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Ein beklemmendes Gefühl ergriff von mir Besitz, als der Flieger zur Landung ansetzte.
Mein Magen zog sich zusammen, wenn ich daran dachte, dass mich dieses Mal nicht Karina Grischin vom Flughafen abholen würde, denn alles sprach dafür, dass unsere Freundin bei ihrem letzten Einsatz ums Leben gekommen war ...
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Seitenzahl: 148
Veröffentlichungsjahr: 2018
Cover
Impressum
Chandras Jagd
Briefe aus der Gruft
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Timo Wuerz
eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-6624-2
„Geisterjäger“, „John Sinclair“ und „Geisterjäger John Sinclair“ sind eingetragene Marken der Bastei Lübbe AG. Die dazugehörigen Logos unterliegen urheberrechtlichem Schutz. Die Figur John Sinclair ist eine Schöpfung von Jason Dark.
www.john-sinclair.de
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www.bastei.de
Chandras Jagd
von Ian Rolf Hill
Ein beklemmendes Gefühl ergriff von mir Besitz, als der Flieger zur Landung ansetzte.
Mein Magen zog sich zusammen, wenn ich daran dachte, dass mich dieses Mal nicht Karina Grischin vom Flughafen abholen würde, sondern eine andere junge Frau, die ich vor Kurzem erst kennengelernt hatte.
Sie hieß Irina Makarow, war eigentlich Soldatin der Speznas, der russischen Spezialeinheit, und gehörte noch nicht lange zu der Geheimdienstabteilung, für die auch Wladimir Golenkow und Karina gearbeitet hatten.
Irina hatte uns bei einem Abenteuer, das wir vor knapp zwei Wochen in Russland erlebt hatten, sehr geholfen. Damals waren Suko und ich offiziell angefordert worden, nachdem ein Militärstützpunkt nahe der Grenze zu Kasachstan von Unbekannten angegriffen worden war. Natürlich hatten die Russen ein eigenes Spezialkommando geschickt, zu dem auch Karina Grischin gehört hatte.
Dieses Team war überwältigt worden und das Filmmaterial, das Karinas Helmkamera aufgezeichnet hatte, sprach dafür, dass unsere Freundin bei dem Einsatz ums Leben gekommen war …
Ihre Leiche hatten wir bis heute nicht gefunden, und mit jedem weiteren Tag schwand die Hoffnung, dass sie vielleicht doch noch am Leben war. Wir aber hatten Rasputin einen schweren Schlag versetzt, indem wir seinen Bunker nahe des Tschebarkul-Sees sprengten, wo es mir gelungen war, die Sprengsätze in den Körpern seiner Helfershelfer zu zünden.
Ein radikaler Schritt, zu dem ich mich gezwungen gesehen hatte, um Suko und Irina zu retten.
Danach hatten wir uns selbst erst einmal im Krankenhaus auskurieren müssen und ich spürte jetzt noch die Auswirkungen in meinen Knochen. Auch ich wurde schließlich nicht jünger.
Obwohl wir keine Spur von Karina entdeckt hatten, hatten wir irgendwann zurück nach London gemusst, wo neue Fälle auf mich gewartet hatten, unter anderem ein haarsträubendes Abenteuer auf Hawaii.
Das hatte ich überstanden, und dann war plötzlich Irinas Anruf bei Suko eingegangen, den es so arg erwischt hatte, dass er immer noch flachlag und daheim in London von seiner Partnerin Shao gepflegt wurde. Daher konnte er mich dieses Mal auch nicht begleiten.
Die blonde Russin, die trotz ihres Namens nichts mit dem berühmten russischen Waffenhersteller zu tun hatte, erwartete mich am Ausgang, neben einem unscheinbaren VW Golf älteren Baujahrs. Ihre Mimik war verkniffen, und erst als sie mich erkannte, glätteten sich ihre Züge ein wenig.
Ein zaghaftes Lächeln huschte über ihre Lippen. Wir begrüßten uns per Handschlag.
