John Sinclair 2082 - Ian Rolf Hill - E-Book

John Sinclair 2082 E-Book

Ian Rolf Hill

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Beschreibung

Die Explosion raubte ihr schlagartig das Gehör!
Eine Feuerlohe stob kochend heiß gegen die rudimentäre Deckung, hinter der sie gemeinsam Schutz gesucht hatten, und darüber hinweg. Sie schloss die Augen und versuchte verzweifelt, die Füße anzuziehen. Doch das linke Bein blieb weiterhin gefesselt, ebenso wie der entsprechende Arm. Deshalb konnte sie auch nicht aus dem OP fliehen. So blieb ihr nur, zu hoffen, dass sie der zerstörerischen Kraft der Detonation hinter dem Operationstisch entgehen konnte.

Dass sie überhaupt noch am Leben war, verdankte sie der kleinen Gestalt, die sie mit ihrem rechten Arm fest an sich drückte. Ein kalter Körper, in dem kein Herz schlug, und der nicht zu atmen brauchte, denn er war schon lange tot.
Trotzdem steckte Leben in ihm. Denn es war das Zombie-Mädchen!

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EPUB

Seitenzahl: 141

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Inhalt

Cover

Impressum

Das untote Kind

Briefe aus der Gruft

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: Anton Watman; Gehrke/shutterstock

eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln

ISBN 978-3-7325-6623-5

„Geisterjäger“, „John Sinclair“ und „Geisterjäger John Sinclair“ sind eingetragene Marken der Bastei Lübbe AG. Die dazugehörigen Logos unterliegen urheberrechtlichem Schutz. Die Figur John Sinclair ist eine Schöpfung von Jason Dark.

www.john-sinclair.de

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

www.bastei.de

Das untote Kind

von Ian Rolf Hill

Der Donner der Explosion raubte ihr schlagartig das Gehör!

Eine Feuerlohe stob kochend heiß gegen die rudimentäre Deckung, hinter der sie gemeinsam Schutz gesucht hatten, und darüber hinweg.

Karina Grischin schloss die Augen und zog die Füße an.

Das heißt, sie wollte es, aber nur das rechte Bein gehorchte ihrem Befehl. Das Linke blieb weiterhin gefesselt, ebenso wie der linke Arm. Deshalb konnte sie auch nicht aus dem OP fliehen und hoffte, der zerstörerischen Kraft der Detonation hinter dem Operationstisch zu entgehen.

Dass sie überhaupt noch am Leben war, verdankte sie der kleinen Gestalt, die sie mit ihrem rechten Arm fest an sich drückte. Ein kalter Körper, in dem kein Herz schlug, und der nicht zu atmen brauchte, denn er war schon lange tot.

Trotzdem steckte Leben in ihm.

Es war Galina Smarow – das Zombie-Mädchen!

So schnell, wie das Feuer gekommen war, so schnell verschwand es auch wieder.

Karina glaubte, ein Platzen und Klirren zu vernehmen, dann spürte sie die Nässe unter dem Tisch hindurchsickern. Und schon sah sie das an den Seiten des Tisches vorbeischwappende Wasser. Die Explosion musste das fast bis zum Rand gefüllte Bassin zerstört haben.

Karina erinnerte sich daran, wie das Zombie-Mädchen den tödlich verwundeten Satanos gegen die zentimeterdicke Scheibe gewuchtet hatte. Das Knirschen seiner Knochen mochte Einbildung gewesen sein, die feinen Risse im Glas waren es nicht.

Weiter hatte sie sich damit nicht befassen können, da sie mit ihrer eigenen Befreiung beschäftigt gewesen war. Und dann war ihr Blick auf das grinsende Gesicht des Sterbenden gefallen, der mit letzter Kraft die Fernbedienung betätigt und seinen Körper in die Luft gesprengt hatte.

Galina Smarow hatte ihr binnen weniger Sekunden zum zweiten Mal das Leben gerettet, indem sie den Operationstisch einfach umgeworfen hatte.

Das aus dem Tank fließende Wasser hatte das Feuer gelöscht, doch Karina wusste, dass sie noch lange nicht gerettet war. Schließlich war das Becken nicht leer gewesen.

In ihm hatte ihre Todfeindin Chandra, die Kugelfeste, um ihr Leben gekämpft.

Gegen eine geklonte Doppelgängerin, die zugleich ein Zombie war, der selbst den Genickbruch überstanden und versucht hatte, Chandra in die Tiefe zu ziehen und zu ertränken.

Kugelfest mochte sie sein, aber sie war immer noch ein lebendiger, atmender Mensch.

