John Sinclair 2096 - Ian Rolf Hill - E-Book

John Sinclair 2096 E-Book

Ian Rolf Hill

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Beschreibung

"Was ist los mit euch, Jungs? Habt ihr keinen Hunger?"

Eugene Marston hob den Kopf und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. Obwohl das Thermometer hier oben, nördlich des Yukon, selbst im Sommer selten über zwanzig Grad kletterte, war er ins Schwitzen geraten. Es war mühsam gewesen, den schweren Hirsch aus dem Unterholz zu ziehen. Jetzt war er im Begriff, ihn aufzubrechen und die Innereien herauszuholen. Normalerweise standen seine beiden Hunde Carlo und Cupper mit aufgeregt wedelnden Schwänzen daneben.

Doch statt sich auf einen blutigen Leckerbissen zu freuen, wandten seine vierbeinigen Gefährten ihm den Rücken zu, die Schwänze zwischen die Hinterläufe geklemmt, die Ohren spitz aufgestellt. Ein tiefes, kehliges Knurren drang aus ihren geschlossenen Mäulern hervor.
Eugene wusste, was dies zu bedeuten hatte.

Gefahr!

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Seitenzahl: 160

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Inhalt

Cover

Impressum

Kolonie der Bestien

Briefe aus der Gruft

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: breakermaximus; Refluo/shutterstock

eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln

ISBN 978-3-7325-6849-9

„Geisterjäger“, „John Sinclair“ und „Geisterjäger John Sinclair“ sind eingetragene Marken der Bastei Lübbe AG. Die dazugehörigen Logos unterliegen urheberrechtlichem Schutz. Die Figur John Sinclair ist eine Schöpfung von Jason Dark.

www.john-sinclair.de

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

www.bastei.de

Kolonie der Bestien

von Ian Rolf Hill

»Was ist los mit euch Jungs? Habt ihr keinen Hunger?«

Eugene Marston hob den Kopf und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. Obwohl das Thermometer hier oben, nördlich des Yukon, selbst im Sommer selten über zwanzig Grad kletterte, war er ins Schwitzen geraten. Es war mühsam gewesen, den schweren Hirsch aus dem Unterholz zu ziehen. Jetzt war er im Begriff, ihn aufzubrechen und die Innereien herauszuholen, damit der Kadaver auskühlen konnte. Normalerweise standen seine beiden Hunde Carlo und Cupper mit aufgeregt wedelnden Schwänzen daneben, in der Hoffnung, einen Batzen der schmackhaften Leber abzubekommen.

Eine Hoffnung, die sich stets erfüllte, denn immerhin hatten die Tiere maßgeblich zu Eugenes Jagdglück beigetragen.

Umso mehr erstaunte ihn die Reaktion seiner vierbeinigen Gefährten.

Statt sich auf einen blutigen Leckerbissen zu freuen, wandten sie ihm den Rücken zu, die Schwänze zwischen die Hinterläufe geklemmt, die Ohren spitz aufgestellt. Ein tiefes, kehliges Knurren drang aus ihren geschlossenen Mäulern hervor.

Eugene wusste, was dies zu bedeuten hatte.

Gefahr!

Vorsichtig, um kein unnötiges Geräusch zu verursachen, richtete sich der Aussteiger auf. Das Stück Leber rutschte aus seinen Fingern und klatschte mit einem kaum vernehmbaren Laut in die offene Bauchhöhle des erlegten Tieres. Beiläufig wischte Eugene die Klinge des Jagdmessers an der Hose ab und schob sie in die Lederscheide am Gürtel.

Er wollte beide Hände freihaben, das Messer aber auch nicht außer Reichweite liegen lassen. Sein Gewehr steckte in dem selbst geschneiderten Futteral des Quads, mit dem er durch die Wildnis Alaskas zu fahren pflegte, wenn er die Fallen kontrollierte, in denen er Hasen und andere Kleinsäuger fing. Die Felle verkaufte er zweimal im Monat in Fairbanks, das Fleisch behielt er meistens. Seine Frau Sabrina war eine ausgezeichnete Köchin, und auch für Carlo und Cupper fiel stets genug ab.