»Irina, es ist schön dich zu sehen. Allerdings hätte ich mir gewünscht, es wäre unter erfreulicheren Umständen passiert.«
Sie winkte lässig ab. »Vergiss es, John. Das ist der Job. Leute wie wir treffen sich nicht unter erfreulichen Umständen, um mal eben einen Kaffee trinken zu gehen. Wie sagt ihr doch gleich? Das Leben ist kein Wunschprogramm.«
Ich warf meine Reisetasche in den Kofferraum des Golfs und setzte mich auf den Beifahrersitz. Ja, so war Irina, ehrlich und auf eine erfrischende Art und Weise schonungslos direkt.
»Konzert! Das Leben ist kein Wunschkonzert.« Ich nickte. »Damit hast du leider recht. Du hast gesagt, Jegor sei umgekommen. Was genau ist passiert?«
Der Tod des Obersts war ein weiterer Wermutstropfen, der für einen bitteren Geschmack auf der Zunge sorgte. Obwohl ich ihm lange misstraut hatte, war er ein fähiger Mann gewesen. Hart, aber absolut integer. Darüber hinaus bereit, sich selbst die Hände schmutzig zu machen und für seine Leute durchs Feuer zu gehen.
Der zähe Hund hatte sogar schwer verletzt die untote Doppelgängerin Karinas, die Rasputin für mich gezüchtet hatte, vernichtet und sich bis zuletzt an sein Leben geklammert. Nur hatte es ihm nichts genutzt. Am Telefon hatte sich Irina allerdings sehr bedeckt gehalten, sodass ich keine Einzelheiten kannte.
Die erfuhr ich auf dem Weg, der uns aus der City hinausführte. Für die Stadt und die Landschaft hatte ich keinen Blick. Ich kannte Moskau und Umgebung zur Genüge und brannte darauf zu erfahren, was Irina veranlasst hatte, um Hilfe zu bitten.
Sie fuhr konzentriert und zügig, ohne das Augenmerk von der Straße abzuwenden, während sie berichtete, wie Jegor Sokolow gestorben und sie wegen Mordes verhaftet worden war.
Ich hörte zu und unterbrach sie mit keiner Silbe.
»Wenn man dich des Mordes an Sokolow für schuldig befunden hat, wie kommt es dann, dass du unbehelligt durch Moskau kutschieren kannst?«, fragte ich hinterher.
Jetzt grinste Irina schief und warf mir einen raschen Seitenblick zu. »Meine Verhaftung geschah wohl eher aus Verlegenheit heraus. Es war offensichtlich, dass ich Jegor nicht erwürgte haben konnte. Trotzdem brauchte man einen Sündenbock, schließlich werden Menschen nicht einfach aus dem Unsichtbaren gekillt, du verstehst?«
»Voll und ganz.« Wir hatten mittlerweile das Großraumgebiet von Moskau verlassen und fuhren durch ländliche Gebiete, in denen der Prunk und Protz der Hauptstadt nicht mehr zu sehen waren. Die Schere zwischen Arm und Reich klaffte nicht nur in Russland immer weiter auseinander, aber selten war es so deutlich erkennbar wie hier.
»Ich wurde mittels einer elektronischen Fessel in meiner Wohnung unter Arrest gestellt. Doch man war so nett, mir den entsprechenden Schlüssel zu Hause zu hinterlegen.«
Ich runzelte die Stirn. »Um was zu tun?«
»Um dich anzurufen, damit wir gemeinsam zu einer Bergfestung am Fuße des Urals, nördlich von Jekaterinburg fliegen können. Offenbar ist es dort zu Auffälligkeiten gekommen, die den Schluss nahelegen, dass Rasputin doch nicht so tot ist, wie alle glauben.«
Mein hartes Gelächter veranlasste Irina mich anzuschauen.
