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Dieses Licht war nicht normal!
Zuerst dachte Karsten Büttner an ein Lagerfeuer, das irgendwelche Nachtschwärmer widerrechtlich angezündet hatten, um sich auf die bevorstehende Walpurgisnacht einzustimmen.
Eigentlich war der Förster in den Wald gegangen, um das Licht des zunehmenden Mondes zu nutzen und Wildschweine zu jagen. Jetzt waren es vermutlich nur ein paar betrunkene Kids, die die drei Tage bis Walpurgis nicht mehr abwarten konnten.
Doch je weiter Karsten sich dem Licht näherte, desto deutlicher erkannte er, dass es nicht der zuckende Schein eines Feuers war. Dafür war es zu gleichmäßig und auch zu düster. Ein intensives rotes Glosen.
Als hätte die Hölle eines ihrer Tore geöffnet!
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Seitenzahl: 160
Veröffentlichungsjahr: 2018
Cover
Impressum
Ausbruch aus der Schreckenshöhle
Briefe aus der Gruft
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Timo Wuerz
eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-6407-1
„Geisterjäger“, „John Sinclair“ und „Geisterjäger John Sinclair“ sind eingetragene Marken der Bastei Lübbe AG. Die dazugehörigen Logos unterliegen urheberrechtlichem Schutz. Die Figur John Sinclair ist eine Schöpfung von Jason Dark.
www.john-sinclair.de
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Ausbruch aus der Schreckenshöhle
von Ian Rolf Hill
Dieses Licht war nicht normal!
Zuerst dachte Karsten Büttner an ein Lagerfeuer, das irgendwelche Nachtschwärmer widerrechtlich angezündet hatten, um sich auf die bevorstehende Walpurgisnacht einzustimmen.
Eigentlich war der Förster in den Wald gegangen, um das Licht des zunehmenden Mondes zu nutzen und Wildschweine zu jagen. Jetzt waren es vermutlich nur ein paar betrunkene Kids, die die drei Tage bis Walpurgis nicht mehr abwarten konnten.
Doch je weiter Karsten sich dem Licht näherte, desto deutlicher erkannte er, dass es nicht der zuckende Schein eines Feuers war. Dafür war es zu gleichmäßig und auch zu düster. Ein intensives rotes Glosen.
Als hätte die Hölle eines ihrer Tore geöffnet!
Ein Schauer rieselte dem Förster über den Rücken.
Der Griff seiner schweißfeuchten Hände um den Schaft der Repetierbüchse wurde fester. Er schluckte trocken und versuchte, sein aufgeregt klopfendes Herz mit langsamen, gleichmäßigen Atemzügen zu beruhigen. Vergebens.
Wenn ihn nicht alles täuschte, drang das Licht von weiter oben, einige hundert Meter unterhalb des Brockens, aus dem Fels. Ein beklemmendes Gefühl bemächtigte sich seiner. Er kannte die Legenden und Sagen, die sich um den Blocksberg rankten und bereits den Dichter Goethe zu seinem Faust inspiriert hatten. Der Förster war selbst mit ihnen aufgewachsen, und er hatte die wohligen Schauer stets genossen, wenn er sich vorgestellt hatte, dass sich in bestimmten Nächten tatsächlich Hexen und Dämonen dort versammelten, um ihrem Herrn und Meister zu huldigen.
Dem Satan!
Doch jetzt, allein und mitten in der Nacht, im Angesicht dieses unirdischen Lichts, kam die Angst.
Umso mehr erstaunte es ihn, dass er nicht auf der Stelle kehrtmachte, die Flucht ergriff und im Dorf Hilfe organisierte. Nur würde man von dort das Licht kaum richtig sehen können und ihn für einen Spinner halten, der gut daran tat, bei seinen nächtlichen Jagdausflügen den Flachmann zu Hause zu lassen.
Abgesehen davon war dies sein Wald!
Zumindest war er als Förster für ihn verantwortlich, und er wollte wenigstens wissen, wer oder was dort sein Unwesen trieb. Das Glosen wurde immer intensiver und schien regelrecht zu wabern.
Karsten bückte sich und schob sich unter den tief hängenden Ästen der Nadelbäume hindurch. Brombeeren rankten über den Boden und bildeten ein verfilztes Geflecht, in dem sich der Förster zu verfangen drohte.