Es war ein raues aber ehrliches Leben, wie Eugene immer behauptete, wenn er gefragt wurde. Was kaum jemand tat, denn sie bekamen eigentlich nie Besuch. Wer hierherkam, der suchte die Einsamkeit, hatte abgeschlossen mit der sogenannten Zivilisation und ihren Annehmlichkeiten, ebenso wie mit ihren Zwängen und Einschränkungen. Waren sie nun rein monetärer Natur oder gesellschaftlicher.

Behutsam ging Eugene rückwärts, das Dickicht, vor dem Carlo und Cupper standen, keine Sekunde aus den Augen lassend. Noch zwei Schritte trennten ihn von seinem Gewehr, als sich die Hunde synchron zu ihm umdrehten.

Eugene hielt inne und senkte den Blick, bis er den der Tiere erwiderte. Sein Herz schlug unwillkürlich schneller, als er die gierige Kälte in den Augen seiner Kameraden bemerkte. Die treuherzige Wärme darin war verschwunden und der Gewissenlosigkeit der Bestie gewichen. Sie taxierten ihn, als wäre er die Beute.

Er schluckte. »Carlo, Cupper. Beruhigt euch, alles ist in Ordnung.«

Aber es war nicht in Ordnung. Überhaupt nicht. Das merkte er allein am Zittern seiner Stimme, mit deren Klang er die Hunde eigentlich hatte besänftigen wollen. Das Gegenteil war der Fall. Carlo und Cupper machten drei Schritte auf ihren Herrn zu und fletschten drohend die Zähne. Es waren hochbeinige Terrier, Carlo ein Airedale und Cupper ein Welsh. Keine äußerlich sehr einschüchternd wirkenden Tiere, doch jetzt, wo sie die Lefzen zurückzogen und ihm ihre Fänge präsentierten, erschauerte er.

Einen Atemzug später hörte er das Heulen!

Es wehte klagend über die Wipfel der Nadelbäume und stammte von keinem der Hunde. Eugene Marston war lange genug in der Wildnis, um es auf Anhieb zu erkennen. Das waren weder Hunde noch Kojoten, das waren Wölfe!

Die Härchen in seinem Nacken richteten sich auf, und eine Gänsehaut kroch ihm über den Rücken. Irgendetwas stimmte da nicht. Warum heulten die Wölfe mitten am Tag? Und wieso verhielten sich Carlo und Cupper derart aggressiv ihm gegenüber? Normal wäre es gewesen, wenn sie das Unterholz im Auge behalten oder ängstlich reagiert hätten.

Plötzlich griffen sie ihn an!

Sie stoben aus dem Stand heraus auf ihn zu, bellten und geiferten, dass ihnen der Schaum von den Lefzen flog. Eugene Marston reagierte rein instinktiv. Im Reflex warf er sich herum, versuchte gar nicht mehr an das Gewehr heranzukommen oder gar das Quad zu starten. Er lief einfach drauflos, in den Wald hinein, der um ihn herum zum Leben erwachte. Das Heulen endete abrupt und wich einem vielstimmigen Knurren, das von allen Seiten gleichzeitig zu kommen schien.

Dicht hinter sich hörte Eugene das Bellen seiner Hunde, rechnete jede Sekunde damit, von den zuschnappenden Kiefern zu Fall gebracht zu werden. Passierte dies, war es um ihn geschehen. Eugene versuchte Haken zu schlagen, doch das war auf dem unebenen Gelände kaum möglich. Das Risiko, den Halt zu verlieren und zu stürzen, war zu groß. Außerdem war er nicht mehr der Jüngste.

Zwar hatte ihn die Existenz in der Wildnis fit gehalten und mit seinen vierundsechzig Jahren war er deutlich kräftiger und agiler als viele halb so alte Männer, die ihr Dasein in den Städten fristeten, doch auch er musste den harten Wintern und dem entbehrungsreichen Leben Tribut zollen. Die Muskeln brannten und Stiche malträtierten seine Lunge, aus der keuchend der Atem flog.