»Was ist daran so lustig?«
»Gar nichts.« Ich schüttelte den Kopf. »Aber bestanden jemals Zweifel daran, dass Rasputin dem Einsturz des Bunkers entkommen ist?«
»Du kannst lachen so viel zu willst, aber genauso ist es. Für die Geheimdienstspitze und den Kreml ist das Thema abgehakt.«
»Was?« Ich konnte nicht glauben, was ich da hörte.
»Denk mal genau drüber nach. Du hast gesagt, dass es dir relativ leicht gefallen ist, die Sprengladungen von Rasputins Männern zu zünden und wenig später, kaum nachdem die Armee anrückte, ist der gesamte Bunkerkomplex in sich zusammengefallen. Kaum anzunehmen, dass dies allein durch die Bomben in den Körpern von Rasputins Schergen verursacht wurde.«
»Du meinst, er wollte, dass am Ende alles in die Luft geht, damit ihm niemand mehr in die Parade fährt?«
»So ungefähr. So, wie es aussieht, hat seine Tschebarkul-Basis ihren Zweck erfüllt.«
»Der da wäre? Außer natürlich geflügelte Klone und Zombie-Replikanten zu erschaffen.«
Irina zögerte und kaute nervös auf ihrer Unterlippe. Ich kniff leicht die Augen zusammen und fühlte, wie ich unruhig wurde, weil ich spürte, dass sie mir was verschwieg.
Jetzt ging das wieder los.
Wenn ich etwas nicht ausstehen konnte, dann diese Geheimniskrämerei, und in der waren die Nachrichtendienste ganz große Experten. Deshalb nannte man sie ja auch landläufig Geheimdienste.
Bevor ich ihr jedoch eine gepfefferte Ansage machen konnte, kam sie mir bereits zuvor.
»Hast du noch nie etwas vom Tschebarkul-Meteor gehört?«
Ich überlegte kurz. »Puh, das ist aber schon einige Jährchen her, oder?«
»Ja, am fünfzehnten Februar 2013 explodierte über der Oblast Tscheljabinsk ein Meteorit. Er raste mit einer Geschwindigkeit von zweiundsiebzigtausend Stundenkilometern durch die Atmosphäre und explodierte dort. Die Druckwelle beschädigte über siebentausend Gebäude und verletzte dabei zirka tausendfünfhundert Menschen durch umherfliegende Glassplitter.«
»Ich glaube mich zu erinnern. Doch was hat das mit Rasputin zu tun?«
»Der Einschlagskrater liegt am Grund des Tschebarkul-Sees. Das konnte man anhand des sechs Meter großen Lochs im Eis des damals zugefrorenen Sees ziemlich gut erkennen. Noch heute kannst du Gesteinssplitter des Meteoriten im Internet zu horrenden Preisen ersteigern.«
»Vermutlich alles Fälschungen«, konstatierte ich.
»Vermutlich. Wichtig ist aber, dass das Kernstück vom Militär längst sichergestellt worden war, selbst als die Akademie der Wissenschaften noch offiziell danach suchte. Und dreimal darfst du raten, wo dieses Kernstück untersucht wurde?«
»In der Militärbasis bei Tscheljabinsk?«
»Exakt.«
»Und was ist das Besondere an diesem Fund?«
Ein Klumpen bildete sich in meinem Magen, denn ich ahnte, welche Antwort mir Irina geben würde. Nicht zum ersten Mal bekam ich es mit Hinterlassenschaften aus dem All zu tun. Ich wusste, dass wir nicht die Einzigen waren, schließlich stammte einer der ältesten und mächtigsten Dämonen von den Sternen.
Der Spuk.
Darüber hinaus hatte ich selbst schon mit Außerirdischen zu tun gehabt. Hatte gegen Kometen-Geister gekämpft und eine Freundin von mir, Nora Thorn, war von Aliens entführt und physisch verändert worden.