Ein Mensch, der nun frei war.

Karina zweifelte daran, dass Chandra sie so einfach laufen lassen würde. Sie hatte sie vor Oleg, dem untoten Leibwächter Rasputins, gerettet, und sie war gewiss keine Freundin von Kunasjanow, alias Satanos gewesen, aber das machte sie nicht automatisch zu Karinas Verbündeten.

Wie Chandra schließlich zu Rasputin stand, vermochte die Agentin nicht mit Gewissheit zu sagen.

Karina hörte die andere husten und würgen, dazwischen ein rhythmisches Klatschen, als würde ein großer Fisch mit seiner Schwanzflosse auf den Boden schlagen und um sein Leben ringen.

Sie mussten fliehen!

Die Knochensäge, mit der ihr der Wahnsinnige den Kopf hatte öffnen wollen, hielt sie immer noch in der Hand.

»Wir müssen raus hier, Galina«, zischte die Agentin, und das Mädchen begriff, löste sich aus der Umarmung und sprang auf.

Es lief zu der schweren Schiebetür und zerrte sie auf, während Karina die Säge an der Fessel ansetzte. Ihre Hand zitterte, doch es gelang ihr, den Riemen zu zerschneiden, ohne sich zu verletzten.

Jetzt noch das linke Bein.

Chandras Husten ging in Röcheln über.

Galina wirbelte auf der Stelle herum. Ihre Augen weiteten sich, allerdings mehr aus Überraschung, als aus echtem Entsetzen. Karina bezweifelte, dass das Zombie-Kind solches überhaupt empfinden konnte.

Endlich fiel die letzte Fessel. Karina schleuderte die Säge weg und zog sich an der Kante des OP-Tisches in die Höhe. Er war warm, aber nicht so heiß, als dass sie sich verbrannt hätte. Das Wasser hatte das Metall bereits weit genug runtergekühlt.

Ihre Knie zitterten, doch das Adrenalin, das von ihrem klopfenden Herzen durch die Blutbahn gepumpt wurde, puschte sie regelrecht auf. Fast wäre sie über die Decke gestolpert, die ihren nackten Körper bedeckt hatte.

»Sestra!« Galina wollte an dem OP-Tisch vorbeilaufen, doch die Agentin war schneller.

Sie fing die kleine Gestalt ab und riss sie einfach in die Höhe. Nur hatte sie das Gewicht des Zombie-Mädchens unterschätzt.

Keuchend sackte sie in die Knie.

Galina starrte sie ausdruckslos an, und wieder lief der Russin ein Schauer über den Rücken. Sie konnte nicht einmal ahnen, was in dem kleinen Kopf vor sich ging.

»Wir … du kannst ihr nicht helfen.« Sie hustete. »Aber wir müssen raus. Wahrscheinlich wird das ganze Gebäude in die Luft gehen.«

Das war natürlich nur eine Mutmaßung, doch Karina verspürte keine Lust, auch nur eine Minute länger als unbedingt nötig in dieser Hölle zu bleiben.

Galina nickte, ergriff ihre Hand und zog Karina aus dem OP. Die Agentin hatte Mühe, dem kleinen Zombie zu folgen. Sie stolperte mehr, als dass sie lief, und zuckte erschrocken zurück. Fettiger, nach verbranntem Fleisch und angekokeltem Plastik stinkender Qualm wehte ihnen entgegen, als sie den Korridor entlangeilten.

Der Flur war in rotes Licht getaucht, das stroboskopartig flackerte. In seinem surrealen Schein wirkten die schwelenden, zerfetzen Leichen wie Requisiten zu einem geschmacklosen Film. Vereinzelte Flammen leckten an verschmorter Kleidung, gaben aber keine nennenswerte Helligkeit ab.

Irgendwo schrillte ein Alarm, doch es schien niemanden mehr zu geben, der ihn hören oder auf ihn reagieren konnte.

Karina wurde schwindelig. Sie kippte zur Seite, prallte mit der Schulter gegen die Wand und zuckte zurück. Sie war glühend heiß.

Gibt es keine Sprinkleranlage?, fragte sie sich noch, da fing die Welt bereits an, sich zu drehen. Karina hatte den Eindruck auf einem außer Kontrolle geratenen Karussell zu stehen. Ihre Lunge verkrampfte sich, als sie beißenden Rauch einatmete.

Prompt wurde ihr schwarz vor Augen.

