auszusprechen wagte, doch Sir Archibald wusste natürlich von ihm, und er mochte ihn sogar irgendwie.

Die beiden hilfsbereiten Archäologen reichten ihrer Chefin und deren Gast jeweils einen Schutzhelm und verabschiedeten sich anschließend.

Alison und der Professor konnten hintereinander auf einem schmalen Pfad am Rand der Grube zu der abgetrennten Parzelle gehen, die durch einen hohen Bretterverschlag vor allzu neugierigen Blicken abgeschirmt war.

Alisons Geheimnis erstreckte sich auf eine Fläche von gut fünfzig Quadratmetern und lag hinter einer Tür aus hölzernen Latten, die mit einem großen Vorhängeschloss gesichert war.

Die wissenschaftliche Leiterin nestelte gerade den entsprechenden Schlüssel hervor, als eine junge blonde Frau, ungefähr Ende Zwanzig, auf sie zu geschlendert kam. Wie alle Arbeiter in der Grube, trug auch sie den blauen Schutzhelm und den orangefarbenen Overall mit den aufgenähten Reflektoren.

»Doktor Felter, ich … es war niemand hier … äh, ich wusste nicht, dass …«

Natürlich hatte auch Clarice die Anwesenheit von Professor Denning bemerkt und die Anwesenheit einer solchen Koryphäe ließ die Archäologin unsicher stammeln wie eine schüchterne Erstsemestlerin. Ihr Gesicht lief rot an, was aufgrund der blassen Haut deutlich zu sehen war.

Alison hob die Hand. »Schon gut, Clarice. Krieg dich wieder ein. Du kennst Sir Archibald doch.«

Ihre Assistentin nickte heftig und schüttelte dem alten Professor eifrig die Hand, wobei ihr Gesicht regelrecht zu glühen schien.

»Natürlich. Entschuldigen Sie, Herr Professor.«

Sir Archibald schenkte Alisons Assistentin ein mildes Lächeln. Sie erinnerte ihn frappierend an eine andere Studentin, die später denselben Posten an seiner Seite innegehabt hatte, wie ihn Clarice jetzt für Dr. Felter bekleidete. Kein Wunder, dass Alison so streng zu ihr ist, dachte der alte Professor. Sie erinnert sie an sich selbst.

»Kein Problem, Miss Boreman.«

Clarice lächelte schüchtern und wandte sich an ihre Chefin. »Doktor Felter, ich dachte sie kämen allein, und …«

Alison löste das Vorhängeschloss und warf ihrer Assistentin einen scharfen Blick zu. »Ich habe es mir anders überlegt und Sir Archibald ins Vertrauen gezogen. Sechs Augen sehen mehr als vier, und wenn einer so etwas schon gesehen haben könnte, dann er.«

Clarice senkte beschämt den Blick. »Entschuldigung, Doktor Felter.«

»Hör auf, dich ständig zu entschuldigen, Clarice. Was ist denn los mit dir? Hat dich dieser Fund derart durcheinandergebracht?«

Ihre Assistentin hob den Blick und sah ihre Chefin unter dem Rand des Helms, unter dem einige Strähnen ihres langen, fahlblonden Haares hervorlugten, unsicher an. »Irgendwie schon. Ich meine, das geht doch nicht mit rechten Dingen zu, oder?«

Sir Archibald hob Kopf und Stimme gleichzeitig, als er den Dialog der beiden Frauen unterbrach. »Meine Damen, wenn Sie mir nicht gleich zeigen, worum es hier überhaupt geht, haben sie einen Mord auf dem Gewissen, denn dann werde ich mit Sicherheit vor Spannung platzen, oder mir bleibt vor Aufregung das Herz stehen. Wollen Sie das verantworten?«

Alison grinste und zwinkerte Clarice zu, die sich sichtlich entspannte.

»Also schön, Archie. Dann mach dich mal auf was gefasst«, erwiderte Alison und zog die Lattentür auf.

Sie trat beiseite und ließ dem Professor den Vortritt, während Clarice den offenen Durchgang mit ihrem Körper abschirmte, damit keiner der anderen Archäologen einen längeren Blick in das Séparée werfen konnte.

Sir Archibald humpelte nach vorne und blieb kurz darauf auf der Schwelle der abgetrennten Grabungsstätte wie angewurzelt stehen. In dem Raum, in dem sich die Wärme staute, herrschte ein dämmeriges Halbdunkel. Beides wurde von der sperrigen Plane verursacht, die über den Bretterverschlag geworfen worden war, um die Funde nicht nur vor neugierigen Blicken, sondern auch vor Regen und Sonneneinstrahlung zu schützen.

Trotz der mäßigen Lichtverhältnisse hatte Sir Archibald jedoch sofort erkannt, warum ihn Alison herbestellt hatte.