»Psychokinese«, erläuterte Irina und zuckte mit den Schultern. »Frag mich nicht nach Einzelheiten, aber offenbar reagiert dieser Stein auf bestimmte Gedankenimpulse und ist unter gewissen Voraussetzungen in der Lage, das psychokinetische Potenzial, das jeder von uns angeblich hat, zu verstärken.«
Ich runzelte die Stirn und dachte daran, dass die Russen schon immer gerne mit PSI-Kräften und dergleichen experimentiert hatten. So wie im Übrigen viele Geheimdienste, da brauchte ich nur an unseren eigenen Secret Service zu denken oder auch an die National Security Agency in den USA. Von der CIA ganz zu schweigen. Die hatten schließlich sogar einen Agenten namens Mark Baxter, der sich unsichtbar machen konnte. Und zwar allein durch die Kraft der Suggestion.
Das alles behielt ich einstweilen für mich und grübelte über das nach, was Irina mir gerade gesagt hatte.
Dass Rasputin sich möglicherweise im Besitz eines Meteoriten-Kernstücks befand, das in der Lage war, die Hirnwellen von Menschen zu beeinflussen beziehungsweise sie zu verstärken. Rasputin war ein mächtiger Mensch-Dämon und Magier. Wie stark sein Machtpotenzial wirklich war, wusste ich nicht. Doch wenn er dieses Fragment besaß und es tatsächlich die Fähigkeiten hatte, wie Irina behauptete, dann hoffte ich nur, dass er nicht genau wusste, wie er diese psychokinetischen Kräfte anzapfen konnte.
»Und wie kommt ihr darauf, dass Rasputin sich in dieser Bergfestung aufhält?«
»Dieses Meteoriten-Kernstück ist radioaktiv. Nicht gefährlich wie man mir versicherte, aber doch deutlich messbar. Jegor erwähnte es, kurz bevor wir die Operation Rasputin in die Wege leiteten.«
»Richtig. Auch mein Vorgesetzter hat davon gesprochen. Doch später haben wir diesen Punkt nicht weiterverfolgt. Beziehungsweise sind davon ausgegangen, dass es Randerscheinungen von Rasputins Klon-Experimente waren.«
»Genau. Frag mich nicht nach Einzelheiten. Es geht um irgendwelche Isotope und Zerfallsraten, die bei diesem Gestein einzigartig sind. Auf jeden Fall haben Drohnen dieselbe Zerfallsrate bei dieser Bergfestung registriert, kurz bevor sie abstürzten. Seitdem kommt übrigens nichts und niemand dorthin.«
Ich ließ den Blick durch die Windschutzscheibe schweifen, um herauszufinden, wo wir hinfuhren. Eine Ahnung breitete sich in mir aus.
»Und wie kamen sie dazu, ausgerechnet dort zu suchen?«
»Satellitenaufnahmen haben Rauch entdeckt. Die Gefahr von Waldbränden wird durchaus ernst genommen, doch man hat schnell herausgefunden, dass dieser Rauch von einer Explosion herrührte.«
»Und ihre Quelle war diese ominöse Bergfestung?«
Irina nickte. »Genau, und es wird sogar noch besser, denn offenbar korreliert der Zeitpunkt der Detonation mit unserem Sturm auf den Stalin-Bunker bei Tschebarkul.«
Das war allerdings eine Überraschung, und wenn ich die Strahlungswerte und die mysteriösen Drohnen-Abstürze hinzurechnete, kam ich schnell auf ein alarmierendes Ergebnis. Jetzt war ich froh, dass ich abermals nach Russland geflogen war und mit Irina Makarow wusste ich zudem eine vertrauenswürdige und schlagkräftige Partnerin an meiner Seite. Das schlechte Gewissen meldete sich, als ich im Geiste darüber nachdachte, ob sie Karina Grischin ersetzen würde. Natürlich nur in ihrer Funktion als Bestandteil unseres weltweiten Netzwerkes.
Mein Gott, ich hatte mich nicht mal von Karina verabschieden können. Meine Kehle wurde eng, als ich daran dachte, dass wir uns zuletzt bei dem Abenteuer in Sibirien gesehen hatten.