Kurz zuvor

Chandra schnappte nach Luft und wurde wenige Atemzüge später abrupt unter die Oberfläche gezogen. Mit aufgerissenen Augen starrte sie auf die Fratze der Untoten. Das Wasser verzerrte die Perspektive und ließ das Gesicht aufgeschwemmt und teigig aussehen.

Der Kopf baumelte knochenlos auf dem Hals, und doch bewegte sich der Zombie, umklammerte Chandras Beine und hielt sie unerbittlich fest. Ob die Untote so weit denken konnte, um zu wissen, dass ihr Opfer ertrinken würde, wenn sie es nur lange genug festhielt, bezweifelte Chandra.

Vermutlich war es eine instinktive Reaktion, deren Resultat aber nicht minder tödlich war.

Ihr war klar, dass sie sich so schnell wie möglich befreien musste. Nur lagen die Vorteile alle auf Seiten ihrer Doppelgängerin. Diese hatte nicht nur deutlich mehr Kraft, ihr gesamter Körper schien schwer wie Blei zu sein.

Aus dem Augenwinkel bekam Chandra mit, wie Kunasjanow durchdrehte und von Galina attackiert wurde. Wäre sie nicht sowieso schon am Ersticken gewesen, spätestens jetzt wäre ihr der Atem weggeblieben.

Was trieb das kleine Spatzenhirn dazu, ihren geliebten Onkel Niko anzugreifen?

Chandra konnte sich nicht länger mit dem Geschehen außerhalb des Tanks befassen. Ihr Herz raste, und das Blut rauschte in den Ohren. Schon zerplatzten bunte Sterne vor Chandras Augen.

Ein Feuerwerk, das sie in den Tod begleitete.

Plötzlich krachte ein dumpfer Schlag von außen gegen die Scheibe. Eine Erschütterung, kaum wahrnehmbar, ging durch das Wasser. Chandra krümmte den Körper, drosch die Faust immer wieder in die Fratze des Zombies, strampelte mit den Beinen und verbrauchte so noch mehr von dem im Blut gelösten Sauerstoff.

Jeden Moment würde der Atemreflex einsetzen, und ihre Lungen würden sich mit Wasser füllen. Dann war es aus. Endgültig.

In derselben Sekunde, als dies geschah, explodierte der Operationssaal in einem grellen Blitz. Der Krach der Detonation war nicht mehr als ein dumpfer Knall. Die Wirkung jedoch war enorm. Die Panoramascheibe zerplatzte, und ein gewaltiger Sog erfasste Chandra und ihre untote Doppelgängerin, riss sie aus dem Bassin und spülte sie in Satanos’ Horror-Kabinett.

Der Feuerball wurde von den Wassermassen förmlich geschluckt.

Chandra prallte so hart auf den Boden, dass ihr beinahe das Bewusstsein schwand. Allein der Tatsache, dass sie schon etwas von der Flüssigkeit eingeatmet hatte und sie zu husten und würgen begann, hatte sie es zu verdanken, dass sie wach blieb.

Ihre Brust verkrampfte sich schmerzhaft und die Augen quollen aus den Höhlen. Weißgrauer Dampf stieg von dem zerfetzten Kadaver auf, der einmal Nikolai Kunasjanow gewesen war.

Da hat Rasputin wohl auf das falsche Pferd gesetzt, dachte Chandra grimmig und ihr Blick glitt weiter zu ihrer untoten Doppelgängerin. Nur eines von vielen abartigen Experimenten, die Satanos in Rasputins Auftrag durchgeführt hatte.

Der Griff um ihre Beine hatte sich gelockert, und mit einigen gezielten Tritten in die Visage des Zombies gelang es ihr sich zu befreien. Sie wollte sich auf die Beine rappeln, davonlaufen und Distanz zwischen sich und die Untote bringen, doch sie glitt auf dem nassen Boden aus und schlug hart mit dem Kopf auf.

Der Zombie hatte die Kontrolle über seinen Körper verloren. Die nackten Arme klatschten auf den Boden, und der Schädel hatte sich durch Chandras Tritte beinahe um einhundertachtzig Grad gedreht. Obwohl die Untote auf dem Bauch lag, starrte sie an die Decke. Chandra bezweifelte, dass die Kreatur überhaupt etwas sah, so unstet, wie die Augen in den Höhlen rollten und ziellos hin und her zuckten.

Wie eine riesige, halb zertretene Spinne, der man die Hälfte der Beine aus dem Körper gerissen hatte.

Blanker Hass überrollte Chandra, und im Augenwinkel sah sie vereinzelt medizinische Instrumente glitzern, die in einem wilden Durcheinander herumlagen wie kleine Fische aus einem geborstenen Aquarium.