Zu seinem Glück standen die dornigen Ranken noch nicht voll im Saft und ließen sich mühelos auseinanderreißen und zerbrechen. Das lief jedoch keineswegs geräuschlos ab, und immer wieder verharrte Karsten und lauschte in die Stille der Nacht.
Nein, so still war es gar nicht. Ein tiefes sonores Brummen schallte durch den Wald.
Der Förster hielt den Atem an und ging weiter. Vor ihm erhob sich eine breiter mit Moos überwucherter Fels, dessen Nase nach vorne ragte. Karsten legte den Kopf in den Nacken, vermochte aber nichts zu sehen. Dafür erkannte er, dass sich die Quelle des Lichtscheins auf der Oberfläche des Felsens befinden musste, die eine Art Plateau bildete.
Das Brummen war lauter geworden, und Karsten hörte jetzt, dass es Stimmen waren, die einen monotonen Singsang angestimmt hatten. Er schluckte und fühlte Ärger in sich aufsteigen.
Also doch irgendwelche Jugendlichen, die hier feierten.
Oder etwa nicht? Wenn er ehrlich war, klang das nicht wie Kids, die Party machten. Kein Lachen, kein Schreien, auch Musik fehlte völlig. Der Förster dachte nach. Womöglich waren es Satanisten, die die kommende Walpurgisnacht für irgendeine obskure Messe nutzen wollten.
Karsten Büttner brach der kalte Schweiß aus. Er bewegte sich vorsichtig und auf leisen Sohlen nach rechts. Dort führte ein schmaler Wildwechsel am Felsen vorbei den Hang hinauf. Der Förster hob das Gewehr vor die Brust, richtete die Mündung unwillkürlich auf den Schatten des überhängenden Felsblocks.
Der Gesang wurde beschwörender, ekstatischer. Grunzende Laute mischten sich jetzt mit hinein. Waren das überhaupt Menschen, die sich dort oben tummelten?
Das klang vielmehr nach irgendwelchen Tieren.
Es kostete Karsten Überwindung, trotzdem schob er das Gewehr am Riemen über die Schulter, um die Hände freizuhaben. Der schmale Pfad war an einigen Stellen so steil, dass er ihn auf allen vieren erklimmen musste. Zumindest, wenn er verhindern wollte, dass die Personen, die sich auf dem Plateau versammelt hatten, ihn entdeckten.
Karsten drückte die Finger in den weichen von Nadelstreu bedeckten Boden und zog sich den Pfad hinauf. Er hob den Kopf und drehte ihn, um über den Rand des Felsens spähen zu können. Der zeichnete sich als schwarzer Umriss vor dem tiefroten Leuchten ab, das Karsten Büttner immer mehr an glühende Kohlen im Ofen erinnerten.
Nur dass die Hitze des Feuers gänzlich fehlte.
Gemessen an der Intensität des Lichts hätte er wenigstens einen Hauch von Wärme spüren müssen. Stattdessen war es eiskalt!
Die Geräusche auf dem Felsplateau wurden von Sekunde zu Sekunde verstörender. In das sonore Brummen und das rhythmische Grunzen, das Bilder von kopulierenden Schweinen in Büttners Geist aufflackern ließ, mischten sich jetzt peitschende Laute. Ein gackerndes Gelächter folgte.
Karsten riss den Kopf in die Höhe, und sein Herz übersprang vor Schreck einen Schlag. Ein massiger, dunkler Schemen schob sich über den Fels. Lange, gebogene Krallen umklammerten den moosüberwucherten Rand. Milchig weiße Augäpfel mit stecknadelgroßen glutroten Pupillen fixierten den Förster. Im Schein des Mondes gewahrte er schwarzgrüne ledrige Haut mit dicken eitrigen Pusteln. Ein Spalt klaffte unterhalb der gebogenen Nase zischend auf.
Spitze, weiß glänzende Reißzähne wurden gebleckt.
Karsten drohten die Augen aus den Höhlen zu quellen. Das Grauen lähmte ihn, sodass er sogar vergaß, zu blinzeln. Sein Atem ging schwer und keuchend. Er fühlte sich wie ein Kind, das die wahnwitzige Idee hatte, es wäre unsichtbar, wenn es sich nur nicht bewegte.