Lange würde er das nicht durchhalten, aber es mochte sich ohnehin nur um wenige Sekunden handeln, bis ihn die Hunde erwischten. Oder einer der Wölfe, die links und rechts von ihm aus dem Dickicht brachen. Ein massiger Schatten mit leuchtenden Augen fegte auf ihn zu – und dicht an ihm vorbei. Der kräftige Leib streifte sein rechtes Bein, das er gerade nach vorne schwang, und brachte ihn zu Fall. Eugene überschlug sich und rollte einen flachen Hang hinab. Die Welt um ihn herum drehte sich.

Jetzt ist es aus!, schoss es ihm durch den Kopf. Gleich würden die Wölfe – sowie Carlo und Cupper – über ihm sein, um ihn bei lebendigem Leib zu zerreißen. Trotzdem sprang er wieder auf die Beine, überrascht, dass es ihm überhaupt gelang. Kein Tier schnappte nach ihm, um ihn daran zu hindern. Eugene dachte darüber genauso wenig nach, wie über die irrsinnige Tatsache, dass seine geliebten Hunde mit einem Rudel Wölfe gemeinsame Sache machten.

Seine Handlungen wurden allein vom Überlebenswillen gesteuert. Eine umgestürzte Fichte, ragte vor ihm aus der Erde. Sie musste beim letzten Sturm umgefallen sein und ihre Krone war von den umstehenden Bäumen aufgefangen worden. Das war seine Chance!

Wenn es ihm gelang, den Stamm zu erklimmen, konnten die Wölfe ihm höchstens einzeln folgen und das auch nur langsam, denn sie waren alles andere als geschickte Kletterer. Zudem ragten die Äste ringsherum dicht aus dem Stamm hervor. Mit dem Messer würde er sich die Tiere vom Leib halten können. Möglicherweise schaffte er es sogar auf einen der Bäume, in die die Krone der umgestürzten Fichte hineingerauscht war.

Abermals waren seine Häscher schneller. Die derben Kreppsohlen seiner Schuhe hatten die Rinde des Stammes kaum berührt, da tauchte der Schädel eines Wolfes praktisch aus dem Nichts neben ihm auf, angelte nach seinem Fuß und riss den Trapper herunter. Obwohl der Waldboden weich und nachgiebig war, trieb der Aufprall ihm die Luft aus den Lungen.

Zwei Sekunden blieb er liegen, erschöpft um Atem ringend. Ein Schleier lag vor seinen Augen, den er verzweifelt fort zu blinzeln versuchte. Verschwommen sah er Carlos und Cupper vor sich stehen, die Vorderläufe ausgestreckt, die Hinterbeine fest in den Boden gestemmt. Sie bellten wütend, forderten ihn regelrecht auf, sich zu erheben und weiterzulaufen.

Und da endlich begriff Eugen.

Das Rudel hätte ihn schon längst zerreißen können. Dass es das nicht getan hatte, war der Beweis dafür, dass die Wölfe mit ihm spielten – und seine Hunde ebenso.

Trotzdem verweigerte sein Unterbewusstsein, was sein Verstand ihm zu suggerieren versuchte: Bleib liegen, es hat ohnehin keinen Sinn. Du kannst ihnen nicht entkommen.

Doch ehe er sich versah, war er schon wieder auf den Beinen und rannte weiter. Äste und Zweige peitschten ihm ins Gesicht. Ein Wolf erschien neben ihm, schnappte spielerisch nach seinem Arm, und verschwand unvermittelt im finsteren Unterholz. Lichter schälten sich vor Eugene aus der einsetzenden Dämmerung. Er glaubte zu träumen und aus dem hastigen Laufen wurde ein unkontrolliertes Stolpern. Er schluchzte, keuchte und würgte, als er auf die Lichtung taumelte, auf der die kleine Blockhütte stand, die er gemeinsam mit Brina im Angesicht seines Schweißes errichtet hatte.

Das konnte doch nur ein Wunschtraum sein. Vermutlich lag er irgendwo im Wald, wurde gerade von den Bestien zerfleischt, während ihm sein sterbender Verstand die Bilder von Schutz und Geborgenheit vorgaukelte. Wie weit war er von zu Hause weg gewesen, als er den Hirsch erlegte, der ihm zufällig über den Weg gelaufen war, als er die Fallen kontrollierte? Drei Meilen? Vielleicht dreieinhalb?