Um mich abzulenken sah ich aus dem Fenster und stutzte.
»Sag mal, kann es sein, dass wir nach Tschaikowski fahren?«
Irina hob die kaum erkennbaren Augenbrauen und warf mir einen irritierten Blick zu.
»Tschaikowski?« Sie schüttelte den Kopf, dann glättete sich ihre Miene. »Du meinst Tschkalowski. Den Militärflugplatz.«
»Wie auch immer.«
»Ja, genau. Dort wartet ein Hubschrauber auf uns, mit dem wir weiterfliegen werden.«
»Ist er denn schon wieder in Betrieb genommen?«
Vom Tschkalowski Militärflugplatz war vor wenigen Wochen die Operation Rasputin angelaufen. Dort hatten wir Jegor Sokolow, Irina und ihre Kameraden kennengelernt. Und dort war es auch zur ersten Begegnung mit Rasputins Todesengeln gekommen, die den Flughafen beinahe in Schutt und Asche gelegt hätten.
Wir waren damals mit Überschall-Maschinen von London nach Moskau geflogen, daher kam mir die Strecke per Auto nicht bekannt vor.
»Natürlich. Wir sind es gewohnt, unter widrigen Umständen zu arbeiten und mit dem auszukommen, was wir haben.«
»Und was macht dich so sicher, dass wir nicht abstürzen werden?«
Jetzt grinste Irina mich an. »Du?«
»Ich?«
»Ja, oder besser gesagt dein Kreuz. Angeblich schützt es dich doch vor magischen Angriffen. Das zumindest hat mir Suko erzählt.«
»Ja, schon. Nur hoffe ich, dass es auch auf Rasputins Magie und vor allen Dingen den Einfluss des Meteoriten reagiert.«
»Tja, ich denke, das werden wir schon bald herausfinden, oder?«
»Ich bin nicht gerade scharf darauf. Außerdem solltest du wissen, dass ich nicht bewaffnet bin. Das letzte Mal sind wir offiziell eingereist. Jetzt bin ich quasi als Tourist hier. Ich trage also keine Schusswaffe bei mir.«
»Schon in Ordnung. Suko hat mir ja seine Ersatzmagazine mit den Silberkugeln geschenkt.«
»Der alte Charmeur«, konnte ich mir den Kommentar nicht verkneifen.
»Ja, er weiß, was einer Frau gefällt.«
»Das kann ich mir denken. Ich soll dich übrigens schön grüßen.«
»Danke. Schade, dass er nicht mitkommen konnte.«
»Leider hat es ihn schlimmer erwischt, als er sich selbst eingestehen wollte.«
»Kann ich mir denken. Jedenfalls wurden meine Pistole und die Magazine noch in Tschebarkul sichergestellt. Doch die Herren vom FSB haben mir ja nicht nur den Schlüssel für die Fußfessel zu Hause hinterlegt, sondern auch einen zu einem Schließfach am Flughafen. Dort war ein Rucksack deponiert, in dem sich wiederum der Schlüssel zu diesem Golf befand, einer für den Hubschrauber in Tschkalowski, sowie zwei Glocks und die beiden restlichen Magazine mit den Silberkugeln. Meine Waffe ist noch vollständig geladen, sodass wir ein Reservemagazin haben.«
»Dann wollen wir hoffen, dass es reicht«, murmelte ich und konnte mich eines unguten Gefühls nicht erwehren. Beim letzten Mal war es verdammt knapp geworden, und da war wenigstens noch Suko mit von der Partie gewesen.
Jetzt waren wir auf uns allein gestellt und das Gefühl, vom Geheimdienst vor den Karren gespannt zu werden, trug nicht gerade dazu bei, meine Laune anzuheben.
☆
»Hörst du das, Mischa?«
Kolja blieb stehen, streckte den Arm aus, in dessen Hand der meterlange Fällheber lag, und hielt seinen Bruder zurück.