Aber er lag doch im Schatten des Felsens, neben ihm das undurchdringliche Dickicht aus Nadelbäumen und dornigem Gestrüpp. Das Ding konnte ihn unmöglich sehen!
Ein tiefes Knarren drang aus dem zähnestarrenden Maul der Abscheulichkeit, formte sich zu Worten, die ihm das Blut in den Adern gerinnen ließen.
»Ich rieche Menschenfleisch!«
Ein meckerndes Lachen folgte, und bei Karsten Büttner brachen sämtliche Dämme.
Mit einem lauten Aufschrei verschaffte er sich Luft, drückte sich mit beiden Armen vom Waldboden ab und warf sich nach hinten.
Eine krallenbewehrte Klaue fuhr dicht vor seinem Gesicht vorbei. Er fühlte den Luftzug, spürte, wie die messerscharfen Krallen über die wachsbeschichtete Jacke kratzen, sich im Gewehrriemen verhakten und diesen zerschnitten, als bestünde er aus brüchigem Gummi.
Karsten fuchtelte mit den Armen um sich, versuchte, sich irgendwo festzuhalten. Seine linke Hand fuhr über rauen Stein, die rechte bekam einen nadelbewehrten Zweig zu fassen.
Die Spitzen bohrten sich schmerzhaft in sein Fleisch, der Ast brach ab. Der Förster kippte zurück, prallte auf den Rücken und überschlug sich.
Er schrie und barg den Kopf in beiden Armen.
Sich überschlagend rollte er den Pfad hinunter, wurde schneller und schneller, spürte die harten Schläge, als aus dem Boden ragende Steine, Äste und Baumstümpfe ihn trafen.
Es tat nicht weh, denn das Adrenalin puschte ihn auf. Seine Schreie wurden allein von der Angst diktiert. In sie mischte sich ein vielstimmiges, grässliches Fauchen, das in ein kehliges Krächzen überging.
Karsten Büttner vernahm es nur am Rande. Er verlor vollkommen die Orientierung. Erst als er mit der Hüfte gegen den Stamm einer Fichte prallte, die beim letzten Sturm in Brusthöhe abgeknickt war, endete sein schier endloser Sturz. Schwer atmend blieb er auf dem Bauch liegen.
Er riss den Kopf in den Nacken, sah zwischen den Kronen der Bäume hindurch die Schatten großer Vögel, die sich schwarz vor dem Mondlicht abhoben.
Das Geräusch brechender Äste drang über ihm aus dem Wald. Etwas Großes bahnte sich seinen Weg zu ihm hinunter.
»Nein!«, keuchte Karsten. »Nein, nein, nein. Oh Gott, bitte nicht.«
Er stemmte sich auf die Beine, ignorierte das Stechen in der linken Seite und rannte einfach weiter, blindlings den Hang hinab in Richtung Dorf. Dorthin brauchte er zum Glück nicht zu laufen, denn am Rand des Waldes parkte sein Geländewagen.
Karsten lief, was seine Lungen hergaben. Äste peitschten in sein Gesicht, rissen die Haut auf. Warmes Blut rann ihm in die Augen, rauschte in seinen Ohren. Nach wenigen Metern bekam er Seitenstechen. Das Krächzen, Brechen und Lachen wurde lauter, immer lauter.
Ein harter Schlag traf seine Brust, presste ihm die Luft aus den Lungen und stoppte die Flucht abrupt. Karsten wollten schreien, doch kein Laut drang aus seinem Mund. Er wandte den Kopf, und sein Verstand benötigte mehrere Sekunden, um zu begreifen, dass es kein Monster war, dass ihn attackierte. Er war in vollem Lauf gegen den Geländewagen gerannt. Sein Oberkörper ruhte auf der Motorhaube, die leisen knackenden Geräusche des erkaltenden Motors, holten ihn zurück in die Realität. Fahrig tastete er nach den Autoschlüsseln, hangelte sich an der Kühlerschnauze vorbei in Richtung Seitentür.
Flatternde Bewegungen vor ihm lenkten ihn für Sekunden ab.
Der Förster hob den Blick und sah die heranfliegenden Raben. Ein besonders großes Exemplar mit rot glühenden Augen jagte auf ihn zu. Karsten duckte sich, löste mit zitternden Fingern die Zentralverriegelung. Schnackend öffneten sich die Schlösser, während der Rabe mit schrillem Krächzen über ihn hinwegschoss.