Unmöglich, dass er die Strecke in so kurzer Zeit überbrückt haben sollte. Noch dazu in vollem Lauf. Sein Herz hämmerte in der Brust, als wolle es zerspringen. Eugene ging auf wackeligen Beinen auf die Hütte zu. Der Boden unter ihm schwankte, als stünde er an Deck eines Kutters, der auf hoher See auf den Wellen schlingerte.

Hinter und neben ihn schoben sich lautlos die Leiber der Wölfe aus der dichten Vegetation. Der Atem wölkte in der abkühlenden Luft aus den halb geöffneten Mäulern. Kein Laut drang aus den Rachen der Tiere, dafür hörte er in seinem Rücken das Knurren und Bellen der beiden Hunde.

Die Geräusche fachten den Überlebenswillen von Neuem an. Eugene stolperte auf die hölzerne Treppe zu. Er strauchelte und viel der Länge nach auf die harten Stufen. Schmerz spürte er keinen, nur nackte kreatürliche Angst.

»Brina!«, keuchte er und streckte den Arm in Richtung Tür, die sich wie von Geisterhand lautlos öffnete.

Auf der Schwelle erschien seine Frau, das graue Haar im Nacken zu einem Knoten gebunden. Wie immer trug sie Stiefel, Jeans und ein Holzfällerhemd. Sie kam auf ihn zu, ergriff ihn an den Schultern und zerrte ihn auf die offene Tür zu. Er half mit, so gut er konnte und wunderte sich darüber, dass er in Brinas braunen Augen keine Furcht erblickte.

Sie handelte besonnen und souverän, wie er es von ihr gewohnt war. Am Türrahmen stützte er sich ab und legte den Arm um die Schultern seiner Frau, die ihn in die Wärme der Hütte brachte. Eugene hörte, wie die Tür hinter ihm ins Schloss fiel und das Knurren und Bellen der Hunde leiser wurde.

»Schnell«, keuchte er. »Schnell, Brina. Das Gewehr.«

»Setz dich erst einmal, Eugene«, sagte sie mit ruhiger Stimme und drückte ihn auf den Stuhl vor dem pompösen, selbstgezimmerten Tisch, in der Mitte des Raumes.

Er glaubte, den Verstand zu verlieren. Ach was, er war doch längst wahnsinnig. Das konnte schließlich alles nicht wahr sein. Erst das sonderbare Verhalten von Carlos und Cupper, dann die Hetzjagd durch den Wald und jetzt Brinas Unbekümmertheit, als hätte er sich bloß beim Holzhacken einen Splitter in die Hand gerammt.

»Die Wölfe!«, rief er aufgebracht. Er konnte einfach nicht begreifen, dass seine Frau die Gefahr nicht erkannte. »Sie sind überall. Sie werden … sie werden …«

»Sie werden gar nichts, Eugene. Komm, beruhig dich und trink das.« Sie ließ eine wasserklare Flüssigkeit aus einer Flasche in ein Glas gluckern und reichte es ihm.

Der scharfe Geruch nach Alkohol drang in seine Nase. Seine Finger zitterten so stark, dass er das Glas mit beiden Händen halten musste. Trotzdem verschüttete er die Hälfte von dem Selbstgebrannten, von dem ein Teil auch in seinem struppigen Bart versickerte.

Nachdem er ausgetrunken hatte, stellte er das Glas hart auf die Platte.

»Hol das Gewehr, Brina«, wiederholte er mit scharfer Stimme, doch seine Frau reagierte überhaupt nicht, setzte sich stattdessen neben ihn. Eugene blinzelte verständnislos. »Was … was ist mit deiner Schulter?«, fragte er.

Erst jetzt sah er den dicken weißen Verband unter dem Kragen des Hemdes hervorlugen. Ein dunkler Fleck schimmerte in der Mitte hindurch. Ein Zeichen dafür, dass die Kompresse durchgeblutet war.

Wieder reagierte Brina nicht auf seine Frage, nickte über den Tisch hinweg in Richtung der kleinen Küche, die im Dunkeln lag. Die altmodische Petroleumlampe auf der Mitte der Tischplatte war die einzige Lichtquelle. In ihren Schein trat nun lautlos eine Gestalt von zierlichem Wuchs.