»Na, habe ich dir zu viel versprochen?«, fragte sie mit gesenkter Stimme, schräg hinter dem Professor.

Der antwortete nicht, sondern hielt den Blick gebannt auf die zwei Dutzend Skelette gerichtet, die kreuz und quer im abgetragenen Erdreich lagen und erst zur Hälfte von dem Staub der Jahrhunderte befreit worden waren, unter dem sie so lange hatten verharren müssen.

Doch es waren nicht die Skelette als solche, die ihn so in Erstaunen versetzten. Ein Erstaunen, das beinahe an Entsetzen grenzte. Es war die Farbe der Gerippe, die ihn sprachlos machte, denn die Knochen waren tiefschwarz, als hätte man sie mit Pech bestrichen, ehe man sie im Erdreich verscharrt hatte.

***

»Um Himmels willen«, ächzte Sir Archibald. »Was hat das zu bedeuten?«

»Nun geh schon rein«, knurrte Alison und drückte dem alten Mann die flache Hand ins Kreuz. Der schien die rüde Anrede gar nicht registriert zu haben und ließ sich bereitwillig in das Innere des behelfsmäßigen Verschlags schieben.

Dr. Felter folgte ihm und huschte augenblicklich zur Seite als sie die Schwelle passiert hatte, um ihrer Assistentin Clarice den Weg freizumachen.

»Schließ die Tür«, zischte sie ihr zu, doch die junge Frau hätte dies auch ohne die Aufforderung durch ihre Chefin getan. Dabei betrachtete sie ihre Geschlechtsgenossin mit einem unergründlichen Blick, so als ob sie sie zum ersten Mal sähe.

Aber Alison wandte ihre Aufmerksamkeit bereits wieder dem Professor zu, der mit wackeligen Beinen auf das ihm am nächsten liegende Skelett zuwankte und davor umständlich auf das linke Knie sank.

Ein undeutliches Murmeln drang zwischen seinen Lippen hervor. Sir Archibald war sichtlich verstört, denn der Anblick der schwarzen Gerippe war wahrlich bizarr.

»Na, was sagst du jetzt?«, fragte Alison mit lauter Stimme.

Der weißhaarige Mann schüttelte konsterniert den Kopf. »Sie … sie weisen keinerlei Spuren von Zersetzung auf. So … so als ob sie … präpariert worden sind. Unfassbar.«

»Nicht wahr? Aber das ist noch nicht alles …« Alison stutzte und schritt auf den Professor zu. Dabei griff sie in die Innentasche ihres dunkelblauen Blazers und förderte eine schmale Taschenlampe zutage, deren Lichtstrahl sie an dem Gelehrten vorbei, in den Hintergrund des Verschlags richtete.

Tatsächlich, in der hinteren rechten Ecke lag ein dunkles Bündel Decken, das beinahe mit den Schatten verschmolz und auf den ersten Blick nicht zu sehen gewesen war. Vor allem deshalb, weil die Aufmerksamkeit eines jeden Besuchers unweigerlich von den pechschwarzen Skeletten beansprucht wurde.

Alison fuhr zu Clarice herum, die ihre Chefin und deren Gast mit einem eiskalten Blick abwartend taxierte, die Arme vor der Brust verschränkt. Nichts an ihrem Blick und ihrer Haltung erinnerte mehr an die verunsicherte, schüchterne Studentin, die sie noch vor zwei Minuten gewesen war.

»Was hat das zu bedeuten, Clarice? Was liegt da unter den Decken?«

»Sieh doch mal nach, Alison. Du wirst dich wundern.«

Die Ausgrabungsleiterin runzelte verwirrt die Stirn und ignorierte die plötzliche Vertrautheit, mit der Clarice sie angesprochen hatte. Stattdessen ging sie mit energischen Schritten an dem Professor vorbei, der ohne die Frauen zu beachten stur auf das Gerippe vor ihm starrte und mit wachsender Panik in der Stimme murmelte. »Die … die Augen … die Augen … sie … sie glühen.«

Alison hörte zwar, was Sir Archibald sagte, doch ihre Aufmerksamkeit galt einzig und allein dem Bündel Lumpen, vor dem sie in die Hocke ging. Während sie die Taschenlampe mit der linken Hand festhielt, griff sie mit der rechten nach der Decke und schlug sie schwungvoll zur Seite.

Das kalkweiße, im Tod erstarrte Antlitz von Clarice Boreman starrte sie an und noch im selben Augenblick hörte Alison hinter sich das erstickte Gurgeln von Professor Sir Archibald Denning.