Karsten drehte sich gar nicht erst um, riss die Tür auf und warf sich auf den Fahrersitz.
Wuchtig zog er die Wagentür hinter sich ins Schloss.
Der heranfliegende Rabe knallte so heftig gegen die Seitenscheibe, dass das Sicherheitsglas sprang und ein weißes Spinnwebmuster bildete. Der Förster kümmerte sich nicht darum, schob den Schlüssel ins Zündschloss und startete den Motor.
Hinter der gesprungenen Scheibe erhob sich ein schwarzer, gedrungener Schatten.
Ein wimmernder Laut entfleuchte Karstens Brust, als er die Handbremse löste, die Kupplung kommen ließ und das Gaspedal bis zum Anschlag nach unten trat.
Der Motor heulte auf, der VW ruckelte vorwärts.
Heißer Schreck fuhr dem Förster durch die Glieder, und er fürchtete, der Motor würde ihm absaufen. Doch dann bekam er die Kontrolle über den Wagen, zog ihn in eine enge Linkskurve. Scharfe Krallen kratzten quietschend über das Dach. Eine Klaue durchstieß endgültig das Seitenfenster, kriegte den Förster aber nicht zu packen.
Ein Schlag traf das Handgelenk des Ungeheuers. Aus dem Augenwinkel sah Karsten noch die riesigen milchig weißen Augen mit den rot glühenden Pupillen.
Dann hatte er es geschafft. Er war entkommen.
Mit beiden Händen umklammerte er das Lenkrad, knüppelte den Geländewagen den Feldweg entlang und stierte stur geradeaus durch die Windschutzscheibe. Bloß nicht in den Rückspiegel schauen, dachte er. Um keinen Preis der Welt, wollte er dieser Abscheulichkeit noch einmal in ihr widerwärtiges Antlitz blicken.
☆
»Ja, bitte. Was kann ich für Sie tun?«
Die Frau in der offenen Tür des Forsthauses sah Dagmar misstrauisch, aber nicht unfreundlich an. Sie hatte eine natürliche Bräune, wie sie nur Menschen entwickelten, die sich viel im Freien aufhielten, und zwar nicht nur zum Sonnenbaden.
Das schwarze Haar trug sie schulterlang, die grünbraunen Augen schimmerten sanft. Die Nase mochte ein Stück zu groß sein, doch kein Mensch konnte sich malen, das wusste niemand besser als Dagmar, die früher oft genug wegen ihrer blassen Haut mit den zahlreichen Sommersprossen und den roten Haaren gehänselt worden war.
»Frau Büttner?«
»Die bin ich. Und wer sind Sie?«
Dagmar griff in die Innentasche des Sakkos und holte den Ausweis hervor, der sie als Sonderermittlerin des Bundeskriminalamts auswies.
Sie knipste ihr bestes Sonntagslächeln an, in der Hoffnung, dass es vertrauenswürdig genug aussah, um sämtliches Misstrauen aus dem Weg zu schaffen.
»Mein Name ist Dagmar Hansen. Ich arbeite für das BKA und würde gerne mit Ihrem Mann sprechen.«
Karin Büttner presste die Lippen aufeinander und gab wortlos den Weg frei.
Dagmar bedankte sich und putzte die Schuhsohlen auf dem Fußabtreter ab, ehe sie das gemütlich eingerichtete Forsthaus mit seinen rustikalen Eichenholzmöbeln betrat. Eine mollige Wärme empfing sie, wie sie nur von einem Holzofen stammen konnte. Nach dem kurzen Frühlingseinbruch im März war es jetzt, Ende April, noch einmal richtig nasskalt geworden.
Typisches Aprilwetter eben.
An den getäfelten Wänden sah Dagmar die obligatorischen Rehgehörne, sowie mehrere Gewaffe von Wildschweinen, wie die imposanten Eckzähne der Keiler in der Jägersprache genannt wurden.
Karin führte Dagmar in die Küche, in der es nach frisch gekochtem Kaffee duftete.
»Bitte setzen Sie sich. Möchten Sie einen Kaffee?«
»Ja, gerne.«
Die Frau des Försters holte einen Becher aus dem Schrank, goss Dagmar etwas von dem schwarzen Muntermacher ein und stellte auch Milch und Zucker bereit.