Irritiert sah dieser sich um und hob lauschend den Kopf. Schließlich zuckte er mit den Schultern. »Nö, was sollte ich hören?«
Der bärtige Kolja fluchte. »Scheiße, wasch dir die Ohren, du hohle Nuss. Da singt ein Kind.«
Mischa, ein hagerer baumlanger Kerl, der eine Wollmütze über dem schulterlangen schwarzen Haar trug, lachte meckernd.
»Du bist bekloppt. Hast gestern wohl zu tief ins Glas geschaut. Der Wodka bekommt dir nicht, glaub mir. Der macht dir die Birne weich …«
»Halt’s Maul«, herrschte der kräftigere Kolja seinen Bruder an, der tatsächlich verstummte.
Der Holzfäller mit dem dichten rotbraunen Vollbart ließ den Arm mit dem Fällheber sinken und ging voran. Der vom Regen noch feuchte Waldboden schmatzte unter den Sohlen der Gummistiefel.
Es war einiges in der Nacht runtergekommen und der Orkan hatte heftig an der alten Datsche gezerrt. Das Vieh im Stall hatte gequiekt, als würde es ihm ans Leder gehen.
Glücklicherweise hatte der Regen vor Sonnenaufgang aufgehört und auch der Sturm war abgeflaut. Sie mussten schließlich wieder an die Arbeit, und es war nun einmal der Wald, der sie ernährte. Sie verdingten sich als Holzfäller und gingen nebenher auf die Jagd. Allerdings nicht mit dem Gewehr, denn der Schießprügel, den sie von ihrem Alten geerbt hatten, taugte nicht mal für die Hasenjagd.
Daher betätigten sie sich als Fallensteller, und die Pelze konnten sie einmal im Monat auf dem Markt verkaufen. Ein schönes Zubrot, auf das sie angewiesen waren, denn viel verdienten sie als Waldarbeiter nicht, obwohl die Arbeit hart und gefährlich war.
Die Rente der Mutter reichte nicht mal für sie selbst, und so konnten Kolja und Mischa auch nicht abwarten, bis das Wasser aus den Kronen getropft war. Zumal am Nachmittag mit neuerlichen Schauern zu rechnen war.
Daher hatte die alte Hexe sie auch bei Tagesanbruch geweckt, kaum dass der erste Strahl der Sonne durch die aufgerissene Wolkendecke lugte.
Nach einem kargen Frühstück und einer Tasse heißen Kaffees hatten sie sich auf den Weg gemacht. Die Feuchtigkeit des nächtlichen Regens stieg als dichter Nebel auf und verlieh dem Wald etwas Verwunschenes. Schwarz ragten die Stämme der Bäume aus den geisterhaften Dunstschleiern. Am Boden wuchsen gewaltige Farne, die ein regelrechtes Meer bildeten.
Erst tiefer im Wald, dort wo die Berge begannen und die dichtstehenden Nadelbäume kaum Licht durchließen, verschwanden sie.
Kolja ging voran und horchte angestrengt in die Stille des Waldes, die nur vereinzelt vom Zwitschern der Vögel durchbrochen wurde. Und von der weinerlichen Stimme des Kindes, das unablässig die Weise von der kleinen Katjuscha sang, sich aber auf die Wiederholung einer einzigen Strophe beschränkte.
»Leuchtend prangten ringsum Apfelblüten,
still vom Fluss zog Nebel noch ins Land;
durch die Wiesen kam hurtig Katjuscha
zu des Flusses steiler Uferwand.«
Er war doch nicht verrückt geworden.
Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Verdammt, Mischa hatte recht, er hatte definitiv zu tief ins Glas geschaut, und vielleicht war er mit seinen fünfundvierzig Jahren schon zu alt für diese Besäufnisse.
Andererseits wusste er, dass Mischa sowieso nicht gut hörte. Der Krach der Motorsäge hatte sein Gehör nachhaltig geschädigt. Er selbst war schlau genug, sich die Ohren mit Watte zuzustopfen, wenn er mit der Kettensäge hantierte.