***

Wie einfältig und dumm die Menschen doch waren. Rabisana konnte das süffisante Grinsen nicht länger zurückhalten und ließ sich sogar zu einem kalten Lachen hinreißen, als sie sah, wie das vorderste Skelett zum Leben erwachte und seine knöcherne Klaue blitzschnell um die Kehle des Professors schloss.

Auch Dr. Alison Felter, die gerade die Leiche der kleinen Schlampe, deren Identität Rabisana sich bediente, entdeckt hatte, würde den Verschlag nicht mehr lebend verlassen. Mit dem Blut der Assistentin hatte Rabisana die Pest-Gerippe zu neuem Leben erweckt, so wie er es ihr aufgetragen hatte.

Und Dr. Felter sollte das erste Opfer der magischen Pest werden. Dass sie den ollen Zausel mit anschleppte war nicht geplant gewesen, aber auch nicht weiter tragisch. Im Gegenteil, der Professor hatte einen gewissen Unterhaltungswert, wie er da hilflos im Griff des Skeletts hing, das sich nun langsam aus dem Erdreich befreite, indem es sich mit der freien Knochenhand auf dem Boden abstützte.

Auch die restlichen Gerippe erwachten nun nach und nach zu neuem, untoten Leben. Es begann überall mit dem roten Glühen in den ansonsten leeren Augenhöhlen, und kurz darauf fingen die Skelette an, sich zu bewegen.

Rabisana, alias Clarice Boreman, aber widmete sich wieder Dr. Alison Felter, die sich nun langsam aus der Hocke erhob und sich zu ihr umdrehte.

Rabisana erwartete, Angst und Entsetzen, vielleicht sogar schiere Panik in einem schockierten Antlitz zu sehen – und wurde jäh enttäuscht.

Weder der im Würgegriff des Pest-Gerippes ächzende Professor, noch die sich bewegenden Skelette oder die tote Studentin schienen Dr. Alison Felter sonderlich aus dem Konzept zu bringen. Sie wirkte vielmehr überrascht und verwirrt.

Unter hochgezogenen Augenbrauen beobachtete sie die schaurige Szenerie um sich herum.

Rabisana legte den Kopf leicht schräg und betrachtete die andere Frau neugierig und ebenfalls leicht irritiert. Stand die Archäologin vielleicht unter Schock? Möglich, aber hätte sie sich dann nicht irgendwie anders verhalten müssen?

Rabisana war unschlüssig, was sie tun sollte, und so beschloss die Nekromantin, zunächst abzuwarten. Dr. Felter würde ihr sowieso nicht mehr entkommen. Schon jetzt hatten sich mindestens vier Skelette aus dem Boden unmittelbar vor der Ausgrabungsleiterin herausgewühlt und versperrten ihr den Weg aus der Baracke heraus.

Derweil brachte das Skelett, das immer noch Sir Archibald im wahrsten Sinn des Wortes fest im Griff hatte, seinen beinernen Schädel dicht an das Gesicht des pensionierten Wissenschaftlers heran, das bereits blau anlief.

Das Gerippe öffnete sein knöchernes Maul und blies dem Professor stinkenden Atem ins Gesicht, obwohl es ja offensichtlich keine inneren Organe besaß, die einen solchen produzieren konnten.

Rabisana lächelte und genoss die Angst und das Unverständnis des Todgeweihten. Es erfüllte sie jedes Mal aufs Neue mit Genugtuung und bösartiger Freude, wenn sie mit ansehen durfte, wie ahnungslose Menschen auf die Wirkung von schwarzer Magie reagierten.

In den folgenden Sekunden geschah das Unbegreifliche, Grauenhafte, das bald die gesamte Bevölkerung von London dahinraffen würde, damit die Metropole zu einem weiteren Stützpunkt der Dunklen Eminenzen werden konnte, bevölkert von einer Armee schwarzer Gerippe.

Sir Archibald hatte den Mund aus Atemnot ebenso weit aufgerissen wie seine Augen, die groß und weiß aus den Höhlen traten. Panik spiegelte sich in seinem Blick, und aus einem fast schon lächerlichen Überlebensinstinkt heraus versuchte er, mit beiden Hände den Griff der knöchernen Klaue um seinen Hals zu lösen. Natürlich vergebens, und noch während er seine zehn Finger um Elle und Speiche des beinernen Unterarms seines Mörders krallte, begann sich die Gesichtshaut von Sir Archibald dunkel zu verfärben.

Binnen weniger Sekunden erfasste die Schwärze von seiner gesamten Gesichtshaut Besitz. Sie kroch dabei im Verlauf des Herz-Kreislaufsystems von der Brust ausgehend über den Körper seines Opfers.

Rabisana wusste, dass Sir Archibald den magischen Pest-Erreger eingeatmet hatte und dieser sich durch die Lungenbläschen in Archibalds Organismus verteilte, angetrieben von dem panisch klopfenden Herzen.