»Bitte sehr. Ich werde Karsten Bescheid geben.«
»Vielen Dank, Frau Büttner.«
»Keine Ursache. Wir haben zu danken. Oder besser gesagt, Karsten. Ich will ehrlich zu Ihnen sein, Frau Hansen. Ich habe versucht, meinem Mann auszureden, überhaupt etwas von dem zu erzählen, was er vorgestern in der Nähe des Brockens gesehen haben will.«
»Aus Angst, dass er für verrückt gehalten wird.«
Karin Büttner nickte. »So ist es.«
»Da machen Sie sich mal keine Sorgen. Wenn dem so wäre, säße ich jetzt nicht hier.«
Die Mittvierzigerin bedachte Dagmar mit einem nachdenklichen Blick.
»Ich weiß nicht, ob das die Sache besser macht.«
»Warum?« Dagmar goss etwas Milch in den Kaffee, auf Zucker verzichtete sie.
»Weil … weil es so … so unglaublich klingt, was Karsten da erzählt hat. Wahrscheinlich waren es Jugendliche, die sich einen Scherz erlaubt haben. Zugegeben, einen sehr bösen Scherz, mit dem sie deutlich über das Ziel hinausgeschossen sind. Dass Sie gekommen sind, wird ihn in seiner Annahme echte Hexen und Dämonen gesehen zu haben, nur bestärken.«
»Ich möchte lediglich die Aussage ihres Mannes zu Protokoll nehmen. Ich habe nicht vor, ihn zu bestärken, möchte ihm aber auch nicht einreden, er wäre einem dummen Jungenstreich auf den Leim gegangen.«
»Haben Sie mitbekommen, was vor einigen Wochen in der Nähe des Wurmbergs passiert sein soll?«
Dagmar nickte. »Ich hörte davon.«
Das war eine glatte Untertreibung. Sie und ihr Partner Harry Stahl waren mittendrin im Geschehen gewesen, als die Brut eines dämonischen Riesenwurms eine Stadt in Angst und Schrecken versetzt hatte.1) Umso alarmierter waren sie gewesen, als jetzt erneut ein Hilferuf aus dem Harz kam. So kurz aufeinanderfolgend, das konnte kein Zufall sein.
So zumindest sah es ihr Partner Harry Stahl, der ausgerechnet heute noch einer anderen Spur nachgehen musste, sodass ihr gemeinsamer Vorgesetzter Becker beschlossen hatte, Dagmar solle zunächst allein fahren.
Bei einer Zeugenvernehmung könne schließlich nicht viel passieren, meinte er. Harry sah das geringfügig anders und wollte es sich nicht nehmen lassen, unverzüglich John Sinclair zu informieren. Es mochte überhastet wirken, doch beim letzten Mal hätte es ohne den Geisterjäger aus London bitter ausgesehen. Vor allem für Harry.
»Dann wissen Sie ja, was ich meine. Es kam zu einer Massenpsychose. Die Leute wurden hysterisch und auch einige hier aus Schierke haben sich davon anstecken lassen.«
»Sie glauben, ihr Mann sei derart leicht beeinflussbar, dass er Gespenster sieht?«
»Nein, das ist er nicht!«
Karin Büttner, die mit dem Rücken zum dunklen Hausflur stand, schrak mit einem leisen Schrei zusammen, presste sich eine Hand auf die Brust und fuhr herum. Der Förster war lautlos hinter sie getreten und hatte anstelle seiner Frau geantwortet.
»Karsten, bitte entschuldige, aber …«
»Ja, ja, schon gut«, wiegelte er ab und drückte sich an seiner Frau vorbei in die Küche. »Guten Tag, Frau …«
»Hansen. Dagmar Hansen.« Sie erhob sich und reichte dem Förster die Hand. »Ich komme vom Bundeskriminalamt.«
»BKA?«, rief Karsten Büttner erstaunt. »Ich habe mich an die örtliche Polizei gewandt, da ich hoffte, dass die Beamten nach der Wurmbergsache vielleicht aufgeschlossener seien. Aber dass sie gleich das BKA verständigen würden, damit hätte ich nicht gerechnet.«
Dagmar lächelte schmal. »Ich hoffe, daran erkennen Sie, wie ernst wir die Angelegenheit nehmen.«
Er nickte langsam, nahm sich ebenfalls eine Tasse Kaffee und setzte sich Dagmar gegenüber. Karin Büttner gesellte sich zu ihrem Mann.