»Darf ich dir unseren Besuch vorstellen, Eugene?«

Brina deutete auf die Frau, die ähnlich zweckmäßig gekleidet war wie sie selbst. Allerdings war sie deutlich jünger und besaß eine herbe Attraktivität. Der Mund war vielleicht eine Spur zu breit, die Nase darüber stach schmal und spitz hervor. Die Augen leuchteten im Licht der Petroleumlampe grün, das Haar schimmerte rotbraun.

Eugene war von ihrem Anblick derart gebannt, dass er kein Wort herausbrachte. Selbst die Wölfe draußen vor der Hütte waren vergessen, ebenso wie die Hunde. Dicht vor dem Tisch blieb die Unbekannte stehen und verzog die Lippen zu einem Lächeln, das die Augen aber nicht erreichte, die weiterhin lauernd auf den Trapper hinunterblickten.

»Mein Name ist Morgana Layton und ich mache Ihnen und Ihrer Frau ein Angebot, das Sie unmöglich ausschlagen können.«

»Glauben Sie an Werwölfe?«

Abe Douglas lehnte sich auf der mit Kunstleder bezogenen Sitzbank zurück und senkte den Kopf. Versonnen blickte er auf seine rechte Hand, die er mehrmals hintereinander öffnete und wieder schloss.

Es klappte vollkommen problemlos und beinahe absolut schmerzfrei. Fast ein kleines Wunder, wenn er bedachte, dass der Arm von einer silbernen Kugel durchschlagen worden war. Die punktförmige Narbe des Einschusses und die deutlich größere des Ausschusses wurden vom Hemdsärmel verdeckt. Das Projektil war genau zwischen Elle und Speiche hindurchgeflogen und hatte eine erhebliche Fleischwunde hinterlassen.

Ironischerweise hatte die Verletzung ihm das Leben gerettet, und der Schütze war kein Geringerer als sein alter Freund John Sinclair gewesen! Dass der sich just in dieser Stunde auf dem Weg nach Boston befand, um einem Kollegen unter die Arme zu greifen, war ein Umstand, den der G-Man gleichfalls als Ironie des Schicksals verbuchte. Genau dort war er nämlich vor einem halben Jahr unter den mörderischen Einfluss des Wolfsdämons Lykaon geraten und hatte keinen anderen Ausweg gesehen, als sich selbst das Leben zu nehmen.

John Sinclair hatte diese Torheit im letzten Moment verhindern können, allerdings nur mit einem Rettungsschuss, der glücklicherweise nicht final ausgefallen war.1)

Nicht nur Abe war ihm dafür dankbar, seine Freundin Stephanie war es nicht minder. Die Beziehung zu der Meeresbiologin hatte sich nach den damaligen Ereignissen spürbar vertieft. Daher hatte sie auch hörbar mit den Zähnen geknirscht, als er ihr von dem neuen Auftrag erzählte, der ihn dieses Mal nicht nach Boston, sondern viel weiter nördlich, in den größten Bundesstaat der USA, entführte.

Ausgerechnet Alaska!

Dabei hatte Steph gewusst, worauf sie sich einließ, als sie beschlossen, aus ihrem harmlosen Techtelmechtel eine ernsthafte Beziehung zu machen. Ein Special Agent des FBI war in erster Linie mit seinem Job verheiratet und eigentlich ständig im Dienst. Umso mehr, wenn man zu den wenigen Beamten gehörte, die sich mit übernatürlichen Phänomenen befassten. Dass es davon viel zu wenig gab, bewiesen die aktuellen Umstände.

Und jetzt saß er hier im Flughafenbistro des Ted Stevens Anchorage International Airport einem etwas ungepflegt wirkenden Mann Ende Dreißig gegenüber, dessen dunkelbraunes Haar bereits von grauen Strähnen durchwirkt wurde und der Frisur einen silbernen Touch verlieh. Auch in dem sprießenden Bart schimmerte es hell. Der Mann trug ein Holzfällerhemd, das nachlässig in die ausgewaschene Jeans gestopft war.