Sie kümmerte sich nicht um Galinas Ruf, achtete auch nicht auf Karina Grischin. Ihre Finger schlossen sich um das Skalpell, und mit einem Schrei auf den Lippen, der als pfeifendes Röcheln aus ihrer Kehle drang, stürzte sie sich auf die Untote.

Sie rammte ihr die winzige, scharf geschliffene Klinge abwechselnd in beide Augen, schlug die Arme zur Seite, deren Finger nach ihr tasteten und trieb das Skalpell durch die rechte Augenhöhle in das Gehirn der Untoten.

Die Bewegungen erlahmten, doch Chandra war noch nicht fertig. Sie riss die Klinge wieder hervor und fing an, den Hals aufzuschlitzen. Das Fleisch klaffte auf und statt Blutfontänen sickerte lediglich eine glibberige, bräunliche Substanz aus den zerfetzten Gefäßen.

Gestocktes Blut und Lymphflüssigkeit.

Chandra würgte und machte weiter, bis sie das Skalpell achtlos zur Seite warf und den Kopf mit beiden Händen ergriff. Mit einem erlösenden Schrei, durch den sie ihrer Wut endlich laut vernehmbar Luft verschaffte, riss sie den Schädel mit ruckartigen Drehungen von der zerbrochenen Halswirbelsäule.

Das Haupt löste sich so abrupt, dass Chandra ihren ohnehin schon unsicheren Halt einbüßte und nach hinten kippte. Hart schlug sie mit dem Hinterkopf gegen den Operationstisch, und verlor augenblicklich die Besinnung.

Karina zitterte am ganzen Leib, als sie wieder zu sich kam.

Sie hörte ein unablässiges Klappern, als würde jemand mit Kastagnetten spielen, und begriff erst viel später, dass es ihre Zähne waren, die unkontrolliert aufeinanderschlugen.

Zuvor wurde ihre Aufmerksamkeit von den zerrenden und ruckelnden Bewegungen in Anspruch genommen, mit der sich etwas an ihren Beinen zu schaffen machte.

Ein scharfer Schmerz zuckte durch ihr Hüftgelenk. Wollte ihr jemand das Bein ausreißen?

Panik bemächtigte sich ihrer, denn sie dachte an Bären oder Wölfe, die ihren leblosen Körper entdeckt hatten und sich nun über sie hermachten. Dass sie im Freien lag, sah sie anhand der Baumwipfel, die um sie herum aufragten.

Doch es war nur Galina Smarow, wie Karina feststellte, als sie erschrocken den Kopf hob. Was sie beim Anblick des untoten Kindes empfand, das verbissen versuchte, ihr eine Uniformhose anzuziehen und sich dabei reichlich ungeschickt anstellte, vermochte sie nicht zu sagen.

Erleichterung, Rührung, Abscheu, Hoffnung und Angst.

Es war das reinste Gefühlschaos, dem sie sich allerdings nicht hingeben konnte. Zumindest nicht, wenn sie nicht wollte, dass Galina ihr im Übereifer tatsächlich noch ein Bein ausriss.

Karina richtete sich auf, streckte den Arm aus und ergriff das schmale Handgelenk des Zombie-Mädchens. »Es ist gut.« Sie musste sich räuspern, und Galina hob den Kopf und musterte sie aus trüben Augen.

»Du bist wach!«, stellte sie fest und ihre Mundwinkel zuckten und verzogen sich zu einem grimassenhaften Lächeln, das Karina erneut eine Gänsehaut bescherte.

Ja, sie war wach und sie lebte.

Nach all den Torturen, die sie in der Gewalt von Rasputin und Kunasjanow erlitten hatte, war es ihr nicht nur gelungen am Leben zu bleiben, sondern auch zu fliehen. Allerdings war sie zu müde, als dass sie Triumph oder Euphorie verspürte.

Hinzu kam die Kälte, denn obwohl die Sonne hoch über den Baumwipfeln am Himmel stand, drang kaum ein Strahl durch das dichte Blätterwerk. Karina atmete tief ein und roch den würzigen Duft der Erde, in den sich aber auch der Gestank von kaltem Rauch mischte, sowie das süßliche Aroma der Verwesung, das Galina wie eine Wolke umgab.

Trotz dieses wenig appetitlichen Odems lechzte sie nach Wasser, und ihr Magen fing an zu knurren. Wie lange hatte sie nichts mehr gegessen? Sie wusste es nicht, denn ihr Zeitgefühl war völlig durcheinandergeraten.