»Ich nehme an, Sie wollen wissen, was genau ich vorletzte Nacht erlebt habe.«
»Ja, so detailliert wie möglich.«
Karsten Büttner lachte kurz und wischte sich fahrig über die Augen.
»Mein Gott, bei Licht betrachtet klingt es wirklich albern.« Er warf seiner Frau einen Blick zu. »Vielleicht hätte ich sogar meine Aussage zurückgezogen, doch in der letzten Nacht kehrten die Albträume zurück. Ich hatte das Gefühl, das Grauen noch einmal zu erleben, das ich durchmachen musste, als ich vor den … vor diesen Gestalten geflohen bin.«
Dagmar nickte verstehend. »Bitte, lassen Sie nichts aus. Keine falsche Zurückhaltung, alles kann wichtig sein. Sie brauchen keine Angst davor zu haben, dass ich Sie auslache oder für verrückt erkläre.«
Die Sonderermittlerin spürte den leichten Druck des dritten Auges hinter der Stirn, doch sie brauchte ihre Psychonauten-Kräfte gar nicht erst zu aktivieren. Kaum, dass sie ihre beruhigenden Worte ausgesprochen hatte, brach es auch schon aus Karsten Büttner heraus.
Er redete wie ein Wasserfall, und Dagmar musste nur in das zerkratzte, bleiche Gesicht des Försters sehen, um zu wissen, was für Ängste er ausgestanden hatte. Und er machte gewiss keinen überängstlichen Eindruck. Wäre er sonst mitten in der Nacht Schweine jagen gegangen?
Wohl kaum.
Karsten Büttner beendete seinen Bericht und starrte ausdruckslos auf seine Hände, die er gegen den gefüllten Becher drückte. Keinen einzigen Schluck hatte er getrunken, und die BKA-Ermittlerin zweifelte keine Sekunde daran, dass er vermutlich die Hälfte davon verschüttet hätte, hätte er es versucht.
»Was wollen Sie jetzt machen?«, fragte seine Frau herausfordernd.
»Ganz einfach«, erwiderte Dagmar und leerte ihre Tasse. »Ich statte diesem ominösen Felsplateau einen Besuch ab. Und ich möchte, dass Sie mich begleiten, Herr Büttner.«
☆
Sie fuhren mit Dagmars Dienstwagen, einem schnittigen Audi A8, mit dem sie flott über die ewige Baustelle der A7 die Stadt Wernigerode erreicht hatte. Von dort war es nur ein Katzensprung bis Schierke gewesen, einem Dorf, das nicht weit vom Wurmberg entfernt lag.
Ein beklemmendes Gefühl hielt Dagmar umfangen, als sie ihren Audi außerhalb des Sechshundert-Seelen-Dorfes in Sichtweite des Brockens am Waldrand stoppte. Hatten sie die Bedrohung durch die Würmer nicht gänzlich beseitigen können?
Doch von Würmern hatte Karsten Büttner nichts erzählt, obschon das nicht viel bedeuten musste. Selbst die Tatsache, dass helllichter Tag war, war nicht unbedingt ein Grund zu Beruhigung. Die schwarzmagischen Würmer hatten auch bei Sonnenschein zugeschlagen, und jetzt hing sogar noch eine dichte Wolkendecke über dem Harz, aus der feiner Sprühregen fiel.
Kein angenehmes Wanderwetter. Doch um solche Kinkerlitzchen kümmerten sich die Mächte der Finsternis genauso wenig wie um freie Wochenenden und feste Dienstzeiten.
Das Krächzen von Raben empfing sie beim Aussteigen. Keine Menschenseele war zu sehen. Auch auf dem Weg hierher war ihnen lediglich ein Landwirt auf einem altersschwachen Traktor entgegengekommen, der Holz aus dem Wald geholt hatte.
Karsten Büttner, der eine grüne Wachsjacke trug, die einen herben Geruch ausströmte, wurde merklich blasser.
»Auch vorgestern habe ich am Nachmittag auffallend viele Raben um den Brocken herumfliegen sehen.«
»Glauben Sie, es sind dieselben Tiere, die Sie nachts durch den Wald gejagt haben?«
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