Er ließ sich offensichtlich gehen, doch wenn nur die Hälfte von dem stimmte, was er dem G-Man am Telefon gesagt hatte, konnte dieser es ihm nicht verdenken. Abe hob den Blick und sah seinem Gegenüber fest in die Augen.

»Ja, das tue ich, Mister Oppenheimer. Sonst wäre ich jetzt wohl kaum hier.«

Die Lippen des verwahrlosten Mannes verzogen sich zu einem verzweifelten Lächeln. »Sie sagen das so einfach, Mister Douglas. Dabei kann ich es ja selbst kaum glauben, was ich und meine Kameraden vor gut einem Jahr erlebt haben.« Er hob den Blick und griff mit zitternden Fingern nach dem Bierglas, dessen restlichen Inhalt er in einem Zug hinunterstürzte. »Ich habe seitdem keine einzige Nacht vernünftig durchgeschlafen.«

Das glaubte ihm Abe aufs Wort. Die dunklen Ringe unter den tief in den Höhlen liegenden Augen redeten eine deutliche Sprache.

»Seit diesem Einsatz an der Westküste ist alles den Bach runtergegangen«, fuhr er fort und betrachtete versonnen die schaumigen Schlieren, die an der Innenseite des leeren Glases langsam nach unten rannen. »Alles! Denn im Gegensatz zu Ihnen glauben meine vorgesetzten Offiziere nicht an Werwölfe. Und auch nicht an Menschen in Bärenfellen, die sich in Grizzlys verwandeln.«

»Soweit mir bekannt ist, wurden Sie ehrenhaft aus der Armee entlassen. Ist das richtig, Mister Oppenheimer?«

Der andere nickte. »Nennen Sie mich ruhig Lance. Mister Oppenheimer ist mein Vater.« Er lachte heiser. »Und einen Corporal Oppenheimer gibt es nicht mehr. Der ist auf diesem verfluchten Walfänger vor die Hunde gegangen, so wie sein gesamter Zug.« Er schüttelte den Kopf. »Vor die Hunde. Der ist gut.« Ruckartig setzte er sich auf und hob das leere Bierglas, das er für den Kellner deutlich sichtbar in der Luft schwenkte. »Wollen Sie auch noch was?«, fragte er Abe. Schlicht aus Höflichkeit, denn der G-Man hatte an seiner Cola bisher lediglich genippt.

»Nein, danke. Aber ich nehme dein Angebot an, wenn du mich Abe nennst.«

»Geht klar.« Lance stellte das leere Bierglas wieder vor sich ab.

Keine halbe Minute später wurde es abgeholt und von einem vollen ersetzt.

Abe hatte geduldig abgewartet, doch kaum war der Ober verschwunden, da beugte er sich vor. »Schön, da das nun geklärt ist und du dich mit neuem Stoff versorgt hast, können wir ja endlich zur Sache kommen. Es mag dicht vielleicht überraschen, Lance, aber ich bin nicht hier, um mir anzusehen wie du dich in Selbstmitleid ergehst und versuchst, deinen Kummer in Alkohol zu ertränken.«

Der ehemalige Corporal hatte das Glas bereits angesetzt, als er es langsam wieder sinken ließ. Weißer Schaum hing an seinen Lippen, die er hastig mit dem Ärmel abwischte.

»Selbstmitleid? Scheiße Mann, ich musste mit ansehen wie meine Kameraden von menschengroßen Wölfen angefallen und zerfleischt wurden. Ich selbst hatte Glück, dass ich diesen Bärenmenschen in die Hände gefallen bin. Und als ob das noch nicht gereicht hätte, hat man mich später dazu genötigt, mit einem russischen Lederstrumpf und seinem blonden Wolfsblut einem gestohlenen Mark V hinterher zu fliegen. Und als ich sie wieder an Bord nahm, war es eine nackte junge Frau. Das Wolfsblut, nicht der Lederstrumpf, meine ich. Fünf Offiziere eines Küstenschutzbootes sind getötet worden und drei komplette SEAL-Züge wurden aufgerieben!« Seine Stimme wurde lauter. »Achtundvierzig Männer! Und du glaubst, ich lasse einen G-Man einfliegen, um mir den Kummer von der Seele zu reden?«