Zumindest schien es immer noch Frühling oder Anfang Sommer zu sein. Vögel zwitscherten und … das entfernte Knattern eines Hubschraubers ließ Karina innehalten. Sie richtete den Blick zum Himmel und suchte die Maschine, die sich ihnen näherte. Sie stemmte die Hände seitlich auf den Waldboden und drückte den Oberkörper nach oben. Eine Jacke, die Galina ihr um die Schultern gelegt haben musste, rutschte herunter.

Der linke Arm steckte bereits im Ärmel, doch weiter war das Zombie-Mädchen nicht gekommen. Karina bemerkte, dass sie unter der Jacke nackt war.

Sie stellte fest, dass sie auf einem abschüssigen Hang lag, und wandte den Blick bergauf. Eine dunkle Rauchsäule stieg hinter den Wipfeln der Bäume empor.

Karina drehte den Kopf und suchte abermals nach dem Helikopter, dessen Rotorengeräusche immer lauter wurden. Sie wusste nicht, wie sie reagieren sollte.

Aufstehen und winken, in der Hoffnung, dass der Pilot sie trotz der dicht stehenden Baumkronen sah oder liegen bleiben und hoffen, dass niemand nach ihr suchte?

Wer befand sich in dem Hubschrauber? Freund oder Feind?

Es war ja nicht so, als ob sie noch viele Freunde gehabt hätte. Vielleicht eine Handvoll, und die lebte nicht einmal hier in Russland.

Sie stutzte. Befand sie sich überhaupt in ihrem Heimatland?

»Ist das Onkel Grigori?«, fragte Galina neugierig und legte den Kopf in den Nacken.

Karina sah die Naht, die sich aus dem Ausschnitt des dunklen Kleidchens wand, und revidierte ihren eben aufgekommenen Gedanken. Zumindest eine Freundin war ihr geblieben.

Ein untotes Kind, das sie aus der Flammenhölle von Rasputins Horror-Labor gerettet hatte.

Sie schluckte und biss sich auf die Unterlippe. Es wäre zum Lachen gewesen, und eigentlich hatte Karina auch allen Grund dazu, wenn sie daran dachte, was für einem Schicksal sie entronnen war.

Doch Galinas Frage brachte sie zurück auf den Boden der Tatsachen und ihre Frage, so naiv sie klingen mochte, war gar nicht so dumm.

»Gott bewahre, das fehlt uns noch.«

»Ich mag ihn nicht!«

Karina nickte und zog die Hose im Sitzen nach oben.

»Kann ich gut verstehen.«

Sie schlüpfte in die viel zu weite Jacke und zog den Reißverschluss hoch. Das Kleidungsstück war nicht besonders warm, aber es schützte vor Wind und Kälte. Karina presste die Schultern auf den Boden, machte eine Brücke und zog die Hose über das Becken. Ihr Blick fiel auf zwei Springerstiefel, die schräg hinter Galina standen.

Es war ihr ein Rätsel, wo das Mädchen die Klamotten herhatte, und sie bewunderte es im Stillen für seine Fürsorge und Weitsicht. Aber offenbar war Karina nicht die Einzige, die das Zombie-Kind maßlos unterschätzt hatte.

»Glaubst du, Onkel Niko ist böse auf mich?«

Karina runzelte die Stirn und wusste nicht recht, ob das Mädchen tatsächlich so naiv war. Andererseits konnte sie sie nicht mit normalen Maßstäben messen, ebenso wenig wie Kunasjanow.

Dennoch brachte sie es nicht über sich, der Kleinen zu sagen, dass ihr geliebter Onkel Niko vermutlich (hoffentlich) mausetot war.

»Ich wollte ihm doch nicht wehtun. Aber er war so wütend, und du hattest so viel Angst.«

Die Agentin suchte nach den richtigen Worten, während sie die Stiefel zuschnürte.

»Du hast mich gerettet, Galina. Onkel Niko, er … ich glaube, er war sehr krank.«

»Oh«, machte Galina, als würde sie verstehen. »Du meinst, er hatte Bauchschmerzen?«

Karina kicherte, als sie aufstand und sich den Schmutz von den Klamotten klopfte. »Ja, so könnte man sagen. »Ich möchte mich bei dir bedanken, Galina«, sagte sie, um die Gedanken des Zombie-Kinds abzulenken. Womöglich kam es noch auf die Idee, zurückzugehen, um Onkel Niko zu suchen.

Karina hielt überrascht inne. Konnte es ihr nicht egal sein, ob Galina zurückkehrte?



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